Am folgenden Morgen, nachdem sich die Nachricht von Katherines Unfall verbreitet hatte, war es leicht für Thorn, sich für ein paar Tage in seinem Büro zu entschuldigen. Er erzählte seinem Stab, er wolle nach Rom fliegen, um einen Spezialisten für Katherine zu besorgen. In Wahrheit reiste er aus einem ganz anderen Grunde in die italienische Hauptstadt.
Nachdem er dem Fotografen die ganze Geschichte erzählt hatte, konnte ihn Jennings davon überzeugen, daß es am besten wäre, am Ausgangspunkt zu beginnen, also zu dem Hospital zu gehen, in dem Damien geboren worden war. Danach würden sie versuchen, alles Stück für Stück zusammenzusetzen.
Die Reise war schnell und ohne großes Tamtam arrangiert. Thorn benutzte einen Privat-Jet, um London zu verlassen und um auf einer Piste in Rom zu landen, die für den öffentlichen Flugverkehr gesperrt war. In den Stunden vor ihrer Abreise beschäftigte sich Jennings damit, Untersuchungsmaterial zu sammeln, darunter einige Ausgaben der Bibel und drei Bücher über okkulte Themen. Thorn fuhr nach Pereford, um seine Sachen zu packen. Er nahm einen Hut mit, um möglichst unerkannt zu bleiben.
In Pereford war es ungewöhnlich ruhig. Als Thorn durch das leere Haus wanderte, merkte er, daß Mrs. Horton nirgends zu sehen war. Auch Mister Horton nicht. Die Wagen standen nebeneinander in der Garage.
»Sie haben alle beide gekündigt«, sagte Mrs. Baylock, als Thorn in die Küche kam.
Die Frau stand über dem Spülbecken und schnitt Gemüse, und sie tat es genauso, wie es Mrs. Horton immer getan hatte.
»Sie sind nicht mehr da?« fragte Thorn.
»Weg. Auf und davon. Sie haben eine Adresse hinterlassen, wohin Sie ihnen ihr letztes Monatsgehalt überweisen sollen.«
Thorn war schockiert.
»Haben Sie gesagt, warum?« fragte er.
»Das ist doch egal, Sir. Ich schaffe es schon.«
»Aber sie müssen doch einen Grund genannt haben.«
»Mir nicht. Mir haben sie nichts gesagt. Aber mit mir haben sie auch sonst nicht viel geredet. Der Mann war’s, der darauf bestanden hat, daß sie weggehen sollten. Ich glaube, Mrs. Horton wäre ganz gern geblieben.«
Thorn sah sie mit verstörten Augen an. Er hatte Angst davor, sie allein mit Damien im Haus zu lassen. Aber was sollte er tun? Er mußte nach Rom.
»Ich muß für ein paar Tage verreisen … kommen Sie alleine zurecht?«
»Ich denke schon, Sir. Sie haben genug Lebensmittel für ein paar Wochen hier, und ich meine, dem Jungen werden Ruhe und Frieden im Haus recht gut tun.«
Thorn nickte. Beim Verlassen der Küche sagte er: »Mrs. Baylock?«
»Sir?«
»Dieser Hund!«
»Oh, ich weiß. Er wird noch heute verschwinden.«
»Warum ist er überhaupt noch hier?«
»Wir brachten ihn raus aufs Land und ließen ihn frei, aber er kam wieder zurück. Gestern abend, nach … nun, nach dem Unfall, war er an der Tür, und der Junge war ganz aufgeregt, er fragte mich sofort, ob er nicht in seinem Zimmer bleiben könnte. Ich sagte ihm gleich, Sie würden das bestimmt gar nicht mögen, aber unter diesen Umständen, dachte ich …«
»Ich will, daß der Hund sofort verschwindet.«
»Ja, Sir. Ich werde noch heute das Tierasyl anrufen.«
Thorn war schon an der Tür.
»Mr. Thorn?«
»Ja?«
»Wie geht es Ihrer Frau?«
»Ach, danke, recht gut.«
»Wenn Sie nicht da sind, könnte ich Ihre Frau mal mit dem Jungen besuchen?«
Schweigend betrachtete Thorn die Frau, als sie nach einem Küchenhandtuch griff und ihre Hände abzutrocknen begann. Sie sah wirklich aus wie eine gute Haushälterin, und jetzt hätte er nicht sagen können, weshalb er sie nicht mochte.
»Es ist mir lieber, Sie lassen das. Ich bringe Damien dann hin, wenn ich wieder zurück bin.«
»Na schön, Sir.«
*
Sie nickten einander zu, und Thorn ging hinaus. Er fuhr mit seinem eigenen Wagen zum Krankenhaus. Dort ließ er sich bei Dr. Becker melden, der ihm mitteilte, daß Katherine wach sei und sich ausgeruht fühle. Er fragte, ob nicht ein Psychiater sie besuchen könne, und Thorn gab ihm die Telefonnummer von Dr. Greer.
Dann ging er hinein zu Katherine. Ein schwaches Lächeln erhellte ihre Züge, als er eintrat.
»Hey«, sagte er.
»Hey«, hauchte sie.
»Fühlst du dich besser?«
»Ein wenig.«
»Der Arzt sagt, du wirst schnell wieder in Ordnung kommen.«
»Ich bin ganz sicher.«
Thorn holte sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. Er war beeindruckt von ihrer Schönheit – selbst in diesem Zustand. Das Sonnenlicht strömte durch das Fenster und ihre Haare leuchteten.
»Eine merkwürdige Zeit«, sagte sie ruhig.
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie sahen sich in die Augen.
»Du siehst prima aus«, sagte sie.
»Ich denke an dich«, antwortete er.
»Ich bin sicher, ich war eine Vision«, scherzte sie.
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie sahen sich in die Augen.
»Eine merkwürdige Zeit«, sagte sie ruhig.
»Ja.«
»Glaubst du, daß es jemals anders kommen wird?«
»Ich denke schon.«
Sie lächelte traurig, dann strich sie eine Strähne aus den Augen.
»Wir sind gute Menschen, nicht wahr, Jerry?« fragte sie.
»Ja. Sicher.«
»Warum geht denn dann alles schief?«
Er schüttelte den Kopf. Er konnte ihre Frage nicht beantworten.
»Wenn wir böse Leute wären«, sagte sie ruhig. »dann würde ich sagen ›okay … vielleicht habt ihr das verdient.‹ Aber was haben wir denn falsch gemacht? Haben wir überhaupt jemals etwas falsch gemacht?«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er heiser.
Sie sah so begehrenswert, so unschuldig aus. Am liebsten hätte er sie ganz fest in seine Arme geschlossen.
»Hier wirst du sicher sein«, flüsterte er. »Ich muß ein paar Tage verreisen.«
Sie zeigte keine Reaktion. Sie fragte ihn nicht einmal, wohin er fahren müsse.
»Es ist geschäftlich«, betonte er. »Etwas, das ich einfach tun muß.«
»Wie lange?«
»Drei Tage. Ich werde dich jeden Tag anrufen.«
Sie nickte. Langsam erhob er sich, dann beugte er sich über sie und drückte einen Kuß auf ihre Wange.
»Jerry?«
»Hm?«
»Sie haben gesagt, ich sei gesprungen!«
Sie sah zu ihm auf, ihre Augen waren fragend wie die eines Kindes.
»Haben Sie dir das auch gesagt?« fragte sie.
»Ja.«
»Warum hätte ich das tun sollen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Thorn leise. »Das müssen wir irgendwie herausfinden.«
»Bin ich verrückt?« fragte sie schlicht.
Thorn starrte sie an, dann schüttelte er langsam den Kopf.
Er antwortete: »Vielleicht sind wir es alle.«
Sie streckte die Hände nach ihm aus, und er beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu küssen.
»Ich bin nicht gesprungen«, erklärte sie flüsternd. »Damien hat mich gestoßen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Thorn sich fassen konnte.
Wortlos und schweren Schrittes verließ Jeremy Thorn das Krankenzimmer.
*
Der sechssitzige Lear Jet war unbesetzt bis auf Thorn und Jennings, und als er unter dem dunklen Himmel auf Rom zuraste, lag Spannung in der Luft.
Jennings hatte die Bücher um sich herum aufgebaut und Thorn ersucht, sich an alles zu erinnern, was Tassone ihm gesagt hatte.
»Ich kann es nicht«, sagte Thorn fast ärgerlich. »Es ist alles so vage … als ob es überhaupt nicht geschehen wäre.«
»Fangen wir ganz vorne an. Sagen Sie mir alles, was Sie mir sagen können.«
Thorn erzählte ihm von seiner ersten Begegnung mit Tassone. Einmal, wie der Priester ihn tagelang verfolgte, wie er ihn dann angesprochen und zu der Begegnung im Park eingeladen hatte. Bei dieser Zusammenkunft hatte er ein Gedicht rezitiert oder so etwas … aber Thorn wußte nicht, was es war. Er hatte mit so merkwürdiger Betonung gesprochen.
»Es war irgend etwas wie … aus dem Meer erheben …«, murmelte Thorn, während er sich verzweifelt zu erinnern versuchte. »… über Tod … und Armeen … das Römische Reich …«
»Es wäre besser gewesen, wenn Sie genau zugehört hätten.«
»Ach, ich war sehr aufgeregt. Ich hielt ihn doch für verrückt! Ich habe überhaupt nicht richtig zugehört.«
»Aber Sie haben zugehört. Sie haben es gehört. Der Schlüssel zu der ganzen Geschichte liegt in Ihrer Hand, versuchen Sie doch endlich, sich zu erinnern.«
»Ich kann nicht!«
»Versuchen Sie es … versuchen Sie es!«
Enttäuschung tauchte auf Thorns Gesicht auf. Er schloß die Augen und versuchte seinen Verstand in eine Richtung zu zwingen, in die zu bewegen er sich weigerte.
»Ich erinnere mich … oh ja, er bat mich, die Kommunion zu nehmen, das Blut Christi zu trinken. Genau das hat er gesagt. Trinken Sie das Blut Christi …«
»Wozu?«
»Um den Sohn des Teufels zu besiegen. Er sagte: Trinken Sie das Blut Christi, um den Sohn des Teufels zu besiegen.«
»Was sonst?«
»Ein alter Mann. Er sagte irgend etwas über einen alten Mann …«
»Was für ein alter Mann?«
»Er sagte, ich solle einen alten Mann aufsuchen.«
»Weiter … weiter.«
»Ich kann mich nicht erinnern …!«
»Hat er Ihnen einen Namen genannt?«
»M … Magdo … Meggido. Nein, das war die Stadt.«
»Was für eine Stadt?« drängte Jennings.
»Die Stadt, wohin ich gehen sollte. Ja, das stimmt. Meggido. Ich bin ganz sicher, daß sie so hieß. Er hat gesagt, dorthin solle ich gehen.«
Aufgeregt suchte Jennings in seiner Aktentasche herum, dann holte er eine Landkarte heraus.
»Meggido …«, murmelte er. »Meggido …« »Haben Sie diesen Namen jemals gehört?« fragte Thorn. »Ich möchte wetten, daß es eine italienische Stadt ist.« Aber es war keine italienische Stadt. Sie war nirgends verzeichnet, es gab sie in keinem Land auf dem europäischen Kontinent. Jennings studierte seine Landkarte fast eine halbe Stunde lang, dann faltete er sie wieder zusammen und schüttelte enttäuscht den Kopf.
Er warf einen Blick auf Thorn und sah, daß der Botschafter eingeschlafen war. Er weckte ihn nicht, statt dessen nahm er sich die okkulten Bücher vor. Als die kleine Maschine durch den mitternächtlichen Himmel raste, verlor er sich in den Prophezeiungen des zweiten Kommens Christi. Dieses Kommen war verbunden mit dem Erscheinen des Antichrist, des Unheiligen, des Untiers, des Wilden Messias:
… und auf diese Erde wird kommen der Wilde Messias, der Abkömmling Satans in menschlicher Form, geboren durch die Vergewaltigung eines vierbeinigen Tieres. Als junger Christus wird er Liebe und Freundlichkeit verbreiten, als Antichrist aber Haß und Furcht … er wird seine Befehle direkt von der Hölle erhalten.
Das Flugzeug setzte auf. Haber Jennings sammelte seine Bücher zusammen. Sie waren am Ziel. In Rom regnete es. Ober ihnen grollte der Himmel.
Mit raschen Schritten überquerten sie den vereinsamten Platz des Flughafens, an dessen Ausgang ein Taxi auf sie wartete. Sie stiegen ein, und Jennings schlief, kaum daß der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte. Ein Regenschauer ging über Rom nieder, doch Thorn erinnerte sich plötzlich daran, wie er mit Katherine – beide jung und voller Hoffnung – durch die römischen Straßen flaniert war. Wie naiv, wie verliebt waren sie gewesen. Ganz genau erinnerte er sich an ihr Parfüm und an ihr helles wundervolles Lachen. Sie hatten damals ihr Glück, ihr ganz privates Glück nach Rom gebracht, und deshalb war es ihre Stadt, ihre eigene Stadt, die sie erkundeten. Nur manchmal … manchmal blieben sie am Nachmittag im Hotel, blieben im Bett und liebten sich. Beteten ihre nackten Körper an. Gaben sich der wundervollen Lust hin, die sie zu verzehren schien.
Nun, da Thorn in die Nacht hinausstarrte, fragte er sich, ob sie dieses Glück jemals wiederfinden konnten.
»Ospedale Generale«, sagte der Taxifahrer und hielt den Wagen an.
Jennings erwachte, und Thorn blinzelte in die Nacht hinaus, Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit.
»Das ist es nicht«, sagte Thorn.
»St. Ospedale Generale.«
»Nein, es war alt. Ein Gebäude aus Ziegelsteinen. Ich erinnere mich genau.«
»Ist das nicht die richtige Adresse?« fragte Jennings.
»Ospedale Generale«, wiederholte der Fahrer.
»E differente«, sagte Thorn.
»Ah«, antwortete der Fahrer. »Fuoco. Tre anni piü omeno.«
»Was hat er gesagt?« fragte Jennings.
»Feuer«, erwiderte Thorn. »FUOCO heißt Feuer.«
»Si«, sagte der Fahrer wieder. »Tre anni.«
»Was ist mit Feuer?« fragte Jennings.
»Offensichtlich ist das alte Hospital abgebrannt. Man hat ein neues gebaut.«
»Tre anni piu omeno. Multo morte.«
Thorn sah Jennings an. »Vor drei Jahren. Multo morte. Viele Tote.«
Sie bezahlten den Taxifahrer und baten ihn zu warten. Zuerst weigerte er sich, aber als er dann sah, wieviel Geld sie ihm gegeben hatten, war er dazu bereit. In gebrochenem Italienisch sagte ihm Thorn, er solle sie die ganze Zeit über, bis sie Rom wieder verließen, fahren. Der Fahrer nickte, er sagte, er müsse seine Frau anrufen, aber er versprach, wieder hierherzukommen.
Im Hospital wurden sie sofort enttäuscht. Da es spät war, erklärte man ihnen, die leitenden Ärzte würden erst am Morgen wieder da sein. Jennings ließ sich nicht ohne weiteres abspeisen, er suchte jemanden, der etwas zu sagen hatte, während Thorn eine englisch sprechende Nonne fand, die ihm bestätigte, daß das alte Hospital vor drei Jahren durch ein Feuer völlig zerstört worden sei.
»Sicherlich ist nicht alles vernichtet worden«, meinte Thorn. »Es müßte doch Aufzeichnungen geben …«
»Ich war damals nicht hier«, erwiderte sie in gebrochenem Englisch. »Aber sie sagen, es sei alles verbrannt.«
»Ist es möglich, daß Papiere anderswo aufbewahrt werden?«
»Ich weiß es nicht.«
Thorn zog eine Grimasse, als die Nonne mit den Schultern zuckte. Mehr konnte sie ihm nicht sagen.
»Hören Sie«, sagte Thorn. »Dies ist sehr wichtig für mich. Ich habe hier ein Kind adoptiert und ich suche nach einer Beurkundung seiner Geburt.«
»Hier fanden niemals Adoptionen statt.«
»Doch. Eine bestimmt. Es war eine Adoption, die hier erledigt wurde.«
»Sie irren sich. Unsere Adoptionen werden vom Sozialamt durchgeführt.«
»Gibt es Aufzeichnungen über Geburten? Ich meine, bewahren Sie Aufzeichnungen auf, wenn hier Kinder geboren werden?«
»Ja, natürlich.«
»Vielleicht, wenn ich Ihnen ein Datum sagen würde –«
»Es hat keinen Zweck«, unterbrach Jennings.
Thorn warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
»Das Feuer ist in dem Raum, in dem die Aufzeichnungen aufbewahrt wurden, ausgebrochen. Unten im Keller. Dort lagen alle Papiere. Natürlich brannte das ganze Zeug wie eine Fackel. Das Feuer schoß die Treppen hinauf … und im dritten Stock war das reinste Inferno.«
»Im dritten Stock?«
»Ja. Da war die Geburtsstation«, nickte Jennings. »Nichts übriggeblieben außer Asche.«
Thorn lehnte sich müde gegen die Wand.
»Wenn Sie mich entschuldigen wollen«, sagte die Nonne.
»Warten Sie«, bat Thorn. »Und was war mit den Angestellten? Mit den Ärzten, den Pflegern, den Nonnen? Sicherlich haben doch einige überlebt.«
»Ja. Einige.«
»Hören Sie, da war ein großer Mann. Ein Priester. Ein Riese von einem Mann.«
»Hieß er vielleicht Spilletto?«
»Ja, ja«, sagte Thorn aufgeregt. »Spilletto.«
»Er war Verwaltungschef«, antwortete die Nonne.
»Ja. Er hatte Dienst. Ist er …«
»Er hat überlebt.«
Thorns Herz schlug schneller. »Ist er hier?«
»Nein.«
»Wo?«
»In einem Kloster in Subiaco. Viele der Überlebenden kamen dorthin. Viele sind auch dort gestorben. Vielleicht ist er auch gestorben. Aber diese Feuersbrunst hat er überlebt. Ich erinnere mich noch, daß sie sagten, es sei ein Wunder, daß er überlebte. Er war nämlich zur Zeit des Brandes da droben im dritten Stock.«
»Subiaco?« fragte Jennings.
Die Nonne nickte. »Das Kloster von San Benedetto.«
Sie rannten so schnell sie konnten zum Taxi und studierten die Landkarte. Subiaco war weit weg, ganz unten im Süden Italiens. Sie müßten die Nacht opfern für die Fahrt.
Der Taxifahrer wollte zuerst nicht mitmachen. Als sie ihm dann aber eine verlockende Summe boten, ging’s plötzlich. Jennings zeichnete mit dem Rotstift die Route in die Karte. Danach konnte sich der Fahrer orientieren, während sie im Fond zu schlafen gedachten.
Aber sie waren viel zu aufgeregt, um zu schlafen. Statt dessen nahmen sie sich die Bücher vor und suchten im trüben Licht des Wagens die Textstellen des Paters.
»Ich will verdammt sein …«, flüsterte Jennings aufgeregt. »Hier haben wir’s.«
»Was?«
»Hier steht’s doch! Buch der Offenbarung. Wenn die Juden nach Zion zurückkehren –«
»Das war’s«, unterbrach ihn Thorn erregt. »Das Gedicht. Wenn die Juden nach Zion zurückkehren. Und dann war etwas über einen Kometen …«
»Das steht auch hier«, sagte Jennings und wies auf ein anderes Buch. »Ein Schauer von Sternen, der Aufstieg des Heiligen Römischen Reiches. Man vermutete, daß das die Signale waren, als der Antichrist geboren wurde. Des Teufels Kind.«
Während das Taxi über die Landstraßen fuhr, lasen sie ununterbrochen. Thorn holte aus seiner Aktentasche den interpretierenden Text, den er einmal benutzt hatte, um eine Rede vorzubereiten, in welcher er aus der Bibel zitiert hatte. Hier fanden sie mit klaren Worten erläutert, was die Symbole in den Schriften bedeuteten.
»Also: Die Juden sind nach Zion zurückgekehrt«, meinte Jennings, als die erste Morgenhelle am Horizont erschien. »und es gab einen Kometen. Und was den Aufstieg des Heiligen Römischen Reiches betrifft, so gibt es Wissenschaftler, die meinen, man könne dies als die Bildung des Gemeinsamen Marktes interpretieren.«
»Ein bißchen weit hergeholt …«, lächelte Thorn.
»Und was halten Sie davon?« fragte Jennings, während er eines seiner Bücher aufschlug. »In der Offenbarung heißt es: Er wird kommen aus dem Ewigen Meer.«
»Das ist doch wieder das Gedicht. Tassones Gedicht.«
Thorn schloß die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Aus dem Ewigen Meer. Er erhebt sich … mit Armeen an jeder Küste. Ja, so hat es begonnen.«
»Er hat nichts anderes getan, als sich auf die Offenbarung bezogen. Er hat diese Verse dem Buch der Offenbarung entnommen.«
»Aus dem Ewigen Meer wird er aufsteigen und sich erheben …«, weiter kam Thorn nicht. Die anderen Textzeilen hatte er vergessen.
»Das ist der springende Punkt, Thorn«, sagte Jennings und deutete auf sein Buch. »Und er besagt, daß die Versammlung der internationalen theologischen Wissenschaften dieses ›Ewige Meer‹ so interpretiert hat, daß es sich dabei um die Welt der Politik handelt. Das Meer ist in ständiger Bewegung, erschüttert von Unruhe und von Revolutionen und Kriegen und so weiter …«
Jennings hörte Thorn aufmerksam zu. »Das Kind des Teufels wird auferstehen aus der Welt der Politik«, fügte er nach einer Weile bedeutungsvoll hinzu.
Thorn gab ihm keine Antwort. Er schaute zum Fenster hinaus. Das Morgenlicht enthüllte die Landschaft mehr und mehr.
*
Das Kloster von San Benedetto war in einem erbärmlichen Zustand, aber die gewaltige steinerne Festung hatte sich ihre Stärke und Würde selbst dann noch bewahrt, als die Elemente an den Mauern zu nagen begannen. Seit Jahrhunderten stand es auf diesem Fels, und es hatte vielen Belagerungen widerstanden.
Im Zweiten Weltkrieg waren die Mönche dieses Klosters von deutschen Streitkräften erschossen worden. Das Kloster wurde zum Hauptquartier gemacht. Im Jahre 1946 wurde es von den Italienern selbst beschossen – gewissermaßen aus Rache für das, was hinter den dicken Mauern in den letzten Jahren vorgegangen war.
Aber keiner dieser irdischen Angriffe hatte dem Kloster wirklich etwas anhaben können. San Benedetto ist ein heiliger Ort geblieben. Gewaltig erhebt sich das gotische Bauwerk gen Himmel, und wie in den Jahrhunderten vorher erklingen auch jetzt wieder die alten Gebete in seinen Mauern.
Das Kloster hat alle Zeiten überdauert – auch die schrecklichen …
Das kleine, schmutzbedeckte Taxi, das an der schweren Steinmauer entlangfuhr, hatte die Passagiere endlich ans Ziel gebracht. Der Fahrer mußte sie wachrütteln.
»Signori?«
Als Thorn sich bewegte, kurbelte Jennings bereits sein Fenster herunter und ließ die Morgenluft herein, während er die grüne, taufeuchte Landschaft betrachtete.
»San Benedetto«, murmelte der müde Fahrer.
Thorn rieb sich die Augen, er blickte zu der Silhouette des Klosters hinüber, die sich von dem rötlichen Morgenhimmel abhob.
»Schaut euch mal das an …«, flüsterte Jennings.
»Können wir nicht näher ´ranfahren?« fragte Thorn.
Der Fahrer schüttelte den Kopf.
»Offensichtlich nicht«, meinte Jennings.
Sie rieten dem Fahrer, irgendwo in der Nähe zu parken und ein bißchen zu schlafen; dann stiegen sie aus und marschierten auf das Kloster zu. Nach wenigen Augenblicken standen sie mitten im hohen Gras, das ihre Hosen bis zu den Oberschenkeln näßte. Es war ein schwieriger Weg, und sie waren dafür nicht gerüstet. Die Kleider schienen an ihnen zu kleben, als sie sich mühsam durchs Feld arbeiteten. Keuchend blieb Jennings stehen. Diese wunderbare Landschaft faszinierte ihn so sehr, daß er fast eine halbe Filmrolle verschoß.
»Unglaublich«, flüsterte er. »So was habe ich noch nie gesehen.«
Ungeduldig feuerte Thorn ihn zum Weitergehen an, und Jennings beeilte sich, seinen Begleiter einzuholen. Stumm und keuchend stiegen sie bergan, und da plötzlich konnte man in der Stille den feierlichen Mönchsgesang im Kloster vernehmen. Klang dies nicht beinahe wie ein Stöhnen?
»Eigentlich sieht es hier sehr traurig aus«, meinte Jennings, als sie den Eingang erreicht hatten. »Hören Sie sich das an. Klingt es nicht wie ein Wehklagen?«
Es war furchterregend und ehrfurchtsvoll zugleich; der monotone Singsang schien aus den Wänden der steinernen Korridore und Bögen aufzusteigen, als sie langsam hineingingen und sich in der Leere umschauten, während sie versuchten, den Schauplatz der Bittgesänge zu entdecken.
»Vielleicht diesen Weg«, meinte Jennings und deutete auf einen langen Korridor. »Sehen Sie sich bloß mal diesen Dreck an!«
Der Boden vor ihnen sah aus wie ein schmutziger Pfad. Die Füße, die seit Jahrhunderten über diesen Pfad geschritten waren, hatten die Steine abgewetzt und eine Rinne geschaffen, durch die bei schwerem Regen Wasser floß. Der Weg führte zu einer riesigen steinernen Rundhalle, die durch schwere hölzerne Türen verschlossen war.
Als sie langsam näherkamen, hörten sie den Gesang deutlicher. Sie öffneten die Tür. Scheu blieben sie stehen: Es war, als wären sie direkt ins Mittelalter zurückgekehrt. Die Gegenwart Gottes und des Heiligen Geistes war spürbar, fast greifbar wie ein körperliches, lebendiges Wesen. Vor ihnen ein gewaltiger alter Raum. Steinstufen führten zu einem breiten Altar, auf dem ein mächtiges Holzkreuz stand, das den Leib Christi trug – eine Skulptur aus Meisterhand.
Die Rundhalle selbst bestand aus steinernen Blöcken, auf denen Kletterpflanzen nach oben wuchsen und sich im Mittelpunkt der kuppelartigen Decke vereinten, deren Spitze offen war. In einer Stunde etwa würden die Sonnenstrahlen durch diese Öffnung strömen und die Gestalt Christi beleuchten.
»Das ist aber ein Ding, Mann«, flüsterte Jennings. »Hier muß man ja beten.«
Thorn nickte. Seine Blicke fielen auf eine Gruppe von Mönchen, die Kapuzen trugen und zwischen den Bänken knieten, während sie beteten. Es war ein inbrünstiger, eintöniger Singsang. Bald hoben sich die Stimmen, bald wurden sie leiser, gleich einem ewigen Hinscheiden und Sicherneuern, und diese Stimmen schienen alle Kraft aus sich selbst zu schöpfen.
Im Halbdunkel fummelte Jennings an seinem Lichtmesser herum. Offenbar war die Belichtungszeit ein Problem.
»Stecken Sie das Ding weg«, flüsterte Thorn.
»Ich hätte mein Blitzlichtgerät mitbringen sollen.«
»Ich habe gesagt – stecken Sie das weg.«
Jennings warf Thorn einen wütenden Blick zu, doch er gehorchte. Thorn war tief erregt, seine Knie zitterten, am liebsten hätte er sich hingekniet und ebenfalls gebetet.
»Sind Sie in Ordnung?« flüsterte Jennings.
»Ich bin Katholik«, antwortete Thorn mit ruhiger Stimme. Und dann stutzte er. Die Augen sahen irgend etwas in der Dunkelheit. Jennings folgte seinem Blick, und er sah es ebenfalls. Es war ein Rollstuhl. Und in dem Rollstuhl saß ein Riese von einem Mann. Anders als die Mönche, die mit gesenkten Köpfen zwischen den Bänken knieten, saß der Mann steif und kerzengerade im Rollstuhl. Er hatte den Kopf geneigt und die Arme gebeugt, als ob er paralysiert wäre.
»Ist er das?« flüsterte Jennings.
Thorn nickte. Seine Augen waren groß vor Spannung. Langsam gingen die Männer weiter nach vorne, damit sie besser sehen konnten. Jennings’ Herz klopfte schneller, als er die Gesichtszüge des Priesters betrachtete. Die eine Hälfte dieses Gesichtes war völlig deformiert, das eine Auge starrte blind nach oben. Die rechte Hand war verkrüppelt. Aus dem Ärmel des sackartigen Gewandes ragte lediglich ein glatter Stumpf heraus.
»Wir wissen nicht, ob er sehen und hören kann«, sagte der Mönch, der im Hof des Klosters über Spilletto stand. »Seit dem Feuer hat er nicht einen einzigen Laut von sich gegeben.«
Sie befanden sich auf einem Platz, der einstmals ein Garten gewesen sein mochte, nun aber lagen zersplitterte Steine und zerbrochene Statuen herum. Der Mönch hatte am Ende des Gottesdienstes Spillettos Rollstuhl aus der Rotunda herausgeschoben. Die beiden Männer waren ihm gefolgt und hatten sich ihm erst genähert, als sie außer Hörweite waren.
»Die Brüder müssen ihn pflegen und warten«, fuhr der Mönch fort. »und wir beten für seine Genesung, wenn seine Bestrafung beendet ist.«
»Bestrafung?« fragte Thorn.
Der Mönch nickte.
»Wehe dem Hirten, der sein Schaf verläßt. Möge sein rechter Arm verdorren und möge sein rechtes Auge das Licht verlieren.«
»Er ist in Gottes Ungnade gefallen?« fragte Thorn.
»Ja.«
»Darf ich fragen warum?«
»Weil er Christus verlassen hat.«
Thorn und Jennings wechselten einen fragenden Blick.
»Woher wissen Sie, daß er Christus verlassen hat?« fragte Thorn den Mönch.
»Durch eine Beichte.«
»Aber er kann nicht sprechen.«
»Durch eine geschriebene Beichte. Er kann seine linke Hand noch ein wenig bewegen.«
»Was war das für eine Beichte?« drängte Thorn.
Der Mönch schwieg einen Augenblick. »Darf ich fragen, warum Sie diese Fragen stellen?«
»Weil es ungeheuer wichtig ist«, antwortete Thorn ernst. »Ich möchte Sie bitten, uns zu helfen. Ein Leben steht auf dem Spiel.«
Lange betrachtete der Mönch Thorns Gesicht, dann nickte er.
»Kommen Sie mit.«
Spillettos Zelle war völlig kahl. Sie enthielt nur eine Strohmatratze und einen steinernen Tisch. Wie die Rundhalle war sie oben geöffnet. Licht und Regen hatten Zugang. Vom Regen der vergangenen Nacht war eine Wasserpfütze geblieben. Thorn sah, daß die Matratze naß war, und er fragte sich, ob alle so unbequem schliefen oder ob es ein Teil der Bestrafung Spillettos war.
»Es steht auf dem Tisch«, sagte der Mönch, als sie eintraten. »Er hat es mit Kohle hingeschrieben.«
Spillettos Rollstuhl klapperte, als er über die unebenen Steine geschoben wurde. Sie versammelten sich um den kleinen Tisch und betrachteten die seltsamen Symbole, die der Priester gezeichnet hatte.
»Er tat es, als er hierherkam«, erklärte der Priester. »Wir ließen die Kohle hier auf dem Tisch liegen, aber er hat danach nichts mehr gezeichnet.«
Es war eine groteske, schmale Figur, wie von Kinderhand hingekritzelt. Sie stand gebeugt und war mißgestaltet, ihr Kopf umgeben von einer halbkreisförmigen Linie. Was Jennings geschultem Auge sofort auffiel, waren die drei Zahlen, die der Halbkreis über dem Kopf der Figur einschloß. Es war die Zahl Sechs. Dreimal! Wie jenes Zeichen auf Tassones Oberschenkel.
»Sie werden die geschwungene Linie über dem Kopf sehen«, sagte der Mönch. »Das soll die Kapuze des Mönchs sein. Seine eigene Kapuze.«
»Ist es ein Selbstporträt?« fragte Jennings.
»Vermutlich.«
»Was bedeutet diese Sechs?«
»Sechs ist das Zeichen des Teufels«, erwiderte der Mönch. »Sieben ist die vollkommene Zahl, die Zahl unseres Herrn Jesus. Aber die Sechs ist das Zeichen des Satans.«
»Warum aber dreimal die Sechs?«
»Wir glauben, daß damit die diabolische Dreieinigkeit gemeint ist: der Teufel, der Antichrist und der falsche Prophet.«
»Vater, Sohn und Heiliger Geist«, bemerkte Thorn.
Der Mönch nickte. »Für jeden Heiligen gibt es etwas Unheiliges. Das ist von entscheidender Bedeutung bei der Versuchung.«
»Warum bezeichnen Sie das da als eine Beichte?« fragte Jennings.
»Es ist, wie Sie sagen, ein Selbstporträt. Wenigstens glauben wir dies. Und hier ist, symbolisch angedeutet, das Triumvirat der Hölle.«
»Dann wissen Sie also nicht genau, worauf sich seine Beichte bezieht?«
»Die Einzelheiten sind unwichtig«, entgegnete der Mönch.
»Alles, was wichtig ist, das ist die Tatsache, daß er zu bereuen wünscht.«
Jennings und Thorn sahen sich lange an. Enttäuschung stand auf Thorns Gesicht zu lesen.
»Kann ich mit ihm sprechen?« fragte Thorn.
»Es würde gar keinen Sinn haben.«
Thorn warf einen Blick auf Spilletto und erschauerte beim Anblick dieser unheimlichen Fratze.
»Pater Spilletto«, sagte er entschlossen. »mein Name ist Thorn.«
Stumm starrte der Priester ins Leer. Er verharrte reglos, als ob er nichts gehört hätte.
»Es hat keinen Zweck«, sagte der Mönch.
Aber Thorn ließ sich nicht abhalten.
»Pater Spilletto«, wiederholte Thorn. »Es geht um mein Kind. Ich will wissen, woher es stammt.«
»Bitte, Signore«, flüsterte der Mönch.
»Sie haben ihnen gebeichtet!« schrie Thorn. »Nun beichten Sie mir! Ich will wissen, woher das Kind stammt!«
»Ich muß Sie dringend bitten …«
»Pater Spilletto! Hören Sie mich! Sprechen Sie!«
Der Mönch versuchte an Spillettos Rollstuhl heranzukommen, aber Jennings stellte sich ihm in den Weg.
»Pater Spilletto!« rief Thorn in das stumme totengleiche Antlitz. »Ich bitte Sie! Wo ist sie?! Wer war sie?! Bitte! Geben Sie mir endlich Antwort!«
Und plötzlich zitterte der Boden, ein Beben erhob sich, und die Glocken im Kirchturm begannen zu läuten.
Es war unheimlich. Wie erstarrt standen Thorn und Jennings, als dieses Geläute von den Steinmauern des Klosters widerhallte. Dann geschah es. Die Hand des Priesters zitterte. Langsam hob sie sich.
»Die Kohle! Schnell!« flüsterte Thorn. »Gib ihm die Kohle!«
Jennings hatte sofort begriffen. Er nahm die Kohle vom Tisch und drückte sie in Spillettos zitternde Hand. Während die Glocken dröhnten, zuckte die Hand des Priesters ungelenk über die Steinplatte, doch seine Zeichen nahmen mehr und mehr die Form von Buchstaben an, und es entstanden Wellenlinien …
»Es ist ein Wort!« rief Jennings erregt. »C … E … R …«
Jede Fiber im Körper des Priesters schien zu erbeben, während er sich bemühte, mehr zu schreiben, sein mißgestalteter Mund öffnete sich weit, stieß ein tierähnliches Stöhnen aus.
»Weiter!« drängte Thorn.
»… V …«, las Jennings. »… E … T …«
Und plötzlich schwiegen die Glocken. Die Kohle entglitt den spasmisch zuckenden Fingern des Priesters, während sein Kopf auf den Stuhl zurückfiel. Erschöpft starrte er nach oben, sein Gesicht war schweißbedeckt.
Als das Echo verklang, standen sie schweigend da und starrten auf das Wort, das er auf den Tisch gekritzelt hatte.
»Cervet …?« fragte Thorn.
»Cervet«, wiederholte Jennings.
»Ist das italienisch?«
Sie wandten sich an den Mönch, der auf das Wort schaute, und dann sahen sie Spilletto an, Verwirrung war in ihren Augen.
»Bedeutet das irgend etwas für Sie?« fragte Thorn.
»Cerveteri«, antwortete der Mönch. »Ich glaube, Cerveteri.«
»Was ist das?« fragte Jennings.
»Das ist ein alter Friedhof. Aus der Zeit der Etrusker. Cimitero di Sant’ Angelo.«
Der steife Körper des Priesters hatte wieder zu zittern begonnen, und er stöhnte, als ob er zu sprechen versuchte. Doch dann beruhigte er sich, der Körper entspannte sich, als ob er sich bewußt würde, daß jedem Ton Grenzen gesetzt waren.
Thorn und Jennings betrachteten den Mönch, der enttäuscht den Kopf schüttelte.
»Cerveteri … das sind nichts als Ruinen. Die Überbleibsel des Schreins von Techulca.«
»Techulca?« fragte Jennings.
»Der etruskische Teufel-Gott. Die Etrusker waren Anbeter des Teufels. Ihre Begräbnisstätte war heiliger Boden.«
»Warum schreibt er gerade diesen Namen?« fragte Thorn.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Wo ist dieser Ort?« fragte Jennings.
»Es gibt ihn eigentlich nicht mehr, Signore, abgesehen von einigen Gräbern … und vielleicht ein paar wilden Schweinen.«
»Wo ist das?« wiederholte Jennings drängend.
»Ihr Taxifahrer wird es wissen. Ungefähr fünfzig Kilometer nördlich von Rom.«
*
Es war nicht leicht, den Taxifahrer zu wecken. Und dann mußten Thorn und Jennings warten, bis er seine Notdurft im Feld neben der Straße verrichtet hatte. Er war jetzt ziemlich unfreundlich und es tat ihm leid, daß er den Job angenommen hatte, besonders als er hörte, wohin sie nun fahren wollten.
Cerveteri war ein Ort, den gottesfürchtige Menschen mieden, und sie würden sicherlich erst spät in der Nacht dort sein.
Das Unwetter, das in Rom geherrscht hatte, war nun auch hier ausgebrochen, und der prasselnde Regen machte ihnen sehr zu schaffen, als sie in der Dunkelheit die Fernstraße verließen und in eine Landstraße einbogen, die voller Schlamm und Schlaglöcher war. Das Taxi rumpelte und polterte. Es rutschte mit dem linken Hinterrad in einen Graben, und die Männer mußten aussteigen und schieben. Als sie wieder im Auto saßen, waren sie durchnäßt, und sie froren. Jennings warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fast Mitternacht. Und das war alles, was sein Verstand registrierte, ehe er einschlief.
Als er einige Stunden später erwachte, merkte er, daß das Taxi stand. In eine Wolldecke gehüllt schlief Thorn neben ihm; alles, was er von dem Fahrer sehen konnte, waren die lehmverkrusteten Schuhe. Schnarchend lag der Mann auf dem Vordersitz.
Jennings fummelte am Türgriff herum, öffnete die Tür, trat dann steifbeinig in die Nacht hinaus und stolperte auf die Büsche zu, um zu urinieren. Es begann nun zu dämmern. Die ersten Lichtzeichen zeigten sich am Himmel. Jennings sah sich um. Er versuchte herauszufinden, wo sie waren. Allmählich begriff er, daß sie Cerveteri erreicht hatten. Vor ihm befand sich ein schmiedeeiserner Zaun, und dahinter hoben sich Grabsteine vom schwach erleuchteten Himmel ab.
Er ging zum Wagen zurück und schaute hinein. Er sah den schlafenden Thorn, dann schaute er auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor fünf. Ruhig ging er zu der Tür des Fahrers, griff durch das Fenster und zog die Schlüssel aus der Zündung, dann ging er zum Kofferraum, schloß ihn vorsichtig auf und schob den Deckel hoch. Das Quietschen war nicht laut genug, um die beiden Männer im Auto zu wecken.
Jennings suchte in der Dunkelheit nach seinem Kameraetui, dann nahm er die Kamera heraus und legte eine neue Filmrolle ein. Vorsichtshalber prüfte er sein Blitzgerät. Das helle Licht blendete ihn einen Augenblick und er taumelte. Als er wieder klar sehen konnte, zog er die Riemen der Kamera und des Blitzgerätes über die Schultern. Plötzlich entdeckte er ein Montiereisen, das unter öligen Putzlappen in einer Ecke des Kofferraums lag. Er nahm es heraus und steckte es in den Gürtel, dann schloß er vorsichtig den Deckel und ging auf die Umfriedung zu.
Der Boden war naß, und Jennings begann zu frieren. Er schlotterte, als er am Zaun entlangschlich und eine Stelle suchte, wo er hineinschlüpfen konnte. Er fand keine, und so mußte er oben drüber klettern. Am Zaun oben angelangt, ließ er sich einfach fallen. Dabei streifte er mit dem Mantel einen scharfen Gegenstand. Sein Mantel hatte einen Riß bekommen, sonst aber hatte er, bis auf einen kleinen Ausrutscher, den Sprung gut überstanden. Jetzt machte er seine Kamera schußbereit. Langsam ging er in den Friedhof hinein. Der Himmel war heller geworden und er konnte nun die Grabsteine und die verwitterten Statuen besser erkennen. Sie waren kunstvoll gearbeitet, aber der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt und sie entstellt. Ihre scheußlichen, zum Teil arg verwitterten Gesichter schienen dunkle Geheimnisse zu bergen. Einige waren halb umgekippt und boten den Nagetieren, die sich um Jennings Anwesenheit nicht kümmerten, Zuflucht. Sie huschten an seinen Füßen vorbei, hier in die dunklen Löcher und tauchten dort wieder auf.
Trotz der Kälte war Jennings in Schweiß gebadet. Unsicher sah er sich um, während er über den regennassen Boden ging. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die leeren Augenhöhlen der Statuen schienen ihn zu verfolgen, wo immer er ging. Er blieb stehen und versuchte sich zu beruhigen, immer wieder sah er sich um. Auf einmal entdeckte er das riesige steinerne Götzenbild, das auf ihn heruntersah, das Gesicht wie in Wut verzerrt, als ob es ihm zürne.
Sein Atem ging schneller. Die Augen des Götzenbildes schienen zu fordern, daß er wieder zurückging. Das Gesicht besaß menschliche Züge, der Ausdruck war tierisch. Es hatte eine tief gefurchte Stirn, eine Knollennase, einen klaffenden, breiten und wutverzerrten Mund.
Jennings mußte gegen ein Angstgefühl ankämpfen, aber es gelang ihm, die Kamera vors Gesicht zu heben und drei Aufnahmen zu machen. Die Blitze aus seinem Gerät waren wie eine Waffe gegen das steinerne Gesicht, das vielleicht vor Jahrhunderten oder vor Jahrtausenden geschaffen worden war.
Thorn schlug die Augen auf. Er streckte sich, und da mußte er feststellen, daß Jennings fort war. Er stieg aus. Vor ihm lag der Friedhof, über dessen Gitter hinweg die Köpfe der Grabfiguren schauten – ein merkwürdiger Anblick im ersten Zwielicht.
»Jennings …«
Keine Antwort. Thorn näherte sich dem Friedhof. Er versuchte es noch einmal mit Rufen, und diesmal meinte er ganz aus der Ferne eine Antwort gehört zu haben. Irgend etwas bewegte sich doch da drinnen! Und zwar schien es direkt auf ihn zuzukommen …
Thorn kletterte über den Zaun. »Jennings?«
Kein Laut. Kein Geräusch. Thorn musterte jede einzelne Statue, indem er ganz langsam weiterging. Bei jedem Schritt durch den Schlamm gurgelte es in seinen Schuhen. Und auch er erschrak, als er dieses Ungeheuer aus Stein erblickte.
Eine merkwürdige Ruhe lag über allem. Es war eine gespannte Ruhe, es war, als hielte die Welt den Atem an. Er hatte Ähnliches zuvor in Pereford einmal erlebt – an jenem Abend, als er das Gefühl gehabt hatte, zwei Augen starrten ihn vom Wald her an. Er betrachtete immer wieder die Statuen, dann sah er ein mächtiges Kreuz, das kopfüber über dem regennassen Boden stand. Er hielt den Atem an. Von irgendwo hinter dem Kreuz kam noch einmal dieser seltsame Laut. Wieder war es, als ob sich jemand bewegte, doch diesmal kam es schnell und direkt auf ihn zu. Am liebsten wäre Thorn weggelaufen, doch er blieb wie angewurzelt stehen.
»Thorn!«
Es war Jennings, der atemlos und mit wilden Augen durch die Büsche gerannt kam. Thorn vermochte das Zittern seines Körpers kaum zu bändigen. Schnell bewegte sich Jennings auf ihn zu. Er hatte das Montiereisen in der Hand.
»Ich hab’s gefunden!« keuchte er. »Ich hab’s gefunden!«
»Was haben Sie gefunden?«
»Kommen Sie mit. Schnell, kommen Sie mit!«
Jennings drehte sich um und lief voraus. Schlamm und Erde spritzten hoch, als er wie ein Hürdenläufer über die Grabsteine sprang. Thorn hatte Mühe, hinter ihm zu bleiben.
»Dort!« rief Jennings, während er in einer Lichtung stehenblieb. »Sehen Sie. Das sind sie!«
Vor ihm lagen zwei Gräber dicht nebeneinander. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern auf diesem Friedhof waren sie verhältnismäßig neu. Das eine hatte die Größe eines erwachsenen Menschen, das andere war klein. Die Grabsteine waren schmucklos, sie trugen nur Namen und Daten.
»Sehen Sie die Daten?« fragte Jennings erregt. »Sechster Juni. Sechster Juni! Vor vier Jahren. Hier die Mutter. Hier das Kind.«
Langsam kam Thorn näher und betrachtete die Inschriften.
»Das sind die einzigen neueren Gräber auf dem ganzen Friedhof«, erklärte Jennings stolz. »Die anderen sind so alt, daß man nicht mal die Namen lesen kann.«
Jennings ließ sich auf die Knie nieder. Er wischte Staub und Schmutz von den Steinen, damit er besser sehen konnte, was da geschrieben stand.
»… Maria Aredia Santora …«, las er. »Bambino Santora … In Morte et in Nate Amplexarantur Generationes.«
»Was soll das bedeuten?«
»Es ist lateinisch.«
»Und was heißt das?«
»… im Tod … und Geburt … Umarmung von Generationen.«
»Das ist vielleicht ein Fund, was?«
Jennings bemerkte erst in diesem Augenblick, daß sein Begleiter weinte. Thorn senkte den Kopf, aber er verbarg seine Tränen nicht. Jennings schwieg.
»Das ist es«, stöhnte Thorn. »Ich weiß es. Hier liegt mein Kind begraben.«
»Und wahrscheinlich die Frau, die das Geschöpf zur Welt gebracht hat, das Sie nun aufziehen.«
Thorn machte ein entsetztes Gesicht.
»Maria Santora«, sagte Jennings und wies auf den Grabstein. »Eine Mutter und ein Kind.«
Thorn schüttelte den Kopf. Noch war ihm nicht alles klar.
»Sehen Sie«, sagte Jennings. »Sie haben von Spilletto verlangt, daß er Ihnen sage, wo die Mutter war. Dies ist die Mutter. Und dies ist wahrscheinlich Ihr Kind.«
»Aber warum hier? Warum auf diesem Friedhof?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Warum an diesem schrecklichen Ort?«
Jennings beobachtete Thorn. Er war genauso bestürzt wie sein Begleiter.
»Es gibt nur einen einzigen Weg, um es herauszufinden, Thorn. Wir haben es bis hierher geschafft, nun können wir die Sache auch zu Ende bringen.«
Er hob sein Eisen und stieß es kräftig in die Erde. Ein dumpfer Laut ertönte. Es war fast völlig in die Erde eingedrungen.
»Das schaffen wir leicht. Sie liegen höchstens einen Fuß tief begraben.«
Er begann mit dem Montiereisen zu graben und die Erde zu lockern. Dann nahm er seine Hände zu Hilfe.
»Wollen Sie mir nicht dabei helfen?« sagte er, und Thorn tat es höchst widerwillig. Seine Finger wurden taub vor Kälte, als er half, die Erde beiseite zu schaffen.
Eine halbe Stunde später waren sie verdreckt von oben bis unten. Beide schwitzten. Immerhin hatten sie die ganze Erdschicht beseitigt und zwei Zementplatten freigelegt. Jetzt überlegten sie, was nun getan werden mußte.
»Riechen Sie’s?« fragte Jennings.
»Ja.«
»Muß ein gräßlicher Job sein. Nicht gerade gesund, könnt ich mir denken.«
Thorn antwortete nicht. Er sah bedrückt aus.
»Welche zuerst?« fragte Jennings.
»Müssen wir denn das tun?«
»Ja.«
»Ich habe ein ungutes Gefühl.«
»Wenn Sie wollen, werde ich den Taxifahrer holen.«
Thorn biß die Zähne aufeinander, dann schüttelte er den Kopf.
»Also dann los«, mahnte Jennings. »Nehmen wir das große zuerst.«
Jennings schlug mit dem Eisen ein paarmal fest zu, dann versuchte er damit unter die Seite der großen Zementplatte zu gelangen. Schließlich gelang es ihm, mit den Fingern die Kante der Zementplatte zu fassen.
»Los, verdammt noch mal!« brüllte er. Thorn reagierte schnell. Seine Arme zitterten, als er Jennings half, den schweren Zementblock hochzuheben und zur Seite zu schieben.
»Das Ding wiegt mindestens ’ne Tonne!« stöhnte Jennings. Er bot seine letzte Kraft auf, und langsam hob sich der Deckel. Die beiden Männer versuchten ihn hochzuhalten, während sie in das dunkle Loch starrten.
»Mein Gott!« keuchte Jennings.
Es war der Kadaver eines Schakals! Würmer und anderes Geschmeiß hatten der Verwesung nachgeholfen, aber noch hing etwas Fleisch an den Knochen.
Mit aufgerissenem Mund warf sich Thorn zurück; die Zementplatte entschlüpfte seinen Händen, fiel krachend herunter und zerbrach in zwei Teile.
Ein erboster Fliegenschwarm kam aus dem Grab und stürzte sich auf sie. Plötzlich war Jennings von Panik ergriffen, er rutschte im Schlamm aus, als er Thorn vom Grab wegzuziehen versuchte.
»Nein!« schrie Thorn.
»Lassen Sie uns gehen!«
»Nein!« keuchte der Botschafter. »Das andere … das andere!«
»Wozu? Wir haben doch gesehen, was wir sehen wollten!«
»Nein, das andere«, stöhnte Thorn verzweifelt. »Vielleicht ist es auch ein Tier!«
»Na und?«
»Dann lebt vielleicht mein Kind irgendwo hier in der Gegend!«
Die Trostlosigkeit in Thorns Augen hieß Jennings bleiben. Er holte sein Eisen und versuchte, die kleinere Platte hochzuheben. Schnell hatte Thorn zugegriffen. Er schob die Finger unter den Deckel, als es Jennings gelang, ihn ein wenig hochzuschieben.
Im nächsten Augenblick rutschte er zur Seite, und Thorn erstarrte. In einem kleinen Weidenkorb lagen die Überreste einer Kindesleiche, deren Schädel zerschmettert war.
»Der Kopf …«, schluchzte Thorn.
»O mein Gott!«
»Sie haben es umgebracht!«
»Raus hier! Nur weg von hier!«
»Sie haben meinen Sohn ermordet!« schrie Thorn und schlug den Deckel wieder zu. Dann sahen sich die beiden Männer ratlos an.
»Sie haben ihn umgebracht«, jammerte Thorn. »Sie haben meinen Sohn umgebracht!«
Jennings zog Thorn hoch. Er bot ihm seinen ganzen Beistand. Doch dann blieb er stehen, und er stand da wie gelähmt.
»Thorn.«
Thorn drehte sich um; er schaute dorthin, wo sein Begleiter hinstarrte, und da entdeckte er den Kopf eines schwarzen deutschen Schäferhundes. Die Augen waren halb geschlossen und glänzten; Speichel lief aus seinem Maul und dann entrang sich seiner Kehle ein dumpfes Heulen.
Bewegungslos standen Thorn und Jennings da, während das Tier geduckt und langsam auf sie zukroch, bis sie seinen ganzen Körper sehen konnten. Der Hund war abgemagert bis auf die Knochen, und eine offene Wunde klaffte unter den vom Blut verklebten Haaren an seiner Seite. In den Büschen begann es zu rascheln. Ein weiterer Hund kam heran. Er war grau, die Schnauze mißgestaltet, Speichel tropfte von den Lefzen. Und der nächste Hund kam. Dann wieder einer. Der ganze Friedhof schien lebendig zu werden – lauter dunkle Gestalten, die aus dem Nichts auftauchten – ein ganzes Rudel tollwütiger und heißhungriger Bestien.
Wie betäubt standen Jennings und Thorn da. Sie hatten Angst, sich zu bewegen. Sie wagten nicht, einander anzusehen, während die heulenden Tiere sie nicht aus den Augen ließen.
»Sie riechen … die Kadaver«, flüsterte Jennings. »Wir müssen uns … ganz langsam … absetzen …«
Mit angehaltenem Atem begannen die beiden Männer zurückzuweichen. Sogleich kamen die Hunde näher, geduckt, die Köpfe kaum über dem Boden, als ob sie sich jeden Augenblick auf ihre Beute stürzen wollten. Thorns Magen zog sich zusammen, und unwillkürlich mußte er rülpsen. Sofort griff Jennings nach ihm und versuchte ihn zu beruhigen.
»Nicht rennen … sie wollen bloß … die Leichen …«
Aber als sie an den beiden geöffneten Gräbern vorbeigingen, folgten ihnen die Hunde; tief geduckt schlichen sie hinter ihnen her, ihre Augen waren nur auf die Männer gerichtet.
Nun waren sie ganz nahe. Verzweifelt suchte Jennings nach dem Zaun, aber bis dahin waren es mindestens noch dreißig Meter.
Wieder taumelte Thorn. Er mußte sich an Jennings festhalten. Die beiden Männer zitterten, während sie sich auf staksigen Beinen davonmachten.
Und dann stießen sie mit den Rücken gegen etwas Festes. Thorn zitterte. Sie standen an der Säule des großen steinernen Götzenbildes, umringt von den Hunden, die ihnen jeden Fluchtweg versperrten. So blieben sie wie erstarrt stehen – Jäger und Beute. Der Kreis der speichelnden Hunde hatte sich geschlossen. Sie waren gefangen.
Die Sonne war jetzt aufgegangen und warf ihren rötlichen Schein über den Friedhof. Thorn taumelte wieder und hielt sich an einem Grabstein fest. Still standen die Hunde, starr die Männer. Jeder schien auf ein Signal zu warten, um sich in Bewegung zu setzen. Die Sekunden vergingen, und sie drängten sich enger aneinander. Die Männer steif und aufrecht, die Hunde geduckt, sprungbereit.
Plötzlich stieß Jennings einen gellenden Schrei aus und schleuderte sein Eisenstück in die Meute. Er wollte den Rudelführer treffen. Auf einmal war der ganze Haufen in Aufruhr. Wie auf ein Zeichen sprangen die Hunde los, um sich auf die fliehenden Männer zu stürzen. Doch schon im nächsten Augenblick lag Jennings am Boden. Die Tiere warfen sich auf ihn. Er rollte beiseite, und dabei verwickelten sich die Riemen seiner Kamera. Sie schnürten ihm schier die Kehle zu. Sie schnitten ins Fleisch seines Halses. Jetzt umtanzten ihn die Ungeheuer wie besessen. Gleich würden sie nach einem fetten Bissen schnappen.
Jennings schlug wild um sich. Er spürte die Kamera unterm Kinn … die Linsen waren beim Angriff der wütenden Meute zerbrochen.
Thorn hatte inzwischen fast den Zaun erreicht, aber auf einmal war das Tier dicht hinter ihm. Das geifernde Maul biß ins Fleisch seines Rückens. Thorn versuchte sich zu wehren, indem er mit aller Gewalt dem Ausgang zustrebte, aber das Tier heftete sich an ihn, sprang mit erhobenen Vorderbeinen an ihm hoch, so daß er fiel. Ein kleines Stück kroch er so weiter, um sich alsbald wieder aufzurichten, doch die andern Hunde waren schon da – wie viele Hunde eigentlich? Er konnte kaum noch etwas sehen außer diesen Zähnen, die dicht vor seinen Augen aufblitzten … Speichel traf ihn, ekliger Hundespeichel, und noch einmal kämpfte er in wilder Wut gegen diese höllische Meute, nur um den Zaun zu erreichen. Es schien unmöglich.
Eine Weile lag er da und spürte nur noch den brennenden Schmerz der Bisse in seinem Rücken. Nicht weit von ihm kauerte Jennings am Boden – ebenfalls von diesen Bestien umringt, die fortwährend nach seinem Hals schnappten. Auf einmal spürte Thorn keinen Schmerz mehr. Sein Körper spannte sich. Es gab jetzt nur eines: laufen, laufen, laufen! Er stützte sich auf die Hände, auf die Knie, er kroch auf allen vieren. Die Hunde ihm nach. Da berührte er etwas Kaltes: das Eisen, welches Jennings geworfen hatte! Mit diesem Eisen schlug er um sich – blindlings, und mit einem Mal sah er, daß er getroffen hatte, denn Blut floß, ein Hund vollführte einen irren Tanz; ein Augapfel baumelte an blutigen Sehnen aus seiner Höhle … und das war Thorns große Chance. Noch einmal stieß er zu. Noch einmal schwang er das Eisen im Kreis. Endlich stand er auf den Beinen.
Jennings rollte am Boden, bis er einen Baum erreicht hatte. Er tastete nach einem Ast. Er versuchte sich hochzuziehen, während die Hunde sich an ihm festbissen und an den Riemen seiner Fototasche zerrten. Und während er mit ihnen kämpfte, löste irgendeine Bewegung das Blitzgerät aus. Die Tiere duckten sich, als das grelle Licht sie blendete.
Nun war Thorn auf den Füßen. Immer noch schlug er wild mit dem Eisen zu. Er traf Köpfe und Mäuler, während er rückwärts dem Zaum entgegentaumelte.
Jennings war nicht weit vom Baum. Er hielt sein Blitzgerät vor sich und löste es jedesmal aus, wenn die Hunde herankamen. Er trieb sie zurück, bis er endlich die Einfriedung erreicht hatte.
Sofort rannte er zu Thorn. Immer noch hielt er mit seinen Blitzen die Hunde in Schach, während Thorn hinüberzuklettern begann. Seine Kleider waren zerrissen, sein Gesicht blutete. Mühsam zog er sich hoch, dann ließ er sich einfach fallen. Er hatte es geschafft, als er jenseits des Zauns hart auf die Erde fiel. Jennings folgte ihm, und immer wieder flammte sein Blitzlicht auf. Schließlich warf er es gegen die heulenden Hunde, während er mit einem Satz hinuntersprang.
Thorn taumelte. Jennings hielt ihn fest und zog ihn zum Auto, in dem der Fahrer ihnen müde entgegensah und dann erschrocken aufstöhnte. Er griff nach der Zündung, aber die Schlüssel waren nicht da. Dann riß er die Tür auf und half Jennings, Thorn auf den Rücksitz des Wagens zu schaffen.
Als Thorn im Wagen lag und Jennings zum Kofferraum rannte, um die Wagenschlüssel zu holen, schaute er zu den Hunden zurück, die sich wie wahnsinnig gebärdeten. Heulend vor Wut rasten sie immer wieder gegen das Tor. Einer versuchte darüber zu springen, und er hätte es beinahe geschafft, doch er wurde am Hals aufgepfählt und das Blut spritzte wie eine Fontäne aus der Wunde. In ihrer wilden Wut warfen sich die anderen Hunde auf ihn und zerfleischten ihn. Seine Beine zuckten wild. Sein Heulen war markerschütternd.
Die Hintertür des Taxis war noch geöffnet, als der Wagen bereits davonraste. Fassungslos schaute der Fahrer in den Rückspiegel. Thorn und Jennings sahen nicht mehr wie Menschen aus, sie lagen da wie eine unförmige Masse aus Blut und Kleidern. Sie hielten sich umklammert und weinten wie Kinder.