Jame landete die Platte sanft auf der rissigen Oberfläche der Kleinstwelt. Schweigend machte er sich daran, die Eisenstapel aus dem Netz zu entladen. Rees klammerte sich an das Netz und sah sich unbehaglich um. Der enge Horizont bestand aus Schichten haariger, brauner Materie, die sich träge bewegte. Und wieder sah Rees durch Risse in der Oberfläche weiße Knochen durchscheinen.
Er spürte, wie er die Kontrolle über seine Blase verlor. Er schloß die Augen und versuchte sich zu beherrschen. Nimm dich zusammen, Rees; du hast schon größeren und direkteren Gefahren gegenübergestanden…
Doch die Boneys waren ein Mythos aus seiner Kindheit, Horrorgeschichten zur Schlafenszeit, um ungehorsame Kinder zu erschrecken. In einem Universum mit dem ruhigen, automatisierten Ambiente der Brücke gab es natürlich keinen Platz für solche häßlichen Szenarien.
»Willkommen«, meinte eine hohe, trockene Stimme. »Hast du also noch einen Gast für uns, Jame?« Der Mann, den Rees aus der Luft gesehen hatte, stand nun über der Platte und nahm gerade eine Armvoll Eisen von Jame entgegen. Einige unverfänglich aussehende Lebensmittelpakete lagen zu Füßen des Mannes. Mit schnellen Bewegungen stapelte Jame sie auf der Platte und vertäute sie im Netz.
Der Boney hatte eine untersetzte Statur und eine tonnenförmige Brust; sein Kopf war eine faltige, haarlose Kugel. Er steckte in einer grob aus dem Material der Oberfläche zusammengeschneiderten Kutte. Als er seinen Mund höhlenartig zu einem Grinsen aufriß, stellte Rees fest, daß sich dort kein einziger Zahn mehr befand. »Was ist los, Junge? Willst du dem alten Quid denn nicht die Hand geben?«
Rees’ Finger krampften sich um die Schnüre des Netzes. Über ihm stand Jame mit einer Ladung Eisen. »Mach schon, Kumpel. Nimm das Zeug hier und steig von der Platte. Du hast nämlich keine andere Wahl. Und wenn sie merken, daß du Angst hast, wird es nur noch schlimmer für dich.«
Rees spürte ein Würgen in der Kehle; es war, als ob all die Schreckensvisionen, die er bisher über die Lebensweise der Boneys gehört hatte, schlagartig Realität würden.
Er biß sich auf die Lippe. Verdammt, er war ein Wissenschaftler Zweiter Klasse. Er rief sich Hollerbachs unbeirrten, schläfrigen Blick in Erinnerung. Der Mann hätte die Situation gemeistert. Er mußte es auch.
Rees löste die Finger von dem Netz und stand auf, wobei er die rationale Hälfte seines Geistes zum Arbeiten zwang. Er bewegte sich schwerfällig und tapsig; die Schwerkraft mochte vielleicht anderthalb Gravos betragen. Die Masse des kleinen Planeten mußte demnach… wie hoch sein? Dreißig Tonnen?
Er nahm das Eisen und trat ohne zu zögern von der Platte auf die Oberfläche. Sie war weich wie grob gewirktes Tuch und mit strähnigem Haar bedeckt, das an seinen Knöcheln kitzelte; und, o Gott, sie war warm, wie die Haut eines großen Tieres…
Oder eines Menschen.
Jetzt leerte sich zu seinem Schrecken die Blase, und Feuchtigkeit lief an seinen Beinen hinunter.
Quid öffnete seinen zahnlosen Mund und lachte brüllend.
Aus der Sicherheit der Platte meinte Jame: »Denk dran, daß du dich nicht zu schämen brauchst, Kumpel.«
Der seltsame Deal war abgeschlossen, und Jame betätigte die Steuerung. Mit einem Schwall heißen Dampfes hob die Platte ab und hinterließ vier verkohlte Krater in der weichen Oberfläche. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Platte zu einem faustgroßen Spielzeug in der Luft.
Rees schlug die Augen nieder. Der Urin hatte eine Pfütze um seine Füße gebildet und sickerte jetzt in die Oberfläche.
Mit knirschenden Schritten kam Quid auf ihn zu. »Du bist jetzt ein Boney, Kumpel! Willkommen am Arsch des Nebels.« Dann deutete er auf die Pfütze zu Rees’ Füßen. »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.« Er grinste und leckte sich die Lippen. »Du wirst dich sogar noch darüber freuen, wenn du erst ein bißchen durstiger bist…«
Üble Vorahnungen gingen durch Rees’ Hirn. Er schauderte, nahm seinen Blick jedoch nicht von Quid. »Was soll ich jetzt machen?«
Quid lachte erneut. »Das bleibt dir überlassen. Du kannst hierbleiben und auf einen Flug warten, der nie kommen wird. Oder mit mir kommen.« Er winkte und machte sich mit dem Eisen unter dem Arm auf den Weg über die elastische Oberfläche.
Rees blieb noch für ein paar Sekunden stehen. Er wollte nicht einfach jede Hoffnung aufgeben, von diesem Ort wegzukommen, und sei sie noch so schwach. Aber er hatte wirklich keine andere Wahl; diese groteske Gestalt war sein einziger Bezugspunkt.
Er verlagerte das Gewicht des Eisens in seinen Armen und schritt vorsichtig über den warmen, unebenen Boden.
Sie legten ungefähr den halben Umfang der Mikroweit zurück und kamen dabei an primitiven Behausungen vorbei, die wahllos über die Oberfläche verstreut waren. Meistens handelte es sich dabei um einfache Zelte, die aus Oberflächenmaterie genäht waren und gerade eben den Regen abhalten konnten. Andere hingegen waren solider und standen, wie Rees sah, auf Eisenfundamenten.
»Beeindruckt, Mineur?« lachte Quid. »Wir steigen langsam in der Gesellschaft auf, stimmt’s? Schau, sie haben uns bisher alle geschnitten. Das Floß, die Bergleute, alle. Viel zu stolz, um sich mit den Boneys einzulassen, bei dem ›Verbrechen‹, das unsere Existenz darstellt… Doch jetzt geben die Sterne nichts mehr her, nicht wahr, Bergmann? Plötzlich kämpfen sie alle ums Überleben, und plötzlich lernen sie alle die Lektionen, die wir schon gelernt haben, in den Tausenden von Schichten.« Er beugte sich näher zu Rees und winkte wieder. »Es ist alles ein Geschäft, siehst du. Für ein wenig Eisen und ein paar Luxusgüter füllen wir die leeren Lebensmittelspeicher der Bergleute. Solange sie einen schön verpackten Behälter bekommen, machen sie sich nicht allzu viele Gedanken um seinen Inhalt. Hab’ ich nicht recht?« Und er lachte wieder, wobei er Rees’ Gesicht mit Speichel besprühte.
Rees zuckte zurück, unfähig zu sprechen.
Ein paar Kinder kamen aus den Hütten und starrten Rees an. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und ihre nackten Körper gedrungen und schmutzig. Die Erwachsenen nahmen kaum Notiz von ihm; sie saßen in einem engen Kreis in ihren Hütten und sangen ein leises, getragenes Lied. Rees konnte die Worte nicht verstehen, aber die Melodie war zyklisch und eindringlich.
»Tut mir leid, wenn wir ungesellig wirken«, sagte Quid. »Aber es befindet sich ein Wal zwischen uns und dem Kern, und wir werden ihn bald mit unseren Gesängen zu uns herlocken.« Quids Augen nahmen einen träumerischen Ausdruck an, und er leckte sich die Lippen.
Als sie eine besonders schäbige Hütte passierten, brach Rees mit einem Fuß durch die Oberfläche und fand sich knöcheltief in einer fauligen, stinkenden Masse. Mit einem Schrei riß er den Fuß heraus und rieb ihn an einem saubereren Abschnitt der Oberfläche ab.
Quid lachte lauthals.
Aus der Hütte war eine Stimme zu vernehmen: »Nimm’s nicht tragisch. Du gewöhnst dich noch dran.«
Rees blickte hoch. Diese Stimme hatte er schon einmal gehört. Ohne an den Dreck zu denken, näherte er sich der düsteren Hütte und warf einen Blick ins Innere. Sie wurde von einem einzelnen Mann bewohnt. Er war blond, und sein kleiner, hagerer Körper war in die Überreste eines Umhangs gehüllt. Sein Gesicht wurde durch einen wild wuchernden Bart verdeckt… »Gord, bist du das?«
Der Mann, der einmal der Chefingenieur des Gürtels gewesen war, nickte betrübt. »Hallo, Rees. Ich kann nicht gerade behaupten, daß ich mit dir gerechnet hätte. Ich dachte, du wärst zum Floß zurückgeflogen.«
Rees sah sich um. Quid, sichtlich amüsiert, schien auf ihn zu warten. Rees hockte sich hin und gab Gord einen kurzen Abriß seiner Geschichte. Dieser nickte mitfühlend. Seine Augen waren blutunterlaufen und schienen in der Dunkelheit zu leuchten.
»Aber was machst du hier?«
Gord zuckte die Achseln. »Eine Explosion in der Gießerei zuviel. Ein Toter zuviel. Sie haben schließlich entschieden, daß ich für das alles verantwortlich war und mich hierher geschickt… Es sind ziemlich viele von uns aus dem Gürtel hier, mußt du wissen. Zumindest sind ziemlich viele hierher gebracht worden… Es ist schlimmer geworden, seitdem du abgehauen bist. Vor ein paar tausend Schichten wäre es noch undenkbar gewesen, jemanden hierher zu verbannen. Wir hatten die Existenz dieses Ortes ja kaum zur Kenntnis genommen. Bis wir mit dem Tauschhandel angefangen hatten, wußte ich nicht einmal, ob die verdammten Boneys überhaupt existierten.« Er griff nach einer Flasche mit irgendeiner Flüssigkeit und setzte sie an. Er mußte beim Trinken ein Schaudern unterdrücken.
Als Rees ihn dabei beobachtete, wurde ihm sein eigener starker Durst bewußt.
Gord setzte die Flasche ab und wischte sich über die Lippen. »Aber ich sag’ dir, ich war irgendwie froh, als sie mich schließlich schuldig gesprochen hatten.« Seine Augen waren gerötet. »Ich hatte wirklich genug davon, weißt du. Die Toten, den Gestank der Brände, die Versuche, Mauern wieder zu errichten, die nicht allein stehen konnten…« Er schlug die Augen nieder. »Siehst du, Rees, diejenigen von uns, die hierher geschickt wurden, büßen jetzt dafür, was mit uns allen geschieht. Es ist eine Art höheres Gericht.«
»Ich kann das nicht glauben«, murmelte Rees.
Gord lachte; es war ein gespenstisches, trockenes Geräusch. »Das solltest du aber.« Er hielt ihm die Flasche hin. »Hier. Bist du durstig?«
Rees starrte sie verlangend an und stellte sich das kühle Tröpfeln von Wasser auf seiner Zunge vor… doch dann erfüllte ihn die Vorstellung über die potentielle Herkunft der Flüssigkeit mit Ekel, und er wies sie mit einem Kopfschütteln zurück.
Gord musterte Rees und nahm einen weiteren tiefen Zug. »Laß mich dir einen Rat geben«, meinte er leise. »Das hier sind keine Killer. Sie werden dir nichts tun. Aber du hast nur eine Wahl: Iß, was sie essen und trinke, was sie trinken. Oder du wirst im Ofen enden. So läuft das hier.
Du siehst, irgendwie hat das alles einen Sinn. Nichts wird vergeudet.« Er lachte und sagte dann nichts mehr.
Ein merkwürdiges, dissonantes Geräusch durchflutete die Hütte. »Quid hat irgend etwas davon gesagt, daß sie zu den Walen singen«, bemerkte Rees mit geweiteten Augen. »Könnte das…«
Gord nickte. »Die Legenden sind wahr… es ist ein imposanter Anblick. Vielleicht verstehst du das besser als ich. Es ergibt schon einen Sinn. Sie müssen sich ihre Nahrung zum Teil von außerhalb beschaffen, nicht wahr? Irgendwie muß diese Welt davon abgehalten werden, sich selbst bis auf Haut und Haar zu verschlingen. Die Fauna des Nebels ist zwar nicht allzu nahrhaft, aber es gibt ein paar interessante Käfer, die man fangen kann. Ich glaube auch, daß die damaligen Boneys aus diesem Grund nicht wieder auf das Floß zurückkehren durften…«
»Wir müssen weiter, Kumpel«, rief Quid und verschob die Eisenfracht unter seinem Arm.
Rees sah zuerst ihn an, dann wieder Gord. Die Versuchung, bei Gord zu bleiben, der zumindest eine Erinnerung an die Vergangenheit darstellte, war stark… Gord ließ den Kopf auf die Brust sinken, wobei die Worte weiter aus seinem Mund tropften. »Du solltest besser gehen«, murmelte er.
Wenn Rees irgendwie auf eine Flucht von diesem Ort hoffen wollte, gab es nur eine Möglichkeit.
Wortlos packte er Gords Schulter. Der Ingenieur sah nicht hoch. Rees stand auf und verließ die Hütte.
Quids Heim war verhältnismäßig geräumig und um ein Gerüst aus Eisenstangen herumgebaut. Es hatte keine Fenster, aber hauchdünn geschabte Häute ließen ein schwaches bräunliches Licht herein.
Quid ließ Rees dort logieren. Dieser ließ sich vorsichtig in einer Ecke nieder, mit dem Rücken zur Wand. Doch Quid sprach kaum etwas mit ihm, und nach einer Mahlzeit, die aus einer undefinierbaren Fleischsorte bestand, warf sich der Boney auf den Boden und schlief wohlig ein.
Rees blieb mit weit geöffneten Augen für einige Stunden sitzen, vor dem Hintergrund der durch die Wal-Sänger erzeugten Geräuschkulisse, und verkroch sich in sich selbst, als ob er all den fremden Eindrücken entfliehen wollte. Schließlich übermannte ihn die Müdigkeit, und er legte sich auf den Boden, wobei er sein Gesicht in der Armbeuge plazierte. Der Boden war so warm, daß er keine Decke benötigte, und dann fiel Rees in einen unruhigen Schlaf.
Quid kam und ging von seinen mysteriösen Streifzügen, ohne Notiz von Rees zu nehmen. Er lebte allein, doch nach den Besuchen zu urteilen, die er mit Eisen bepackt zu den Zelten seiner Nachbarn unternahm, und wie er nach diesen Besuchen seine befleckte Kleidung ordnete und sich die Lippen leckte, schien er sich mit seinem Eisen Gesellschaft zu erkaufen.
Zunächst vermutete Rees, daß Quid eine Art Anführer darstellte, doch bald wurde ihm klar, daß es hier kaum so etwas wie eine formale Hierarchie gab. Andererseits hatten einige Boneys ziemlich klar definierte Aufgabenbereiche — so war Quid zum Beispiel die Haupt-Kontaktperson für die Besucher von der Mine. Die dubiose Ökologie hingegen schien weitgehend autark und brauchte kaum organisierte Pflege. Nur die Waljagden, so schien es, veranlaßten die Bevölkerung zur Kooperation.
Rees blieb für vielleicht zwei Schichten in seiner Ecke. Dann wurde sein Durst zur unerträglichen Qual, und mit brüchiger Stimme bat er Quid um etwas zu trinken.
Der Boney lachte; doch anstatt eine Feldflasche aus seinem Bestand zu holen, winkte er Rees und verließ die Hütte.
Rees kam unbeholfen auf die Beine und folgte ihm.
Sie legten ungefähr ein Viertel des Umfangs der Mikroweit zurück und erreichten dann eine Bruchstelle in der Oberflächenhaut. Es war ein gezacktes Loch mit etwa einem Meter Durchmesser und erinnerte unangenehm an eine verharschte Wunde. Knochensplitter standen von den Rändern ab.
Quid hockte sich vor dem Loch hin. »Du willst also etwas zu trinken, Bergmann?« fragte er mit heruntergezogenen Mundwinkeln. »Na denn, der gute alte Quid wird dir jetzt zeigen, wie du so viel essen und trinken kannst, wie du willst… allerdings ist es das, was auch wir anderen essen und trinken. Entweder das oder verhungern, Jüngelchen; und Quid wird deinem spöttischen Gesicht keine Träne nachweinen, wenn es aus seiner Hütte verschwindet. Klar?« Und dann schob er die Füße durch das Loch und schwang sich in das Innere des Planetoiden.
Aufgewühlt vor Furcht, aber mit vor Durst brennendem Hals, näherte sich Rees dem Loch und starrte hinunter.
Das Loch war voller Knochen. Ein Geruch wie von warmem Synthofleisch schlug ihm entgegen.
Rees würgte, wich aber nicht zurück. Er saß auf der Abbruchkante, versuchte den Kopf von den Ausdünstungen freizubekommen und fand schließlich eine Auflage für die Füße. Mit angehaltenem Atem stellte er sich vorsichtig hin und begann den Abstieg in das Labyrinth aus Knochen.
Es war wie das Herumklettern in einem riesigen, vorsintflutlichen Kadaver. Das durch dicke Hautschichten gefilterte Licht war braun und unheimlich. Quids glänzende Augen stachen aus der Finsternis.
Und Rees war überall von Knochen eingeschlossen.
Noch immer atemlos sah er sich um. Er kam zu dem Schluß, daß er auf einem ›Regal‹ aus Knochen stehen mußte. Sein Rücken lehnte an einem Stapel Schädel und klaffender, zahnloser Kieferknochen, und seine Hand griff in einen Haufen durcheinanderliegender Wirbelsäulen. Das schräg durch die Öffnung einfallende Sternenlicht beleuchtete einen Abschnitt mit Schädeln, gesplitterten Waden- und Schienbeinen und Brustkörben, die wie erloschene Laternen aussahen. An einer Stelle war noch ein Unterarm mit einer Kinderhand verbunden. Die Knochen waren überwiegend kahl und wiesen eine verwittert aussehende Braunoder Gelbfärbung auf. Nur stellenweise waren noch Haut- oder Haarreste zu erkennen.
Der Planetoid war — nichts anderes als ein mit Menschenhaut bespannter Käfig aus Knochen.
Aus seinem tiefsten Inneren fühlte Rees einen Schrei emporquellen; er kämpfte ihn nieder und stieß seinen Atem in einem tiefen Seufzer aus. Dann mußte er die Luft dieser Todeszone einatmen. Sie war heiß, feucht und stank nach verwesendem Fleisch.
Als Quid ihn angrinste, wurde sein schimmerndes Zahnfleisch sichtbar. »Komm weiter, Mineur«, flüsterte er. Die Worte klangen erstickt. Wir müssen noch ein Stück gehen.« Dann stieg er tiefer in das Innere hinab.
Nach einigen Minuten folgte ihm Rees.
Während ihres Abstiegs nahm die Schwerkraft ab, und die Anzahl der Leichen unter ihnen verringerte sich. Schließlich zog sich Rees in völliger Schwerelosigkeit durch die Knochenstruktur. Knochenfragmente, — splitter, Knöchel und Fingergelenke schlugen gegen sein Gesicht, bis er glaubte, durch eine Wolke der Verwesung zu schweben. Auf ihrem Weg ins Innere wurde das Licht schwächer, aber Rees’ Augen paßten sich an die Dunkelheit an, so daß er die morbide Umgebung immer deutlicher erkennen konnte. Die Hitze und der Gestank des verrotteten Fleisches wurden unerträglich. Er transpirierte so stark, daß sein Poncho als feuchter Klumpen am Rücken klebte, und sein Atem wurde flach und schwer. Es schien fast unmöglich, überhaupt noch Sauerstoff aus der verseuchten Luft zu gewinnen.
Er versuchte sich daran zu erinnern, daß der Radius des Himmelskörpers nur ungefähr fünfzehn Meter betrug. Dennoch schien dies die längste Reise seines Lebens zu sein.
Dann erreichten sie das Zentrum der Knochenwelt. Rees kniff im düsteren Licht die Augen zusammen, um Quid erkennen zu können. Der Boney erwartete ihn schon mit in die Seiten gestemmten Armen. Er stand auf irgendeiner dunklen Masse. »Willkommen«, zischte er und fuhr mit den Fingern über das Knochengewirr vor sich. Offensichtlich suchte er etwas.
Rees schob die Füße durch eine letzte Schicht von Rippen zu der Fläche, auf der Quid stand. Es war Metall, stellte er geschockt fest; verbeult und mit Fett beschmiert, aber dennoch Metall. Er stand vorsichtig da. Die Gravitation war beachtlich. Dies mußte wohl eine Art Artefakt sein, das hier im Zentrum der Todeszone der Boneys vergraben war.
Er ließ sich auf die Knie nieder und fuhr tastend mit den Fingern über die Oberfläche. Es war zu dunkel, um eine Farbe erkennen zu können, aber er erkannte auch so, daß es kein Eisen war. Konnte es vielleicht das Metall einer Schiffswandung sein, so wie das Deck des Floßes im Abschnitt der Offiziersquartiere? Er schloß die Augen und tastete die Oberfläche ab, wobei er sich an die Beschaffenheit des weit entfernten Decks zu erinnern versuchte. Ja, entschied er mit wachsender Erregung, dies mußte ein Artefakt vom Schiff sein.
Rees ging um die Metallfläche herum und schob dabei die Knochen vor sich her. Das Artefakt war ein Würfel mit einer Kantenlänge von etwa drei Metern. Er stieß mit einem Zeh gegen einen Metallvorsprung, der sich als Überrest einer Art Flosse erwies, ähnlich den Ausformungen, die er auf den Maulwürfen und den Bussen auf dem Floß gesehen hatte. Konnte man diesen Kasten früher mit Düsen bestücken und mit ihm fliegen?
Spekulationen gingen ihm durch den Kopf und verdrängten den Durst, den Ekel und die Angst… Er stellte sich das ehemalige Schiff vor, groß, dunkel und manövrierunfähig, das sich wie eine Sonnenblume öffnete und einen Schwarm Beiboote ausstieß. Da war die Brücke mit ihrer glatten und schnittigen Oberfläche; die Busse/Maulwürfe, vielleicht als Ein- oder Zweisitzer bzw. als Drohne konstruiert, um auf unbekanntem Terrain zu landen und es zu sondieren — und dann gab es noch diesen neuartigen Typ, einen Kasten mit einer Kapazität von vielleicht einem Dutzend Personen. Er stellte sich vor, wie Besatzungsmitglieder in diesem großen Beiboot aufbrachen, um Nahrung zu suchen oder einen Weg zu Bolder’s Ring zurück zu finden…
Doch dann hatte irgendein unvorhersehbarer Unfall das Raumschiff ereilt. Der Proviant war ihnen ausgegangen — und um zu überleben, mußten sie sich anderweitig behelfen.
Als sie schließlich zurückkehren konnten — oder vielleicht von einem Suchtrupp gefunden worden waren, hatten sie in den Augen der anderen durch den Verzehr von Lebewesen des Nebels und ihrer Kameraden — ein Sakrileg begangen.
Und deshalb hatte man sie ausgesetzt.
Irgendwie hatten sie ihr havariertes Schiff in einen stabilen kreisförmigen Orbit um den Kern bringen können. Und einige von ihnen hatten überlebt; sie hatten Kinder aufgezogen und vielleicht Tausende von Schichten gelebt, bevor sie ihre Augen geschlossen hatten… Und die Kinder hatten zu ihrem Entsetzen feststellen müssen, daß es keine Möglichkeit gab, die Leichen im Weltraum zu bestatten. In diesem Sektor mit Milliarden Gravos war die Fluchtgeschwindigkeit des Schiffes bei weitem zu hoch.
Und nach Generationen bedeckten schließlich ganze Knochenschichten das Wrack des ehemaligen Schiffes.
Quid hatte eindeutig gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zupfte an Rees’ Ärmel, und Rees folgte ihm zum anderen Ende des Bootes. Quid kniete sich hin und zeigte nach unten. Rees folgte der Richtung und schaute über die Kante des Schiffes. In der Wand unterhalb war ein Riß, und es schien gerade soviel Licht hindurch, daß Rees ins Innere des Beibootes sehen konnte.
Zuerst konnte er mit dem Anblick nichts anfangen. Das Schiff war mit zylindrischen Bündeln einer glänzenden, roten Substanz vollgepackt, wobei einige dieser Bündel durch Gelenke mit anderen verbunden waren, andere hingegen waren als unordentliche Stapel mit Tauen an der Wand festgezurrt. Das Material war teilweise zu einer grauschwarzen Masse zusammengebacken. Ein Hauch von Verwesung lag in der Luft, der Gestank verfaulenden Fleisches.
Rees musterte das Szenario prüfend. Dann sah er in einem ›Bündel‹ Augenhöhlen…
Quids Gesicht schwebte im Dämmerlicht, eine schreckliche Maske voller Falten. »Du siehst, daß wir keine Tiere sind, Mineur«, flüsterte er. »Das sind die Öfen. Wo wir die Krankheit aus dem Fleisch brennen… Normalerweise ist es hier unten heiß genug, bei der Fäulnis und all dem; doch manchmal müssen wir Feuer entlang der Wände machen…«
Die abgehäuteten und ausgeweideten Körper umfaßten alle Altersklassen und Körpergrößen; die ›Bündel‹ bestanden aus Gliedmaßen, Torsos, Köpfen und Fingern…
Er riß den Kopf zurück. Quid grinste. Rees schloß die Augen und zwang die Galle hinunter, die in seiner Kehle brannte. »Und es gibt hier keine Verschwendung«, dozierte Quid mit Befriedigung. »Die getrocknete Haut wird in die Oberfläche eingenäht, so daß wir auf dem Fleisch unserer Vorfahren gehen…«
Rees fühlte sich, als ob die ganze groteske Miniaturwelt um ihn herum pulsierte und der Knochenwald sich in großen Schüben auf ihn zubewegte und sich wieder zurückzöge. Er atmete tief ein und ließ die Luft pfeifend durch die Nase entweichen. »Du hast mich hierher geführt, damit ich etwas zu trinken bekomme«, konstatierte Rees so gleichmütig wie möglich. »Wo gibt es was?«
Quid führte Rees zu einer Formation aus Knochen. Es war ein Arrangement aus fast intakten Wirbelsäulen, das nach Rees Beobachtung Teil einer sich verzweigenden Konstruktion aus Knochen war, die fast bis zur Oberfläche reichte. Quid berührte ein Rückgrat und zeigte einen feucht glänzenden Finger. Rees sah gründlicher hin und bemerkte die Flüssigkeit, die langsam von oben durch den Kanal aus Knochen heruntertröpfelte.
Quid preßte sein Gesicht an die Wirbelsäulen und streckte die Zunge aus, um die Flüssigkeit aufzufangen. »Abwasser von der Oberfläche«, erläuterte er. »Mit der Zeit wird es von dem gelegentlichen Regen verdünnt und durch die ganzen Schichten dort oben gefiltert. Es ist trinkbar, fast schmackhaft…« Er lachte und lud Rees mit ausladender Geste ein, sich auch zu bedienen.
Rees starrte auf das brackige Gebräu, neuerlich vor die Wahl zwischen Leben und Tod gestellt. Er versuchte die Sache analytisch zu betrachten. Vielleicht hatte der Boney recht; vielleicht würde besagter Filtermechanismus die schlimmsten Partikel zurückhalten… Schließlich war der Boney noch bei so guter Gesundheit, daß er ihm diesen Sachverhalt referieren konnte.
Er seufzte. Wenn er mehr als eine oder zwei Schichten überleben wollte, hatte er wirklich keine andere Wahl.
Er trat näher, streckte die Zunge heraus, bis sie fast die Wirbelsäule berührte und ließ die Flüssigkeit in seinen Mund träufeln. Sie schmeckte faulig, er konnte das Zeug kaum schlucken, aber er schaffte es dennoch und setzte erneut an.
Quid lachte. Die rechteckige Hand des Boneys hielt seinen Hals umklammert und drückte Rees’ Gesicht gegen den dünnen Knochen, dessen Kanten an seinem Fleisch kratzten, und die widerliche Flüssigkeit spritzte ihm aufs Haar und in die Augen…
Mit einem Schrei des Ekels schlug Rees mit beiden Fäusten um sich. Er spürte, wie sie in lebendes Fleisch einschlugen. Mit einem gepreßten Grunzen fiel der Boney zur Seite und landete in einem splitternden Nest aus Knochen. Rees wischte sich das Gesicht ab, sprang in das Knochengewirr und machte sich an den Aufstieg zum Licht. Seine stampfenden Füße zertraten Rippen und Fingerknöchelchen. Schließlich erreichte er die Unterseite der Oberfläche, mußte aber zu seinem Erschrecken feststellen, daß er die Orientierung verloren hatte. Die Oberfläche aus Haut spannte sich über ihm wie eine weite Decke, durchgehend und ohne Licht. Mit einem erstickten Schrei grub er die Hände in das weiche Material und riß es schichtweise weg.
Dann brach er durch die Oberfläche und atmete die Luft des Nebels ein.
Rees zog sich aus dem Loch und blieb erschöpft liegen. Er sah nach oben, ins rötliche Licht der Sterne.
Rees suchte Gord auf. Der frühere Ingenieur empfing ihn ohne ein Wort, und Rees warf sich auf den Boden und fiel in einen tiefen Schlaf.
Die Schichten gingen vorbei, und Rees war noch immer bei Gord, meistens ohne etwas zu sagen. Rees zwang sich zum Trinken — er begleitete Gord sogar auf einer Tour in das Innere der kleinen Welt, um die Feldflaschen aufzufüllen — aber essen konnte er nichts. Gord musterte ihn düster im Zwielicht der Hütte.
»Denk nicht mehr darüber nach«, empfahl er ihm. Er ließ ein Stück Fleisch in seinem Mund verschwinden, zerkaute das Zeug und schluckte es hinunter. »Hast du gesehen? Ist nur Fleisch. Organisches Gewebe. Protein. Entweder du ißt es, oder du stirbst und…«
Rees nahm eine Scheibe Fleisch in die Hand und stellte sich vor, wie er es zum Mund führte, hineinbiß und es schließlich hinunterschluckte.
Er konnte es einfach nicht. Er warf das Stück in eine Ecke der Hütte und wandte sich ab. Nach kurzer Zeit hörte er die Schritte von Gord. Der Ingenieur durchquerte den Raum und hob das Stück Fleisch auf.
So vergingen die Schichten, und Rees spürte seine Kräfte schwinden. Als er mit einer Hand über seine zerlumpte Uniform strich, merkte er, daß die Rippen unter der Haut hervorstanden, und sein Kopf schien anzuschwellen.
Der Gesang der Boneys kam ihm wie das Pulsieren von Blut vor.
Schließlich legte Gord eine Hand auf seine Schulter. Rees setzte sich auf. Ihm war schwindlig. »Was ist los?«
»Der Wal«, erklärte Gord mit einem Anflug von Erregung. »Sie bereiten sich auf die Jagd vor. Du mußt mitkommen und dir das ansehen, Rees; selbst unter diesen Umständen ist es ein unglaublicher Anblick.«
Rees stand vorsichtig auf und folgte Gord aus der Hütte.
Als er sich benommen umblickte, machte er die üblichen kreisförmigen Erwachsenengruppen in ihren Hütten aus. Sie sangen rhythmisch. Sogar die Kinder schienen in den Bann des bevorstehenden Ereignisses gezogen zu sein: Sie saßen in aufmerksamen Gruppen in der Nähe der Erwachsenen, sangen und wiegten sich nach besten Kräften im Rhythmus.
Gord umrundete langsam den Planetoiden. Rees folgte ihm stolpernd. Weil offenbar nun die ganze Kolonie am Singen war, vibrierte die Hautoberfläche wie ein Trommelfell.
»Was machen sie da?«
»Sie rufen den Wal. Irgendwie lockt der Gesang das Tier an.«
Verwirrt und gereizt meinte Rees: »Ich sehe keinen Wal.«
Gord hockte geduldig auf dem Boden. »Warte eine Weile, und du wirst ihn sehen.«
Rees setzte sich neben Gord und schloß die Augen. Langsam sank der Gesang in sein Bewußtsein, bis er sich im zyklischen Rhythmus wiegte; eine Stimmung der ruhigen Gelassenheit, sogar der freudigen Erwartung, schien von ihm Besitz zu ergreifen.
War dies etwa der Effekt, den die Musik auf den Wal ausüben sollte?
»Gord, woher glaubst du, daß der Begriff ›Wal‹ kommt?«
Der Ingenieur zuckte die Achseln. »Du warst doch der Wissenschaftler. Sag du es mir. Vielleicht gab es auf der Erde ein Tier mit diesem Namen.«
Rees kratzte sich an seinem bärtigen Kinn. »Ich frage mich, wie so ein Erdenwal ausgesehen haben mag…«
Gords Augen weiteten sich. »Vielleicht so«, meinte er und deutete mit dem Finger in den Himmel.
Der Wal schob sich wie eine große transparente Sonne über den Horizont aus Haut. Sein Körper war eine vielleicht fünfzig Meter durchmessende Kugel, gegen die die Knochenwelt klein wirkte; hinter seiner durchsichtigen Haut waren Organe wie große Maschinen gruppiert. Der Kopf des Wals war mit drei Kugeln besetzt, die jede den Durchmesser eines Menschen hatten. Die Art, wie sie rotierten und sich auf die Mikroweit und die nahen Sterne richteten, erinnerte Rees unwillkürlich an Augen. Aus dem hinteren Körperende wuchsen drei mächtige Schwanzflossen; diese Halbkreise rotierten leicht und waren so groß wie der Körper selbst, mit dem sie durch einen Muskelstrang verbunden waren. Der Wal bewegte sich in freiem Fall durch die Luft, und die gerade zwanzig Meter über Rees’ Kopf hängenden Flossen fächelten seinem lachenden Gesicht kühle Luft zu. »Das ist phantastisch«, rief er.
Gord lächelte schwach.
Die immer noch singenden Boneys kamen aus ihren Hütten. Ihre Augen waren auf den Wal fixiert, und sie trugen Speere aus Knochen und Metall bei sich.
Gord beugte sich zu Rees hinüber und erklärte ihm über dem Gesang: »Manchmal werfen sie einfach Seile um die Tiere und lassen die Wale die Kolonie eine kurze Strecke aus dem Nebel ziehen. Dadurch korrigieren sie den Orbit, verstehst du. Sonst wären sie wohl schon längst in den Kern gefallen. Diese Schicht sieht es allerdings so aus, als ob sie nur Fleisch brauchen.«
Rees war verwirrt. »Wie kann man ein solches Tier denn töten?«
Gord zeigte mit dem Finger auf den Wal. »Das ist nicht schwer. Man muß nur die Haut durchlöchern. Dann verliert das Ding seine Form und fällt einfach ins Gravitationszentrum des Planetoiden. Danach muß es nur noch schnell genug filetiert werden, damit wir nicht alle unter dem Fleisch ersticken…«
Jetzt flogen die ersten Speere. Der Gesang ging in Siegesrufe über. Der offensichtlich bedrängte Wal erhöhte die Schlagzahl der Flossen. Die Speere gingen glatt durch das transparente Fleisch oder blieben in den tieferen Gewebelagen stecken — und dann wurde unter großem Jubel ein Organ getroffen. Mit schrumpfender Haut taumelte der Wal der Oberfläche der Mikroweit entgegen. Eine mächtige Wand aus Fleisch schob sich keine drei Meter über Rees’ Kopf vorbei.
»Was sagst du dazu, Mineur?« Quid stand mit einem Speer in der Hand bei ihm. Der Boney grinste. »Das ist die richtige Art zu leben, wie? Besser als in den Eingeweiden eines toten Sterns herumzukratzen…«
Weitere Speere flogen durch die Luft, bewegten sich mit zunehmender Präzision durch das kombinierte Schwerefeld des Planetoiden und des Wals und fanden weiche Ziele im Körper des Tieres.
»Quid, wie können sie so genau zielen?«
»Ganz einfach. Stell dir den Planeten als einen Brocken unter dir vor. Und den Wal als einen anderen kleinen Brocken irgendwo dort…« Er deutete mit dem Finger die Richtung an. »In die Nähe seines Schwerpunkts. Von dort kommt die Anziehung, richtig? Dann brauchst du dir nur noch die Flugbahn vorzustellen, die dein Speer nehmen soll, und — ab dafür!«
Rees kratzte sich am Kopf und fragte sich, wie wohl Hollerbach auf diese Verballhornung der Orbitalmechanik reagiert hätte. Doch für die auf ihrer kleinen Welt gefangenen Boneys war die Entwicklung solcher Wurftechniken einfach überlebensnotwendig.
Weitere Speere flogen weiter, bis ein Entkommen für den Wal nicht mehr möglich schien. Sein Bauch berührte fast die Dächer der Kolonie. Männer und Frauen holten große Messer hervor, und bald würde das Schlachten beginnen. Rees fragte sich in seinem durch den Hunger verursachten Dämmerzustand, ob das Walblut wohl anders als Menschenblut riechen würde…
Und plötzlich rannte er los, fast ohne sich dessen bewußt zu sein. Mit einer leichten Bewegung schwang er sich auf das Dach einer der solideren Hütten — hätte er sich ohne seine Gewichtsabnahme so geschmeidig bewegen können? — und blickte stehend nach oben, zu dem faltigen, halbdurchsichtigen Dach aus Fleisch, das über ihm vorbeiglitt. Es war noch immer nicht in seiner Reichweite; und dann kam eine knapp einen Meter lange Hautfalte wie ein fallender Vorhang auf ihn zu. Er sprang und packte mit beiden Händen zu. Seine Finger glitten über verknittertes, trockenes Fleisch. Er suchte nach einem festen Halt und glaubte für eine panikerfüllte Sekunde, wieder zu fallen; und dann, seine Arme bis zu den Ellbogen in dem breiigen Fleisch, ergriffen seine Finger einen Schaft aus festerer Substanz, und er zog sich höher auf den Körper des Wals. Es gelang ihm, seine Füße hinaufzuschwingen und sie an der fleischigen Decke zu verankern. Und so segelte er, mit dem Kopf nach unten, über die Kolonie der Boneys hinweg.
Diese Enteraktion schien dem Wal neue Energie zu verleihen. Seine Flossen peitschten mit frischem Elan durch die Luft, und das Tier hob mit solchen Verrenkungen von der Oberfläche ab, daß Rees seinen labilen Halt zu verlieren drohte.
Zornige Rufe wurden ihm nachgeschickt, und ein Speer fuhr an ihm vorbei ins weiche Fleisch. Quid und die anderen Boneys schüttelten wütend die Fäuste. Rees sah, wie Gord mit bleichem, tränenüberströmten Gesicht nach oben blickte.
Der Wal setzte seinen Steigflug fort, und die Kolonie verwandelte sich von einer strukturierten Landschaft in eine kleine braune Kugel, die verloren in der Luft hing. Die Stimmen der Menschen gingen langsam im Rauschen des Windes unter. Die warme Haut des Wals pulsierte im Rhythmus seiner gleichmäßigen Bewegungen; und Rees war allein.