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Wenn Horoskope stimmen, dann konnte man das an dem im Zeichen der Fische geborenen Haber Jennings beweisen. Dieser nämlich war ein ungepflegter Bursche und aufdringlich bis zur Verwegenheit. Anderswo hätte man gesagt: ein typischer Parazzi, eine Art Hyäne im Dschungel des Journalismus, und nur geduldet, weil er stets bereit war, das zu tun, was die anderen nicht tun wollten.

Wie eine Katze, die eine Maus belauert, hatte er tagelang darauf gewartet, bis er endlich dieses eine Foto schießen konnte: Marcello Mastroianni auf der Toilette sitzend, aufgenommen mit einem Teleobjektiv von der Spitze eines Eukalyptusbaums. Er hatte mit seinem Apparat die Königinmutter erwischt, als ihr die Hühneraugen entfernt wurden, sogar Jackie Onassis auf ihrer Jacht, genau in dem Moment, da sie sich erbrach. Solche Aufnahmen waren seine große Masche. Er wußte immer, wo er zur richtigen Zeit zu sein hatte, und seine Fotos verkauften sich natürlich blendend. Er hauste in einem Ein-Zimmer-Flat in Chelsea. Socken trug er selten. Aber er verfolgte sein Objekt, in diesem Fall Prominente, mit jener Gründlichkeit, mit der Salt seinen Impfstoff gegen die Kinderlähmung gesucht hatte.

Seit einiger Zeit hatte er sich den Botschafter in London aufs Korn genommen, um zu versuchen, hinter die perfekte Fassade zu schauen, die das Botschafterpaar um sich aufgebaut hatte. Seine Fragen waren ganz klar: Wie stand es um den Geschlechtsverkehr des hübschen Paares? Und wenn sie es miteinander machten – wie?

Er versuchte das herauszubekommen, was er ihre menschliche Natur nannte, aber im Grunde genommen wollte er bloß beweisen, daß jeder genauso widerlich war wie er selbst. Kaufte der Botschafter obszöne Magazine und masturbierte er? Hatte er etwas mit irgendeinem Mädchen? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen interessierten ihn. Obwohl es fast lauter Fragen waren, die niemals beantwortet werden konnten, gab er die Hoffnung nie auf. Die Hoffnung, am Ende doch noch etwas zu erreichen, war beim Beobachten stets sein Beweggrund geblieben – also wartete er eben.

An diesem Tage hatte er sich vorgenommen, zum Besitz der Thorns nach Pereford hinauszufahren, obwohl er nicht vorhatte, irgendwelche Aufnahmen zu machen, denn das hatten womöglich viele andere auch vor, aber er wollte sich die ganze Geschichte einmal ansehen – das Haus und das Grundstück. Er wollte die richtigen Fenster entdecken, die Ein- und Ausgänge, vor allem aber wollte er herausfinden, welchen Diener man für ein paar Pfund kaufen konnte.

Er stand früh auf, überprüfte seine Kameras, wischte mit Kleenex die Staubpartikelchen von den Linsen, drückte sich vor dem Spiegel ein Eiterpickelchen aus und benutzte das gleiche Tuch, um damit den Eiter abzuwischen. Er war achtunddreißig Jahre alt und quälte sich immer noch mit Pubertätspickeln herum, was ihm wenig ausmachte, da er meistens mit der Kamera vor dem Gesicht durchs Leben pilgerte. Haber Jennings war von schlankem Wuchs. Die Anzüge, die er meistens an seinem Bettende stapelte, waren ewig zerknittert.

Bevor er sein Zimmer verließ, setzte er den Zeitschalter in seiner Dunkelkammer in Gang, dann durchsuchte er seinen Papierkorb nach der Einladung. Es ging um eine Geburtstagsparty. Um den vierten Geburtstag des kleinen Damien Thorn. Und sie feierten ihn auf eine ganz besondere Weise, denn aus den Slums waren bereits die Busse mit verkrüppelten Kindern oder Waisen auf dem Weg nach Pereford.


*


Die Fahrt durch die englische Landschaft machte Spaß und war irgendwie beruhigend. Haber Jennings zündete sich einen Joint an, um einen klaren Kopf zu bekommen. Nach geraumer Zeit schien die Straße sich unter ihm zu bewegen. Stand der Wagen etwa still? Er hatte im Augenblick jede Verbindung mit der Wirklichkeit verloren, nur seine Fantasie war lebendig, und diesmal hatte er das Gefühl, höchstpersönlich vor einer Kamera zu stehen. Irgend jemand zwang ihn zu einer unverschämt heroischen Pose, und plötzlich ging’s auf einem Hundeschlitten übers Eis, neben ihm Sophia Loren, die bei voller Fahrt geschminkt werden wollte. Und Polizisten. War das etwa schon Thorns Besitz? Stur starrte Jennings geradeaus, während sie seine Einladung betrachteten, um sicherzugehen, daß sie auch echt war. Er war an dergleichen Behandlung gewöhnt und wußte, daß er dumme Fragen vermeiden konnte, indem er einen würdigen Eindruck machte. Doch dies war nur ein Teil dessen, was er einzusetzen hatte. Haber Jennings konnte nämlich die Leute viel besser beobachten, wenn sie es vorzogen, so zu tun, als wäre er gar nicht vorhanden.

Schließlich gelangte er durch das große schmiedeeiserne Tor. Er blinzelte, um die Nachwirkungen des Marihuanas abzuschütteln, aber dann merkte er, daß dies keineswegs eine Illusion sein konnte, was er da sah.

Auf der großen Fläche vor dem Haus hatte man einen richtigen Rummelplatz aufgebaut. Ein buntes Treiben auf den Rasenflächen! Kinder rannten zwischen einem Zirkuszelt und einem Karussell hin und her, während Männer und Frauen sich durch die Menge schoben und Zuckerwatte oder andere Süßigkeiten verteilten. Ihre Stimmen gingen in dem Georgel unter, welches das Karussell veranstaltete, auf dem Kinder, teils auf rosa Pferdchen, teils auf Riesenschwänen schaukelnd, unermüdlich kreisten. Es gab ein Wahrsagerzelt, vor dem sogar höchst prominente Herrschaften Schlange standen; es gab Shetlandponys, die frei umhertummelten; sogar ein junger Elefant war da, den man mit einem roten Stoffsattel geschmückt hatte und der aus den Händen quiekender Kinder Erdnüsse entgegennahm. Und natürlich Fotografen überall, die nicht genug Schnappschüsse kriegen konnten. Nur Haber Jennings schien nichts Lohnenswertes entdeckt zu haben. Immer noch betrachtete er kritisch die Fassade des alten Hauses.

»Was ist denn los, Mann? Hast keine Filme mehr?«

Es war Hobie vom News Herald, der ihn ansprach und der in fieberhafter Eile am Würstchentisch einen Film einlegte, als Jennings sich gerade etwas zu essen holen wollte.

»Ich warte bloß noch auf seine Heiligsprechung«, erwiderte Jennings mißmutig.

»Wie … wie meinen Sie das?«

»Ich weiß nicht, ob wir hier bloß den Erben der Thorn-Millionen haben oder den Erlöser höchstpersönlich.«

»Sie sind ein Narr, wenn Sie sich das entgehen lassen, Mann. So ’ne Sache kriegen Sie doch höchstens alle Jubeljahre vor die Linse.«

»Was soll’s. Was ich brauche, kann ich von Ihnen kaufen.«

»Ach so, Sie wollen Exklusivaufnahmen, was?«

»Was anderes bestimmt nicht.«

»Dann viel Glück. Sie scheinen nicht zu wissen, daß das hier eine Familie ist, die sich noch privater benimmt als unser Pärchen in Monaco.«

Exklusivaufnahmen. Das war’s, wovon Haber Jennings träumte. Durch den Privateingang in die geheiligten Gefilde. Eine aufregende Sache, auf diese Weise auf die Pirsch zu gehen. Wenn er es schaffen könnte, irgendwie ins Haus zu gelangen … es könnte sich auszahlen.

»Hey, Mädchen! Mädchen!« hörte er Hobies Stimme in der Ferne. »Hierher schauen!« Die ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich plötzlich auf den riesigen Geburtstagskuchen, der auf einem fahrbaren Tisch aus dem Inneren des Hauses gerollt kam. Das Kindermädchen Chessa kam im Clownskostüm mit weißgepudertem Gesicht und einem knallroten Oval um den Mund. Die Fotografen umtanzten sie sofort, und Chessa war überglücklich, ganz im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Immer wieder drückte sie den kleinen Damien an sich und küßte ihn, bis sein Gesichtchen um und um beschmiert mit Puder und Schminke war.

»Kann er die Kerzen ausblasen?« brüllten die Fotografen. »Lassen Sie’s ihn mal versuchen.«

Langsam wanderten Jennings’ Augen über die Menge; er entdeckte Katherine Thorn, die ein Stückchen entfernt stand und um deren Mund ein mißbilligendes Lächeln spielte. Für den Bruchteil einer Sekunde zeigte sie ein völlig fremdes Gesicht. Jennings griff instinktiv nach seiner Kamera und drückte auf den Auslöser. Langsam ging Katherine weiter, als sie den Applaus und das Geschrei der Leute hörte, die sich um die Geburtstagstorte Damiens geschart hatten.

»Man soll ihm die Zukunft weissagen!« rief ein Reporter. »Bringt ihn doch zur Wahrsagerin!« Und wie ein einziger Körper begann sich die Menge zu bewegen, sie schob das Kindermädchen mit dem Geburtstagskind über den Rasen.

»Ich werde ihn nehmen«, sagte Katherine und griff nach Damien, als sie vorbeigingen.

»Ich kann das schon, Ma’am«, sagte Chessa und lachte.

»Nun – laß mich nur«, entgegnete Katherine mit einem bittersüßen Lächeln.

Und in der Sekunde, da sich ihre Blicke trafen, ließ das Mädchen den kleinen Damien los. Es war ein Augenblick, der im allgemeinen Tumult von keinem bemerkt worden war – es sei denn von Jennings, der seine Sucher auf die Gruppe gerichtet hielt. Chessa war inzwischen allein zurückgeblieben. Wie verlassen sie aussah, vor dem Hintergrund der mächtigen Hausfront, und vielleicht war’s dieses kuriose Clownskostüm, das ihre Verlassenheit noch unterstrich! Jennings knipste zweimal. Jetzt aber hatte sich Chessa umgedreht. Langsam ging sie aufs Haus zu.

Vor dem Zelt der Wahrsagerin bat Katherine die Reporter, draußen zu bleiben. Sie ging mit Damien hinein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Ruhe und das Halbdunkel im Raum waren wohltuend.

»Hallo, kleiner Junge.«

Die Stimme der Gestalt, die hinter einem kleinen grünen Tisch saß, gab sich große Mühe, geisterhaft zu klingen. Als Damien dieses sonderbare Wesen entdeckte, klammerte er sich noch fester an seine Mutter.

»Aber, aber, Damien«, lachte Katherine. »Es ist doch eine nette Hexe. Sind Sie nicht eine nette Hexe?«

»Natürlich«, lachte die Wahrsagerin. »Ich werde dir bestimmt nichts tun, mein Kind.«

Aber Damien drängte fort. Er ließ Katherine nicht los. Die Wahrsagerin schob ihre Gummimaske hoch, und das strahlende Gesicht eines hübschen Mädchens tauchte auf.

»Siehst du? Ich bin ein ganz normaler Mensch. Wie könnte ich dir etwas antun?«

Beruhigt streckte Damien die Hand aus. Katherine setzte sich mit ihm an den Tisch, auf dem Spielkarten lagen.

»Oh, was für eine hübsche, zarte Hand. Das bedeutet viel, viel Glück.«

Doch dann schwieg sie und starrte verwirrt auf Damiens Hand.

»Zeig mir doch mal die andere.«

Als Damien die andere Hand ausstreckte, betrachtete das Mädchen ziemlich verstört die beiden Handflächen.

»Ist irgend etwas?« fragte Katherine.

»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete das Mädchen. »Ich mache seit drei Jahren bei Kinderpartys mit, aber so etwas habe ich noch nie vorher gesehen.«

»Was gesehen?«

»Schauen Sie her. Ihm fehlen die Charakterlinien.«

»Was?«

Katherine schaute auch hin. »Aber ich kann nichts sehen«, sagte sie.

»Hat er sich mal verbrannt?« fragte das Mädchen.

»Nein, natürlich nicht.«

»Betrachten Sie mal Ihre eigene Hand. Sehen Sie alle diese Linien? Sie sind bei jedem Menschen verschieden. Es sind Zeichen der Identität.«

Es entstand eine peinliche Pause. Das Kind starrte auf seine Hände. Was sollte da wohl falsch sein?

»Schauen Sie mal, wie glatt seine Fingerspitzen sind«, sagte das Mädchen. »Ich glaube, man könnte gar keine Fingerabdrücke machen!«

Katherine senkte den Kopf und schaute genau hin. Und sie sah, daß das Mädchen recht hatte.

»Na so etwas«, sagte das Mädchen. »Wenn er eine Bank ausraubt, dann können sie ihn gar nicht schnappen.« Und dann lachte sie laut, während Katherine schweigend und verstört die kleinen Hände betrachtete.

»Können Sie ihm die Zukunft vorhersagen, bitte? Deswegen sind wir ja gekommen.« Katherines Stimme klang beklommen.

»Natürlich.«

Als das Mädchen nach der Hand des Kindes griff, wurden sie von einem Schrei unterbrochen, der vor dem Zelt ertönte. Es war Chessa, das Kindermädchen. Und ihre Stimme klang, als ob sie ganz weit weg sei.

»Damien! Damien!« rief sie. »Komm heraus! Ich hab’ eine Überraschung für dich!«

Die Wahrsagerin hob den Kopf. Eine gewisse Verzweiflung in diesem Schrei war nicht zu überhören.

»Damien! Komm heraus und schau dir an, was ich für dich tun werde!«

Mit Damien auf den Armen verließ Katherine das Zelt. Draußen blieb sie auf einmal wie gelähmt stehen, denn droben auf dem Dach ihres Hauses stand Chessa, in der Hand einen festen Strick, mit dem sie lachend spielte, um den Leuten zu zeigen, daß dieser Strick um ihren Hals lag. Die Zuschauer hielten das alles zunächst für ein Spiel – auch dann noch, als der Clown am Dachfirst vorne plötzlich die Hände ausstreckte wie einer, der kopfüber ins Wasser springen will.

»Schau her, Damien!« rief Chessa. »Ich tu das für dich!« Damit ließ sie sich vom Dach fallen. Ihr Körper schoß nach unten, wurde vom Seil zurückgerissen, dann hing das Mädchen erschlafft da.

Verstummt für immer. Tot.

Wie betäubt standen die Leute auf dem Rasen, als der kleine Körper zu der Walzermusik eines Karussells hin und her schaukelte. Ein Schrei brach endlich die Stille. Er kam von Katherine, und vier Leute bemühten sich um sie, damit sie sich beruhige. Es gelang ihnen schließlich, sie ins Haus zu schaffen.

Am Fenster seines Zimmers sitzend, schaute Damien hinaus auf den leeren Rasen, auf dem einige Arbeiter und die Leute mit ihrer Zuckerwatte zurückgeblieben waren. Schweigend starrten sie nach oben, während ein Polizist auf eine Leiter stieg und die Tote abschnitt. Sie entglitt seinen Händen und fiel, den Kopf voran, auf den mit Steinplatten ausgelegten Patio. So lag Chessa da, die toten Augen gen Himmel gerichtet, doch das Grinsen der Clownsmaske war geblieben.


*


Traurig waren die Tage vor Chessas Beerdigung. Der Himmel über Pereford zeigte ein schweres Grau. Der Donner grollte in der Ferne, und Katherine saß die meiste Zeit allein im halbdunklen Wohnzimmer und starrte ins Leere. Nach dem Bericht des Coroners hatte man eine große Menge Benadryl, ein Mittel gegen Allergie, bei der Autopsie im Blut des Mädchens festgestellt, aber dies erhöhte nur die Verwirrung und die Spekulationen, warum sie sich das Leben genommen hatte.

Um die Reporter abzuwimmeln, die aus dem Vorfall natürlich eine sensationelle Story zu machen versuchten, blieb Thorn zu Hause. Seine ganze Sorge galt Katherine, die, wie er befürchtete, sich wieder jenem Geisteszustand näherte, in dem sie sich vor einigen Jahren befunden hatte.

»Du nimmst es viel zu schwer, weißt du«, sagte er eines Abends, als er ins Wohnzimmer kam. »Es ist ja nicht so, daß Chessa ein Mitglied unserer Familie gewesen wäre.«

»Sie war es«, erwiderte Katherine ruhig. »Sie hat mir gesagt, sie wolle für immer bei uns bleiben.«

Thorn schüttelte den Kopf; er erkannte keinen Sinn in dieser Bemerkung.

»Ich vermute, sie hat ihre Meinung geändert«, sagte er. Er war selbst verblüfft, wie kalt seine Stimme klang, wie barsch seine Worte waren, und er spürte den Blick Katherines auf sich ruhen.

»Tut mir leid«, fügte er hinzu. »Aber ich hasse es, dich so zu sehen.«

»Es war mein Fehler, Jeremy.«

»Dein Fehler?«

»Ja. Es war da ein Augenblick auf der Party …«

Thorn kam auf sie zu und setzte sich neben sie. Aus seinem Blick sprach große Sorge.

»Sie stand so im Mittelpunkt, weißt du«, fuhr Katherine fort. »und ich war eifersüchtig auf sie. Ich nahm ihr Damien weg, weil ich’s nicht aushalten konnte, im Schatten dieses Mädchens zu stehen.«

»Ich glaube, du bist ein bißchen hart zu dir selbst. Das Mädchen war irgendwie durcheinander.«

»Aber ich doch auch«, flüsterte Katherine. »Im Mittelpunkt zu stehen, das bedeutet sehr viel für mich.«

Sie schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Sie warf sich in Jeremys Arme, und er hielt sie fest, bis sie einschlief. Es war jene Art Schlaf, der sie stets dann überfiel, wenn sie Librium genommen hatte, und er fragte sich, ob der Schock bei Chessas Tod sie vielleicht dazu veranlaßt haben konnte, das Mittel wieder zu nehmen. Fast eine volle Stunde blieb er so sitzen, ohne eine Antwort zu finden auf all die vielen Fragen, die ihn bestürmten. Endlich hob er Katherine ganz sachte hoch und trug sie in ihr Zimmer.


*


Am folgenden Morgen ging Katherine zu Chessas Beerdigung. Damien durfte mit. Es war eine private Angelegenheit auf einem kleinen Friedhof in den Außenbezirken der Stadt. Gekommen war die Familie des Mädchens und – außer Katherine und Damien – schließlich noch ein kahlköpfiger Priester, der aus der Heiligen Schrift las, während er eine gefaltete Zeitung über seinen Kopf hielt, um sich vor dem Nieselregen zu schützen. Da Thorn die Publicity fürchtete, wenn er ebenfalls zu der Bestattung ging, hatte er sich geweigert, mitzugehen und Katherine geraten, dies auch zu tun. Aber sie ließ es sich nicht nehmen. Sie hatte das Mädchen gemocht und betrachtete es als ihre Pflicht, die Tote zur ewigen Ruhe zu geleiten.

Außerhalb des Friedhofs drängten sich die Reporter, die von zwei US-Marinesoldaten am Betreten des Friedhofs gehindert wurden. In letzter Minute hatte Thorn sie dorthin beordert.

Zwischen den Bäumen, unbemerkt von den anderen, befand sich Haber Jennings, der einen schwarzen Regenmantel und hohe Stiefel trug und die Geschehnisse auf dem Friedhof durch ein Teleobjektiv beobachtete. Es waren keine gewöhnlichen Linsen, sondern monströse Objektive, so daß er seinen Apparat auf einem Stativ befestigen mußte. Mit dem Objektiv hätte er ohne Zweifel das Rendezvous zweier Fliegen auf dem Mond fotografieren können. Durch den Sucher beobachtete er ein Gesicht ums andere. Die Angehörigen des Mädchens weinten. Katherine befand sich in einer Art Schockzustand, Damien war unruhig, immer wieder glitten seine Blicke über den regennassen Friedhof.

Es war das Kind, dem Jennings’ Interesse galt, und er wartete geduldig auf den besten Augenblick, um auf den Auslöser zu drücken. Er kam ganz plötzlich. Ein Flackern in den Augen und eine plötzliche Veränderung des Gesichtsausdrucks, als ob irgend etwas den Jungen plötzlich erschreckte … dann jedoch schien er sich auf einmal zu beruhigen. Sein kleiner Körper entspannte sich, während die Augen auf irgend etwas auf dem Friedhof gerichtet waren, etwas, das ihn mitten in dem kalten, nieselnden Regen beruhigte und das sehr tröstlich für ihn schien. Sofort begann Jennings den Apparat herumzuschwenken und durch seinen Teleskopsucher die Umgebung zu erkunden. Er fand nichts Auffallendes.

Doch bewegte sich da nicht etwas? Jennings ließ sein Tele weiterwandern, bis in seinem Blickfeld ein dunkler, undeutlich erkennbarer Gegenstand sichtbar wurde. Ein Tier? Ja, ein Hund, ein großer schwarzer Hund! Ein schmaler Kopf … eng beieinander liegende Augen … eine sonderbare Schnauze und ein bemerkenswertes Gebiß, dessen Weiß sich deutlich gegen das dunkle Fell abzeichnete …

Keiner außer Jennings schien diesen Hund zu bemerken, der ganz reglos da hockte und wie gebannt auf einen bestimmten Punkt starrte. Jennings fluchte, weil er nur einen Schwarzweißfilm in der Kamera hatte, denn es waren ja diese Augen – genauer, das Gelb dieser Augen, welches die Erscheinung so unheimlich machte. Schließlich stellte er die Blende so ein, daß er beim Entwickeln die besten Kontraste herausholen konnte. Danach nahm er den Jungen noch einmal auf.

Für Jennings ein anstrengender Vormittag, doch der Weg hatte sich gelohnt. Als er dabei war, sein Gerät einzupacken, beschlich ihn ein unbehagliches Gefühl. Er warf noch einmal einen Blick auf die Trauergemeinde. Soeben wurde der Sarg in die Erde hinabgelassen … dort drüben stand das Kind … da der Hund … und zwischen beiden mußte es eine Verbindung geben.


*


Es goß in Strömen, als Mrs. Baylock ankam. Mrs. Baylock war das neue Kindermädchen – eine Irin und eine ziemlich unverschämte Person, die am Tor vorne einen derartigen Lärm machte und ein Getue an den Tag legte, daß der Pförtner seine liebe Not mit ihr hatte. Mrs. Baylock ließ sich nicht zurückhalten. Ohne auf ihn zu achten, stürmte sie an ihm vorbei und ins Haus. Ihr Benehmen war einschüchternd, aber auch äußerst lachhaft.

»Ich weiß, daß Sie’s im Augenblick sehr schwer haben«, verkündete sie den Thorns, während sie ihren Mantel im Vestibül ablegte. »da will ich Ihnen lieber nicht auf den Wecker fallen. Aber unter uns: Wer so ein junges Ding als Kinderschwester einstellt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn’s Ärger gibt.«

Sie bewegte sich wie ein Schlachtschiff, das sich den Weg durch die brandenden Wogen sucht. Ihre Sicherheit verschlug Thorn und Katherine, die sie gewähren ließen, die Sprache.

»Wissen Sie, woran man eine gute Kinderschwester erkennt?« lachte sie. »An der Größe ihrer Brüste. Diese kleinen Mädchen mit ihren Apfeltitten, die kommen und gehen in einer Woche. Aber betrachten Sie mal mich und meinen gewaltigen Busen. Sehen Sie, das sind Kinderschwestern, die bleiben. Gehen Sie mal in den Hydepark und schauen Sie sich um, dann werden Sie sehen, daß ich recht habe.«

Sie mußte eine kurze Pause einlegen, um ihren Koffer aufzunehmen.

»Na schön. Und wo ist der Junge?«

»Ich werde Ihnen sein Zimmer zeigen«, sagte Katherine mit einer Handbewegung zur Treppe.

»Warum lassen Sie uns beide nicht erst mal ein bißchen allein? Ich meine, damit wir Bekanntschaft schließen können.«

»Bei neuen Leuten ist er ein bißchen scheu.«

»Aber bei mir wird er’s bestimmt nicht sein! Das können Sie mir glauben.«

»Ich glaube wirklich …«

»Unsinn. Lassen Sie mich’s nur versuchen!«

Im nächsten Augenblick rauschte sie schon die Treppe hoch, und alsbald war ihr gewaltiges Gesäß verschwunden. Ganz plötzlich war es still. Jeremy nickte unsicher, als ob er noch nicht genau wüßte, was er aus dieser Geschichte machen sollte.

»Eigentlich gefällt sie mir«, sagte er.

»Mir auch. Wirklich.«

»Wo hast du sie denn aufgetrieben?«

»Wo ich sie aufgetrieben habe?« fragte Katherine.

»Ja

»Aber ich doch nicht! Ich habe sie nicht entdeckt, ich war bis jetzt der Meinung, du hättest diesen seltenen dicken Fisch an Land gezogen.«

»Mrs. Baylock«, rief Jeremy Thorn nach oben.

»Ja?« Sie war bereits auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, und sie sahen, wie ihr Gesicht oben am Treppengeländer auftauchte.

»Tut mir leid … wir waren ein bißchen überrascht.«

»Warum denn?«

»Wir wissen nicht, wie Sie hierhergekommen sind.«

»Mit einem Taxi. Ich hab’s wieder weggeschickt.«

»Nein, nein. Ich meine … wer hat Sie hierhergeschickt?«

»Die Agentur.«

»Die Agentur?«

»Ja, sie haben in der Zeitung gelesen, daß Ihr erstes Kindermädchen umgekommen ist, und da haben sie Ihnen ein anderes geschickt.«

Diese Erklärung klang gar zu schön, um wahr zu sein, aber da Thorn wußte, wie schwierig es war, ein Kindermädchen zu finden, gab sich Thorn damit zufrieden.

»Kann ich anrufen, um mir das bestätigen zu lassen?« fragte Katherine.

»Na mal los«, erwiderte die Frau. »Wollen Sie, daß ich draußen im Regen warte?«

»Nein, nein …«, erklärte Thorn schnell.

»Komme ich Ihnen vielleicht wie eine exotische Spionin vor?« fragte Mrs. Baylock.

»Ganz und gar nicht«, sagte Thorn freundlich.

»Seien Sie da mal nicht zu sicher«, meinte die untersetzte Frau. »Vielleicht habe ich einen Tonbandrecorder in meinem Hüftgürtel. Warum schicken Sie nicht einen jungen Marinesoldaten rein, daß er das mal nachprüft?«

Alle lachten – Mrs. Baylock am lautesten.

»Nun gehen Sie schon«, sagte Thorn. »Wir prüfen das später nach.«

Jeremy und Katherine zogen sich in den Salon zurück. Katherine rief die Agentur an, um sich bestätigen zu lassen, was Mrs. Baylock gesagt hatte. Sie erfuhr, daß das Kindermädchen sehr geeignet sei, ausgezeichnete Empfehlungen besitze, daß aber irgend etwas in der Kartei nicht stimmen könne, denn darin stehe, sie sei augenblicklich in Rom beschäftigt. Wahrscheinlich aber hatte sie ihre Stellung gewechselt, ohne daß das in die Kartei eingetragen worden war. Man würde die Geschichte klären, sobald der Manager der Agentur, der Mrs. Baylock geschickt hatte, aus seinem vierwöchigen Urlaub zurückkäme.

Katherine legte den Hörer auf und sah ihren Mann an. Beide zuckten belustigt mit den Schultern, denn was sie gehört hatten, gefiel ihnen. Mrs. Baylock war eine verrückte Nudel, aber sie steckte voller Leben, und genau das war es, was sie sich von einer Erzieherin ihres Sohnes wünschten.

Doch Mrs. Baylock, angelangt in Damiens Zimmer, lachte nicht mehr. Mit verschleiertem Blick starrte sie auf das schlafende Kind in seinem Bettchen, das unmittelbar am Fenster stand. Damiens Arm war ausgestreckt, so daß seine Hand beinahe die Fensterscheibe berührte. Mrs. Baylock konnte ihren Blick von dem kleinen Geschöpf nicht lösen. Ihr Kinn begann zu zittern vor Ergriffenheit, es war ihr, als stünde sie vor einem Wesen von unvergleichlicher Schönheit. Das Kind, geweckt von ihrem keuchenden Atem, schlug nun die Augen auf und wich sofort zurück.

»Keine Angst, Kleiner«, flüsterte Mrs. Baylock kaum hörbar. »Ich bin hier, um dich zu beschützen.«

Ein Blitz durchzuckte die Nacht, so daß das Land draußen für einen Augenblick in gleißendes Licht getaucht war. Gleich darauf folgte ein Donnerschlag.

Dies war der Auftakt zu einer zweiwöchigen Regenperiode.

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