Der Blick auf die klaren Konturen der Brücke wurde durch einen Gerüstkäfig verstellt. Besatzungsmitglieder krabbelten über das Gerüst und montierten Schubdüsen an der Außenwandung der Brücke. Rees inspizierte zusammen mit Hollerbach und Grye den Baustellenbereich. Er betrachtete den Fortgang der Arbeiten mit kritischem Auge. »Wir sind zu langsam, verdammt.«
Grye verschränkte die Arme. »Rees, ich sehe mich gezwungen, dir zu sagen, daß du von den Details dieses Projektes erbärmlich wenig Ahnung hast. Kommt…«, sagte er und winkte. »Ich zeige euch mal, welche Fortschritte wir schon gemacht haben.« Mit seiner plumpen Hand patschte er auf den die Brücke umgebenden hölzernen Käfig. Es war eine fest auf dem Deck verankerte, rechteckige Konstruktion, die drei breite Bänder fixierte, die ihrerseits um die Brücke gewickelt waren. »Wir können uns hier keine Fehler erlauben«, meinte Grye. »Der letzte Schritt des Startvorgangs wird darin bestehen, die Brücke vom Deck zu trennen. Wenn das erledigt ist, wird die Brücke nur noch von diesem Gerüst gehalten werden. Wenn hier ein Fehler gemacht würde, könnte das katastrophale…«
»Weiß ich, weiß ich«, sagte Rees gereizt. »Aber Tatsache ist, daß unsere Zeit knapp wird…«
Sie kamen zum offenen Außenschott der Brücke. Unter der Aufsicht von Jaen und einem anderen Wissenschaftler bugsierten zwei kräftige Arbeiter ein Gerät aus dem Observatorium. Das Instrument — Rees identifizierte es als ein Massenspektrometer — war eingedellt und zerkratzt, und sein Stromkabel endete in einem geschmolzenen Knubbel. Das Spektrometer wurde zusammen mit einigen anderen Geräten in einem merkwürdig aussehenden Ensemble einige Meter von der Brücke entfernt plaziert. Die ausgemusterten Instrumente blickten mit blinden Sensoren in den Himmel.
Hollerbach schauderte. »Das ist etwas, womit ich echte Probleme habe«, sagte er mit belegter Stimme. »Wir stehen vor einem bösen Dilemma. Jedes Gerät, das wir ruinieren und hinauswerfen, schafft Platz und Luft für jeweils vier oder fünf weitere Personen. Aber können wir es uns leisten, dieses Teleskop und das Spektrometer zurückzulassen? Ist das Gerät nur purer Luxus — oder werden wir es in der unbekannten Umwelt unseres Ziels brauchen, um nicht in einem wichtigen Teil des Spektrums blind zu sein?«
Rees unterdrückte einen Seufzer. Unschlüssigkeit, Verzögerungen, Verwirrung, weitere Verzögerungen… Offenbar konnten sich die Wissenschaftler nicht in wenigen Stunden in Männer der Tat verwandeln — und er hatte ja auch Verständnis für die Probleme, die sie zu lösen versuchten —, aber er wünschte sich, daß sie endlich lernen würden, Prioritäten zu setzen und sich auch daran zu halten.
Sie kamen zu einer Gruppe Wissenschaftler, die vorsichtig an einer Versorgungsmaschine herumlaborierten. Die Ausgabeschächte der über ihnen aufragenden Maschine sahen aus wie offene Mäuler. Rees wußte, daß diese Maschine zu groß war, um sie in die Brücke transportieren zu können, und deshalb mußte sie — und eine Zwillingsmaschine — absurderweise dicht beim Schott auf der Außengalerie der Brücke verankert werden.
Grye und Hollerbach setzten zum Reden an, aber Rees hob die Hände. »Nein«, schnitt er ihnen das Wort ab. »Laßt mich erläutern, warum wir diesen spezifischen Vorgang hier nicht beschleunigen können. Wir haben schon ermittelt, daß bei strikter Rationierung während des Fluges zwei Maschinen zu unserer Versorgung ausreichen müßten. Außerdem haben wir festgestellt, daß diese hier sogar mit einem System für die Spülung und Wiederaufbereitung der Luft ausgerüstet ist…«
»Ja«, konzedierte Grye lebhaft, »aber diese Berechnung beruht auf folgender Schlüsselannahme: daß die Maschinen im Innern der Brücke mit voller Kapazität arbeiten. Uns ist aber nicht genug über ihre Energieversorgung bekannt, um uns da sicher sein zu können. Wir wissen wohl, daß die Maschine über eine irgendwie integrierte Energieversorgung verfügt — anders als die Instrumente auf der Brücke, die per Kabel von einer Zentraleinheit versorgt werden — und wir vermuten sogar anhand der alten Betriebsanleitungen, daß sie auf der Basis eines mikroskopisch kleinen Schwarzen Lochs erfolgt —, aber wir wissen es eben nicht genau. Was, wenn die Maschine Sternenlicht zum Aufladen benötigt? Was, wenn sie irgendwelche giftigen Gase produziert, an denen wir in der Enge der Brücke alle ersticken?«
»Wir müssen das testen, um sicherzugehen«, kommentierte Rees. »Ich akzeptiere diesen Einwand. Wenn sich der Wirkungsgrad der Maschine auch nur um zehn Prozent verringert — dann müssen wir fünfzig Leute mehr zurücklassen.«
»Dann siehst du also auch…«, nickte Grye.
»Ich sehe nur, daß diese Entscheidungen Zeit brauchen. Aber Zeit ist das, was wir eben nicht haben, verdammt…« Ein Druck baute sich in ihm auf: ein Druck, der sich, wie er wußte, nicht eher verringern würde, bis die Brücke auf die eine oder andere Art gestartet war.
Beim Weitergehen trafen sie auf Gord. Der Bergbauingenieur und Nead, der als sein Assistent fungierte, transportierten gerade eine Dampfdüse zur Brücke. »Meine Herren«, nickte Gord voller Elan.
Als Rees den kleinen Bergbauingenieur ansah, verschwand seine Besorgnis für einen Moment. Gord hatte zu seinem früheren effizienten, energischen und etwas empfindlichen Naturell zurückgefunden; er war kaum noch als der Schatten seiner selbst zu erkennen, als den Rees ihn auf der kleinen Welt der Boneys vorgefunden hatte. »Du machst gute Arbeit, Gord.«
Gord kratzte sich an seinem kahlen Schädel. »Wir kommen voran«, meinte er ungerührt. »Mehr als das kann ich nicht sagen; aber, ja, wir kommen voran.«
Hollerbach verschränkte die Hände auf dem Rücken und beugte sich vor. »Was ist mit dem Problem, das bei diesem Steuerungssystem aufgetreten ist?«
Gord nickte zögernd. »Rees, bist du dahingehend informiert? Um den Sturz der Brücke zu steuern — um die Umlaufbahn zu ändern — müssen wir irgendwie die Dampfdüsen kontrollieren, die wir an der Hülle angebracht haben; aber wir wollen keine Durchbrüche in die Wandung schlagen, um die Steuerkabel zu verlegen. Abgesehen davon wüßten wir auch gar nicht, wie wir Breschen in die Hülle schlagen sollten.
Jetzt sieht es so aus, als ob wir Komponenten von den ausgeschlachteten Maulwürfen verwenden könnten. Einige ihrer Motoren arbeiten auf Fernsteuerungsbasis. Ich bin nur ein kleiner Ingenieur; vielleicht habt ihr Wissenschaftler mehr Ahnung davon. Aber es wird darauf hinauslaufen, daß wir die Düsen aus dem Innern der Brücke über eine Reihe von Schaltern beeinflussen können, ohne überhaupt eine physikalische Verbindung zu ihnen herstellen zu müssen. Wir werden in Kürze testen, inwieweit das Material der Außenwandung die Signale blockiert.«
Hollerbach lächelte. »Ich bin beeindruckt. War das deine Idee?«
»Äh…« Gord kratzte sich an der Wange. »Wir hatten ein wenig Hilfe von einem Maulwurfsgehirn bekommen. Wenn man die richtigen Fragen stellt — und seine Beschwerden über ›massive Sensordisfunktion‹ abstellt —, ist es erstaunlich, wie…« Seine Stimme versagte, und seine Augen weiteten sich.
»Rees«, ertönte eine laute Stimme hinter ihm, und der Wissenschaftler versteifte sich. »Ich dachte mir schon, dich hier irgendwo rumhängen zu sehen.«
Rees drehte sich um und blickte zu Roch hoch. Wie immer waren die Augen des großen Mineurs durch einen bevorstehenden Wutausbruch blutunterlaufen, und seine Fäuste öffneten und schlossen sich wie Kolben. Grye wimmerte leise und schob sich hinter Hollerbach. »Ich habe zu arbeiten, Roch«, sagte Rees ruhig. »Du doch sicher auch; also schlage ich vor, daß du wieder zurückgehst.«
»Arbeit?« Rochs schmutzumrandete Nasenlöcher bebten, und er holte mit der Faust gegen die Brücke aus. »Ich schufte wie ein Irrer, damit du und deine von der Pest befallenen Freunde in diesem komischen Ding wegfliegen könnt.«
»Sir, die Passagierlisten liegen noch nicht aus«, erläuterte Hollerbach ernst, »und solange dies nicht der Fall ist, besteht für jeden von uns Hoffnung…«
»Sie müssen erst gar nicht veröffentlicht werden. Wir wissen doch jetzt schon alle, wer an dieser Reise teilnimmt… und jemand wie ich gehört sicher nicht dazu. Rees, ich hätte dir das Gehirn aus dem Schädel quetschen sollen, als ich unten auf dem Kern noch die Gelegenheit dazu hatte.« Roch hielt einen Finger, dick wie ein Tau, in die Luft. »Ich werde zurückkommen«, grollte er. »Und wenn ich dann nicht auf dieser Liste stehe, werde ich verdammt dafür sorgen, daß du auch nicht mitfliegst.« Er stach mit einem Finger nach Grye. »Und das gleiche gilt für dich!« Grye wurde aschfahl und zitterte.
Roch trollte sich. Gord hob seine Düse auf und sagte ironisch: »Gut zu wissen, daß sich in dieser Zeit des Umbruchs manche Dinge überhaupt nicht verändert haben. Komm, Nead, laß uns dieses Ding montieren.«
Rees sah Hollerbach und Grye an und stieß mit dem Daumen über die Schulter, in Richtung des verschwundenen Roch. »Das ist es, weshalb wir Zeit verlieren«, sagte er. »Die politische Situation auf dem Floß — nein, verdammt, die menschliche Situation — verschlechtert sich zusehends. Die ganze Sache ist instabil. Jeder weiß, daß eine ›Liste‹ erstellt wird… und die meisten Leute haben eine klare Vorstellung davon, wer sich darauf befinden wird. Wie lange können wir noch davon ausgehen, daß die Menschen für ein Ziel arbeiten werden, das die meisten von ihnen nie erreichen? Ein zweiter Aufstand wäre eine Katastrophe. Wir würden in Anarchie versinken…«
Hollerbach stieß einen Seufzer aus; plötzlich schien er zu taumeln. Grye ergriff seinen Arm. »Chefwissenschaftler — bist du in Ordnung?«
Hollerbach fixierte Rees mit wäßrigen Augen. »Ich bin müde… schrecklich müde. Natürlich hast du recht, Rees, aber was können wir sonst tun, als unsere ganze Kraft diesem Ziel zu widmen?«
Plötzlich erkannte Rees, daß er all seine eigenen Zweifel auf die schwächer werdenden Schultern Hollerbachs abgewälzt hatte, als ob er noch immer ein Kind wäre und der alte Mann eine Art allmächtiger Erwachsener. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte dich damit nicht belasten sollen…«
Hollerbach winkte mit einer schwachen Geste ab. »Laß nur; du hast schon ganz recht. Irgendwie werden dadurch auch meine eigenen Gedanken klarer.« Seine Augen funkelten leicht belustigt. »Sogar dein Freund Roch hilft auf seine Art. Schau dir den Unterschied zwischen uns an. Roch ist jung und stark; ich bin zu alt, um ohne Hilfe aufzustehen — geschweige denn, meine Gebrechen an eine neue Generation weiterzugeben. Wer von uns sollte wohl an der Mission teilnehmen?«
Rees war schockiert. »Hollerbach, wir brauchen deine Kompetenz. Du willst doch nicht andeuten…«
»Rees, ich glaube, daß ein schwerwiegender Fehler in unserer Lebensweise hier die Weigerung gewesen ist, unseren Platz im Universum zu akzeptieren. Wir bewohnen eine Welt, in der der Schwerpunkt eher auf körperlicher Stärke und Ausdauer liegt wie dein Freund Roch so vortrefflich demonstriert — und auf Beweglichkeit, Reflexen und Anpassungsfähigkeit — wie zum Beispiel die Boneys — und weniger auf geistigen Fähigkeiten. Wir sind nicht mehr als tapsige Tiere, verloren in diesem endlosen Himmel. Doch die uns vom Schiff vererbten verrottenden Geräte, die Versorgungsmaschinen und all die anderen Dinge haben uns die Illusion vermittelt, daß wir die Herren des Universums seien, so wie wir die Herren der Welt waren, von der die Menschheit abstammt.
Nun veranlaßt uns diese erzwungene Wanderung, die meisten unserer Lieblingsspielsachen wegzuwerfen — und mit ihnen unsere Illusionen.« Er blickte müde in die Ferne. »Vielleicht werden irgendwann in ferner Zukunft unsere großen Gehirne einmal schrumpfen und nutzlos werden; vielleicht werden wir eins mit den Walen und Himmelswölfen und zwischen den fliegenden Bäumen überleben, so gut es eben geht…«
»Hollerbach, auf deine alten Tage wirst du noch zu einem sentimentalen Arschloch.«
Hollerbach zog die Augenbrauen hoch. »Junge, ich habe meine alten Tage schon kultiviert, als du noch Eisenerz im Sternenkern gefressen hast.«
»Gut, ich weiß nichts über die entfernte Zukunft, und ich kann sie verdammt auch nicht im geringsten beeinflussen. Alles, was ich tun kann, ist, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Und offen gesagt, Hollerbach, glaube ich nicht, daß wir diese Reise ohne deine Führung überleben können.
Meine Herren, wir haben noch viel zu tun. Packen wir’s an!«
Die Platte hing über dem Floß. Pallis kroch an ihren Rand und ließ den Blick über das trümmerübersäte Deck schweifen.
Rauch legte sich über das Deck wie eine Maske über ein bekanntes Gesicht.
Plötzlich ruckte die Platte durch die Luft und schleuderte Pallis auf den Rücken. Knurrend streckte er die Hände aus und grub sie in das Netz, das über das zerbrechliche Fahrzeug gespannt war. »Bei den Boneys, Barkeeper, kannst du das verdammte Gerät nicht ruhig halten?«
»Das ist ein richtiges Schiff«, schnaubte Jame. »Du hängst jetzt nicht an einem von deinen Holzspielzeugen, Baum-Pilot.«
»Fordere dein Glück nicht heraus, Minenratte.« Pallis schlug mit der Faust auf die rauhe Eisenplatte. »Es ist nur so, daß diese Art zu fliegen — unnatürlich ist.«
»Unnatürlich?« lachte Jame. »Vielleicht hast du recht. Und vielleicht habt ihr Leute zu lange in euren Blätterlauben rumgehängt, als die Mineure kamen und euch vollgepißt haben.«
»Der Krieg ist vorbei, Jame«, stellte Pallis gelassen fest. Er ließ die Schultern hängen und ballte die Hände halb zu Fäusten. »Aber vielleicht sind da noch ein paar Dinge zu regeln.«
Auf dem breiten Gesicht des Barkeepers erschien ein Grinsen der Vorfreude.
»Nichts wäre mir lieber, Baumschwinger. Du kannst Zeit, Ort und Waffen wählen.«
»Oh, keine Waffen.«
»Das paßt mir gut…«
»Bei den Boneys, seid ihr beide endlich mal ruhig?« Nead, der dritte Passagier der Platte, brütete über den auf seinem Schoß ausgebreiteten Diagrammen und Instrumenten. »Wir haben zu arbeiten, wenn ihr euch erinnert.«
Jame und Pallis wechselten einen letzten Blick, und dann widmete Jame seine Aufmerksamkeit wieder der Steuerung seines Fahrzeugs. Pallis schob sich über das kleine Deck, bis er neben Nead saß. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich knurrig. »Wie geht’s voran?«
Nead hielt einen beschädigten Sextanten vors Auge und versuchte dann, die Meßergebnisse mit den Eintragungen in einer handschriftlichen Tabelle zu vergleichen. »Verdammt«, fluchte er sichtlich frustriert. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich habe einfach nicht die Expertise, Pallis. Cipse würde Bescheid wissen. Wenn er nur…«
»Wenn er noch lebte, wäre alles kein Problem«, sinnierte Pallis. »Ich weiß. Tu einfach, was du kannst, Kumpel. Was meinst du?«
Wieder liefen Neads Finger über die Tabellen. »Ich glaube, daß es zu lange dauert. Ich versuche gerade, die Geschwindigkeit zu ermitteln, mit der das Floß relativ zu den Fixsternen abgetrieben wird, und ich glaube nicht, daß es schnell genug ist.«
Pallis runzelte die Stirn. Er lag auf dem Bauch und inspizierte erneut das Floß. Das gewaltige alte Fahrzeug erstreckte sich unter ihm wie ein Tablett mit phantastischen Spielsachen. Über dem Deck sah er noch mehr Plattenschiffe hängen, deren Position durch intervallartige Dampfwolken markiert wurde. Ihre Besatzungen beobachteten ebenfalls diese große Werft. Ein Rauchvorhang stieg von einer Seite des Randes auf — von seiner Position war es die Backbordseite —, und außerdem entwickelte jeder der im Zentralwald verankerten Bäume seinen eigenen Rauchschleier. Der Rauch hatte den gewünschten Effekt — er konnte sehen, daß die Trossen der Bäume einheitlich nach rechts schwenkten, als die fliegenden Pflanzen dem Rauchvorhang ausweichen wollten —, und er glaubte die Taue unter der Belastung stöhnen zu hören, als das Floß seine Position veränderte. Die auf das Deck fallenden Schatten der Trossen wurden länger; das Floß bewegte sich tatsächlich unter dem Stern weg, der wie ein Damoklesschwert über ihm hing. Es war ein erhebender Anblick, den Pallis in seinem langen Leben bisher nur zweimal erlebt hatte. Und daß nach den Revolutionswirren eine solche Kooperation zustandekam — und zu einer Zeit, wo so viele der besten Leute des Floßes mit dem Brückenprojekt beschäftigt waren — verdiente, wie er meinte, Bewunderung.
Vielleicht hatte die Notwendigkeit der Verlegung des Floßes tatsächlich ein Band geknüpft, das die Gesellschaft bisher zusammengehalten hatte. Das hier war ein Projekt, von dem alle profitieren würden.
Ja, es war alles bewundernswert — aber wenn es zu langsam ging, war alles umsonst. Der fallende Stern hing zwar noch meilenweit über ihnen, und es bestand keine unmittelbare Gefahr einer Kollision, aber wenn die Bäume zu lange dem Druck ausgesetzt waren, würden die großen Pflanzen ermüden. Sie wären dann nicht mehr nur außerstande, das Floß zu bewegen — es war sogar möglich, daß einige überhaupt schlappmachen und die Sicherheit des Floßes in der Luft gefährden würden.
Verdammt. Er ließ den Kopf über die Platte hängen und versuchte die Ursache des Problems zu orten. Der Rauchvorhang am Rand wirkte solide genug. Die entfernten Sterne warfen lange Schatten über die maskierten Arbeiter, die sich an der Basis der Rauchwand abmühten.
Dann mußte das Problem also bei den ankernden Bäumen selbst liegen. Jeder Baum war mit einem Piloten nebst Assistenten besetzt, von denen jeder versuchte, seine eigene Rauchwand zu erzeugen. Diese kleinen Barrieren waren vielleicht der bedeutendste Faktor, wenn es darum ging, die Bewegung der einzelnen Bäume zu beeinflussen. Und sogar von hier oben aus konnte Pallis sehen, wie lückenhaft und klein einige dieser Barrieren waren.
Er hieb mit der Faust auf das Deck des Luftfahrzeugs. Zum Teufel; die Säuberungen der Revolution, das nachfolgende Fieber und der Hunger hatte sein Fliegerkorps genauso viele gute Leute gekostet, wie das in anderen Bereichen der Gesellschaft des Floßes auch der Fall gewesen war. Er erinnerte sich, wie die Positionsveränderungen des Floßes früher stattgefunden hatten: die endlosen Berechnungen, die sich über Schichten hinziehenden Besprechungen, die Bewegung der Bäume wie Komponenten einer komplexen Maschine…
Dafür war jetzt keine Zeit. Einige der jüngeren Piloten waren gerade so gut ausgebildet, daß sie nicht von ihren Bäumen fielen. Und die Formation einer seitlichen Wand gehörte mit zu den schwierigsten Aufgaben eines Piloten; als ob man eine Skulptur aus Rauch formen wollte…
Er machte eine Baumgruppe aus, deren Barrieren besonders mickrig aussahen. Mit Handzeichen wies er Jame an, Kurs auf sie zu nehmen.
Der Barkeeper grinste und zerrte an seinen Steuerseilen.
Pallis versuchte, den Sturm in seinem Gesicht und den Gestank des Rauchs zu ignorieren und verdrängte seine nostalgischen Anwandlungen angesichts des majestätischen Anblicks der Bäume. Neben ihm hörte er Nead fluchen, als seine Unterlagen wie Blätter aufgewirbelt wurden. Die Platte fegte die Bäume entlang wie ein großer, unwirklicher Skitter. Pallis zuckte zurück, als die Äste kaum einen Meter an seinem Gesicht vorbeischossen. Schließlich kam das Fahrzeug zur Ruhe. Von hier aus wirkten diese Rauchbarrieren noch dürftiger; Pallis wollte schier verzweifeln, als er sah, wie die Grünschnäbel von Piloten mit Decken kleine Rauchwölkchen wedelten.
Er legte die Hände zu einem Megaphon an den Mund. »Du!«
Kleine Gesichter drehten sich zu ihm hoch. Ein Pilot stolperte rückwärts.
»Legt Holz nach!« schrie Pallis zornig. »Macht ordentlich Rauch. Mit den verdammten Decken erreicht ihr überhaupt nichts…«
Die Piloten bewegten sich zu ihren Feuerkesseln zurück und fütterten die winzigen Flämmchen mit frischem Zunder.
Nead zupfte an Pallis’ Ärmel. »Pilot. Ist das so richtig?«
Pallis schaute hin. Zwei in aufgerissene Rauchschleier gehüllte Bäume gingen blindlings auf Kollisionskurs, wobei ihre Amateurpiloten offensichtlich mit solchen Kinkerlitzchen wie Decken und Feuerkesseln beschäftigt waren.
»Nein, das ist verdammt nicht richtig so«, schrie Pallis. »Barkeeper! Bring uns da runter, aber schnell!«
Die erste Berührung der Bäume erfolgte beinahe sanft: ein Rascheln der Blätter, ein zarter Kuß knackender Zweige. Dann verhakten sich die ersten Äste, und ruckend verkeilten sich die beiden Plattformen ineinander. Die Besatzungen der Bäume starrten sich in plötzlichem Entsetzen an.
Die Bäume drehten sich weiter; jetzt wurden Randabschnitte weggerissen, und Holzfragmente regneten durch die Luft. Ein Ast verfing sich und wurde mit einem fast animalischen Schrei von der Wurzel abgeschert. Nun rotierten die Bäume in einer großen, langsamen und lauten Kollision aufeinander zu und zerdrückten die glatten Laubplattformen. Faustgroße Splitter segelten an dem Plattenflugzeug vorbei. Nead heulte auf und bedeckte den Kopf.
Pallis starrte düster auf die Besatzungen der sterbenden Bäume. »Geht schleunigst über Bord! Die Bäume sind erledigt. Klettert an den Tauen in Sicherheit!«
Ängstlich und verwirrt starrten sie zu ihm hoch. Pallis brüllte weiter, bis er sah, daß sie sich an wellenschlagenden Trossen auf das Deck abseilten.
Die Bäume befanden sich nun in tödlicher Umklammerung, ihre Winkelmomente interferierten, und ihre Stämme rotierten in einem Wirbel aus Laub und abgebrochenen Ästen. Wandgroße Sektionen aus Holz splitterten weg, und die Luft war angefüllt vom Knirschen nachgebenden Holzes. Pallis sah die Feuerkessel durch die Luft fliegen, und er betete, daß die Besatzungen so umsichtig gewesen waren, die Feuer vorher zu löschen.
Bald war nicht viel mehr übrig als die Stämme, die durch ein Gewirr aus Ästen miteinander verzahnt waren; die Ankertaue der Bäume hatten sich losgerissen wie ausgekugelte Arme, und die freigelegten Stämme bewegten sich halb taumelnd in pirouettenartiger, merkwürdiger Eleganz.
Schließlich krachten die Stämme auf das Deck und explodierten in einer Wolke aus Bruchstücken. Für einige Minuten gingen Splitter nieder, wie ein Hagel aus Krummdolchen; dann krabbelten die ersten Leute an den Unfallort und gingen dabei über Baumtrossen, die wie die Extremitäten einer Leiche zwischen den Trümmern lagen.
Schweigend kam Pallis zu Jame herüber. »Wir können hier nichts tun; laß uns weitermachen.« Das Plattenfahrzeug startete und nahm seinen Patrouillenflug wieder auf.
Für mehrere Stunden strich Pallis’ Platte über den fliegenden Wald. Schließlich knurrte Jame zornig, dessen Gesicht von dem aufsteigenden Rauch geschwärzt war; und Pallis’ Hals war vor lauter Schreien heiser. Dann legte Nead seinen Sextanten in den Schoß und lehnte sich lächelnd zurück. »Das war’s«, sagte er. »Hat das Roß sich jetzt aus der Flugbahn des verdammten Sterns herausbewegt?«
»Nein, noch nicht. Aber auch ohne weitere Impulse durch die Bäume hat es jetzt genug Bewegungsenergie. In ein paar Stunden wird es an einer sicheren Stelle zum Stillstand kommen, weit genug vom Pfad des Sterns.«
Pallis legte sich auf das die Platte überziehende Netz und nahm einen Schluck aus der Feldflasche. »Wir haben es also geschafft.«
»Es ist noch nicht vorbei für das Floß«, widersprach Nead verträumt. »Wenn der Stern die Ebene des Floßes passiert, werden sich einige interessante Gezeiteneffekte ergeben.«
Pallis zuckte die Achseln. »Nichts, was das Floß nicht auch schon früher ausgehalten hätte.«
»Es muß ein phantastischer Anblick sein, Pallis.«
»Ja, muß es«, überlegte der Pilot. Er erinnerte sich daran, wie die Schatten der Taue über dem Deck immer länger geworden waren; schließlich würde der Umfang der Sternenscheibe den Horizont berühren und das Deck in sein grelles Licht tauchen. Und wenn die Hauptscheibe unter den Rand des Floßes gesunken war, würde sie noch nachglühen; ein Phänomen, das die Wissenschaftler als Korona bezeichneten…
Jame blinzelte in den Himmel. »Wie oft mag das wohl passieren? Wie oft steht das Floß in der Flugbahn eines abstürzenden Sterns?«
Pallis zuckte die Achseln. »Nicht oft. In jeder Generation ein oder zweimal. Jedenfalls oft genug, daß wir gelernt haben, damit klarzukommen.«
»Aber ihr braucht die Wissenschaftler — wie den hier…« — Jame zeigte mit dem Daumen auf Nead —, »um einen Plan zu entwickeln.«
»Ja, natürlich«, meldete sich Nead belustigt. »Einen feuchten Finger in den Wind zu halten, reicht in einem solchen Fall nicht aus.«
»Aber viele Wissenschaftler werden sich doch verpissen, auf diesem Brückending.«
»Das stimmt.«
»Was wird also passieren, wenn der nächste Stern herunterkommt? Wie wird das Floß dann bewegt?«
Nead nahm unbekümmert einen Schluck. »Unsere Beobachtungen zeigen, daß der nächste Stern — weit dort oben…« — er deutete in die Höhe — »erst in vielen tausend Schichten zu einer Gefahr für das Floß werden wird.«
Pallis runzelte die Stirn. »Das ist keine Antwort auf James Frage.«
»Doch, ist es.« Auf Neads ausdruckslosem jungen Gesicht erschien ein Ausdruck des Befremdens. »Wir gehen ohnehin davon aus, daß dann im Nebel kein Leben mehr möglich sein wird. Es ist also ein eher akademisches Problem, richtig?«
Pallis und Jame tauschten Blicke; dann wandte sich Pallis dem rotierenden Wald unter seinem Fahrzeug zu und versuchte, sich in eine meditative Betrachtung dessen unerschütterlicher Ruhe zu versetzen.
In seiner letzten Ruheperiode vor der Abreise der Brücke hatte Rees kaum geschlafen.
Irgendwo schlug eine Glocke.
Es war an der Zeit. Rees erhob sich von seiner Palette, wusch sich hastig und kam aus seiner provisorischen Unterkunft. Alles, was er fühlte, war die große Erleichterung, daß es endlich soweit war.
Die Brücke in ihrem Gerüstkäfig war das Zentrum hektischer Aktivität. Es lag im Herzen eines abgegrenzten, zweihundert Meter langen Bereichs, der sich in eine Miniaturstadt verwandelt hatte: die ehemaligen Offiziersunterkünfte waren requiriert worden, um die hoffnungsfrohen Auswanderer zeitweilig unterzubringen. Jetzt liefen die Leute unsicher in kleinen Grüppchen auf die Brücke zu. Rees erkannte Repräsentanten aus allen Kulturen des Nebels: vom Floß selbst, aus dem Gürtel und sogar einige Boneys. Jeder Exilant trug die paar Kilo persönlicher Dinge, die er mitnehmen durfte. Eine Schlange bildete sich vor der offenen Schleuse der Brücke, dahinter eine Menschenkette, die noch etwas Proviant, Bücher und Meßgeräte in das Innere brachte. Eine Atmosphäre der Zielstrebigkeit lag über der Szene, und Rees begann langsam zu glauben, daß diese Sache wirklich stattfinden würde…
Was immer die Zukunft auch bringen mochte; er konnte nur froh sein, daß diese Wartephase mit all ihren Zerwürfnissen und der Verbitterung vorüber war. Nach der Positionsänderung des Floßes war die Gesellschaft schnell auseinandergefallen. Es war ein Wettlauf geworden, die Vorbereitungen abzuschließen, bevor endgültig alles aus dem Lot ging; und während die Zeit verging und noch mehr Verzögerungen und Probleme aufgetreten waren —, hatte Rees gespürt, wie sich ein Druck aufbaute, den er schließlich kaum mehr auszuhalten schien.
Das Ausmaß an persönlichen Animositäten, mit dem er konfrontiert wurde, hatte ihn erstaunt. Er hätte den Leuten gerne erklärt, daß es nicht seine Schuld war, daß der Nebel am Vergehen war; daß nicht er die Gesetze der Physik aufgestellt hatte, die nun die Anzahl der Passagiere begrenzten.
…Und er war es nicht — allein — gewesen, der die Liste zusammengestellt hatte.
Dieser Vorgang war eine Qual gewesen. Die Idee einer Abstimmung war schnell wieder verworfen worden; die Zusammensetzung dieser Kolonie konnte nicht dem Zufall überlassen werden. Aber wie sollte man bei Menschen — Familien, ganzen Generationen — zwischen Leben und Tod entscheiden? Sie hatten es auf die wissenschaftliche Art versucht und nach Kriterien wie körperlicher Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und Fortpflanzungsalter selektiert…
Und Rees, der den ganzen Vorgang empörend und abstoßend fand, tauchte auf den meisten Kandidatenlisten auf.
Aber er war trotzdem bei seiner ursprünglichen Linie geblieben; er betete nicht nur für die Sicherung seines eigenen Überlebens, sondern auch dafür, seine Arbeit so gut wie möglich zu tun. Der Selektionsprozeß hatte ein schmutziges und schäbiges Gefühl in ihm hinterlassen, und er begann sogar an seiner eigenen Motivation zu zweifeln.
Schließlich war eine endgültige Liste erstellt worden, die Decker mit rüder Willkür aus einem Dutzend anderer synthetisiert hatte. Rees war aufgeführt. Roch nicht. Und so, überlegte Rees mit einem neuen Anfall von Selbsthaß, hatte er die schlimmsten Erwartungen von Roch und seinesgleichen aufs Penibelste erfüllt.
Er ging zu der Umzäunung des Abschnitts. Vielleicht würde er Pallis noch einmal sehen und sich von ihm verabschieden können. Stämmige Wachen patrouillierten mit Schlagstöcken in den Händen. Rees blickte deprimiert am Zaun entlang. Noch mehr Ressourcen vom eigentlichen Ziel abgezogen… doch es hatte schon Unruhen gegeben; wer hätte sagen können, was noch geschehen wäre, wenn nicht der Schutz durch den Zaun und die Wachen bestanden hätte? Eine Streife bekam Blickkontakt mit ihm und nickte; sein breites Gesicht zeigte keine Regung. Rees fragte sich, wie leicht es diesem Mann fallen würde, seine eigenen Leute abzuwehren, um ein paar Privilegierte zu schützen…
Eine Explosion irgendwo auf der anderen Seite der Brücke ließ das Deck wie von einem massiven Tritt erzittern. Eine Rauchsäule stieg über dem Gerüst empor.
Die Wachen bei Rees drehten sich um und schauten in die Richtung. Rees rannte um die Brücke herum.
Entfernte Rufe, ein Schrei… und der Zaun war auf einer Länge von drei Metern niedergerissen und brannte. Posten liefen zu der Bresche, doch der Mob schien überwältigend, sowohl an Wildheit als auch an Zahl. Rees sah eine Mauer aus Gesichtern, Alten und Jungen, Männern und Frauen, vereint in verzweifeltem, wildem Zorn. Jetzt wurden Brandbomben gegen die Brücke geschleudert und schlugen auf dem Deck auf.
»Was, zum Teufel, machst du hier?« Es war Decker; der große Mann ergriff Rees’ Arm und zog ihn zurück zur Brücke.
»Decker, können sie nicht verstehen? Sie können nicht gerettet werden; es ist einfach nicht genug Platz da. Wenn sie jetzt angreifen, scheitert die Mission und niemand wird…«
»Kumpel.« Decker packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn kräftig. »Wir haben keine Zeit zum Reden. Wir können diese Menge nicht mehr lange aufhalten… Du mußt da rein und starten. Jetzt gleich.«
»Das ist unmöglich«, Rees schüttelte den Kopf.
»Verdammt, ich werde dir zeigen, was unmöglich ist.« Ein kleines Feuer brannte zwischen den Resten einer Brandbombe. Decker bückte sich, entzündete ein Stück herumliegendes Holz und schleuderte es in das die Brücke umgebende Gerüst. Augenblicklich züngelten Flammen an dem trockenen Holz.
Rees starrte darauf. »Decker.«
»Keine weitere Diskussion, verdammt!« brüllte ihm Decker ins Gesicht und besprühte ihn mit Speichel. »Nimm mit, was du kannst, und dann weg hier!«
Rees drehte sich um und wollte davonrennen.
Einmal blickte er noch zurück. Decker war schon fast nicht mehr zu sehen in dem Chaos an der Bresche.
Rees erreichte die Schleuse. Die noch ein paar Minuten zuvor bestehende ordentliche Schlange hatte sich aufgelöst; schreiend versuchten sich die Menschen den Eingang durch die Schleuse zu erzwingen und hielten ihr vielgestaltiges Handgepäck über dem Kopf. Rees kämpfte sich unter Einsatz von Fäusten und Ellbogen durch das Innere der Brücke. Das Observatorium war ein lärmendes Tollhaus, in dem Geräte und Menschen kreuz und quer verstreut waren; das einzige übriggebliebene große Instrument das Teleskop — ragte wie ein riesiger Roboter über die Menge.
Rees brach sich eine Bahn durch das Chaos, bis er auf Gord und Nead stieß. Er zog sie zu sich heran. »In fünf Minuten starten wir!«
»Das ist unmöglich, Rees«, widersprach Gord. »Du siehst doch selbst, was los ist. Wir würden die Passagiere und die da draußen verletzen, sogar töten…«
Rees deutete auf die transparente Hülle. »Schau mal nach draußen. Siehst du den Rauch dort? Decker hat das verdammte Gerüst in Brand gesetzt. Deine wertvollen Sprengbolzen werden also ohnehin in fünf Minuten gezündet. Stimmt’s?«
Gord wurde blaß.
Plötzlich steigerte sich der Lärm zu einem Toben; Rees beobachtete, wie weitere Abschnitte des Zauns niedergerissen wurden. Die paar noch kämpfenden Wachen gingen in einer Menschenflut unter.
»Wenn sie uns erreichen, sind wir erledigt«, stellte Rees fest. »Wir müssen starten. Nicht in fünf Minuten. Jetzt sofort!«
Nead schüttelte den Kopf. »Rees, dort sind noch Leute…«
»Schließ das verdammte Schott!« Rees packte den jungen Mann an der Schulter und schob ihn gegen ein in der Wand eingelassenes Kontrollpult.
»Gord, zünde diese Sprengbolzen. Tu es einfach!«
Mit schmalen Augen und vor Angst zitternden Wangen tauchte der kleine Ingenieur in dem Getümmel unter.
Rees arbeitete sich zum Teleskop vor. Er kletterte auf das Gestell des alten Instruments, bis er ein wogendes Meer von Menschen überblickte. »Hört mir zu!« brüllte er. »Ihr seht, was sich draußen abspielt. Wir müssen jetzt starten. Legt euch hin, falls genug Platz ist. Helft euren Nachbarn und kümmert euch um die Kinder!«
Fäuste hämmerten an die Außenwandung, und verzweifelte Gesichter preßten sich an die transparente Wand…
…und mit einem synchronen Knattern zündeten die Sprengbolzen des Gerüsts. Der zerbrechliche Holzrahmen zerfiel schnell — und dann hielt nichts mehr die Brücke auf dem Floß.
Der Boden neigte sich. Schreie breiteten sich wie ein Lauffeuer aus, und die Passagiere klammerten sich aneinander. Unterhalb der transparenten Hülle hob sich das Deck des Floßes, als ob es sich verflüssigt hätte, und das Schwerefeld des Floßes schleuderte die Passagiere in die Luft. Es war ein komisches Bild, als sie fast gegen das Dach knallten.
Ein Crescendo von Schreien drang aus der Schleusenkammer. Nead hatte es nicht mehr rechtzeitig geschafft, das Schleusenschott zu schließen; Nachzügler sprangen über die breiter werdende Lücke zwischen der Brücke und dem Deck. Ein letzter Mann zwängte sich durch die zugehende Tür. Er blieb mit dem Knöchel am Pfosten hängen, und als Rees sein Schienbein brechen hörte, wurde ihm schlecht. Eine ganze Familie löste sich vom Deck des Floßes und schlug gegen die Hülle und glitt mit erstaunten Blicken in die Unendlichkeit…
Rees schloß die Augen und klammerte sich an das Teleskop.
Endlich war es vorbei. Das Floß wurde zu einer Decke über ihnen, entfernt und abstrakt; der dünne Regen von Menschen auf die Hülle versiegte, und vierhundert Leute erlebten plötzlich zum erstenmal in ihrem Leben den freien Fall.
Ein Schrei ertönte, der von sehr weit her zu kommen schien. Rees schaute nach oben. Roch war mit einem brennenden Knüppel in der Hand durch das Loch im Zentrum des Floßes gesprungen. Er fiel die dazwischenliegenden Meter mit gespreizten Beinen und starrte mit hervorquellenden Augen durch das Glas auf die erschrockenen Passagiere.
Der große Bergmann krachte kopfüber auf das durchsichtige Dach des Observatoriums. Er ließ seinen Knüppel fallen und versuchte krampfhaft, sich an der glatten Wandung festzuhalten. Doch er schlitterte hilflos über die Oberfläche, wobei seine gebrochene Nase und der zerschlagene Mund eine Blutspur hinterließen. Dann taumelte er seitlich weg — und ergriff schließlich, in letzter Sekunde, den rauhen Vorsprung einer Dampfdüse.
Rees kletterte vom Teleskop herab und machte Gord ausfindig. »Verdammt, wir müssen etwas tun. Sonst wird er die Düse losreißen.«
Gord kratzte sich am Kinn und musterte den baumelnden Mineur, der zu den verblüfften Passagieren hereinstarrte. »Wir könnten die Düse in Betrieb setzen. Der Dampf würde ihn natürlich verfehlen, weil er unterhalb der eigentlichen Austrittsöffnung hängt — aber seine Hände würden versengt — ja; das würde ihn abschütteln…«
»Oder«, schlug Rees vor, »wir könnten ihn bergen.«
»Was? Rees, dieser Spaßvogel hat versucht, dich umzubringen.«
»Ich weiß.« Rees sah hinaus auf Rochs rotes Gesicht und seine angespannten Muskeln. »Sucht ein langes Seil. Ich werde die Schleuse öffnen.«
»Das ist nicht dein Ernst…«
Doch Rees war schon auf dem Weg zum Schott.
Als der große Mineur schließlich erschöpft auf dem Deck lag, beugte sich Rees über ihn. »Hör zu«, sagte er fest. »Ich hätte dich sterben lassen können.«
Roch leckte das Blut von seinem ramponierten Mund.
»Ich habe dich nur aus einem Grund gerettet«, erläuterte Rees. »Du bist ein Überlebenskünstler. Deshalb hast du dein Leben mit diesem verrückten Sprung riskiert. Und dort, wo wir hingehen, brauchen wir Überlebenskünstler. Verstehst du? Doch wenn ich jemals — auch nur einmal — glaube, daß du diese Mission mit deiner verdammten Sturheit gefährdest, werde ich dieses Schott öffnen und dich deinen Fall beenden lassen.«
Für lange Minuten hielt er Blickkontakt mit dem Bergmann, und schließlich nickte Roch.
»Gut.« Rees stand auf. »Also«, fragte er Gord, »was jetzt?«
Es lag ein Gestank nach Erbrochenem in der Luft.
Gord wölbte die Augenbrauen. »Schwerelosigkeits-Ausbildung, glaube ich«, sagte er. »Und eine Menge Arbeit mit Lappen und Eimer…«
Mit den Händen um Hals und Waffenarm seines Angreifers drehte sich Decker um und sah das Brücken-Gerüst in seine filigranen Komponenten zusammenfallen. Der große Zylinder hing für eine Sekunde in der Luft; dann spuckten die Dampfdüsen weiße Wolken, und die Brücke fiel nach unten weg. Dabei hinterließ sie ein Loch im Deck, in das hilflos einige Leute fielen.
Es war also vorbei; Decker war gestrandet. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Kontrahenten zu und machte sich daran, das Leben aus dem Mann herauszuquetschen.
Auf dem aufgegebenen Floß ging das Töten noch viele Stunden weiter.