Während der Flug durch das All weiterging, zog es Rees immer wieder zu dem kleinen Fensterausschnitt in der Wandung der Brücke.
Er drückte das Gesicht gegen die warme Hülle. Er befand sich hier im Mittelabschnitt der Brücke: zu seiner Linken der Nebel, die Heimat, die sie aufgegeben hatten, als rote Barriere, die den Himmel in zwei Hälften teilte; zur Rechten ihr Zielnebel als bläulicher Fleck, den er noch immer mit einer Hand ausblenden konnte.
Nachdem das Schiff vom Kern weggeschleudert worden war, hatte sich das Navigationsteam stundenlang mit seinen diversen Sextanten, Diagrammen und geschliffenen Knochenstücken beschäftigt, um dann schließlich zu melden, daß sich das Schiff auf Kurs befand. Diese Nachricht hatte die Stimmung unter den Passagieren deutlich gehoben. Trotz der Toten, Verletzten und des Verlustes der Versorgungsmaschine schien ihre Mission ein Erfolg zu werden, nachdem die größte Bewährungsprobe jetzt hinter ihnen lag. Rees hatte sich von dieser Euphorie anstecken lassen.
Doch dann hatte die Brücke das vertraute warme Licht des Nebels hinter sich gelassen.
Die Transparenz der Schiffswand war zum größten Teil aufgehoben worden, um die deprimierende Schwärze des internebularen Leerraums auszublenden. In Kunstlicht getaucht, war die wiedererrichtete Zeltstadt erneut ein Hort heimatlicher Wärme und altbekannter Gerüche geworden, und die meisten Passagiere waren froh darüber gewesen, zur Ruhe kommen zu können und das Nichts hinter der Wandung des alten Schiffs vergessen zu können.
Dennoch wurden die Menschen zunehmend stiller — nachdenklicher, ja sogar depressiv.
Und dann begann sich noch der Verlust der einen ihrer zwei Versorgungsmaschinen auszuwirken; die Nahrungsmittel mußten rationiert werden; die Leute litten Hunger.
Das Weltall draußen war von einem satten Dunkelblau, das nur durch das diffuse Glühen weit entfernter Nebel unterbrochen wurde. Die Wissenschaftler hatten über ihren antiken Instrumenten gebrütet und Rees versichert, daß der interstellare Leerraum alles andere als atmosphärelos war; nur war die Dichte der Gase viel zu niedrig, als daß Menschen darin hätten existieren können. »Es ist«, hatte Jaen ihm voller Elan erklärt, »als ob die Nebel Flecken mit einer hohen Dichte innerhalb einer weit größeren Wolke seien, die ihrerseits vielleicht eine eigene Struktur und einen eigenen Kern hat. Vielleicht fallen all die Nebel wie Sterne in diesen großen Kern.«
»Warum hier schon aufhören?« hatte Rees grinsend erwidert. »Diese Struktur könnte rekursiv sein. Vielleicht ist dieser große Nebel selbst auch nur ein Satellit eines anderen, riesigen Kerns, der seinerseits um einen anderen kreist, und so weiter, ohne Ende.«
Jaens Augen funkelten. »Ich frage mich, wie die Bewohner solch großer Kerne wohl aussehen, wie sich die Gravitationschemie unter derartigen Bedingungen auswirken könnte…«
Rees zuckte die Achseln. »Vielleicht schicken wir eines Tages ein Schiff los, um es herauszufinden. Um den Kern der Kerne zu finden… aber man könnte diese Fragen auch mit weniger Aufwand beantworten.«
»Wie zum Beispiel?«
»Nun, falls unser neuer Nebel wirklich auf einen größeren Kern zustürzt, müßte man diesen Vorgang meßtechnisch nachweisen können. Gezeiteneffekte, zum Beispiel — wir könnten Hypothesen zu Masse und Aussehen des großen Kerns aufstellen, ohne ihn überhaupt selbst zu sehen.«
»Und mit diesem Wissen könnten wir ganze Bündel von Theorien über die Struktur dieses Universums verifizieren…«
Nun lächelte Rees; ein Teil seiner alten intellektuellen Zuversicht war wieder da und richtete ihn auf.
Aber wenn sie sich nicht verpflegen konnten, waren all diese Träume nur Schäume.
Durch das Schleudermanöver am Kern vorbei hatte das Schiff einen enormen Geschwindigkeitszuwachs erfahren und drang innerhalb von Stunden in den galaktischen Leerraum ein. Seitdem waren fünf Schichten vergangen… doch sie hatten noch weitere zwanzig vor sich. Würde die fragile soziale Struktur des Raumers so lange halten?
Eine knochige Hand legte sich auf seine Schulter. Hollerbach stieß sein hageres Gesicht vor und schaute aus dem Fenster. »Wundervoll«, murmelte er.
Rees sagte nichts.
Hollerbach ließ die Hand auf Rees’ Schulter liegen. »Ich weiß, wie du dich fühlst.«
»Das Schlimmste ist«, meinte Rees, »daß die Passagiere noch immer mich für unsere Schwierigkeiten verantwortlich machen. Mütter halten mir bei meinen Rundgängen anklagend ihre hungrigen Kinder entgegen.«
Hollerbach lachte. »Rees, das darf dich nicht kümmern«, sagte er trocken. »Du hast nach wie vor den tapferen Idealismus deiner Jugend — den Idealismus, den du ins Erwachsenenalter mitgenommen hast und der dich dazu veranlaßt hatte, durch das Zusammengehen mit den Wissenschaftlern während der Revolution dein eigenes Leben zu riskieren. Doch jetzt bist du zu einem Mann geworden, der erkannt hat, daß die oberste Priorität das Überleben der Rasse ist… und du hast gelernt, diese Disziplin auf andere zu übertragen. Das hast du mir mit deinem Sieg über Gover bewiesen.«
»Mit seiner Ermordung, meinst du wohl.«
»Wenn du die Handlungen, zu denen du gezwungen warst, nicht bedauern würdest, wäre mein Respekt für dich auch weit geringer.« Der alte Mann drückte Rees’ Schulter.
»Wenn ich nur sicher sein könnte, daß ich das Richtige getan habe«, haderte Rees. »Vielleicht schicke ich diese Leute mit falschen Versprechungen in den Tod.«
»Nun, die Dinge stehen gut. Die Navigatoren haben mir versichert, daß unser Manöver am Kern erfolgreich war, und daß wir uns auf dem richtigen Kurs auf unsere neue Heimat befinden… Und wenn du noch ein günstiges Vorzeichen suchst…« Hollerbach deutete nach oben. »Schau mal da rauf.«
Rees sah in die angegebene Richtung. Die wandernde Walschule zog sich als eine Schicht schlanker, geisterhafter Formen von links nach rechts über den Himmel. An der Peripherie dieses Stroms erkannte er Scheibenwesen, Himmelswölfe mit fest geschlossenen Mäulern und andere, noch exotischere Kreaturen, die alle stetig ihrer neuen Heimat zustrebten.
Im Nebel mußte es noch mehr von diesen riesigen Schulen geben: nacheinander verließen sie die sterbende Gaswolke, ihre verstreuten Silhouetten hoben sich gegen das düstere Glühen des Nebels ab. Bald, überlegte Rees, würde jedes Leben aus dem Nebel verschwunden sein… außer ein paar verankerten Bäumen und den stationären Überresten menschlicher Zivilisation.
Da lief eine leichte Bewegung durch den Strom der Wale. Drei der großen Tiere drifteten mit schlagenden Flossen aufeinander zu, bis sie sich in einem großräumigen, elegischen Tanz überund umeinander herum bewegten. Schließlich rückten sie so dicht auf, daß ihre Flossen sich verfingen und ihre Körper sich berührten; es schien, als ob sie zu einem einzigen Wesen verschmolzen wären. Der Rest der Schule trieb respektvoll um die Triade.
»Was machen sie denn da?«
Hollerbach lächelte. »Ich kann es natürlich nur vermuten — und in meinem Alter überwiegend aufgrund meiner Erinnerung —, aber ich glaube, daß sie sich paaren.«
Rees holte tief Luft.
»Warum auch nicht? Die Bedingungen könnten kaum günstiger sein, umgeben von ihren Kameraden und so weit weg vom Streß und den Gefahren des Lebens im Nebel. Sogar die Himmelswölfe sind kaum in der Lage zu einem Angriff. Weißt du, es sollte mich nicht wundern, wenn wir — nach diesen langen Stunden in Abgeschiedenheit und Langeweile — auch bei uns eine Bevölkerungsexplosion erleben würden.«
»Das ist genau das, was wir brauchen«, erklärte Rees lachend.
»Ja, das brauchen wir wirklich«, murmelte Hollerbach ernst. »Wie dem auch sei; was ich damit sagen will, mein Freund, ist, daß wir es diesen Walen vielleicht nachmachen sollten. Selbstzweifel sind menschlich… aber die Hauptsache ist, das Überleben zu sichern, so gut wie möglich. Und genau das hast du geleistet.«
»Danke, Hollerbach«, sagte Rees. »Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Aber vielleicht solltest du das alles den leeren Mägen der Passagiere erzählen.«
»Vielleicht. Ich… ich…« Hollerbachs Stimme ging in einem heftigen, rauhen Hustenanfall unter. »Entschuldigung«, sagte er schließlich.
Rees musterte den alten Wissenschaftler mit einiger Besorgnis. Im blauen Licht des Leerraums glaubte er die Konturen von Hollerbachs Totenschädel zu sehen.
Die Brücke tauchte in die äußersten Schichten des neuen Nebels ein. Dünne Luft strich pfeifend an den Stümpfen der Steuerdüsen entlang.
Rees und Gord brachten Nead in den Korridor an der Schleuse. Die Beine des jungen Wissenschaftlers — die er nicht mehr bewegen konnte, seit er sich durch den Sturz auf den Kern seine Wirbelsäule gebrochen hatte — waren zusammengebunden und mit einer Holzschiene fixiert worden. Nead beteuerte, daß er unterhalb seiner Hüfte nichts fühlen würde, aber Rees sah, wie sich sein Gesicht bei jeder ruckartigen Bewegung verzerrte.
Beim Anblick von Nead fühlte er sich zutiefst schuldig. Der Bursche war gerade achtzehntausend Schichten alt und hatte die Treue zu Rees schon mit seiner Verkrüppelung bezahlt. Und überdies kamen weitere Gefahren auf ihn zu. Die Stümpfe der abgebrochenen Nieten, wo vorher die Versorgungsmaschine gestanden hatte, erinnerten Rees an das Opfer, das Roch hier gebracht hatte. Er hatte herzlich wenig Lust, einem weiteren beizuwohnen.
»Hör mir zu, Nead«, sagte er ernst. »Ich weiß zu schätzen, wie du dich bisher für diese Mission eingesetzt hast…«
Nead schaute ihn mit plötzlicher Besorgnis an. »Du mußt mich gehen lassen«, insistierte er.
Rees legte eine Hand auf Neads Schulter. »Natürlich. Was ich dir sagen will, ist, daß du die neuen Dampfdüsen draußen anbringen — und sicher wiederkommen sollst. Wir brauchen diese Düsen, wenn wir nicht direkt in den Kern dieses neuen Nebels stürzen wollen. Was wir aber nicht brauchen, ist noch ein toter Held.«
»Ich verstehe, Rees«, erwiderte Nead lächelnd. »Aber was kann denn schon passieren? Die Luft dort draußen ist zwar verdammt dünn, aber sie enthält Sauerstoff, und ich werde eh nicht lange brauchen.«
»Verlaß dich lieber auf nichts. Du mußt unbedingt berücksichtigen, daß unsere Meßgeräte vor Äonen in einem anderen Universum konstruiert wurden… Selbst wenn wir genau wüßten, was sie anzeigen, könnten wir uns nicht darauf verlassen, daß sie auch hier funktionieren.«
Gord runzelte die Stirn. »Ja, aber unsere Theorien stützen die Meßergebnisse. Wegen der Dominanz des Lebens auf Sauerstoffbasis vermuten wir, daß die Atmosphären der meisten Nebel aus einem Gemisch aus Sauerstoff und Stickstoff bestehen.«
»Das weiß ich«, seufzte Rees. »Und die Theorien sind ja schön und gut. Ich sage auch nur, daß wir hier und jetzt nicht wissen, was Nead auf der anderen Seite der Schleuse erwartet.«
Nead schlug die Augen nieder. »Schau, Rees, ich weiß, daß ich ein Krüppel bin. Aber meine Arme und Schultern sind so stark wie früher. Ich weiß, was ich tue, und ich kann diesen Auftrag ausführen.«
»Ich weiß, daß du es kannst… Komm nur heil zurück.«
Nead lächelte und nickte, wobei durch die Korridorbeleuchtung die charakteristische graue Strähne in seinem Haar illuminiert wurde.
Nun befestigten Rees und Gord mit einem Stück Seil zwei Schubdüsen an Neads Hüfte. Dank der minimalen Schwerkraft waren die sperrigen Aggregate einigermaßen zu handhaben. Ein weiteres Seil wurde um Neads Hüftgelenk geschlungen und am Schiff befestigt.
Gord stellte sicher, daß das Innenschott zum Observatorium geschlossen war, so daß die Passagiere nicht gefährdet waren; dann gaben sie sich noch einmal wortlos die Hand, und Gord legte seine Handfläche auf den Öffnungsmechanismus des Außenschotts.
Das Schott verschwand in seiner Führung. Die Luft entwich aus Rees’ Brust. Der Geräuschpegel reduzierte sich zu einem gedämpften Raunen, und er schmeckte Blut, das aus der Nase lief. Ein Gefühl von Wärme in seinen zufallenden Ohren nährte den Verdacht, daß er auch dort blutete.
Weit unter der Schleuse erstreckte sich ein Meer aus blauem Licht. Sie hatten die äußere Zone des Nebels, aus dessen Wasserstoff neue Sterne entstanden, bereits zur Hälfte durchquert und konnten jetzt ober- und unterhalb ihrer Position Sterne erkennen. Weit über Rees’ Kopf markierte ein kleiner, kompakter roter Knubbel die Position des Nebels, den sie verlassen hatten. Es war eine merkwürdige Vorstellung, daß er eine Hand heben und seine Welt einfach ausblenden konnte, all die Orte, die er gesehen und all die Menschen, die er gekannt hatte: Pallis, Sheen, Jame, den Barkeeper, Decker… Er wußte, daß Pallis und Sheen ihre noch verbleibenden Schichten zusammen verbringen wollten; jetzt richtete Rees den Blick auf den entfernten Fleck und betete im stillen, daß sie — und all die anderen, die solche Opfer gebracht hatten, damit er so weit kommen konnte — in Sicherheit und wohlauf waren.
Rees und Gord hoben Nead aus der offenen Schleuse. Mit leblosen Beinen, die aus Holz zu sein schienen, schob sich der verwundete Wissenschaftler in Richtung einer Triebwerksaufhängung. Mit der Rettungsleine in der Hand, warteten Rees und Gord in der geöffneten Schleuse.
Knapp einen Meter vor dem Befestigungspunkt der Düse bremste Nead ab. Rees beobachtete besorgt, wie Nead auf der glatten Oberfläche der Wandung herumkrabbelte. Dann hatte er den Aufhängungspunkt in Reichweite; er packte ihn erleichtert und klammerte seine Finger in kleine Unebenheiten der eisernen Fläche.
Er zog an den Seilen. Gord und Rees bugsierten die erste Schubdüse aus der Schleuse und schoben sie auf den jungen Wissenschaftler zu. Sie hatten gut gezielt; das Aggregat kam knapp einen Meter vor Nead zum Stillstand. Mit schnellen und gleichzeitig präzisen Bewegungen zog Nead an seinem Seil und barg die Düse. Nun mußte der Wissenschaftler sie noch, zumindest grob, an der Längsachse der Brücke ausrichten; lange Sekunden mühte er sich mit dem unhandlichen alten Gerät ab.
Schließlich war das Teil korrekt positioniert. Nead zog einige Klebestreifen aus einer Brusttasche und patschte sie auf den Befestigungspunkt; dann, man sah ihm die Anstrengung an, zerrte er die Düse über die Klebestreifen. Anschließend löste er das Seil von der montierten Düse und gab es frei.
Nead hatte gut und schnell gearbeitet, aber trotzdem war knapp eine halbe Minute verstrichen. Die eigentliche Arbeit wartete noch immer, und der Schmerz in Rees’ Brust steigerte sich zu dumpfer Qual.
Jetzt krabbelte Nead auf die nächste Triebwerksaufnahme zu und verschwand hinter der Krümmung der Schiffshülle. Nach unerträglich langen Sekunden gab es einen Ruck am Seil. Rees und der Bergbauingenieur beförderten die zweite Düse aus der Luke, und das klobige Aggregat schrappte klötternd über den Schiffsrumpf.
Niemand hätte sagen können, wieviel Zeit darüber verstrich. War es wirklich erst Sekunden her, seit sie die Düse auf den Weg gebracht hatten?
Ohne Bezugspunkte war die Zeit eine dehnbare Sache… Rees’ Blickfeld füllte sich mit Schwärze.
Er nahm eine schnelle Bewegung zu seiner Rechten wahr. Mit schmerzender Brust drehte er sich um. Gord zog schon an dem Seil, mit blau angelaufenem Gesicht und hervorquellenden Augen. Rees half ihm. Quälend langsam glitt das Seil über die glatte Oberfläche.
Zu Rees’ Schmerzen gesellte sich plötzlich ein Anflug von Furcht.
Dann rutschte das Ende des Seils über die Rundung der Hülle. Es war mit einem glatten Schnitt durchtrennt worden.
Gord schloß die Augen und kippte nach hinten weg; die Anstrengung hatte ihn offensichtlich bewußtlos werden lassen. Die Sicht verschwamm vor Rees’ Augen, als er die Hand auf die Schottverriegelung legte.
Er wartete.
Gord sackte gegen den Rahmen des Schotts. Rees’ Lungen schmerzten höllisch, als sie versuchten, Sauerstoff aus der dünnen Luft zu ziehen…
Ein Schemen tauchte vor ihm auf, dessen Hände den Schleusenrahmen umklammerten. Dann erschien ein verzerrtes Gesicht mit blau angelaufenen Lippen, ein starrer Körper mit zusammengebundenen Beinen… Nead, erkannte Rees benommen; Nead war zurück, und er selbst hatte noch etwas zu erledigen.
Als ob er sich selbständig gemacht hätte, verkrampfte sich sein Arm auf der Schaltfläche. Das Schleusenschott glitt zu. Dann fuhr das Innenschott auf, und er wurde von sauerstoffhaltiger Luft umfangen.
Später berichtete Nead mit rauher Stimme: »Ich merkte, daß die Zeit knapp wurde und ich noch immer nicht fertig war. Also habe ich das Seil durchgeschnitten und so weitergemacht. Es tut mir leid.«
»Du bist ein verdammter Narr«, flüsterte Rees. Einen Augenblick lang versuchte er, den Kopf von der Pritsche zu erheben; dann gab er es auf und fiel wieder in seinen Schlaf zurück.
Mit den von Nead montierten Düsen steuerten sie das Schiff in eine weite, elliptische Umlaufbahn um einen heißen gelben Stern, der tiefer in dem neuen Nebel stand. Die großen Schleusen waren geöffnet, und Männer krochen über die Hülle und befestigten Kletterseile und neue Dampfdüsen. Dünne, klare Luft durchzog das miefige Innere des Schiffes; schließlich verzog sich der Gestank der vielfach wiederaufbereiteten Luft, und eine ausgelassene Stimmung ergriff von den Passagieren Besitz.
Sogar die Schlangen vor der Proviantausgabe wirkten heiter.
Die Körper derjenigen, die die Reise nicht überlebt hatten, wurden aus dem Schiff geholt, in Lumpen gewickelt und der Luft übergeben. Rees überflog die Ansammlung der Trauernden an der Schleuse. Plötzlich realisierte er, wie ›multikulturell‹ sie jetzt waren: Leute vom Floß wie Jaen und Grye neben Gord und anderen Mineuren; und da war noch Quid mit seiner Truppe von Boneys. Ohne Berührungsängste standen sie alle zusammen, vereint in Trauer und Stolz. Die alten Trennlinien hatten ihre Bedeutung verloren, erkannte Rees; an diesem neuen Ort waren sie alle einfach nur Menschen…
Irgendwann würde die Brücke wieder von diesem Stern abheben, doch diese Körper würden als Reminiszenz an die Ankunft der Menschheit in der neuen Welt für viele Schichten eine Umlaufbahn um ihn einschlagen, bis der Luftwiderstand sie am Ende in den flammenden Stern stürzen ließ.
Trotz der Frischluftzufuhr verfiel Hollerbach zusehends. Schließlich lag er auf einer Pritsche, die an der transparenten Innenwand der Brücke befestigt worden war. Rees ging zu dem alten Wissenschaftler hin, und zusammen sahen sie hinaus in das neue Sternenlicht.
Hollerbach schüttelte sich in einem Hustenanfall. Rees legte eine Hand auf den Kopf des alten Mannes, und dann beruhigte sich Hollerbachs Atem wieder. »Ich habe dir doch gesagt, daß ihr mich zurücklassen sollt«, sagte er mit einem pfeifenden Atemzug.
Rees überhörte das und beugte sich vor. »Du hättest die Aussetzung der jungen Bäume sehen sollen«, meinte er. »Kaum daß wir die Käfige geöffnet hatten, waren sie schon auf und davon… Sie haben sich um diesen Stern verteilt, als ob sie hier geboren wären.«
»Vielleicht sind sie das auch«, vermutete Hollerbach trocken. »Pallis hätte das gefallen.«
»Ich glaube nicht, daß sich einer von uns Jüngeren vorstellen konnte, wie grün Blätter sein können. Und die Bäume wachsen offensichtlich schon. Bald werden wir einen flugtüchtigen Wald haben und können Expeditionen ausschicken: vielleicht stoßen wir auf Wale oder neue Nahrungsquellen…«
Hollerbach kramte unter seiner Pritsche herum; mit Rees’ Hilfe brachte er ein kleines, in grobes Tuch eingewickeltes Päckchen zum Vorschein.
»Was ist das?«
»Mach es auf.«
Als Rees das Tuch abwickelte, erblickte er schließlich eine präzise gearbeitete Maschine mit der Größe seiner hohlen Hände; in ihrem Zentrum glänzte eine silberne Kugel, und um diese Kugel waren bunte Perlen an Kreisen aus Draht aufgereiht. »Dein Orbitalmodell«, stellte Rees fest.
»Ich hatte es im Handgepäck mitgenommen.«
Rees betastete das bekannte Gerät. »Soll ich es haben, wenn du nicht mehr bist?« fragte er verlegen.
»Nein, verdammt!« Hollerbach hustete verärgert. »Rees, dein Anflug von Sentimentalität nervt mich. Ich wollte jetzt, ich hätte das verdammte Ding auf dem Floß zurückgelassen. Junge, ich möchte, daß du es zerstörst. Wenn du mich aus der Schleuse wirfst, schick es hinterher.«
Rees war schockiert. »Aber warum? Es ist das einzige Modell des Sonnensystems im ganzen Universum… buchstäblich unersetzlich.«
»Es bedeutet gar nichts!« Die alten Augen funkelten.
»Rees, dieses Ding ist das Symbol einer verlorenen Vergangenheit, einer Vergangenheit, die wir abstreifen müssen. Wir haben uns schon viel zu lange an solche Relikte geklammert. Jetzt sind wir ein Bestandteil dieses Universums.«
Mit plötzlicher Kraft packte der alte Mann Rees’ Ärmel und schien sich daran aufrichten zu wollen. Rees runzelte die Stirn, legte ihm eine Hand auf die Schulter und bugsierte ihn vorsichtig wieder in die Waagrechte. »Versuche, dich auszuruhen…«
»Das kannst du vergessen«, lehnte Hollerbach mit kratzender Stimme ab. »Ich kann keine Zeit mit Ausruhen verschwenden… Du mußt ihnen sagen…«
»Was?«
»Daß sie sich ausbreiten sollen. In diesem Nebel ausschwärmen. Wir müssen jede Nische ausfüllen, die wir hier finden können; wir können uns nicht länger auf die Überbleibsel einer fernen Vergangenheit stützen. Wenn wir überleben wollen, müssen wir an diesem Ort heimisch werden, unseren Einfallsreichtum und unsere neuen Ressourcen nutzen…« Ein weiterer Hustenanfall unterbrach seine Rede. »Ich will diese Bevölkerungsexplosion, von der wir gesprochen haben. Wir dürfen die Zukunft der Menschheit nie wieder von einem einzigen Sternennebel oder gar einem einzigen Schiff abhängig machen. Wir müssen diese verdammte Wolke erobern und uns dann auf weitere Nebel ausdehnen. Ich will an diesem verdammten Ort nicht nur Tausende, sondern Millionen von Menschen mit all ihren sozialen Aktivitäten.
Und Schiffe… wir werden neue Schiffe brauchen. Ich stelle mir Handelsbeziehungen zwischen den bevölkerten Nebeln vor, wie zwischen den legendären Städten der alten Erde. Und ich sehe uns Mittel und Wege finden, sogar die Lebensräume der Gravitationswesen zu besuchen…
Und ich sehe, daß wir eines Tages ein Schiff bauen werden, das uns zurück durch Bolder’s Ring bringt, dem Tor zum Universum der Menschheit. Wir werden zurückkehren und unseren Brüdern von unserem Schicksal berichten…« Dann war Hollerbachs Lebensenergie erschöpft; der ergraute Kopf war auf das schäbige Kissen gesunken, und die Augen hatten sich allmählich geschlossen.
Als es vorbei war, brachte Rees ihn zur Schleuse; Hollerbachs steife Finger hielten noch immer das Orbitalmodell umklammert. Still übergab er den Leichnam der würzigen Luft und sah ihn davontreiben, bis er vor dem Hintergrund der fallenden Sterne verschwunden war; dann erfüllte er Hollerbachs Wunsch und schleuderte das Orbitalmodell hinaus. Innerhalb weniger Sekunden war es verschwunden.
Er spürte einen warmen Körper an seiner Seite — Jaen stand schweigend neben ihm. Er nahm ihre Hand, drückte sie sanft, und seine Gedanken beschritten neue, unerforschte Pfade. Nun, da das Abenteuer vorüber war, konnten er und Jaen vielleicht an ein neues Leben denken, an ein eigenes Heim…
Jaen blieb die Luft weg. Sie zeigte nach oben. »Mein Gott… schau nur!«
Etwas stürzte vom Himmel. Es war ein kompaktes, blaßgrünes Rad aus Holz, wie ein Baum mit einer zwei Meter durchmessenden Krone. Wenige Meter vor Rees’ Gesicht kam es zum Stillstand und verhielt dort, wobei es schnell rotierend seine Position stabilisierte. Kurze, dicke Extremitäten schlängelten sich aus dem Baum, und irgend etwas, das wie Werkzeuge aus Holz und Eisen aussah, war an verschiedenen Stellen des Randes befestigt. Vergeblich hielt Rees nach den winzigen Piloten des Baumes Ausschau.
»Bei den Boneys, Rees«, schrie Jaen, »was, zum Teufel, ist das?«
Vier Augen, blau und erschreckend menschlich, klappten in dem Stamm auf und musterten sie mit einem festen Blick.
Rees grinste. Das Abenteuer, wurde ihm klar, war alles andere als vorbei.
Es hatte vielmehr gerade erst begonnen.