10

Das grosse Tier hatte seine Peiniger weit hinter sich gelassen und bewegte sich vorsichtig durch die Luft. Die Flossen drehten sich mit verhaltener Kraft, und der mächtige Körper erzitterte. Es schien, als ob der Wal dem dumpfen Schmerz der Stichwunden nachspürte, die ihm zugefügt worden waren. Durch das durchsichtige Körpergewebe konnte Rees die ganz nach hinten gedrehten drei Augen sehen, als wollte der Wal sein eigenes Inneres inspizieren.

Es hörte sich an wie das Rauschen des Windes, als die Flossen plötzlich ihre Taktfrequenz erhöhten. Der Wal schoß vorwärts und war bald außerhalb des Wirkungsbereichs der Gravitation, die von der Knochenwelt ausging. Während Rees zuvor den Eindruck hatte, an einer Decke zu hängen, meinte er nun, an eine weiche Wand gedrückt zu werden.

Neugierig untersuchte er die Substanz vor seinem Gesicht. Seine Finger waren noch immer in die Knorpelmasse unter dem fünfzehn Zentimeter starken Fleischmantel des Wals gekrallt. Das Fleisch selbst hatte keine Epidermis und wies eine leichte Rosafärbung auf. Die Masse war kaum fester als Schaumstoff, und es gab keine Anzeichen einer Durchblutung, obwohl Rees bemerkte, daß seine Arme und Beine auf einmal mit einer klebrigen Substanz bedeckt waren. Er erinnerte sich daran, daß die Boneys dieses Tier wegen seines Fleisches gejagt hatten, und impulsiv drückte er sein Gesicht gegen das Fleisch und riß einen Mundvoll heraus. Das Zeug schien in seinem Mund zu zergehen und verdichtete sich von einem schaumigen Brocken zu einer kleinen festen Tablette. Der Geschmack war intensiv und etwas bitter. Rees zerkaute die Materie und schluckte sie ohne Probleme hinunter. Das Zeug schien sogar seinen trockenen Hals zu beruhigen.

Plötzlich überkam ihn Heißhunger; er vergrub sein Gesicht im Fleisch des Wals und riß mit seinen Zähnen ganze Brocken heraus.

Nach einigen Minuten hatte er vielleicht auf einem zehntel Quadratmeter der Oberfläche des Tieres das Fleisch abgenagt und die Knorpel freigelegt. Jetzt fühlte er sich gesättigt. Der Wal konnte ihm also für eine ganze Weile als Proviantspeicher dienen.

Er sah sich um. Wolken und Sterne erstreckten sich rings um ihn, ein riesiger, öder Raum ohne Wände und Boden. Er trieb irgendwo in dem rötlichen Himmel und hatte vermutlich keine Chance mehr, irgendwann wieder einem anderen Menschen zu begegnen. Diese Vorstellung ängstigte ihn jedoch nicht; vielmehr kam nur eine leise Sehnsucht in ihm auf. Zumindest war er der Erniedrigung durch die Boneys entkommen. Wenn er schon sterben mußte, dann wenigstens auf diese Art, mit offenen Augen für neue Wunder.

Er nahm eine bequemere Position auf dem Körper des Wals ein. Es bedurfte fast keiner Anstrengung, diese Position zu halten, und die gleichförmige Bewegung, das Schlagen der Flossen wirkten überraschend beruhigend. Es war gut möglich, hier einige Zeit zu überleben, bis er vor Entkräftung den Halt verlor und abtrieb…

Seine Arme begannen zu schmerzen. Vorsichtig veränderte er, eine Hand nach der anderen, die Position seiner Finger. Doch bald breitete sich der Schmerz auch über Rücken und Schultern aus.

War es möglich, daß er so schnell müde wurde? Der Aufwand, sich hier unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit festzuhalten, war doch minimal. Oder?

Er sah über die Schulter zurück.

Die Welt drehte sich um ihn. Die Sterne und Wolken vollführten wirbelnde Rotationen um den Wal, und wieder klammerte er sich an eine Decke, von der er jeden Moment hinabfallen konnte…

Er verlor fast den Halt. Rees schloß die Augen und grub seine Finger noch tiefer in die Knorpelmasse. Er hätte natürlich damit rechnen müssen. Der Wal hatte Rotationssymmetrie und mußte sich deshalb drehen. Er mußte das Drehmoment seiner Flossen ausgleichen, und nur durch die Drehung wurde er auf seiner Reise durch die Luft stabilisiert. Es war eine ganz einfache Erklärung…

Wind peitschte über Rees’ Haar und drückte seinen Kopf nach hinten. Die Umdrehungsgeschwindigkeit erhöhte sich, und er spürte, wie der Zug an seinen Fingern stärker wurde. Wenn er nicht aufhörte, die verdammte Situation zu analysieren, und endlich etwas unternahm, würde er in wenigen Minuten abgeworfen werden.

Jetzt verloren seine Füße ihren ohnehin nicht festen Halt. Sein Körper schwang vom Wal weg, so daß er nur noch mit den Händen an dem Tier hing. Die Knorpel zwischen seinen verkrampften Fingern verdrehten sich elastisch, und mit jeder Schwingung seines Körpers strömten Schmerzen durch Bizeps und Ellbogen. Die Zentrifugalkraft stieg kontinuierlich an, von einem über anderthalb auf zwei Gravos…

Vielleicht konnte er sich zu einem der stationären ›Stäbe‹ hinarbeiten, oder zu der Verbindung zwischen Rumpf und Flossen. Er spähte seitwärts zum Körperende des Wals und konnte den Knorpelstrang verschwommen durch die Fleischmassen erkennen.

Es hätten ebensogut Welten dazwischen liegen können. Alles, was er tun konnte, war, sich hier festzuklammern.

Die Drehung beschleunigte sich weiter. Sterne zogen sich strichförmig unter ihm hin, und er spürte Benommenheit aufkommen. In seiner Vorstellung sammelte sich sein ganzes Blut unten in den Beinen und ließ das Gehirn unversorgt. Jetzt konnte er kaum noch seine Arme fühlen, und als er durch einen Schleier aus schwarzen Flecken nach oben blickte, sah er, daß die Finger der schwächeren linken Hand ihren Halt verloren.

Mit einem panikartigen Aufschrei zwang er neue Kraft in die Hände. Seine Finger krampften sich zuckend zusammen.

Und dann rissen die Knorpel.

Wie ein Vorhang, der entlang der Nähte aufgetrennt wurde. Aus dem Körperinneren des Wals entströmte heißes, fauliges Gas und nebelte ihn ein. Mit tränenden Augen schnappte Rees nach Luft. Die gerissenen Knorpel hingen plötzlich durch, und bald hing ein großer Klumpen aus dem Bauch des Wals heraus. Rees pendelte unter Schmerzen hin und her, konnte sich aber festhalten.

Jetzt kräuselte sich die Bauchpartie des Wals in dreißig Zentimeter hohen Wellen. Das Nervensystem des Tieres reagierte wohl nicht besonders schnell, aber dieser Bruch verursachte ihm sicher große Schmerzen. Dann erreichte die Welle die Bruchstelle. Die baumelnde Knorpelmasse ruckte auf und ab, einmal, zweimal, und noch öfter. Rees fühlte sich, als ob seine Schultern ausgerenkt und Nadeln in die Gelenke getrieben würden.

Wieder drohten seine Finger den Halt zu verlieren.

Der Riß im Fleisch des Tieres klaffte wie eine schmale Tür über ihm.

Mit zuckenden Schultern zog sich Rees so weit hoch, bis sein Kinn auf gleicher Höhe mit den Fäusten war. Er zog seine linke Hand weg…

…und wäre fast abgestürzt. Doch die rechte Hand klammerte sich noch immer um die Knorpel, und nun packte die Linke den Rand der Wunde. Er nahm die rechte Hand weg; die schwächere, fast gefühllose Linke schabte über schmierige Knorpel, doch nun hing er mit beiden Händen an der Wundöffnung.

In dieser Position verhielt er für einige Sekunden. Seine Armmuskeln schmerzten höllisch, und die Finger wollten schon wieder abrutschen.

Da spannte er die Rückenmuskeln an, zog die Füße vor das Gesicht, schwang sie über Kopfhöhe und durch die Öffnung. Dann schob er sich in einer fließenden Bewegung mit Beinen und Rücken über die Innenwand der Knorpel in das Innere des Wals. Schließlich konnte er mit den Händen loslassen. Mit letzter Kraft rollte er sich von der Öffnung weg.

Schwer atmend lag er auf dem Rücken, die gespreizten Beine an der Magenwandung des Wals. Unter ihm, gefiltert durch das transparente Fleisch, rotierten die Sterne, und weit oberhalb, wie große Maschinen in einer schwach beleuchteten Halle, befanden sich die Organe des Wals.

Seine Lunge rasselte, und Arme und Hände brannten. Mit der Dunkelheit, die über ihn kam, verschwand auch der Schmerz.

Rees erwachte mit einem brennenden Durst.

Er sah nach oben in das höhlenartige Innere des Wals. Das Licht schien jetzt trüber: vielleicht flog der Wal aus irgendwelchen Gründen tiefer in den Nebel hinein.

Die heiße und feuchte Luft roch faulig und stank irgendwie nach Schweiß. Trotz leichter Schmerzen in der Brust konnte Rees jedoch normal atmen. Vorsichtig stützte er sich auf die Ellbogen. Die Muskeln seiner Arme schmerzten noch immer, und die Fingernägel waren an beiden Händen eingerissen, doch die Fingerknochen schienen unversehrt und funktionsfähig.

Vorsichtig stand er auf.

Noch immer drehten sich die Sterne um den Wal, doch wenn er den Blick abwandte, wurde ihm nicht schwindlig. Er vermutete, daß er sich in einem konstanten Gravitationsfeld von ungefähr zwei Gravos befand. Als Rees nach unten blickte, sah er, daß seine nackten Füße mehrere Zentimeter tief in die zähe Knorpelmasse eingesunken waren. Nach einigen Gehversuchen konnte er fast problemlos laufen, vorausgesetzt er vermied es, auf der glatten Oberfläche auszurutschen.

Wieder machte sich der Durst brennend in seinem Hals bemerkbar. Er meinte fast zu spüren, wie sein Gaumen sich vor Trockenheit verschloß.

Er ging zurück zu der Öffnung, die er in die Knorpelschicht gerissen hatte. Mittlerweile hatte sich die Wunde zu einem so engen Spalt verkleinert, daß er sich gerade noch hindurchzwängen konnte. Er hätte nicht sagen können, wie lange er bewußtlos gewesen war, doch mußte der Heilungsprozeß für diesen Fortschritt mindestens eine Schicht benötigt haben. Er kniete sich auf die Knorpelmasse, die einen warmen, feuchten Teppich bildete, und schob sein Gesicht dicht an die Wunde heran. Eine Brise brachte ihm willkommene frische Luft. Rees sah den baumelnden Lappen aus Knorpeln, an dem entlang er sich in Sicherheit gehangelt hatte: die aufgerissene Haut hatte ihre Transparenz verloren und war mit einer dicken Fettschicht bedeckt. Vielleicht würde diese nachgeschleppte Falte irgendwann vom Körperkreislauf getrennt werden, zusammenschrumpfen und einfach abfallen.

Durch Rees Kletterei war rund um die Wunde das Fleisch von den Knorpeln abgeschabt worden; nur vereinzelt hingen noch einige Reste herum, wie die letzten Blätter an einem herbstlichen Baum. Rees lag auf dem warmen Boden, packte an einer Stelle die Knorpel und stieß den Kopf und den rechten Arm durch die Wunde. Dann griff er nach der Außenseite des Walkörpers und riß so viel Fleisch heraus, wie er greifen konnte. Während seiner Aktivitäten wehte durch die Rotation des Tieres ständig eine Brise über sein Gesicht und die bloßen Arme.

Als er fertig war, zog er sich von der Wunde zurück und verstaute seine kargen Vorräte, von denen er sofort eine Handvoll in den Mund schob. Der klebrige Saft des Walfleischs tröpfelte wohltuend seinen ausgedörrten Hals hinunter, und flockiges Fleisch verfing sich in seinem Bart. Dann hockte er sich auf den warmen Boden, und während er minutenlang vor sich hinkaute, verdrängte er die Gedanken an die Zukunft.

Nachdem das Mahl beendet und sein Hunger und Durst zumindest teilweise gestillt waren, hatte der Fleischstapel um mindestens die Hälfte abgenommen. Mit dem verdammten Zeug würde er kaum über die Runden kommen… Er stopfte den Rest in die Taschen seiner schmutzigen Kombination.

Nun machte sich ein anderes Problem bemerkbar, als der Druck in seiner Blase und im Mastdarm zu schmerzen begann. Irgendwie verspürte er Hemmungen, sich im Körper eines anderen Lebewesens zu erleichtern; es schien ihm ein obszönes Vergehen zu sein. Doch sein Schließmuskel machte ihm klar, daß er eigentlich keine andere Wahl hatte.

Schließlich ließ er die Hose herunter und hockte sich über die engste Stelle des Risses in der Magenwand.

In seiner Vorstellung entwickelte Rees ein bizarres Szenario, wie seine Exkremente in einer braungelben Wolke durch die Luft wirbelten. Es war natürlich höchst unwahrscheinlich, aber vielleicht würde das Zeug eines Tages den Gürtel oder das Floß erreichen. Würde dann einer seiner Bekannten angewidert nach oben blicken, um den Verursacher dieser Sauerei ausfindig zu machen — und dabei ihn verdächtigen?

Sein lautes Auflachen wurde von der weichen Wand um ihn herum absorbiert. Er hatte einige bevorzugte Adressaten, denen er eine solche Botschaft gerne hätte zukommen lassen. Gover, Roch, Quid… Vielleicht sollte er zielen.

Nachdem er seinem Bedürfnis nachgekommen war, stellte sich seine Neugierde wieder ein, und er sah sich im mysteriösen Innenleben des Wals um. Er wähnte sich in einem großen Raumschiff mit gläsernen Wänden. Vom Körperanfang erstreckte sich eine breite Röhre entlang der Körperlängsachse und verjüngte sich im hinteren Bereich. Unidentifizierbare Innereien rankten sich wie fette blasse Würmer um den zentralen Ösophagus und zweigten dann irgendwo ab. Säcke, die vier Personen hätten aufnehmen können und mit irgendeinem undefinierbaren Inhalt gefüllt waren, hingen von der röhrenförmigen Achse herab. Um die Hauptachse waren Organe gruppiert, und an der Innenseite der Außenhaut befanden sich weitere große, fremdartige Organe.

Irgendwo hinten im Körper konnte Rees das Anschlußgelenk des Flossenabschnittes ausmachen, und dann die großen halbkreisförmigen Flossen selbst, die stetig und kraftvoll durch die Luft schlugen. Die Bewegung der Flossen und die wirbelnden Schatten, die das Sternenlicht durch die transparente Haut warf, verliehen dem Ort eine fiktive Dynamik; doch sonst, von einem Brummen im Hintergrund abgesehen, herrschte völlige Stille in dem großen Raum. Rees hatte über die großen Kathedralen auf der Erde gelesen und erinnerte sich daran, wie er die alten Bilder betrachtet und sich gefragt hatte, wie es wohl sein würde, sich an so einem alten, großen und stillen Ort aufzuhalten.

Vielleicht wäre es so wie jetzt.

Er begab sich auf den Weg zur Frontsektion des Wals und schritt vorsichtig über den schlüpfrigen, elastischen Untergrund.

Er näherte sich einem aus dem Boden wachsenden Organ. Die undurchsichtige, abgeflachte Kugel war doppelt so hoch wie er, und ihre Masse übte eine leichte Gravitationswirkung auf ihn aus. Er preßte eine Hand auf den zähen Fleischklumpen, unter dessen Oberfläche er eine heiße Flüssigkeit sprudeln fühlte. Vielleicht war das so eine Art Leber oder Niere. Er duckte sich und konnte so feststellen, daß das Organ über einen festen und faltigen Fleischring mit dem Magen verbunden war. Dieser Ring war durchsichtig genug, daß Rees die Flüssigkeit beobachten konnte, die das kräftige Knorpelgewebe pulsierend ver- und entsorgte.

Ein Speer der Boneys ragte aus dem Organ heraus; seine Spitze steckte armtief in der weichen Materie. Rees ergriff den Schaft und zog den Spieß vorsichtig aus dem Organ heraus. Dampfend und klebrig kam er zum Vorschein. Er deponierte den Speer vorsichtig in einer Fleischfalte und setzte seinen Weg fort.

Der Boden stieg steil an, als er der Kontur des Körpers entlang der Drehachse folgte. Schließlich erstieg er eine fast senkrechte, glatte Fläche und mußte dazu seine Hände in die Knorpelmasse krallen. Als er auf die Achse zukletterte, reduzierte sich die Zentripetalkraft; dafür ließ ihn die nun einsetzende Corioliskraft ins Taumeln geraten.

Er machte eine Atempause und blickte die Steigung hinab, die er eben bewältigt hatte. Die aus dem ›Boden‹ und den ›Wänden‹ der Kammer wachsenden Organe wirkten wie fremdartige Maschinen. Die Röhre des Ösophagus erstreckte sich über seinem Kopf, und jetzt fiel ihm auf, daß sie dicht hinter den Augen mit einer großen, schwammartigen Masse ummantelt war. Schnurartige Fasern verbanden den Schwamm mit den Augen Sehnerven? Vielleicht handelte es sich bei dem verschlungenen Klumpen um das Gehirn des Wals; wenn das zutraf, mußte seine Masse im Verhältnis zum gesamten Körper in etwa der des menschlichen Gehirns entsprechen.

War der Wal am Ende vielleicht intelligent? Das schien zwar absurd, aber dann erinnerte er sich an das Jagdlied der Boneys. Der Wal mußte über ein ausreichend differenziertes Sensorium verfügen, um auf diesen Lockgesang zu reagieren.

Schließlich erreichte er eine Position dicht unter der Schnittstelle zwischen Ösophagus und Kopf. Die drei Augen des Wals hingen wie riesige Lampen über ihm und starrten unbewegt nach vorne. Rees war es, als ob er sich an der Innenseite einer großen Maske festhalten würde.

Als der Kopf sich bewegte, wurde Rees fast ausgespien; er klammerte sich noch fester an die Knorpel. Als er nach oben sah, registrierte er, daß sich das Zentrum des Kopfes geteilt und in einen offenen Schlund verwandelt hatte, der geradewegs in den riesigen Hals führte.

Rees blickte durch diese Öffnung nach draußen. Er machte eine verschwommene Bewegung aus, die sich langsam in einen Schwarm gespenstisch weißer Platten auflöste und vor dem Wal in der Luft herumwirbelte. Diese flachen Lebewesen hatten eine Länge von nicht mehr als einem Meter, und manche von ihnen, wahrscheinlich die Jungen, waren noch wesentlich kleiner. Die Lebewesen waren an den Rändern aufgewölbt — zweifellos aus aerodynamischen Gründen —, und Rees sah, daß die Oberfläche der Scheiben von rötlichen Adern überzogen war.

Beim Herannahen des Wals stoben die Kreaturen panikartig auseinander. Die Augen des Wals richteten sich auf die scheibenförmigen Tiere und fokussierten sie mit hungriger Präzision. Bald kollidierten die Scheiben mit dem großen, flachen Kopf. Das Bindegewebe vibrierte wie ein Trommelfell und schüttelte Rees durch. Die dem Untergang geweihten Scheibentiere bewegten sich noch schwach, als sie in den Schlund des Wals gesaugt wurden und in dem undurchsichtigen Ösophagus verschwanden. Gleich darauf bewegte sich eine Reihe von Klumpen durch die große Röhre. Rees stellte sich vor, wie sich die noch lebenden Platten gegen die Wände warfen, die sich nach einem Leben in Freiheit um sie geschlossen hatten. Nach einigen Minuten erreichte der erste Klumpen eine Abzweigung zu den halbdurchsichtigen Auswüchsen. Ramponierte Scheiben, von denen sich einige noch bewegten, kamen in der relativen Stille der Eingeweide zum Vorschein. Mit kräftigen Kontraktionen der durchscheinenden Muskeln wurden die Körper durch die Eingeweide transportiert und lösten sich bei ihrer Passage durch Behälter mit zersetzenden Gasen oder Flüssigkeiten auf.

Ungefähr eine halbe Stunde lang schlug der Wal eine Gasse durch die Wolke aus Scheibentieren… und dann wanderte irgend etwas schnell in Rees’ Sichtfeld. Er verrenkte sich, um das Objekt erkennen zu können.

Ein kompakter roter Schemen schoß durch den Himmel. Dann noch einer, und ein dritter; und nun pflügte ein ganzer Schwarm von ihnen wie Raketen durch die Luft. Die Objekte fielen in einem großen, rasenden Wirbel aus Bewegung und Blut über den Schwarm der scheibenförmigen Lebewesen her, und als sie wieder durchstarteten, hinterließen sie eine Wolke aus Blut und Fleischresten…

…und einer der roten Schemen nahm Kurs auf Rees’ Gesicht. Er schrie auf und wich zurück, wobei er fast seinen Halt an den Knorpeln verlor. Dann fing er sich ab und starrte zu der Kreatur zurück.

Gerade einige Meter vor ihm hatte das Wesen haltgemacht. Es war im Grunde kaum mehr als ein fliegendes Maul. Ein roter, vielleicht zwei Meter langer Torso ohne irgendwelche Extremitäten wurde von einem kreisförmigen Maul begrenzt, dessen Durchmesser größer war als Rees mit hochgestreckten Armen. Das Maul war an seinem Umfang mit knopfartigen Augen besetzt und innen ringförmig mit Zähnen bewehrt, die einem Hai zur Ehre gereicht hätten. Jetzt schloß sich das Maul, und das Fleisch spannte sich über einen rudimentären Kiefer, bis die Zähne in einem weißen Glitzern ineinanderklappten.

Rees konnte sich lebhaft vorstellen, wie sich dieser Himmelswolf bei seinem Anblick die Lippen leckte.

Doch der Wal fixierte den Wolf nur mit einem arroganten Blick, und nach einigen Sekunden trollte sich dieser, um sich seinem Rudel beim leichteren Verzehr der Scheibentiere anzuschließen.

Offensichtlich gesättigt, verließ der Wal die Wolke aus Scheiben und nahm Kurs in den klaren Himmel. Als er zurückblickte, sah Rees, daß die Himmelswölfe noch immer unter den unglücklichen Scheibentieren wüteten.

Die Himmelswölfe waren Gestalten aus Kindermärchen; Rees hatte nie zuvor einen gesehen. Ohne Zweifel mieden die Scheiben und Wölfe, wie auch unzählige andere Spezies der Fauna und Flora des Nebels, mit Bedacht die Nähe der Menschen. War er der erste Mensch, der so etwas zu sehen bekam? Und würde der Nebel vergehen, bevor die Menschheit die Wunder dieses fremdartigen Universums erforschen konnte?

Rees wurde plötzlich von einer tiefen Niedergeschlagenheit befallen und preßte sein Gesicht an die Innenseite des Walkopfes.

Rees erwachte aus einem Traum, in dem er zu fallen schien.

Sein Rücken war gegen die Innenseite des Walkopfs gedrückt, und seine Hände hielten Knorpelfalten umklammert. Vorsichtig löste er die Finger und knetete die steifen Gelenke.

Wodurch war er aufgewacht? Er überflog das höhlenartige Innere des Wals. Immer noch erhellten Bahnen von Sternenlicht wie Taschenlampenstrahlen den Körper…

…doch mit Gewißheit langsamer als vorher. War der Wal am Ziel seiner Reise angelangt?

Er drehte sich um und sah aus dem Kopf des Wals hinaus… und der Anblick dieses Wunders verursachte ein Prickeln in seiner Schädelbasis: Knapp ein Dutzend Meter von ihm entfernt musterten ihn die drei Augen eines zweiten Wals. Sein Kopf war gegen den ›seines‹ Wals gedrückt, und er sah, wie sich die Mäuler der beiden riesigen Tiere auf eine Art bewegten, die ihre Sympathie füreinander deutlich werden ließ.

Dann bewegte sich der andere Wal mit schlagenden Flossen weg, und die Sicht nach vorne klärte sich wieder. Erneut wurde Rees von dem Anblick eines Wunders überwältigt und mußte nach Luft schnappen. Parallel zum zweiten Wal pflügte in überhöhter Position ein weiterer Artgenosse durch die Luft — und weiter nach oben versetzt ein vierter, und dann noch einer; Rees konnte das Ende der Walschule, die sich durch den Nebel bewegte, nicht absehen. Die Tiere mußten sich über viele Kubikkilometer verteilt haben: die am weitesten entfernt standen, sahen aus wie Glühwürmchen.

Wie ein breiter, rosafarbener Fluß strömten die Wale dem Kern entgegen.

Hinter Rees war ein leise mahlendes Geräusch zu hören, als ob eine große Maschine arbeitete. Als er sich umdrehte, sah er, daß sich das Gelenk zwischen dem Hauptkörper des Wals und der Schwanzflosse verdrehte; mannsdicke Knochen und Muskeln zerrten an der Masse des sich drehenden Fleisches. Bald schlug der Wal mit steuernden Flossenschlägen einen weiten Kreisbogen ein. Die Drehung der Wale beschleunigte sich noch einmal, und die Walschule verwandelte sich in ein Kaleidoskop aus wirbelnden Flossen. Schließlich bezog der Wal irgendwo in der riesigen Schar Position.

Für Stunden nahm die Schule Kurs auf die zunehmende Dunkelheit. In diesen Tiefen des Nebels waren die Sterne älter, ihre Leuchtkraft geringer, und je näher die Flotte dem Kern kam, desto höher wurde die Sternendichte. Rees sah zwei Sterne so dicht zusammenstehen, daß sie sich fast berührten: ihr trübes Licht zog lange Bahnen hinter sich her, und sekundenlang wirbelten sie in einer Pirouette umeinander herum. Später passierten die Wale einen massiven Stern, dessen Fusionsprozeß erschöpft zu sein schien; doch das durch die Schwerkraft verdichtete Eisen auf seiner Oberfläche glühte noch düster nach. Die Oberfläche war in ständiger Bewegung: alle paar Minuten löste sich ein Stück, hinterließ einen vielleicht mehrere Meter breiten Krater und versprühte geschmolzene Partikel einige Meter weit in die Luft. Der Gigant wurde in mehrminütigen Intervallen von kleineren Sternen umkreist, und da mußte Rees an Hollerbachs Vortrag denken: hier war ein anderes Modell des ›Sonnensystems‹, und zwar nicht aus Metallkugeln, sondern aus echten Sternen…

Die Schule erreichte eine andere durch die Gravitation zusammengehaltene Sternenballung, doch diesmal gab es kein gigantisches Zentralgestirn: statt dessen wirbelte ein Dutzend kleiner Sterne, von denen einige noch brannten, in einem komplexen und chaotischen Reigen durcheinander. Einen Moment lang schien es so, als ob zwei Sterne kollidieren würden… aber sie taten es nicht, sondern rasten in einem Abstand von wenigen Metern aneinander vorbei, drehten sich und wurden in andere Richtungen davongeschleudert. Die Bewegung der Sternenfamilie wies weder eine Struktur noch eine Periodizität auf — und Rees, der während seiner Zeit auf dem Floß die chaotischen Aspekte des Drei-Körper-Paradigmas studiert hatte, wunderte sich auch darüber nicht. Die Dunkelheit verstärkte sich weiter. Die zunehmende Schwärze in Flugrichtung sagte Rees, daß sie sich dem Kern näherten. Er erinnerte sich daran, wie er während der Revolte mit diesem jungen Wissenschaftler Dritter Klasse den Nebel mit einem Teleskop erkundet hatte — wie war noch gleich sein Name? Nead? Er hätte es sich kaum träumen lassen, eines Tages diese Exkursion vor Ort durchzuführen, und noch dazu auf eine solch phantastische Art…

Wieder dachte er kurz an Hollerbach. Was würde dieser alte Mann darum geben, diese Wunder sehen zu können? Eine Stimmung der Zufriedenheit, vielleicht hervorgerufen durch seine Erinnerungen, ergriff von Rees Besitz.

Wie auf seiner Erkundungsreise mit dem Teleskop lüfteten sich die Nebel vor dem Kern wie Schleier vor einem Gesicht, und Rees konnte nun das Trümmerfeld um den eigentlichen Kern herum ausmachen. Durch die Spalten in der Schale aus Bruchstücken flackerte rosafarbenes Licht.

Langsam dämmerte Rees, daß er seinem eigenen Tod ins Auge sah. Was würde ihn zuerst erwischen? Die von dem Schwarzen Loch emittierte harte Strahlung? Vielleicht würde der Tidenhub der Kerngravitation ihm Kopf und Glieder vom Körper reißen… oder möglicherweise würde er hilflos in der Luft treiben, während sich die weichere Substanz des Wals auflöste, gebraten oder erstickt in der sauerstofflosen Atmosphäre.

Doch noch immer hielt dieses merkwürdige Gefühl der Zufriedenheit an, und nun spürte er gar eine getragene, beruhigende Musik im Kopf. Er entspannte die Muskeln und lehnte sich bequem an die Innenseite des Walkopfes. Wenn hier wirklich Endstation sein sollte — na gut, wenigstens war es eine interessante Reise gewesen.

Und womöglich war mit dem Tod noch nicht einmal alles zu Ende. Rees erinnerte sich an einige der simplen religiösen Theoreme auf dem Gürtel. Was, wenn die Seele irgendwie den Körper überlebte? Was, wenn er seine Reise mit einem anderen Transportmittel fortsetzen würde? Ihn überkam eine Vision von einem Strom körperloser Seelen, die mit langsamen Flossenschlägen im All verschwanden…

Flossen? Was, zum Teufel…

Er schüttelte den Kopf und versuchte die bizarren Bilder und Töne zu verdrängen. Verdammt, er wußte selbst nur zu gut, daß er dem Tod nicht mit einem elegischen Lächeln und Visionen vom Leben danach gegenübertreten sollte. Er sollte lieber kämpfen und einen Ausweg suchen…

Doch wenn dies nicht seine eigenen Gedanken waren, wessen dann?

Mit einem Schauder drehte er sich herum und betrachtete das um den Ösophagus zentrierte Gehirn des Wals. War das Vieh am Ende gar ein Halbtelepath? Wurden die Bilder von dieser nur wenige Meter entfernten Masse in seinen Kopf projiziert?

Er dachte daran, wie der Jagdgesang der Boneys die Wale angelockt hatte. Vielleicht erzeugte dieser Gesang einen telepathischen Sog, der die Wale becircte und anzog. Auf einmal realisierte er, daß die stete Musik in seinem Kopf die gleiche Struktur, den gleichen zwingenden Rhythmus und die gleiche zyklische Melodie aufwies wie der Gesang der Boneys. Es mußte von außen kommen — ob auf akustischem oder telepathischem Weg, hätte er nicht sagen können. So hatten die Boneys, vielleicht durch Zufall, einen Weg gefunden, wie sie den Walen suggerieren konnten, daß sie schwammen; nicht, um durch die Hände winziger, bösartiger Menschen zu sterben, sondern…

Was? Wohin glaubten diese jetzt zum Kern schwimmenden Wale zu gehen, und warum freuten sie sich so darüber?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Die Vorstellung, seinen Verstand wieder dieser Tortur zu unterziehen, ließ ihn fast verzagen; doch er klammerte beide Hände fest um die Knorpel, schloß die Augen und versuchte, sich auf die bizarren Bilder zu freuen.

Wieder erschienen die Wale in der Luft. Er versuchte die Szene so zu betrachten, als ob sie eine Fotografie wäre. Waren diese Dinger wirklich Wale? Ja; aber irgendwie war ihr Rumpf drastisch geschrumpft, so daß sie jetzt bleistiftförmige Raketen waren, die mit minimalem Luftwiderstand einem unbestimmten Ziel entgegenrasten. Welchem? So sehr Rees sich auch anstrengte und noch dazu mit dem Handrücken gegen die Augen drückte, es kam nichts. Wo immer das Ziel auch sein mochte, ›sein‹ Wal verspürte nichts als Freude bei dem Gedanken daran.

Wenn er das Ziel schon nicht sehen konnte, wie war es dann mit dem Ausgangspunkt? Konzentriert senkte er den Kopf. Das Bild in seinem Geist wurde mitgeführt, als ob er mit einem Teleskop den Himmel absuchen würde.

Und dann sah er den Punkt, von dem aus die Wale ihre Reise angetreten hatten. Es war der Kern.

Er öffnete die Augen. Die Tiere stürzten also nicht in den Tod, sondern nutzten den Kern irgendwie als Gravitations-Katapult, das sie aus — und nun kam ihm die Erleuchtung — aus dem Nebel selbst hinausschleuderte.

Die Wale wußten, daß der Nebel nicht mehr lange existieren würde. Und auf diese phantastische Art wanderten sie also. Sie würden den Nebel aufgeben und durch das All kreuzen, bis sie eine neue Heimat gefunden hatten. Vielleicht hatten sie das schon dutzend- oder hundertmal getan; vielleicht hatten sie auf diese Art die Nebel schon seit Hunderten oder Tausenden von Schichten durchstreift…

Und was die Wale konnten, konnten Menschen sicher auch. Eine große Woge der Hoffnung riß Rees mit sich, und er fühlte sein Blut pulsieren.

Der Kern war mittlerweile sehr nahe gerückt. Licht wie aus der Hölle stach durch die Trümmerhülle und erhellte die Bruchstücke. Die Wale vor ihm atmeten große Dampfwolken durch ihre Mäuler aus, und ihre Körper zogen sich zusammen wie Ballons, aus denen langsam die Luft entwich.

Rees’ Wal verlangsamte seine Drehung. Bald würde er in den tiefen Wirbel zum Gravitationszentrum des Kerns einfliegen… und das würde Rees sicher nicht überleben. So schnell wie er entstanden war, platzte sein Hoffnungsschimmer wieder und fegte die letzten Reste seiner unbegründeten Zufriedenheit hinweg. Er hatte vielleicht noch ein paar Minuten zu leben und würde den Schlüssel zum Überleben seiner Rasse mit sich nehmen.

Ein verzweifeltes Heulen entrang sich seiner Kehle, und seine Hände krampften sich um die Knorpel des Kopfes.

Ein Zittern durchlief den Wal.

Ungläubig starrte Rees auf seine Hände. Bis jetzt hatte der Wal von seiner Anwesenheit nicht mehr Notiz genommen als von einem einzelnen mikrobenartigen Parasiten. Doch wenn seine körperlichen Aktivitäten den Wal schon nicht aus der Ruhe gebracht hatten, hatte vielleicht die Woge seiner Verzweiflung dieses einige Meter entfernte, große und langsame Hirn zum Ansprechen gebracht…

Und vielleicht gab es doch einen Ausweg.

Er schloß die Augen und rief sich Gesichter in Erinnerung. Hollerbach, Jaen, Pallis, wie er seinen Wald pflegte. Rees ließ sich von der Qual wegen ihres bevorstehenden Todes und seiner Sehnsucht, zurückzukehren und diese Leute zu retten, überwältigen und bündelte diese Emotionen in einem einzigen massiven Punkt des Schmerzes. Er zerrte am Kopf des Wals, als ob er mit brutaler Gewalt das Tier von seinem Kurs auf den Kern abbringen konnte.

Dann simulierte Rees eine grenzenlose Traurigkeit und flehte, daß diese menschliche Infektion den Wal verließe, damit er sich mit seiner Herde in Sicherheit bringen konnte. Rees glaubte schier in Trauer zu versinken. Er konzentrierte sich auf ein einzelnes Bild: das Erstaunen auf dem Gesicht des jungen Dritten, Nead, als sich ihm durch das Teleskop die Schönheit des Nebelrandes eröffnete. Ein erneutes, diesmal stärkeres Zittern durchlief den Wal.

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