9

Nachdem er das Foto des Priesters gesehen hatte, fuhr Thorn sofort nach London. Seine Gedanken überschlugen sich. Er wußte nicht, wo er zuerst anfangen sollte.

Katherine war tatsächlich schwanger. Der Priester hatte recht gehabt. Nun mußte er auch all das andere ernst nehmen, das Tassone gesagt hatte. Er versuchte sich an ihre Begegnung im Park zu erinnern: – an all die Namen und an die Orte, die er aufsuchen sollte. Er versuchte sich zu beruhigen, sich mit dem zu beschäftigen, was in den letzten Minuten geschehen war. An die Unterhaltung mit Katherine … an jenen anonymen Anruf.

»Lesen Sie die Zeitungen«, hatte die Stimme gesagt. Diese Stimme war ihm vertraut, doch Thorn wußte nicht, zu wem sie gehörte. Wer um alles in der Welt wußte, daß er etwas mit dem Priester zu tun hatte? Der Fotograf! Es war seine Stimme gewesen. Die Stimme Haber Jennings!

Thorn fuhr ins Büro und sagte, er müsse sich mit wichtigen Arbeiten beschäftigen und wolle ungestört bleiben. Und dann bat er durch die Gegensprechanlage seine Sekretärin, eine Verbindung mit Haber Jennings herzustellen. Sie versuchte es, doch Jennings hatte auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, er sei jetzt nicht zu erreichen. Sie meldete es Thorn und erwähnte den Anrufbeantworter.

Thorn ließ sich die Nummer geben und wählte selbst. Er wollte noch einmal Jennings Stimme hören … sie war es tatsächlich! Es war die Stimme, die ihn angerufen hatte. Doch warum hatte er sich nicht zu erkennen gegeben? Was für ein Spiel spielte er?

Wenige Minuten später teilte man Thorn mit, Katherine habe angerufen, aber er zögerte den Rückruf hinaus. Sie würde bestimmt mit ihm über die Abtreibung sprechen wollen, und er war nicht bereit, ihr eine Antwort darauf zu geben.

»Er wird es töten.« Ganz deutlich erinnerte sich Thorn an die Worte des Priesters. »Er wird es noch im Mutterleib töten.«

Thorn suchte nach der Telefonnummer von Dr. Charles Greer und erklärte ihm, er komme sofort, denn es handele sich um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.

Es war keine Überraschung für Dr. Greer, daß Thorn zu ihm kommen wollte, denn er hatte die Verschlechterung im Zustand Katherines wohl bemerkt. Es gab eine feine Grenze zwischen Angst und Verzweiflung, und ein paarmal hatte er erlebt, daß sie diese Grenze nach dieser oder jener Seite überschritten hatte. Die Angstgefühle konnten so stark werden, daß ein Selbstmordversuch nicht auszuschließen sei.

»Man weiß niemals, wie tief diese Angst geht«, sagte er zu Thorn, als ihm der Botschafter in seiner Praxis gegenübersaß. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, daß ich hier meine ärztliche Schweigepflicht überschreite, wenn ich Ihnen sage, daß sie sich in einem Zustand befindet, in dem sie durchaus ernsthafte emotionale Schwierigkeiten bekommen könnte.«

Aufrecht und angespannt saß Thorn auf einem hochlehnigen Stuhl, während der junge Psychiater im Zimmer umherging und seine Pfeife rauchte.

»Es ist also schlimmer geworden?« fragte Thorn mit zitternder Stimme.

»Lassen Sie uns sagen, es entwickelt sich in dieser Richtung.«

»Und es gibt nichts, was Sie tun könnten?«

»Ich sehe sie zweimal in der Woche. Ich glaube, sie braucht eine ständige Betreuung.«

»Wollen Sie mir damit sagen, daß sie geisteskrank ist?«

»Ich will’s ein wenig anders ausdrücken: Ihre Frau lebt von Fantasievorstellungen, und ihre Fantasien sind weit stärker als die Realität. Leider nährt sie mit ihren Fantasien auch ihre Angstzustände. Kommt hinzu, daß sie auf Angstgefühle leicht reagiert. Sie sehen, eins gibt das andre …«

»Was sind das für Fantasien?« fragte Thorn.

Greer schwieg einen Augenblick, während er überlegte, wie weit er in die Einzelheiten gehen sollte. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und gewahrte Thorns verzweifelten Blick.

»Da ist einmal folgendes – sie glaubt, daß ihr Kind in Wirklichkeit nicht ihr eigenes ist.«

Die Feststellung traf Thorn wie ein Keulenschlag.

»Ich deute die Sache so: Es handelt sich nicht so sehr um ein Angstgefühl, sondern eher um einen Wunsch. In ihrem Unterbewußtsein wünscht sie sich, sie hätte kein Kind. Das ist eine Möglichkeit, die Sache zu deuten. Wenigstens auf der emotionellen Basis.«

Noch immer war Thorn nicht imstande, irgend etwas zu sagen.

»Ich möchte in keinem Falle behaupten, daß das Kind nicht wichtig für sie ist«, fuhr Greer fort. »Im Gegenteil. Es ist das Wichtigste in ihrem Leben. Aber aus irgendeinem Grunde fühlt sie sich dadurch bedroht. Ich weiß wirklich nicht, ob es bei dieser Angst um die Mutterschaft geht, um eine emotionelle Bindung oder einfach um den Glauben, daß sie unfähig sei, dem Kind eine richtige Mutter zu sein.«

»Aber sie wollte doch ein Kind«, entgegnete Thorn.

»Ihnen zuliebe!«

»Nein …«

»Unbewußt. Sie hatte das Gefühl, sie müßte beweisen, wie wertvoll sie für Sie ist. Was hätte sie Besseres tun können, als Ihnen das durch die Geburt eines Kindes zu beweisen?«

Thorn sah geradeaus, immer noch stand Verzweiflung in seinen Augen.

»Und nun entdeckt sie, daß sie damit nicht fertig wird«, fuhr Greer fort. »Sie sucht also nach einem Grund, um sich nicht selbst vorzuwerfen, sie sei unzulänglich. Sie bildet sich ein, daß das Kind nicht von ihr ist, daß das Kind böse ist …«

»Wie? Was?«

»Sie ist einfach nicht imstande, Damien zu lieben«, erklärte Dr. Greer. »also erfindet sie einen Grund, warum er ihrer Liebe nicht würdig ist.«

»Sie glaubt, das Kind sei böse?«

Thorn zuckte heftig zusammen bei diesem Wort. Aber Greer fuhr fort: »Es ist notwendigerweise gerade jetzt richtig für sie, so zu fühlen«, erklärte der Psychiater. »Aber jetzt, in ihrem Zustand, wäre ein weiteres Kind verhängnisvoll für sie.«

»In welcher Weise … böse?«

»Das ist doch nur Fantasie. Genau wie sie sich vorstellt, daß das Kind nicht ihr Kind sei.«

Thorn holte tief Luft, er mußte gegen ein Gefühl der Übelkeit ankämpfen.

»Es gibt keinen Grund, deswegen verzweifelt zu sein«, beruhigte ihn Greer.

»Doktor?«

»Ja?«

Aber Thorn konnte nicht weitersprechen. Die beiden Männer saßen schweigend da und sahen sich an.

»Sie wollten etwas sagen?« ermunterte ihn Greer. Der Arzt sah ihn besorgt an, denn der Mann hatte offensichtlich die Sprache verloren.

»Mr. Thorn? Ist alles in Ordnung?«

Thorn flüsterte: »Ich fürchte mich.«

»Natürlich fürchten Sie sich.«

»Ich meine … ich habe Angst.«

»Das ist ganz natürlich.«

»Irgend etwas … Schreckliches wird geschehen.«

»Ja. Aber Sie beide werden es durchstehen.«

»Sie verstehen mich nicht.«

»O ja.«

»Nein.«

»Glauben Sie mir. Ich verstehe es.«

Thorn schlug die Hände vors Gesicht.

»Sie befinden sich in einem Streßzustand, Mr. Thorn. Und er ist größer, als Sie es wahrscheinlich wissen.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, stöhnte Thorn.

»Erstens einmal sollten Sie einer Abtreibung zustimmen.«

Thorn hob das Gesicht und sah Greer fest in die Augen.

»Nein«, sagte er.

Der Psychiater sah ihn überrascht an.

»Wenn es um Ihre religiösen Prinzipien geht …«

»Nein.«

»Wahrscheinlich können Sie die Notwendig …«

»Ich lasse es nicht zu«, erklärte Thorn resolut.

»Sie müssen.«

»Nein.«

Greer lehnte sich im Stuhl zurück und betrachtete den Botschafter bestürzt.

»Ich hätte gern Ihren Grund kennengelernt«, sagte er ruhig.

Unbeweglich starrte Thorn ihn an.

»Es ist vorhergesagt worden, daß dieses Kind im Leib meiner Frau nicht ausgetragen werden würde«, sagte er. »und ich werde alles tun, daß das Kind doch auf die Welt kommt.«

Verwirrt und besorgt sah ihn der Arzt an.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Thorn. »und vielleicht bin ich tatsächlich verrückt.«

»Warum sagen Sie das?«

Thorn sah ihn an und sagte mit gepreßter Stimme: »Weil diese Schwangerschaft weitergehen muß, um mich davor zu bewahren, zu glauben …«

»Glauben …?«

»Wie es meine Frau tut. Daß das Kind …«

Das Wort blieb ihm im Hals stecken. Er stand auf, plötzlich hatte er es eilig. Eine Vorahnung überkam ihn. Er fürchtete, daß in diesem Augenblick irgend etwas Schlimmes geschah.

»Mr. Thorn?«

»Entschuldigen Sie mich …«

»Bitte, setzen Sie sich.«

Aber Thorn schüttelte den Kopf. Er lief zur Tür, ging mit schnellen Schritten aufgeregt den Flur hinunter, bis er zu der Treppe kam, die nach unten führte. Auf der Straße begann er zu rennen, die Angst in ihm wurde immer größer; er schaffte es bis zu seinem Wagen und fummelte mit den Schlüsseln herum. Irgend etwas war los. Irgend etwas. Er wollte nach Hause, ganz schnell nach Hause!

Die Reifen quietschten, als er den Wagen auf der Straße wendete und dann mit großer Geschwindigkeit auf den Highway zufuhr. Pereford war eine halbe Stunde entfernt, und er fürchtete, obwohl er nicht wußte, warum, daß er zu spät kam. Der Mittagsverkehr in London war stark. Thorn drückte auf die Hupe, überholte Autos, reihte sich wieder ein, überfuhr Kreuzungen bei Rot, indes die Verzweiflung immer stärker von ihm Besitz ergriff.

Im Pereford-Haus erging es Katherine nicht anders; sie beschäftigte sich im Haushalt, was nichts weiter war als ein Versuch, die nagende Angst in ihr zu ersticken.

Nun stand sie auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, die Gießkanne in der Hand und überlegte, wie sie die Pflanzen erreichen könnte, die über die Brüstung hingen.

Sie mußten gegossen werden, doch sie hatte Angst, Wasser zu vergießen. Im Spielzimmer fuhr Damien mit seinem kleinen Auto und stieß laute Pfiffe aus – wie eine Dampflokomotive, während er versuchte, immer schneller zu fahren.

In einer Ecke des Kinderzimmers, unbemerkt von Katherine, stand Mrs. Baylock. Ihre Augen waren geschlossen, als ob sie betete …

Das graue Band der Straße schien unter Thorn einfach wegzufliegen, als er auf die M-40 zuraste, die direkte Landstraße, die zu seinem Hause führte. Sein Gesicht war angespannt, die Hände umklammerten das Lenkrad und jede Fiber seines Körpers schien den Wagen vorwärts zu jagen.

Die Geschwindigkeit seines Autos war so groß, daß es dem Beschauer wie ein beigefarbener Blitz vorkommen mußte, und wenn er einen anderen Wagen passierte, war es ihm, als stünde dieser still. Thorn schwitzte. Jedes Auto vor ihm wurde zu einem Ziel, das er überholen mußte.

Er drückte unaufhörlich auf die Hupe, und die anderen Wagen machten sofort Platz, als sein Auto an ihnen vorbeischoß. Einen Augenblick dachte er an die Polizei und warf einen Blick in den Rückspiegel. Und so sah er den ominösen Schatten hinter sich. Es war ein anderes Auto, schwarz und massiv. Folgte es ihm? Ein Leichenwagen! Und wie er aufholte! Während Thorn im Rückspiegel sah, daß der Leichenwagen immer näher kam, da wuchs auch seine Furcht …

Damien fuhr in seinem Spielzeugauto immer schneller, er trieb es an, als ob es ein Rennpferd wäre. Draußen im Flur stellte sich Katherine auf einen Stuhl. In Damiens Zimmer sah Mrs. Baylock das Kind fest an, als ob sie es allein durch ihre Willenskraft dazu bewegen wollte, noch schneller zu fahren. Und der Junge tat es. Mit wilden Augen raste er durch den Raum …

In seinem Auto bot Thorn die letzte Kraft auf. Er drückte das Gaspedal fest auf den Boden. Der Leichenwagen kam näher. Thorn konnte das kalte Gesicht des Fahrers im Rückspiegel sehen. Thorns Tachometer zeigte 140, 150, aber der Leichenwagen kam näher. Thorn begann zu keuchen. Er wußte, daß das, was er tat, unvernünftig war, aber er konnte nicht anders. Er durfte nicht überholt werden. Der

Motor seines Wagens schien unter ihm wie wütend aufzuheulen, aber der Leichenwagen kam … er war neben ihm.

»Nein!« stöhnte Thorn. »Nein …!«

Und dann flogen sie nebeneinander her. Der Leichenwagen versuchte, noch schneller zu sein. Mit geballter Faust schlug Thorn auf das Lenkrad, schneller sollte sich sein Wagen bewegen, noch schneller, noch schneller, aber der Leichenwagen überholte ihn, und Thorn sah, wie ein Sarg hinten in dem Wagen sich langsam an ihm vorbeibewegte.

Noch schneller fuhr Damien im Hause der Thorns. Wild quietschte sein Spielzeugauto, als er es durchs Zimmer jagte, während draußen im Flur Katherine sich vorsichtig auf dem Stuhlsitz aufrichtete.

Nun fuhr ihm der Leichenwagen davon; Thorn stieß einen lauten Fluch aus. In diesem Augenblick schoß Damien aus seinem Zimmer. Sein Spielzeuggefährt stieß gegen den Stuhl. Katherine flog vom Sitz, fiel ins Nichts.

Sie stieß einen Schrei aus. Verzweifelt versuchte sie sich am Geländer festzuhalten. Sie riß das runde Goldfischglas herunter, das neben ihr in die Tiefe stürzte. Ihr Schrei endete, als sie aufschlug. Den Bruchteil einer Sekunde später zerbarst das Goldfischglas in unzählige Splitter.

Still lag Katherine da. Der kleine Goldfisch zuckte auf dem Kachelboden neben ihr.


*


Als Thorn ins Hospital kam, waren die Reporter bereits dort. Sie schossen Fragen ab, Blitzlichter blendeten ihn, als er sich verzweifelt den Weg zu einer Tür bahnte, auf der INTENSIVSTATION stand.

Zu Hause hatte er Mrs. Baylock in einem hysterischen Zustand vorgefunden. Schluchzend hatte sie ihm gesagt, daß Katherine gestürzt sei und daß man sie mit einem Rettungswagen ins City Hospital gebracht habe.

»Wissen Sie schon, wie es ihr geht, Mr. Thorn?« rief ein Reporter.

»Gehen Sie mir aus dem Weg.«

»Es heißt, sie sei gestürzt.«

»Lassen Sie mich durch.«

»Geht es ihr gut?«

Er lief durch eine Doppeltüre, und die Stimmen der Reporter hinter ihm wurden leiser, als er den Flur hinunterrannte.

»Botschafter Thorn?«

»Ja

Ein Arzt erschien und kam schnell auf ihn zu.

»Mein Name ist Becker«, sagte er.

»Was ist mit ihr?« fragte Thorn keuchend.

»Sie wird wieder in Ordnung kommen. Sie ist ziemlich hart aufgeschlagen. Sie hat eine Gehirnerschütterung, das Schlüsselbein ist gebrochen und da sind einige innere Blutungen.«

»Sie ist schwanger.«

»Ich fürchte, sie ist es nicht mehr.«

»Sie hat es verloren?« keuchte er.

»Auf dem Boden, auf dem sie aufschlug. Ich wollte es noch untersuchen, aber offenbar hatte Ihr Dienstmädchen alles gesäubert, ehe wir hinkamen.«

Thorn schwankte. Er ließ sich gegen die Wand fallen.

»Natürlich«, fuhr der Arzt fort. »werden wir über die Einzelheiten, ich meine, wie es geschehen ist, Stillschweigen bewahren. Je weniger Tratsch, desto besser.«

Thorn starrte ihn an. Der Doktor sah, daß er sehr verwirrt war.

»Sie wissen doch, daß sie gesprungen ist«, sagte er.

»Gesprungen?«

»Vom Treppenabsatz im zweiten Stockwerk Ihres Hauses. Vor den Augen Ihres Sohnes. Im Beisein der Gouvernante.«

Thorn war fassungslos. Er drehte sein Gesicht der Wand zu und ließ seinen Tränen freien Lauf.

»Bei einem derartigen Sturz«, fügte der Arzt hinzu. »schlägt man gewöhnlich mit dem Kopf zuerst auf. In einem gewissen Sinne hat sie Glück gehabt. Könnte man sagen.«

Thorn nickte nur, denn er weinte noch immer.

»Aber, aber! So schlimm ist es doch nicht«, sagte der Arzt. »Sie müssen dem Schicksal dankbar sein. Sie lebt noch, und wenn sie richtig betreut wird, dann wird sie es wahrscheinlich nicht wieder versuchen.

Meine eigene Schwägerin machte einen Selbstmordversuch. Sie ließ Badewasser ein, legte sich hinein und nahm den Toaster mit. Als sie den Toaster einschaltete, bekam sie einen Stromschlag.«

Thorn drehte sich um und sah ihn an.

»Aber das Wichtigste ist, sie hat es überstanden. Sie wird’s bestimmt nicht noch mal versuchen. Es ist jetzt vier Jahre her, und seitdem haben wir keinen Ärger mehr mit ihr gehabt.«

»Wo ist sie?« fragte Thorn.

»Sie lebt in der Schweiz.«

»Meine Frau.«

»Zimmer 4A. Man wird sie bald verlegen.«

In Katherines Zimmer war es ruhig und dunkel. Eine Krankenschwester saß mit einer Zeitschrift in der Ecke, als Thorn eintrat und stehenblieb. Katherine sah schrecklich aus. Ihr Gesicht war geschwollen und verfärbt.

Ein Schlauch führte von ihrem Arm nach oben zu einer Flasche Plasma. Der andere Arm lag in einer Hängeschlinge und war grotesk verkrümmt. Sie schien bewußtlos zu sein.

»Sie schläft«, erklärte die Schwester. Steif bewegte sich Thorn auf das Bett zu. Als ob Katherine seine Anwesenheit spürte, stöhnte sie und begann den Kopf langsam zu bewegen.

»Hat sie Schmerzen?« fragte Thorn mit zitternder Stimme.

»Sie schwebt auf Wolke neun«, antwortete die Schwester. »Sodium Pentothai.«

Thorn setzte sich neben sie, er legte die Stirn auf ihr Bett und weinte. Nach einer Weile spürte er Katherines Hand, die seinen Kopf berührte.

»Jerry …«, flüsterte sie.

Er sah, daß sie sich bemühte, die Augen zu öffnen.

»Kathy …«, schluchzte er.

»Paß gut auf, Jerry … daß ich ihn nicht umbringe.«

Bei diesen Worten schloß sie die Augen. Und schon schlief sie wieder.


*


Kurz nach Mitternacht kam Thorn nach Hause. Lange hielt er sich im Vorraum auf, um die Stelle zu betrachten, wo Katherine aufgeschlagen sein mußte beim Sturz aus der Höhe des zweiten Stocks. Thorn fühlte sich unendlich müde. Wie sehnte er sich nach Schlaf, nach völligem Vergessen …

… Ihr Leben hatte sich verändert. Es war, als ob sie beide unter einem Fluch standen.

Thorn schaltete die Lampen aus. Er blieb eine Weile in der Dunkelheit stehen, dann besah er sich das Treppengeländer.

Er versuchte sich Katherine dort oben vorzustellen, wie sie den Sprung überlegte. Warum, wenn sie wirklich aus dem Leben scheiden wollte, hatte sie nicht versucht, vom Dach zu springen? Es gab Pillen im Haus, Rasierklingen.

Aber auch ein Dutzend andere Dinge oder Möglichkeiten, wenn jemand sein Leben beenden wollte. Warum also auf diese Weise? Und warum vor Damien und Mrs. Baylock?

Wieder dachte er an des Priesters Warnung: »Er wird das ungeborene Kind töten. Und wenn er dann sicher ist, daß er alles erben wird, was Ihnen gehört …« Er schloß die Augen, er versuchte diese Gedanken mit aller Gewalt zu verdrängen.

Er dachte an Tassone und an dessen Tod auf der Stange – an den Anruf von Jennings, an seine unvernünftige Panik, als der Leichenwagen ihn auf dem Highway überholte.

Der Psychiater hatte recht. Er befand sich in einem gewaltigen Streß; sein Benehmen bewies es ja. Katherines Ängste waren auf ihn übergesprungen, ihre Fantasiegebilde waren irgendwie ansteckend. So durfte es nicht weitergehen. Gerade jetzt mußte er vernünftig und klar denken.

Langsam stieg er die Treppe hinauf. Er brauchte Schlaf, mußte schlafen, um am Morgen ausgeruht zu sein, erfüllt von neuer Energie, damit er all diese schrecklichen Probleme meisterte.

Als er die Tür seines Zimmers erreichte, blieb er stehen und schaute den verdunkelten Flur hinunter zu Damiens Zimmer.

Der sanfte Schimmer der Nachttischlampe war unter der Tür deutlich zu sehen. Thorn stellte sich das Gesicht des Kindes in der friedlichen Unschuld des Schlafens vor.

Plötzlich hatte er Sehnsucht nach ihm. Er mußte ihn sehen. Er ging langsam auf Damiens Zimmer zu; er wollte wissen, daß wenigstens aus diesem Zimmer die Angst verbannt war.

Aber als er leise die Tür des Zimmers öffnete, tauchte eine Szene vor ihm auf, die ihn erschauern ließ. Das Kind schlief, doch es war nicht allein. An seinem Bett saß Mrs. Baylock, die Arme gefaltet, während sie resolut ins Zimmer starrte, und auf der anderen Seite sah er die Gestalt eines Hundes.

Es war der Hund, den er schon einmal gesehen hatte, und damals hatte er befohlen, ihn aus dem Haus zu schaffen. Doch nun war er wieder da. Er saß mit gespitzten Ohren auf dem Boden, als ob er den schlafenden Jungen bewachen müßte.

Mit angehaltenem Atem schloß Thorn leise die Tür; er ging den Flur hinunter, bis er vor seinem Zimmer war. Einen Augenblick blieb er hier stehen und versuchte, seinen zitternden Körper zu beruhigen. Und dann wurde die Stille plötzlich zerrissen. Das Telefon klingelte. Er lief zu seinem Nachttisch, um den Hörer abzunehmen.

»Hallo …«

»Hier ist Jennings«, sagte eine Stimme. »Sie wissen, der Mann, dessen Kamera Sie beschädigt haben?«

»Ja

»Ich wohne Ecke Grosvenor und Fifth – und ich halte es für besser, wenn Sie sofort herkommen.«

»Was wollen Sie?«

»Es ist etwas passiert, Mr. Thorn. Etwas, das Sie wissen sollten.«


*


Jennings’ Wohnung befand sich in einem Slumdistrikt, und Thorn hatte Mühe, sie zu finden. Ein leichter Regen fiel. Er wollte das Suchen schon aufgeben, als er noch über der Straße in einem Türmchen einen roten Schimmer entdeckte.

Jennings stand am Fenster und winkte ihm zu, dann ging er ins Zimmer zurück. Eigentlich hätte er für einen solch distinguierten Gast ein bißchen aufräumen sollen, überlegte er.

Er warf einige Kleidungsstücke in einen Schrank und glättete die Wolldecke auf dem Bett, dann öffnete er die Tür, um Thorn hereinzubitten.

Ein bißchen außer Atem, nachdem er fünf Stockwerke hochgeklettert war, tauchte der Botschafter auf.

»Ich hab’ Brandy da, wenn Sie mögen.«

»Bitte.«

»Aber nicht von der Art, wie Sie ihn gewöhnt sind. Bestimmt nicht.«

Jennings schloß die Tür und verschwand in einem Alkoven, während Thorn sich in dem dunklen Zimmer umsah. Nur ein rötliches Glühen, das aus der offenen Tür einer schrankgroßen Dunkelkammer kam, ließ ihn einige Dinge erkennen. An den Wänden hingen Vergrößerungen.

»Hier haben wir’s schon«, sagte Jennings, als er mit einer Flasche und Gläsern zurückkam. »Ein bißchen davon, und Sie sind wieder in Ordnung.«

Thorn nahm das Glas, und Jennings goß ihm ein. Dann setzte sich der Fotograf aufs Bett und wies auf einen Stapel Kissen neben der Tür, doch Jennings blieb stehen.

»Zum Wohl«, sagte Jennings. »Möchten Sie was rauchen?«

Thorn schüttelte den Kopf. Die Lässigkeit des Mannes zerrte an seinen Nerven.

»Sagen Sie – was ist passiert?«

»Fast hätt’ ich’s vergessen …«

»Ich hätte gern gewußt, wie Sie das gemeint haben.«

Jennings musterte ihn sorgfältig.

»Wissen Sie es nicht bereits schon?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Warum sind Sie dann hergekommen?«

»Weil Sie’s mir am Telefon nicht gesagt haben.«

Jennings nickte. Er stellte das Glas hin.

»Ich konnte es nicht erklären, weil es etwas ist, was Sie sehen müssen.«

»Was ist es denn?«

»Es sind Fotos.« Er stand auf, ging in die Dunkelkammer und Thorn folgte ihm. »Ich dachte nur, wir sollten uns zuerst ein wenig unterhalten.«

»Ich bin sehr müde.«

»Na schön, aber hier wird Ihr Herz gleich schneller schlagen.«

Er schaltete eine kleine Lampe ein, und ein heller Strahl beleuchtete die Fotos. Thorn setzte sich auf einen Stuhl neben Jennings.

»Erkennen Sie die da?«

Es waren Bilder der Party. Der Party zu Damiens Geburtstag; Schnappschüsse von Kindern auf dem Karussell, von Katherine, die in die Menge schaute.

»Ja«, antwortete Thorn.

»Und nun sehen Sie sich mal dies da an.«

Jennings schob die oberen Fotos zur Seite und dann lag das Bild von Chessa, Damiens erstem Kindermädchen, da. Sie stand in ihrem Clownskostüm auf der Wiese, im Hintergrund war das Haus.

»Sehen Sie irgend etwas Ungewöhnliches?« fragte Jennings.

»Nein.«

Jennings streckte den Zeigefinger aus und wies auf den vagen Schleier, der über ihrem Hals und dem Kopf hing.

»Ich dachte zuerst, es ist bloß ein Fleck«, sagte Jennings. »aber sehen Sie sich das mal bei dem nächsten Bild an.«

Er griff nach einem Bild von Chessa, als sie vom Dach herunterhing.

»Ich verstehe nicht«, sagte Thorn.

»Haben Sie Nachsicht mit mir.«

Jennings schob einen Stapel Fotos beiseite und legte ein anderes Bild vor. Es war eine Aufnahme des Priesters Tassone, der sich gerade von der Botschaft entfernte.

»Wie wär’s mit dem da?«

Verblüfft sah ihn Thorn von der Seite an.

»Wo haben Sie das her?«

»Aufgenommen.«

»Ich dachte, Sie suchten nach diesem Mann. Sie haben gesagt, Sie seien mit ihm verwandt.«

»Ich hab’ Sie angelogen. Sehen Sie sich jetzt erst einmal das Bild an.«

Jennings berührte das Bild und legte seinen Finger auf den ›Speer‹, der über dem Kopf des Priesters schwebte.

»Meinen Sie diesen Schatten über dem Kopf?« fragte Thorn.

»Ja. Und dann sehen Sie sich dieses Bild an. Das habe ich zehn Tage später aufgenommen.«

Er legte ein anderes Foto in den Lichtkreis. Es war die Vergrößerung einer Gruppe von Menschen, die am Ende eines Saales stand. Man konnte Tassones Gesicht nicht sehen, nur das Priestergewand, aber dort, wo der Kopf sein mußte, befand sich der gleiche speerähnliche Schatten.

»Ich nehme an, es ist derselbe Mann. Sie können sein Gesicht nicht sehen, aber Sie können sehen, was über ihm ist.«

Verwirrt betrachtete Thorn das Bild.

»Diesmal ist es ein bißchen ausgeprägter«, fuhr Jennings fort. »Wenn Sie sich die Größe seines Gesichtes vorstellen, dann werden Sie sich auch vorstellen können, daß es gerade seinen Kopf berührt. In den zehn Tagen zwischen dem ersten Bild und diesem ist dieses speerähnliche Gebilde tiefer gegangen. Was immer es auch ist, es kam dem Kopf näher.«

Verblüfft betrachtete Thorn die Vergrößerung. Jennings schob sie weg und legte dann das Foto hin, das auf der Vorderseite der Zeitungen gewesen war: Der Priester lag da, von einer speerähnlichen Stange aufgespießt.

»Dämmert Ihnen was? Merken Sie, daß hier irgendeine Verbindung bestehen muß?« fragte Jennings.

Wie betäubt saß Thorn da. Hinter ihm lief der automatische Wecker ab, und Jennings drückte auf den Knopf einer zweiten Lampe, dann drehte er sich um und sah Thorn in die Augen.

»Ich kann’s auch nicht erklären«, sagte er. »Und deswegen habe ich angefangen, mich um die Sache zu kümmern.«

Er nahm zwei Pinzetten, dann ging er zu einer Schale, holte eine Vergrößerung heraus, ließ das Wasser abtropfen, brachte sie zum Tisch und schob sie unters Licht.

»Ich hab’ ein paar Freunde bei der Polizei. Sie haben mir Negative gegeben, und ich hab’ Vergrößerungen davon gemacht. Nach dem Bericht des Leichenbeschauers hatte er Krebs. Die meiste Zeit mußte er sich Morphium spritzen, er tat es selbst. Zwei- oder dreimal am Tag.«

Als Thorn die Vergrößerungen betrachtete, zog sich sein Magen zusammen. Drei verschiedene Bilder waren auf der Vergrößerung, und jedes zeigte den nackten Körper des Priesters in einer anderen Stellung.

»So gesehen, von außen, sieht sein Körper völlig normal aus«, fuhr Jennings fort. »Bis auf das kleine Ding da auf der Innenseite seines linken Oberschenkels.«

Er gab Thorn eine Lupe und führte seine Hand zu dem letzten Foto. Mit grotesk gespreizten Beinen lag der Priester da, seine Genitalien und die Oberschenkel waren deutlich zu erkennen. Thorn sah die Stelle, die Jennings gemeint hatte. Es sah aus wie eine Tätowierung.

»Was ist denn das?« fragte Thorn.

»Das sind drei Sechsen. Sechshundertsechsundsechzig.«

»War er vielleicht in einem Konzentrationslager?«

»Daran habe ich zuerst auch gedacht, aber eine Untersuchung hat ergeben, daß es buchstäblich in die Haut geritzt wurde. Und so was hat man in den Konzentrationslagern nicht gemacht. Wahrscheinlich hat er sich das selbst auf den Leib geschrieben.«

Thorn sah Jennings fassungslos an. Er hatte keine Ahnung, worum es ging.

»Noch einmal: Haben Sie Geduld mit mir«, sagte Jennings, während er ein weiteres Foto in den Lichtkegel schob. »Das ist das Zimmer, in dem er wohnte. Eine ganz einfache Bude in Soho. Mit Ratten übrigens. Er hatte nämlich ein Stück Fleisch auf dem Tisch liegenlassen.«

Thorn betrachtete das Foto. Es zeigte einen kleinen Raum mit Tisch, Schrank und Bett, an den Wänden merkwürdige Tapeten, die aussahen wie zerknülltes Papier, und große Kreuze überall.

»So sah es im ganzen Zimmer aus. Ob Sie es nun glauben oder nicht: Die Tapeten an den Wänden sind Seiten aus der Bibel. Tausende. Jeder Zentimeter an der Wand – Bibel. Sogar die Fenster. Als ob er versuchen wollte, irgend etwas abzuwehren.«

Noch immer starrte Thorn auf das merkwürdige Foto.

»Auch Kreuze. Siebenundvierzig Stück hat er allein an die Vordertür genagelt.«

»War er … verrückt?« flüsterte Thorn.

Jennings sah ihm direkt in die Augen.

»Das sollten Sie besser wissen.«

Der Fotograf drehte sich auf seinem Stuhl herum, öffnete eine Schublade und nahm einen halbzerrissenen Aktendeckel heraus.

»Die Polizei hat sich nicht übermäßig für ihn interessiert«, erklärte er. »sie hat mich alles durchsuchen lassen, und ich konnte mir nehmen, was ich wollte. So bin ich zu diesem Zeug gekommen.«

Jennings stand auf und ging ins Wohnzimmer. Thorn folgte ihm. Dort öffnete der Fotograf den Ordner und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus.

»Da hätten wir zuerst einmal ein Tagebuch«, sagte er, indem er ein zerfleddertes Buch aus dem Haufen nahm. »Da steht nicht viel über ihn drin, aber eine ganze Menge über Sie. Was Sie so getan haben. Wann Sie Ihr Büro verließen, wohin Sie gingen, in welchem Restaurant Sie frühstückten, wo Sie einen Vortrag hielten und …«

»Darf ich sehen?«

»Nehmen Sie’s nur.«

Mit zitternden Händen nahm Thorn das Notizbuch.

»Die letzte Eintragung besagt, daß Sie mit ihm verabredet waren«, fuhr Jennings fort. »In Kew Gardens. Das Datum stammt vom Tage seines tödlichen Unfalls. Ich hab’ das Gefühl, die Polizei hätte sich weit mehr für den Fall interessiert, wenn sie das gewußt hätte.«

Thorn hob den Kopf und sah Jennings an.

»Er war geisteskrank.«

»Wirklich?«

Jennings Stimme klang drohend, und Thorn wußte, daß er diesem Mann Rechenschaft schuldete.

»Was wollen Sie?«

»Haben Sie sich mit ihm getroffen?«

»Nein.«

»Ich habe noch ein paar Informationen mehr, Herr Botschafter, aber ich werde Ihnen diese erst mitteilen, wenn Sie die Wahrheit sagen.«

»Warum interessieren Sie sich eigentlich dafür?« fauchte Thorn.

»Ich möchte Ihnen helfen«, antwortete Jennings. »Ich bin Ihr Freund.«

Thorn fixierte den Fotografen, ohne sich zu bewegen.

»Die wirklich wichtigen Dinge sind nämlich hier«, sagte Jennings und deutete auf den Tisch. »Wollen Sie sprechen oder möchten Sie lieber gehen?«

Thorn biß sich auf die Zähne.

»Was wollen Sie wissen?«

»Haben Sie ihn im Park getroffen?«

»Ja

»Was hat er gesagt?«

»Er hat mich gewarnt.«

»Wovor?«

»Er sagte, mein Leben sei in Gefahr.«

»In was für einer Gefahr?«

»Er drückte sich nicht klar aus.«

»Versuchen Sie nicht, mich aufs Kreuz zu legen.«

»Ich tu das nicht. Ich konnte nichts mit seinen Geschichten anfangen.«

Jennings trat zurück und sah Thorn ungläubig an.

»Es war eine Stelle aus der Bibel«, fügte Thorn hinzu. »Ein paar Verse – an den Text kann ich mich nicht erinnern. Ich hielt diesen Priester einfach für verrückt. Ich begriff sein Benehmen, seine Worte nicht. Das ist die Wahrheit. Die ganze Geschichte ist mir schleierhaft.«

Jennings schien immer noch skeptisch zu sein. Thorn senkte den Kopf.

»Ich glaube, Sie sollten ein bißchen mehr Vertrauen zu mir haben«, sagte Haber Jennings.

»Sie sagten, Sie hätten weitere Informationen?«

»Nicht, bis ich mehr von Ihnen gehört habe.«

»Aber mehr habe ich nicht zu sagen.«

Jennings nickte. Er beschäftigte sich wieder mit den Gegenständen auf dem Tisch. Dann fand er einen Zeitungsausschnitt und gab ihn Thorn.

»Er stammt aus einem Magazin. Es heißt Astrologer’s Monthly. Da drin steht der Bericht eines Astrologen oder Astronomen über das, was man ein ungewöhnliches Phänomen nennt. Ein Komet nimmt die Gestalt eines leuchtenden Sterns an, so ungefähr wie der Stern von Bethlehem dazumal …«

Thorn las diesen Artikel. Er wischte sich den Schweiß ab, der sich auf seiner Oberlippe gebildet hatte.

»Nur hat sich dies hier auf der anderen Seite der Welt ereignet«, fuhr Jennings fort. »Auf dem europäischen Kontinent. Genau vor vier Jahren. Um noch genauer zu sein: am 6. Juni. Läutet bei Ihnen da nicht ein Glöckchen, wenn Sie dieses Datum hören?«

»Gewiß.« Thorns Stimme klang heiser.

»Dann sollten Sie sich mal diesen zweiten Zeitungsausschnitt hier ansehen«, sagte Jennings und nahm ein Stück Zeitung aus dem Stapel. »Er stammt von der Rückseite einer römischen Zeitung.«

Thorn nahm den Ausschnitt. Er erkannte ihn sofort wieder. Katherine hatte ebenfalls einen solchen Ausschnitt. Sie bewahrte ihn zu Hause in einem Sammelalbum auf.

»Es ist die Geburtsanzeige Ihres Sohnes. Und auch sie stammt vom 6. Juni – vor vier Jahren. Ich würde das einen Zufall nennen, nicht wahr?«

Jetzt zitterten Thorns Hände.

»Wurde Ihr Sohn um sechs Uhr morgens geboren?«

Mit zusammengezogenen Brauen wandte sich Thorn Jennings zu.

»Ich versuche bloß, dieses Zeichen auf dem Oberschenkel des Priesters herauszukriegen. Diese drei Sechsen. Ich glaube nämlich, sie beziehen sich auf Ihren Sohn. Der sechste Monat, der sechste Tag …«

»Mein Sohn ist tot!« stammelte Thorn. »Mein Sohn ist tot. Ich weiß nicht, welches Kind ich aufziehe!«

Er schlug die Hände vors Gesicht, wandte sich ab und starrte in die Dunkelheit. Schwer ging sein Atem. Jennings beobachtete ihn.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Thorn«, sagte Jennings ruhig. »dann möchte ich Ihnen gern helfen, es herauszufinden.«

»Nein«, stöhnte Thorn. »Das ist mein Problem.«

»Sie irren sich, Sir«, entgegnete Jennings traurig. »Es ist auch mein Problem.«

Thorn wandte sich ihm zu, und ihre Blicke trafen sich. Langsam ging Jennings in die Dunkelkammer, und als er wieder zurückkam, hatte er ein Foto in der Hand. Er gab es Thorn.

»In der Ecke dieses Zimmers, wo der Priester hauste, war ein kleiner Spiegel«, sagte Jennings düster. »Zufälligerweise schaute ich hinein und sah mein eigenes Spiegelbild, als ich eine Aufnahme machte.«

Thorn betrachtete das Foto, dann sah er Jennings an.

»Ein ziemlich ungewöhnlicher Effekt«, sagte Jennings. »Meinen Sie nicht auch?«

Er zog die Glühbirne tiefer, so daß Thorn das Bild deutlicher sehen konnte. Es war die Aufnahme von Tassones Zimmer; in einer Ecke hing ein kleiner Spiegel.

Man konnte sehen, daß Jennings die Kamera vor sein Gesicht hielt und durch den Sucher schaute.

Es war nichts Ungewöhnliches daran, wenn ein Fotograf sein eigenes Spiegelbild fotografierte, doch in diesem Falle fehlte etwas.

Es war Jennings Hals! Er war durch ein schleierhaftes Gebilde von seinem Körper getrennt.

Загрузка...