6

Der Wissenschaftler zweiter Klasse stand in der Schleuse der Brücke. Er sah den frischgebackenen Wissenschaftler Dritter Klasse näherkommen und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Die Uniform des jungen Mannes war so offensichtlich neu, er starrte die silberne Hülle mit solcher Ehrfurcht an, und seine Blässe war ohne Frage die Folge seiner Tausend-Schichten-Feier, die wahrscheinlich erst vor wenigen Stunden zu Ende gegangen war… Beim Gedanken an seine eigene TausendSchichten-Feier und an seinen ersten Gang zur Brücke vor gut dreitausend Schichten fühlte sich der Wissenschaftler Zweiter Klasse ziemlich alt.

Wenigstens verrieten die Augen dieses Jungen Hunger nach Wissen. Allzu viele der Nachwuchswissenschaftler, mit denen der Wissenschaftler Zweiter Klasse zu tun bekam, waren bestenfalls übellaunig und abweisend, schlimmstenfalls geradezu verachtungsvoll; und immer mehr Mitarbeiter fehlten unentschuldigt oder wurden entlassen. Er streckte die Hand aus, als der junge Mann auf ihn zutrat.

»Willkommen auf der Brücke«, begrüßte ihn der Wissenschaftler Zweiter Klasse namens Rees.

Der Junge — blond und mit einem vorzeitigen Graustich im Haar — hieß Nead. Er lächelte verlegen.

Ein bulliger, grimmig dreinblickender Sicherheitsbeamter stand direkt in der Schleuse. Er starrte Nead drohend an, und Rees sah, wie der Junge zitterte. Rees seufzte. »Schon gut, Junge; das ist nur der alte Forv. Seine Aufgabe ist es, sich dein Gesicht einzuprägen, weiter nichts.« Es war noch nicht allzu lange her, dachte Rees wehmütig, daß solche strengen Sicherheitsmaßnahmen notwendig geworden waren; mit der zunehmenden Verschlechterung der Nahrungsversorgung war die Stimmung auf dem Floß schlechter geworden, und die Härte und Häufigkeit der von den ›Unzufriedenen‹ verübten Anschläge hatte sich gesteigert. Manchmal hatte Rees sich gefragt, ob…

Er schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen; er hatte seine Arbeit zu erledigen. Er führte den mit großen Augen staunenden Jungen langsam durch die glänzenden Korridore der Brücke. »Fürs erste ist es genug, wenn du eine grobe Vorstellung von der Aufteilung der Räumlichkeiten bekommst«, sagte er. »Die Brücke ist ein hundert Meter langer Zylinder. Dieser Korridor verläuft mittschiffs um die Brücke. Das Innere ist in drei Räume aufgeteilt — eine große Kammer in der Mitte und zwei kleinere Kammern an den Enden. Wir vermuten, daß die beiden letzteren früher einmal Steuerstände gewesen sind, vielleicht auch Lagerräume; wie du siehst, scheint die Brücke ein Teil des ursprünglichen Schiffes gewesen zu sein…«

Sie kamen zu einer der beiden kleinen Kammern, die mit Büchern, Papierstapeln und Gegenständen vielerlei Größe und Gestalt vollgepackt war. Zwei Wissenschaftler saßen da, konzentriert vornübergebeugt und eingehüllt in Staub. Nead sah Rees aus klaren braunen Augen an. »Wie wird dieser Raum jetzt genutzt?«

»Das ist die Bücherei«, sagte Rees leise. »Die Brücke ist der sicherste Ort auf dem Floß, am besten geschützt gegen die Witterung und Unfälle; deshalb bewahren wir unsere Aufzeichnungen hier auf. Wir archivieren so viele, wie wir können: Ein Exemplar jedes wichtigen Werkes und einige der mysteriöseren Erbstücke aus der Vergangenheit…«

Sie gingen weiter den Korridor entlang und kamen zu einer flachen, in den Fußboden eingelassenen Treppe. Dann stiegen sie zu einer in die innere Wand eingelassenen Tür hinab, die zur Zentrale der Brücke führte. Rees wollte den Jungen zunächst ermahnen, vorsichtig zu gehen — entschied sich dann aber mit einem Anflug bösartigen Humors, es nicht zu tun.

Nead machte vier oder fünf Schritte nach unten — und kippte dann mit rudernden Armen nach vorn. Er fiel jedoch nicht um, sondern hüpfte statt dessen wie ein Ping-Pong-Ball den Treppenschacht hinunter und schlug einen langsamen Purzelbaum. Es war, als wäre er in eine unsichtbare Flüssigkeit gefallen.

Rees grinste breit.

Nead tastete keuchend nach der Wand. Mit gegen das Metall gepreßten Handflächen rappelte er sich auf und kletterte wieder die Treppe herauf.

»Bei den Boneys«, fluchte er, »was ist das da unten?«

»Keine Angst, es ist harmlos«, sagte Rees. »Mich hat’s beim erstenmal auch erwischt. Nead, du bist jetzt ein Wissenschaftler. Denk darüber nach. Was ist geschehen, als du diese Stufen hinuntergestiegen bist?«

Der Junge starrte ihn entgeistert an.

Rees seufzte. »Du hast doch die Ebene des Decks durchquert, nicht wahr? Das Metall des Decks ist für die Schwerkraft auf dem Floß verantwortlich. Also gibt es hier, im Zentrum des Floßes — und überhaupt auf seiner Mittelebene — keine Schwerkraft. Verstehst du? Du bist in eine Zone der Schwerelosigkeit geraten.«

Nead sperrte den Mund auf — dann schloß er ihn wieder und schaute verwirrt drein.

»Du wirst dich daran gewöhnen«, sagte Rees beiläufig. »Und vielleicht wirst du es mit der Zeit sogar verstehen. Komm weiter.«

Er führte den Jungen durch die Tür in die mittlere Kammer und spürte Befriedigung, als er Nead nach Luft schnappen hörte.

Sie betraten einen etwa fünfzig Meter durchmessenden Raum. Der Boden war überwiegend durchsichtig, ein großes Fenster, das einen schwindelerregenden Blick in die Tiefen des Nebels eröffnete. Übermannsgroße, schmale Maschinen waren um das Fenster gruppiert. Für Neads ungeschulten Blick, dachte Rees, mußten sich die Maschinen ausnehmen wie riesige, unwirkliche Insekten, die mit Linsen und Antennen besetzt waren und in den endlosen Weltraum hineinspähten. In dem Raum roch es unverkennbar nach Ozon und Schmieröl; sanft summten Servomotoren.

In dieser Schicht arbeiteten vielleicht ein Dutzend Wissenschaftler in der mittleren Kammer; sie gingen zwischen den Maschinen hin und her, regelten sie nach und machten sich Notizen. Und da die Oberfläche des Floßes ungefähr in Hüfthöhe über dem gläsernen Boden verlief, schaukelten die Wissenschaftler in der Luft wie Boote in einem unsichtbaren Teich, wobei ihre Schwerpunkte sich für jeweils zwei, drei Sekunden über respektive unter der Zone der Schwerelosigkeit befanden. Rees, der die Szene so betrachtete, als sähe er sie zum erstenmal, mußte wieder ein Grinsen unterdrücken. Ein kleiner, rundlicher Mann hatte sich eben, als sei es völlig normal, auf den Kopf gedreht, um mit den Augen näher an eine Konsole mit Sensoren zu kommen. Seine Hose verrutschte kontinuierlich in Richtung der schwerelosen Zone, so daß seine nackten, kurzen Beine darunter hervorschauten.

Sie standen auf einem niedrigen Absatz; Rees machte einen Schritt nach unten und schwebte alsbald in der Luft, wobei seine Füße ein paar Zentimeter von dem gläsernen Fußboden entfernt waren. Nead hampelte nervös herum. »Komm, es ist ganz einfach«, sagte Rees. »Du brauchst nur in der Luft zu schwimmen oder auf und ab zu hüpfen, bis deine Füße das Deck berühren.«

Nead trat von dem Absatz herunter, taumelte vorwärts und richtete sich langsam auf. Er erinnerte Rees an ein Kind, das zum erstenmal ein Schwimmbecken betrat. Nach einigen Sekunden breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes aus; und bald segelte er durch den Raum, wobei seine Füße das Panoramafenster unter ihm berührten.

Rees machte mit ihm einen Rundgang zwischen den Maschinen hindurch.

Nead schüttelte den Kopf. »Wahnsinn.«

Rees lächelte. »Diese Geräte gehören zu den am besten erhaltenen Teilen der Ausrüstung des Schiffes. Sie sehen so aus, als wären sie erst in der letzten Schicht entladen worden… Wir nennen das hier das Observatorium. Alle Hochleistungssensoren sind hier aufgestellt, und hier wirst du — als Mitglied meines aus Astronomen bestehenden Teams — den größten Teil deiner Zeit verbringen.« Sie hielten vor einem drei Meter langen, mit Linsen überzogenen Rohr inne. Rees fuhr mit einer Handfläche an der glitzernden Seite des Instruments entlang. »Dieses Baby ist mein Lieblingskind«, sagte er. »Ist es nicht schön? Es ist ein Teleskop, das auf allen Wellenlängen arbeitet, einschließlich des normaloptischen Spektrums. Mit ihm können wir direkt ins Herz des Nebels schauen.«

Nead dachte darüber nach und blickte dann zur Decke. »Besteht für uns überhaupt die Notwendigkeit dazu?«

Rees nickte anerkennend. Das war eine gute Frage. »Ja. Es besteht die Möglichkeit, das Dach durchsichtig zu machen — wir können sogar den Fußboden lichtundurchlässig machen, wenn wir wollen.« Er schaute auf die faustgroße Status-Anzeige des Instruments. »Wir haben Glück; zur Zeit werden keine Beobachtungen durchgeführt, so daß wir einen kurzen Streifzug durch den Nebel machen können. Das meiste, was ich dir jetzt erzählen werde, wirst du ohnehin schon aus dem Studium kennen, und um die Details brauchst du dich jetzt noch nicht zu kümmern…« Langsam gab er auf einem Tastenfeld, das sich unterhalb des Sensors befand, eine Reihe von Befehlen ein. Er bemerkte, daß der Junge ihn neugierig beobachtete. Vielleicht hat er auf diesem Floß mit seinen Hunderten von Versorgungsmaschinen noch niemanden gesehen, der mit einer Tastatur so schlecht umgehen kann, dachte Rees…

Er war selbst darüber erschrocken, noch Überbleibsel der alten Ressentiments in sich zu entdecken. Aber das machte jetzt auch nichts…

Eine Sektion der Decke wurde durchsichtig und gab den Blick auf einen roten Himmel frei. Rees zeigte auf einen Monitor, der auf einem dünnen Ständer dicht am Teleskop montiert war. Der Bildschirm füllte sich übergangslos mit Dunkelheit, die von den verschwommenen Umrissen der Linsen durchsetzt war. Die Linsen wiesen das ganze Farbenspektrum auf, von Rot über Gelb bis hin zu kristallklarem Blau. Wieder schnappte Nead nach Luft.

»Rufen wir uns einige Tatsachen in Erinnerung«, begann Rees. »Wie du weißt, leben wir in einem Sternennebel, einer ellipsenförmigen Gaswolke mit einer Längsachse von fünftausend Meilen. Jeder Partikel des Nebels kreist um den Kern. Auch das Floß dreht sich, da es auf dem Nebel sitzt wie eine Fliege auf einer sich drehenden Scheibe; eine Umdrehung um den Kern dauert ungefähr zwölf Schichten. Das Bergwerk auf dem Gürtel befindet sich weiter im Inneren des Nebels und benötigt ungefähr neun Schichten für einen Umlauf. Wenn die Piloten zwischen Bergwerk und Floß hin- und herfliegen, wechseln sie im Grunde genommen die Umlaufbahn…! Zum Glück sind die Differenzen zwischen den Umlaufgeschwindigkeiten hier draußen so gering, daß die Geschwindigkeit, die die Bäume erreichen können, völlig ausreicht, um problemlos von einer Umlaufbahn auf die andere zu wechseln. Natürlich müssen die Piloten ihre Route sorgfältig planen, um sicherzugehen, daß das Bergwerk auf dem Gürtel nicht in Opposition zum Floß steht, wenn sie den richtigen Orbit erreicht haben…

Jetzt schauen wir durch das Dach des Observatoriums und aus dem Nebel hinaus. Normalerweise würde uns die Atmosphäre diesen Ausblick verstellen, aber das Teleskop kann diese atmosphärischen Störungen neutralisieren und uns zeigen, was wir ohne die Lufthülle sehen würden.«

Nead schaute sich das Bild näher an. »Was sind das für Punkte? Sind das Sterne?«

Rees schüttelte den Kopf. »Das sind andere Sternennebel: Manche sind größer als unsere, manche kleiner, einige — die blauen — sind jünger, und einige scheinen älter zu sein. So weit wir mit dem Teleskop sehen können — und das sind hunderte Millionen von Meilen — ist der Weltraum voll von Sternennebeln.

Okay. Verkürzen wir die Beobachtungsdistanz.« Mit einem einzigen Tastendruck veränderte sich das Bild und zeigte einen lilafarbenen Himmel; Sterne glitzerten, weiß wie Diamanten.

»Wie schön das ist«, meinte Nead atemlos. »Aber das kann doch nicht unser Nebel sein…«

»Ist er aber.« Rees lächelte traurig. »Du schaust auf die äußerste Schicht, wo die leichtesten Gase — Wasserstoff und Helium ausgefällt werden. In dieser Schicht entstehen die Sterne. Durch Verwirbelungen entstehen Brocken von höherer Dichte. Diese Brocken implodieren, und mit einem Knall werden neue Sterne geboren.« Die Sterne, aus dem Fusionsfeuer entstandene Kugeln, formierten sich zu dichten Wellen, als sie ihren langen und langsamen Fall in den Nebel begannen. »Die Sterne leuchten ungefähr tausend Schichten lang, bevor sie ausbrennen und als erkaltete Eisenkugel in den Kern fallen… Die meisten jedenfalls; einige dieser Kugeln stabilisieren sich jedoch in einer Umlaufbahn um den Kern. So sind die Sternenminen entstanden.«

Nead runzelte die Stirn. »Und wenn die Flugbahn eines fallenden Sterns die Umlaufbahn des Floßes kreuzt…«

»Dann kommen wir in Schwierigkeiten und müssen die Bäume benutzen, um die Umlaufbahn des Floßes zu ändern. Zum Glück bewegen sich Sterne und Floß so langsam aufeinander zu, daß wir genügend Zeit haben, um die Flugbahn des Sternes zu verfolgen…«

»Wenn ständig neue Sterne entstehen, warum sagen dann die Leute, daß der Nebel stirbt?«

»Weil viel weniger neue Sterne entstehen als früher. In der Frühphase des Nebels bestand er fast nur aus Wasserstoff. Die Sterne habe eine große Menge des Wasserstoffs in Helium, Kohlenstoff und andere schwere Elemente verwandelt. So sind die komplexen Strukturen entstanden, auf denen das Leben hier basiert.«

»Oder die eher uns das Leben ermöglichen. Aber was für uns Leben bedeutet, bedeutet einen langsamen Erstickungstod für den Nebel. Für sie sind Stickstoff, Kohlenstoff und die anderen Elemente Abfallprodukte. Da sie schwerer sind als Wasserstoff, legen sie sich langsam um den Kern; der restliche Wasserstoff nimmt immer weiter ab, bis er — wie heute — nur noch eine dünne Schale um den Nebel bildet.«

Nead starrte auf die wenigen jungen Sterne. »Was wird letzten Endes geschehen?«

Rees zuckte die Achseln. »Nun, wir haben schon andere Nebel beobachtet. Die letzten Sterne werden herunterfallen und erlöschen. Seiner Energie beraubt, wird das luftgestützte Leben des Nebels — die Wale, die Himmelswölfe, die Bäume und die weniger entwickelten Lebensformen, die den höheren Spezies als Nahrung dienen — aufhören zu existieren.«

»Gibt es wirklich so etwas wie Wale? Ich dachte, das wären nur Märchen.«

Rees zuckte die Achseln. »Wir haben sie hier draußen nie gesehen, aber es gibt jede Menge Berichte von Reisenden, die in die Tiefen des Nebels vorgedrungen sind.«

»Was, Sie meinen, bis hin zum Bergwerk auf dem Gürtel?«

Rees unterdrückte ein Lächeln. »Nein, noch weiter. Der Nebel ist groß, Junge; er bietet genügend Platz für Geheimnisse. Wahrscheinlich gibt es sogar versprengte menschliche Kolonien; vielleicht existieren die Boneys wirklich, und alle diese Legenden sind wahr… von den animalischen Walsängern, die im Nebel verschollen sind.«

Den Jungen schauderte es.

»Natürlich«, fuhr Rees grüblerisch fort, »gibt es Rätsel, was das ursprüngliche Leben im Nebel betrifft. Wie kann es beispielsweise überhaupt existieren? Aus unseren Aufzeichnungen geht hervor, daß das Leben in unserem Heimatuniversum Milliarden und Abermilliarden von Schichten brauchte, um sich zu entwickeln. Der Nebel ist nicht annähernd so alt — und wird es auch noch nicht sein, wenn er vergeht. Wie also konnte hier Leben entstehen?«

»Sie waren dabei, mir zu erzählen, was geschehen wird, wenn die Sterne erlöschen…«

»Richtig. Die dunkel gewordene Atmosphäre wird ihre Wärme kontinuierlich abgeben und — da sie der Anziehungskraft des Nebelkerns immer weniger wird widerstehen können — schließlich kollabieren. Zuletzt wird der Nebel nur noch eine wenige Zentimeter dicke Schicht um den Kern sein und langsam in ihn hineinstürzen…«

Der junge Mann nickte langsam mit blassem Gesicht.

»Genug«, sagte Rees energisch. »Wir wollen jetzt in den Nebel hineinschauen — über die Ekliptik des Floßes, die tausend Meilen vom Rand der Nebula entfernt ist, hinaus — ins Zentrum des Nebels.«

Nun füllte sich der Monitor mit dem vertrauten roten Himmel. Sterne waren vereinzelt am Himmel verstreut. Rees drückte eine Taste, und die Sterne schossen über den Rand des Monitors hinaus. Der Fokus raste auf den Nebel zu und vermittelte ihnen den Eindruck, als ob sie in ihn hineinstürzten.

Schließlich wurde die Sternenwolke dünner, und eine dunklere Materieansammlung schob sich in die Mitte der Wolke.

»Was du hier siehst, ist eine den Kern eng umschließende Trümmerschicht«, erklärte Rees leise. »Dahinter befindet sich ein Schwarzes Loch. Es ist nicht schlimm, wenn du jetzt noch nicht genau weißt, was das ist… Das Schwarze Loch hat einen Durchmesser von ungefähr einem viertel Millimeter; das große Objekt, das wir ›Kern‹ nennen, ist eine dichte Materieballung, die das Schwarze Loch umgibt. Wir können durch diese Trümmerschicht den Kern selbst zwar nicht sehen, aber wir vermuten, daß er ein Ellipsoid mit einer Länge von etwa fünfzig Meilen ist. Und irgendwo innerhalb des Kerns befindet sich das Schwarze Loch selbst, umgeben von einer vielleicht dreißig Meter durchmessenden Akkretionsscheibe, in der jegliche Materie zermalmt und in das Schwarze Loch gerissen wird…«

»An der Oberfläche des Kerns beträgt die Schwerkraft nur noch einige Hundert Gravos. Am äußeren Rand des Nebels — wo wir uns befinden — beträgt sie sogar nur noch ein Prozent eines Gravos; aber obwohl die Schwerkraft hier so niedrig ist, wird der Nebel durch die Gravitationswirkung des Schwarzen Lochs zusammengehalten.

Und wenn wir in den Kern selbst hineingelangen könnten, würden wir feststellen, daß die Schwerkraft dort auf Tausende, ja Millionen Gravos ansteigt. Hollerbach hat einige Theorien über die Abläufe im Nahbereich des Kerns und im Kern selbst entwickelt, einer Zone, die er als ›Gravitations-Chemie‹ bezeichnet.«

Nead runzelte die Stirn. »Verstehe ich nicht.«

»Das kann ich mir denken«, lachte Rees. »Aber ich werde es dir trotzdem erzählen, damit du später die richtigen Fragen stellen kannst…

Siehst du, in der Alltagshektik neigen die Menschen — sogar wir Wissenschaftler — dazu, die grundlegende und erstaunliche Tatsache dieses Kosmos zu vergessen — daß nämlich die Gravitationskonstante eine Milliarde mal höher ist als in dem Universum, aus dem die Menschheit kommt. Natürlich können wir die makroskopischen Effekte beobachten — zum Beispiel verfügt ein menschlicher Körper über ein ganz beachtliches Schwerefeld! —, aber was ist mit den kleinen, den subtilen, den mikroskopischen Effekten?

Im Ursprungsuniversum der Menschheit«, fuhr Rees fort, »war die Schwerkraft die einzig relevante Kraft im interstellaren Maßstab. Aber im mikroskopischen Spektrum — im atomaren Bereich — war die Schwerkraft so schwach, daß man sie als eine zu vernachlässigende Größe behandeln konnte. Selbst die elektromagnetische Kraft ist viel stärker als die Gravitation. Und das ist der Grund dafür, daß unsere Körper wandelnde elektromagnetische Käfige sind, deren Existenz durch die elektrischen Felder unserer Moleküle aufrechterhalten wird.

Aber hier…« Er rieb sich nachdenklich die Nase. »Hier liegen die Dinge anders. Hier kann unter bestimmten Umständen die Schwerkraft im atomaren Bereich genauso relevant sein wie die anderen Kräfte — womöglich sogar die dominierende Kraft.

Hollerbach spricht von einer neuen Art von ›Atom‹. Er unterstellt, daß seine Bestandteile massiv sind — vielleicht winzige Schwarze Löcher — und das Atom würde durch die Gravitation in neuartige, komplexe Strukturen eingebunden. Eine neue Art von Chemie — eine Schwerkraftchemie — wäre möglich; neue Naturgesetze, über deren Wesen selbst Hollerbach nur vage Spekulationen anstellen kann.«

Nead runzelte die Stirn. »Aber warum haben wir diese ›Gravitationschemie‹ bisher nicht beobachtet?«

Rees nickte anerkennend. »Eine gute Frage. Hollerbach nimmt an, daß erst die richtigen Bedingungen vorliegen müssen: entsprechende Temperatur und Druck sowie ein enormer Anstieg der Schwerkraft…«

»Im Kern«, keuchte Rees. »Ich verstehe. Vielleicht…«

Ein leiser Knall war zu vernehmen.

Die Brücke bewegte sich leicht, als ob ein Beben durch ihre Struktur liefe. Das Bild auf dem Monitor verschwand.

Rees fuhr herum. Ein stechender Geruch nach Feuer und Rauch stieg in seine Nase. Die Wissenschaftler liefen kopflos durcheinander, aber die Instrumente schienen intakt zu sein. Irgendwo schrie jemand.

Nead zog ängstlich die Augenbrauen hoch. »Ist das normal?«

»Das kam aus der Bücherei«, murmelte Rees. »Nein, das ist verdammt überhaupt nicht normal.« Er atmete zur Beruhigung tief durch; und als er wieder sprach, war seine Stimme fest. »Ist gut, Nead. Ich möchte, daß du diesen Raum so schnell wie möglich verläßt. Warte, bis…« Seine Stimme brach ab.

Nead sah ihn mit einem Anflug des Verstehens an. »Bis was?«

»Bis ich dich kommen lasse. Nun geh.«

Der Junge bewegte sich halb rudernd zum Ausgang und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Wissenschaftler.

Rees versuchte, die sich um ihn herum ausbreitende Panik zu ignorieren; er strich mit den Fingern über das Tastenfeld des Teleskops und arretierte das kostbare Instrument in seiner Ruhestellung. Für einen Moment bewunderte er sich selbst wegen seiner unbekümmerten Coolness. Letzten Endes aber, dachte er, reagierte er nur auf eine harte, schreckliche Tatsache. Menschen waren ersetzbar. Das Teleskop nicht.

Als er sich wieder von der Tastatur abwandte, sah er, daß das Observatorium verwüstet war. Papier und kleine Werkzeuge waren auf dem fugenlosen Fußboden verstreut oder trieben in der schwerelosen Zone. Und noch immer hing dieser Brandgeruch in der Luft.

Mit einem Gefühl der Leichtigkeit schritt er über den Fußboden der Kammer und kletterte hinaus in den Korridor. Rauch erfüllte die Luft und brannte ihm in den Augen, und als er sich der Bibliothek näherte, überlagerten Bilder der implodierten Gießerei und des Theaters des Lichts seine Gedanken, so, als ob sein Geist ein Teleskop wäre, das auf die Tiefen der Vergangenheit gerichtet war.

Als er die Bibliothek betrat, hatte er das Gefühl, in den halb verwesten Mund einer Mumie zu steigen. Bücher und Papiere hatten sich in geschwärzte Bündel verwandelt und waren gegen die Wand geschleudert worden; durch die Versuche der Wissenschaftler, ihren Schatz zu retten, waren die zerstörten Blätter zudem durch Löschwasser völlig eingeweicht worden. Es waren noch immer drei Männer hier, die mit feuchten Decken auf die schwelenden Seiten einschlugen. Als Rees eintrat, wandte sich einer von ihnen um. Bewegt erkannte Rees Grye, dem Tränen die geschwärzten Wangen hinunterliefen.

Rees fuhr vorsichtig mit einem Finger über die Einbände der zerstörten Bücher. Wieviel war in dieser Schicht verlorengegangen? — Welches Wissen, das sie vielleicht alle vor dem rauchigen Tod des Nebels bewahrt hätte?

Irgend etwas knackte unter seinen Füßen. Glasscherben lagen über den Fußboden verstreut, und Rees erkannte darunter den zerbrochenen, angesengten Hals einer Synthoweinflasche. Einen Augenblick lang wunderte er sich darüber, daß eine so primitive Erfindung wie eine mit brennendem Öl gefüllte Flasche solche Zerstörungen anrichten konnte.

Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er berührte Grye kurz an der Schulter; dann wandte er sich um und verließ die Brücke.

An den Türen waren keine Wachen zu sehen. Draußen bot sich ihm ein chaotisches Bild. Verschwommen nahm Rees rennende Menschen und Flammen am Horizont wahr; Fäuste und zornige Stimmen beherrschten das Bild auf dem Floß. Das von oben einfallende harte Sternenlicht ließ die Szenerie verschwimmen, machte sie farb- und konturenlos.

War es also doch geschehen. Seine letzten Hoffnungen, daß dieser Zwischenfall sich lediglich auf eine weitere Attacke auf die Labors beschränken würde, lösten sich in Luft auf. Das zerbrechliche Gefüge aus Vertrauen und Akzeptanz, welches das Floß zusammengehalten hatte, war endgültig zerbrochen…

Einige hundert Meter entfernt erblickte er eine Gruppe junger Männer, die einen stämmigen Mann umstellt hatten; Rees glaubte, Captain Mith zu erkennen. Der große Mann ging in einem Hagel von Schlägen zu Boden. Rees sah, daß er zunächst noch versuchte, Kopf und Leistengegend zu schützen; aber Blut lief in Strömen über sein Gesicht und seine Kleider, und bald droschen die Fäuste und Füße nur noch auf eine unförmige, leblose Masse ein.

Rees wandte sich ab.

Im Vordergrund saß eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern wie betäubt auf dem Deck und starrte in die Ferne. Sie saßen um ein Bündel, das aussah wie eine verkohlte Bücherreihe — vielleicht etwas, das sie aus dem Feuer gerettet hatten?

Aber in der verkohlten Masse war das Weiß von Knochen zu sehen.

Rees fühlte, wie es ihm die Kehle zuschnürte; er atmete tief durch und zog alle Register seiner Erfahrung. Jetzt war kein günstiger Zeitpunkt, um in Panik zu geraten.

Er erkannte Hollerbach. Der alte Chefwissenschaftler saß etwas abseits von den anderen und starrte auf die verbogenen Überreste seiner Brille. Als Rees näherkam, blickte er auf; eine beinahe komische Maske aus Ruß umgab seine Augen. »He? Oh, du bist es, Junge. Schöne Bescherung, nicht wahr?«

»Was ist geschehen, Hollerbach?«

Hollerbach spielte mit seiner Brille. »Schau dir das an. Die war eine halbe Million Schichten alt und ist absolut unersetzlich. Natürlich hat sie mir nie richtig geholfen…« Er schaute trübe auf. »Ist es nicht offensichtlich, was hier passiert ist?« knurrte er mit einem Hauch seiner früheren Energie. »Revolution. Die Frustration, der Hunger, die Entbehrungen — sie lassen ihre Wut an denen aus, die sie gerade in die Finger kriegen. Und das sind zufällig wir. Es ist so verdammt dumm…«

Rees fühlte unerwartete Wut in sich aufsteigen. »Ich werde Ihnen sagen, was dumm ist. Dumm ist, daß ihr den Rest des Floßes — und meine Leute auf dem Gürtel — in Unwissenheit und Hunger gehalten habt. Das ist dumm…«

Hollerbachs von einem Netz aus Falten umgebene Augen sahen todmüde aus. »Da kannst du recht haben, Junge; aber ich konnte niemals etwas daran ändern und kann es auch jetzt nicht. Meine Aufgabe war, das Floß intakt zu halten. Und wer, bitte schön, wird das in Zukunft tun?«

»Minenratte.« Die atemlose Stimme hinter ihm kippte fast über vor Überdrehtheit. Rees wirbelte herum. Govers Augen flackerten in seinem rot angelaufenen Gesicht. Er hatte seine Schulterstücke abgerissen, und seine Arme waren bis zu den Ellbogen mit Blut verschmiert. In seinem Gefolge näherte sich ein Dutzend oder mehr junge Männer; die Gesichter, mit denen sie die Wohnungen der Offiziere betrachteten, waren ausgezehrt vor Hunger.

Rees fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten — und entspannte sie bewußt wieder. Mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: »Ich hätte euch einlochen sollen, solange ich noch die Gelegenheit dazu hatte. Was willst du, Gover?«

»Letzte Gelegenheit, Ratte«, sagte Gover gefährlich sanft. »Komm jetzt mit uns, oder wir machen mit dir dasselbe wie mit diesen bösartigen alten Knackern. Letzte Chance.«

Die starren Blicke von Gover und Hollerbach übten einen fast körperlich spürbaren Druck aus: Der Gestank des Rauches, der Lärm, die blutigen Leichen auf dem Deck, all das floß in seiner Wahrnehmung zusammen, und er fühlte sich, als würde auf seinen Schultern das Gewicht des ganzen Floßes und seiner Bewohner ruhen.

Gover wartete.

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