Hollerbach sah vom Laborreport auf. Seine Augen schmerzten. Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Schreibtisch vor sich und rieb sich systematisch die Nasenwurzel. »O Mith, setzen Sie sich endlich hin«, sagte er mißmutig.
Captain Mith ging weiter im Büro auf und ab. Das Gesicht hinter seinem dichten schwarzen Bart verriet profunden Zorn, und sein massiger Bauch schwabbelte herum. Hollerbach bemerkte, daß Miths Arbeitsanzug am Saum verschlissen war und daß sogar die goldenen Offizierskragenspiegel verblaßt waren. »Mich hinsetzen? Wie, zum Teufel, soll ich mich hinsetzen. Ich nehme an, Sie wissen, daß ich für das Floß verantwortlich bin.«
Hollerbach murrte verhalten. »Natürlich, aber…« Mith nahm ein Orbitalmodell von einem vollgestellten Regal und wedelte damit vor Hollerbach herum. »Und während ihr Wissenschaftler hier herumhängt, werden meine Leute krank und sterben…«
»Oh, bei den Boneys, Mith, verschonen Sie mich mit ihrer Scheinheiligkeit!« Hollerbach schob das Kinn vor. »Ihr Vater war genauso ein Kerl wie Sie. Nur Vorhaltungen und sonst nichts Konstruktives.« Mith spitzte den Mund. »Sehen Sie, Hollerbach…« »Labortests brauchen ihre Zeit. Vergessen Sie nicht, daß die Ausrüstung, mit der wir arbeiten, Hunderttausende von Schichten alt ist. Wir tun, was wir können, und die ganze Hektik im Nebel bringt uns keinen Schritt voran. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann stellen Sie dieses Orbitalmodell wieder hin.«
Mith blickte das staubige Instrument an. »Warum, zum Teufel, sollte ich das tun, Sie alter Knacker?«
»Weil es das einzige Exemplar seiner Art im ganzen Universum ist. Und niemand könnte es reparieren. Selber alter Knacker.«
Mith knurrte — dann brach er in Lachen aus. »Schon gut, schon gut.« Er plazierte das Orbitalmodell wieder auf dem Regal und stellte einen Stuhl mit harter Rückenlehne vor Hollerbachs Schreibtisch. Er saß mit übergeschlagenen Beinen da und blickte mit sorgenvollen Augen zu Hollerbach auf. »Schauen Sie, Wissenschaftler, wir sollten uns nicht streiten. Sie müssen verstehen, wie besorgt ich bin und in welcher Angst sich die Besatzung befindet.«
Hollerbach legte die Hände flach auf den Schreibtisch, und sein Blick fiel auf Leberflecken. »Das weiß ich natürlich, Captain.« Er wendete sein veraltetes Brillenmodell in der Hand hin und her und seufzte. »Sehen Sie, wir brauchen das Ergebnis der Laboruntersuchung nicht abzuwarten. Ich weiß jetzt schon verdammt genau, was wir herausfinden werden.«
Mith hob die Hände mit den Handflächen nach oben. »Was?«
»Wir leiden unter Protein- und Vitaminmangel. Besonders die Kinder sind von Knochen- und Hautkrankheiten sowie von Wachstumsstörungen betroffen, die so archaisch sind, daß die medizinischen Fachzeitschriften sie nicht einmal mehr erwähnen.« Er dachte an sein eigenes, noch nicht einmal viertausend Schichten altes Enkelkind; wenn Hollerbach diese dürren, kleinen Beine in die Hand nahm, konnte er fühlen, wie sich die Knochen bogen. — »Wir glauben nicht, daß die Ursache bei unseren Versorgungsmaschinen liegt.«
Mith schnaufte. »Wie können Sie da so sicher sein?«
Hollerbach rieb sich wieder die Augen. »Natürlich bin ich mir nicht sicher«, sagte er gereizt. »Sehen Sie, Mith, ich stelle nur Spekulationen an. Sie können sie entweder akzeptieren oder auf die Testergebnisse warten.«
Mith sank in den Stuhl zurück und hob die Hände. »Schon gut, schon gut. Fahren Sie fort.«
»Also gut. Von allem, was sich auf dem Floß befindet, kennen wir uns notwendigerweise mit den Versorgungsmaschinen am besten aus. Wir sind gerade dabei, die Apparate auf Herz und Nieren durchzuchecken; aber ich glaube nicht, daß wir etwas finden werden.«
»Und weiter?«
Hollerbach erhob sich mühsam vom Stuhl und fühlte das vertraute Stechen in seiner rechten Hüfte. Er ging zur Tür seines Büros, öffnete sie und spähte hinaus. »Ist das denn nicht klar? Mith, als ich ein Kind war, war der Himmel blau wie Babyaugen. Nun gibt es Kinder, sogar Erwachsene, die gar nicht mehr wissen, wie Blau aussieht. Der verdammte Nebel ist giftig geworden. Die Versorgungsmaschinen verwerten organische Komponenten der Atmosphäre des Nebels und natürlich Pflanzen und Tiere, die in der Luft leben. Mith, wir kriegen nur den Müll raus, den wir reinstecken. Die Maschinen können keine Wunder vollbringen. Sie können keine anständige Nahrung aus dem Müll hier draußen produzieren. Und da liegt das Problem.«
Hinter ihm schwieg Mith eine lange Zeit. Dann fragte er: »Was können wir tun?«
»Was fragen Sie mich«, versetzte Hollerbach etwas rauh. »Sie sind schließlich der Captain.«
Mith erhob sich aus seinem Stuhl und schleppte sich zu Hollerbach hin. Sein Atem strömte heiß über den Nacken des alten Wissenschaftlers, und Hollerbach spürte die Gravitationswirkung des dicken Bauchs vom Captain. »Verdammt noch mal, hören Sie auf, mich wie einen Deppen zu behandeln. Was soll ich der Besatzung nun sagen?«
Plötzlich fühlte sich Hollerbach sehr müde. Er stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab und wünschte sich, sein Stuhl wäre nicht so weit weg. »Sagen Sie ihnen, sie sollen nicht die Hoffnung verlieren«, empfahl er ruhig. »Sagen Sie ihnen, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun. Oder sagen Sie ihnen gar nichts. Ganz, wie Sie es für richtig halten.«
Mith dachte darüber nach. »Natürlich haben Sie noch nicht alle Ergebnisse vorliegen.« Seine Stimme verriet einen Hoffnungsschimmer. »Und Sie haben diese Maschinen noch nicht komplett überholt, oder?«
Hollerbach schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf. »Nein, wir haben die Wartung noch nicht abgeschlossen.«
»Dann stimmt vielleicht doch etwas nicht mit den Maschinen.« Mith schlug ihm mit einer tellergroßen Hand auf die Schulter. »Alles klar, Hollerbach. Danke. Halten Sie mich auf dem laufenden.«
Hollerbach straffte sich. »Natürlich.«
Hollerbach blickte Mith nach, wie er mit wippendem Bauch über das Deck davonging. Mith war nicht allzu intelligent — aber er war ein guter Mann. Vielleicht nicht so gut wie sein Vater, aber erheblich besser als einige von denjenigen, die jetzt seine Ablösung forderten.
Vielleicht war ein fröhlicher Scherzkeks genau das, was die Besatzung des Floßes in ihrer gegenwärtigen bedrängten Lage brauchte. Jemand, der sie bei Laune hielt, während die Luft sich in Gift verwandelte…
Er lachte über sich selbst. Komm schon, Hollerbach; langsam wirst du wirklich ein alter Knacker.
Er spürte ein Prickeln auf seinem kahlen Schädel und sah zum Himmel empor. Der Stern über seinem Kopf war eine glühend heiße Nadelspitze, und seine komplexe Umlaufbahn brachte ihn immer näher an die Position des Floßes heran. Nahe genug, um die Haut zu verbrennen, he? So weit er sich erinnern konnte, hatte man noch nie zugelassen, daß ein Stern so bedrohlich nahe herunterfiel; die Position des Floßes hätte schon längst verändert werden müssen. Er würde sich den Navigator Cipse und seine Leute mal vorknöpfen müssen. Was dachten sie sich eigentlich?
Ein Schatten schwebte über ihn hinweg, und er konnte die Umrisse eines in weiter Entfernung vom Roß rotierenden Baumes ausmachen. Das mußte Pallis sein, der vom Gürtel zurückkam. Auch ein guter Mann, dieser Pallis… einer der wenigen guten Männer, die es noch gab.
Hollerbach senkte seine überanstrengten Augen auf die Bodenplatten unter seinen Füßen und betrachtete sie. Er dachte daran, wie viele Menschenleben schon dafür geopfert worden waren, daß diese kleine metallische Insel so lange in der Luft hängen konnte. Und das alles nur, damit ein paar letzte Generationen griesgrämiger, mißmutiger Menschen schließlich der vergifteten Luft zum Opfer fallen sollten?
Wahrscheinlich war es besser, das Floß nicht unter diesem Stern wegzubewegen. Sollte doch das Ganze in einem letzten Feuerwerk menschlicher Herrlichkeit in die Luft fliegen…
»Sir?« Grye, einer seiner Assistenten, stand vor ihm; der kleine, rundliche Mann hielt ihm nervös ein Bündel abgegriffenen Papiers hin. »Wir haben eine weitere Testphase abgeschlossen.«
Es gab also noch etwas zu tun. »Stehen Sie hier nicht so rum, Mann; wenn Sie hier schon nicht von Nutzen sind, dann sind Sie noch viel weniger eine Zierde. Bringen Sie das rein und erklären Sie mir, was es besagt.« Er drehte sich um und führte den Assistenten in sein Büro.
Das Floß am Himmel war immer größer geworden, bis es den Nebel halb verdeckte. Einige Dutzend Kilometer über dem Floß hing ein Stern, ein gelb flackernder Feuerball mit einem Durchmesser von einer Meile, und das Floß warf einen immer größeren, kilometerlangen Schatten durch die staubige Luft.
Unter Pallis’ Anleitung schürten Rees und Gover die Feuer in den Kesseln, gingen über die Oberfläche des Baumes und wedelten mit großen, hellen Decken über dem wallenden Rauch. Pallis betrachtete das Rauchdach mit kritischen Augen; stets unzufrieden, maulte und schnauzte er die Jungen an. Dennoch verwandelte sich der Aufstieg des Baumes durch den Nebel langsam, aber stetig in eine sanfte Kurve zum Rand des Flosses.
Während der Arbeit erregte Rees unwissentlich Pallis’ Zorn, weil er sich in den Anblick der nach und nach deutlicher werdenden Details des Floßes versenkte. Von unten sah es aus wie eine fast einen Kilometer breite, zerklüftete Scheibe; Metallplatten reflektierten glitzernd das Sternenlicht, und Licht drang durch Dutzende von Öffnungen auf dem Deck. Als der Baum sich dem Rand näherte, verkürzte sich die Form des Floßes zu einer wie ein Flickenteppich aussehenden Ellipse. Rees konnte die rußigen Schweißspuren an den Ecken der nächsten Platten sehen, und während sein Blick über die deckenähnliche Oberfläche glitt, verschmolzen die Platten zu einem einzigen Fleck, wobei der entgegengesetzte Rand der Scheibe einen flachen Horizont bildete.
Schließlich erhob sich der Baum mit einem Luftstoß über den Rand des Floßes, und die Oberseite des Floßes begann sich vor Rees zu entfalten. Gegen seinen Willen wurde er an den Rand des Baumes gezogen. Er verbarg die Hände im Laub und nahm die über ihn hereinbrechende Flut von Farben, Lärm und Bewegung mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund wahr.
Das Roß war ein riesiger Teller, der vor Leben vibrierte. Lichtpunkte waren über seine Oberfläche verstreut wie Zuckerguß auf einem Kuchen. Das Deck war vollgepackt mit Gebäuden jeglicher Größe und Gestalt, die aus Holzplatten oder Wellblech errichtet und wie Spielzeuge durcheinandergewürfelt waren. Der ganze Rand war von Maschinen gesäumt, die doppelt mannshoch waren und so unbeweglich wie stille Wächter wirkten; und in der Mitte des Floßes lag ein großer silbriger Zylinder, der sich zwischen den schachtelartigen Konstruktionen wie ein gefangener Wal ausnahm.
Ein Gemisch verschiedener Gerüche stieg Rees unangenehm in die Nase — stechendes Ozon aus den Maschinen am Rande und anderen Werkstätten und Betrieben, Holzrauch aus Tausenden von Kaminen, exotische Küchengerüche aus den Kabinen.
Und Menschen — mehr, als Rees zählen konnte, so viele, daß die Bevölkerung des Gürtels in dieser Menge glatt untergegangen wäre — flanierten in großen Strömen über das Floß; und hier und da brachen Trauben von rennenden Kindern in Gelächter aus.
Er sah solide gebaute Pyramiden, die auf das Deck montiert waren; keine hatte mehr als Hüfthöhe. Rees blinzelte und ließ die Augen über das Deck schweifen; die Pyramiden waren überall verteilt. Er sah ein sich leise unterhaltendes Paar an einer dieser Pyramiden lehnen, wobei der Mann mit einem Fuß auf dem Metallkegel herumschabte; und woanders erblickte er eine Gruppe von Kindern, die in einem komplizierten Fangenspiel durch eine Gruppe von Pyramiden raste.
Und aus jeder Pyramide erhob sich ein Kabel senkrecht in die Luft; Rees legte den Kopf in den Nacken, um ihrem Verlauf zu folgen, und schnappte nach Luft.
An jedem Kabel war der Stamm eines Baumes angebunden.
Für Rees war ein fliegender Baum schon Wunder genug gewesen. Nun sah er, daß sich über dem Floß ein gewaltiger Wald befand. Jedes Verbindungskabel hing senkrecht und war ziemlich straff gespannt, und Rees konnte fast die Anstrengung der vertäuten Bäume fühlen, mit der sie sich gegen die Anziehungskraft des Kerns wehrten. Das Licht des Nebels wurde durch die rotierenden Baumreihen gefiltert, so daß das Deck des Floßes in ein beruhigendes Dämmerlicht getaucht war. Die um den Wald herumtanzenden Schwärme von Skitters milderten die Farbe des Lichts zu einem Pastellrosa.
Rees’ Baum stieg auf, bis er die Wipfel des Waldes erreicht hatte. Das Floß verwandelte sich von einer Landschaft zurück zu einer Insel in der Luft, die von einem Baldachin hin- und herwogenden Laubs gekrönt wurde. Der Himmel über Rees schien dunkler zu sein als gewöhnlich, so daß er das Gefühl hatte, ganz am Rande des Nebels zu stehen und auf die den Kern umgebenden Nebelschleier herabzuschauen; und in diesem ganzen Universum aus Luft war das Floß das einzige Zeichen menschlichen Lebens, ein hoch in der Luft hängendes Stück Metall.
Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Rees fuhr herum. Über ihm stand Pallis, dessen Gesicht genauso finster war wie die Rauchwand hinter ihm. »Was ist los?« brummte er. »Noch nie ein paar tausend Bäume gesehen?«
Rees fühlte, wie er rot wurde. »Ich…«
Aber Pallis grinste durch seine Narben hindurch. »Hör zu, ich versteh’ dich ja. Die meisten Leute halten das alles für selbstverständlich. Aber jedes Mal, wenn ich es von außen betrachte, gibt es mir eine Art Stich.« Hunderte von Fragen schwirrten in Rees Kopf herum. Wie mochte es sein, auf der Oberfläche des Floßes spazierenzugehen? Was war es wohl für ein Gefühl gewesen, das Floß zu bauen, in der Leere über dem Kern hängend?
Aber jetzt war nicht die Zeit für solche Überlegungen; es gab Arbeit. Er stand auf und krallte seine Zehen in das Laub wie ein richtiger Waldläufer.
»Also, Bergmann«, sagte Pallis, »wir haben einen Baum zu fliegen. Wir müssen in diesen Wald zurückkehren. Laß uns Feuer in den Kesseln machen; ich möchte da oben eine Kuppel haben, die so dicht ist, daß ich darauf Spazierengehen könnte. Alles klar?«
Endlich schien Pallis mit der Position des Baumes über dem Floß zufrieden zu sein. »Okay, Jungs. Los!«
Gover und Rees rannten zwischen den Feuerkesseln hin und her und schaufelten mit den Händen dampfendes Holz in die Flammen. Rauch stieg zu dem Blätterdach über ihnen auf. Gover hustete und fluchte beim Arbeiten; Rees spürte, daß seine Augen tränten und der rußige Rauch seine Kehle reizte.
Beinahe wäre Rees vom Baum gefallen, als dieser mit einer ruckartigen Bewegung die Rauchdecke über sich abschüttelte. Rees beobachtete den Himmel: Die fallenden Sterne zogen merklich langsamer an ihnen vorbei als vorher; er schätzte, daß der Baum bei seinem Versuch, der Dunkelheit des Rauchs zu entkommen, seine Rotationsgeschwindigkeit um ein gutes Drittel verringert hatte.
Pallis rannte zum Stamm, um ein Stück Kabel abzuwickeln. Er brach mit Nacken und Schultern durch die Blätter und begann mit seiner Arbeit; Rees sah, wie geschickt er mit dem Kabel zurechtkam, ohne daß es sich in anderen Bäumen verfing.
Schließlich glitt der Baum durch die äußere Schicht des Waldes. Rees blickte auf die Bäume, an denen sie vorbeikamen; sie alle drehten sich langsam und wehrten sich gravitätisch gegen ihre Fesselung; hier und da machte er Männer und Frauen aus, die durchs Laub krochen; sie winkten Pallis zu und riefen ihm aus der Ferne etwas zu.
Als der Baum die Dunkelheit des Waldes erreichte, fühlte Rees die Unsicherheit des Baumes. Während dieser Baum versuchte, die über ihm spielenden unregelmäßigen Lichtkegel einzuschätzen, bewegten sich seine Blätter ungerichtet. Schließlich kam der Baum langsam zu einer definitiven Entscheidung, und seine Drehung wurde schneller; mit einem leichten Rucken bewegte er sich einige Meter nach oben…
…und kam abrupt zum Stillstand. Das an seinem Stamm befestigte Kabel war jetzt straff gespannt; es zitterte und bog sich in der Luft, als es an dem Baum zerrte. Rees verfolgte den Verlauf des Kabels; wie er erwartet hatte, hatte sein anderes Ende das Deck des Floßes erreicht, und zwei Männer befestigten es an einer der hüfthohen Pyramiden.
Er kniete nieder und berührte das vertraute Holz. Der Saft strömte durch den regelmäßig geformten Ast, daß dessen Oberfläche erschauerte wie Haut; Rees konnte die Erregung des Baumes fühlen, als er sich aus der Falle zu befreien versuchte, und verspürte eine merkwürdige Sympathie in sich.
Pallis überprüfte das Kabel ein letztes Mal und umkreiste dann entschlossenen Schrittes die hölzerne Plattform, um nachzusehen, ob alle Feuerkessel gelöscht waren. Schließlich kehrte er zum Stamm zurück und zog aus einer Mulde im Holz einen Stapel Papier. Er bückte sich, schlüpfte mit einem leisen Rascheln durch das Laub — um dann den Kopf zu drehen und ihn wieder aus den Blättern herauszustrecken. Er sah sich um, bis er Rees erblickte. »Willst du nicht mitkommen, Junge? Weißt du, hier lohnt es sich nicht zu bleiben. Dieses alte Schätzchen hat für ein paar Schichten Pause. Also komm; halt Gover nicht vom Essen ab.«
Zögernd bewegte sich Rees auf den Stamm zu. Pallis ließ sich zuerst hinunterfallen. Als er verschwunden war, zischte Gover Rees zu: »Du bist ziemlich weit von zu Hause weg, Minenratte. Vergiß nicht — nichts von dem alledem hier gehört dir. Gar nichts.« Damit schlüpfte der Assistent durch die Blätterwand. Rees folgte ihm mit klopfendem Herzen.
Wie drei Wassertropfen glitten sie an ihrem Kabel durch die wohlriechende Dunkelheit des Waldes hinunter.
Rees arbeitete sich Hand um Hand an dem dünnen Kabel nach unten. Zunächst war es einfach, aber nach und nach begann ein diffuses Schwerkraftfeld an seinen Füßen zu ziehen. Pallis und Gover warteten am unteren Ende des Kabels auf ihn und sahen zu ihm herauf; er schwang sich die letzten paar Meter hinab, wobei er versuchte, den Flanken der Ankerpyramide auszuweichen, und landete sanft auf dem Deck.
Ein Mann mit einem verbeulten Notizblockhalter kam auf sie zu. Der Mann war groß, und sein schwarzes Haar und sein Bart verbargen kaum ein Gewirr von Narben, die noch ausgeprägter waren als die von Pallis. Schöne schwarze Schulterstücke prangten an seiner Kombination. Er blickte Rees finster an; der Junge erschrak vor der Intensität des Blicks, mit dem der er ihn musterte. »Willkommen daheim, Pallis«, sagte der Mann mit grimmiger Stimme. »Obwohl ich sogar von hier aus sehen kann, daß du die Hälfte der Ladung wieder mit zurückgebracht hast.«
»Nicht ganz, Decker«, sagte Pallis gelassen und reichte ihm seinen Papierstapel. Die beiden Männer steckten die Köpfe zusammen und gingen Pallis’ Listen durch. Gover schlurfte ungeduldig über das Deck und rieb sich mit dem Handrücken die Nase.
Und Rees sah sich mit großen Augen um.
Das Deck, auf dem er stand, erstreckte sich unter einem Netz von Kabeln über eine Entfernung, die er kaum überblicken konnte. Er sah Gebäude und Menschen, die geschäftig umherwuselten; ihm wurde geradezu schwindelig von all den verschiedenen Eindrücken, und beinahe wünschte er sich zurück in die beruhigende Begrenztheit des Gürtels.
Er schüttelte den Kopf, wie um sich von einem Schwindel zu befreien. Dann konzentrierte er sich auf die nächstliegenden Dinge: auf den leichten Zug der Schwerkraft, auf die glänzende Oberfläche unter seinen Füßen. Versuchsweise trat er mit dem Fuß auf das Deck. Es gab ein leises, klingelndes Geräusch von sich.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, brummte Pallis. Der große Baum-Pilot hatte seine geschäftlichen Verhandlungen beendet und stand nun vor ihm. »Die Platte ist durchschnittlich nur einen Millimeter dick. Sie wird aber abgestützt, damit sie nicht einbricht.«
Rees krümmte die Füße und sprang ein paar Zentimeter in die Luft; als er sanft wieder auf dem Boden landete, fühlte er den Zug der Schwerkraft. »Das fühlt sich an wie ein halbes Gravo.«
Pallis nickte. »Eher vierzig Prozent. Wir befinden uns auf der Schwerkraftquelle des Floßes selbst. Natürlich zieht auch der Kern des Nebels an uns — aber nur minimal; und wir könnten es sowieso nicht spüren, weil das Floß nämlich um den Kern kreist.« Er blickte zu dem fliegenden Wald empor. »Weißt du, die meisten Leute glauben, daß die Bäume da sind, damit das Floß nicht in den Kern stürzt. Aber in Wirklichkeit besteht ihre Funktion darin, das Floß zu stabilisieren — es am Umkippen zu hindern — und die Wirkung des Windes zu neutralisieren, und es uns zu ermöglichen, das Floß in Bewegung zu setzen, wenn wir…« Pallis beugte sich vor und sah Rees in die Augen; seine Narben bildeten ein rötliches Netz. »Fehlt dir etwas? Du siehst aus, als wäre dir ein bißchen schwindlig.«
Rees rang sich ein Lächeln ab. »Mir geht’s gut. Ich glaube, ich bin nur ein bißchen aus der Fassung, weil ich mich nicht in einer Fünf-Minuten-Umlaufbahn befinde.«
Pallis lachte. »Nun, du wirst dich noch daran gewöhnen.« Er richtete sich auf. »Also, junger Mann, ich muß jetzt entscheiden, was mit dir geschehen soll.«
Rees fühlte, wie es ihn kalt überlief, als er an den Moment dachte, in dem der Pilot ihn im Stich lassen würde, und in Gedanken verhöhnte er sich selbst. Hatte er die Kühnheit besessen, sein Zuhause zu verlassen, nur um sich in die Abhängigkeit von dem Wohlwollen eines Fremden zu begeben? Wo war sein Mut geblieben?
Er straffte seine Haltung und konzentrierte sich darauf, was Pallis sagte.
»…Ich brauche einen Offizier«, sinnierte der Pilot und kratzte sein stoppeliges Kinn. »Ich registriere dich als blinden Passagier und stelle dich zeitlich befristet ein, bis der nächste Baum abgeht. Verdammt, gibt das wieder einen Papierkram…
»Bei den Boneys, ich bin jetzt zu müde dafür. Und hungrig und durstig dazu. Verschieben wir’s auf die nächste Schicht. Rees, du kannst da drüben in meiner Kabine bleiben, bis die Sache geklärt ist. Du auch, Gover, obwohl das keine erfreuliche Aussicht ist.«
Der Assistent starrte in die Ferne; er sah den Piloten nicht an, als dieser sprach.
»Aber ich habe nicht genügend Proviant für drei im Wachstum befindliche Jungs wie uns. Eigentlich noch nicht einmal für einen. Gover, geh raus zum Rand und hol auf meinen Namen Proviant für ein paar Schichten, ja? Du auch, Rees; warum nicht? Dir wird die Besichtigung Spaß machen. Ich werde solange ein paar Lagen Staub aus meiner Kabine entfernen.«
Und so mußte Rees dem Assistenten durch das Kabelgewirr folgen. Gover ging voran; auf Rees zu warten, hielt er für unter seiner Würde; in dieser ganzen düsteren, im Schatten der Bäume liegenden Welt war der Assistent der einzige Fixpunkt für Rees, und so achtete der Bergmann darauf, daß er die wenig einnehmende Rückseite von Gover nicht aus dem Blick verlor.
Sie kamen an eine in den Wald aus Kabeln geschlagene Lichtung, die voller Menschen war. Gover hielt am Rande der Lichtung inne und verharrte in mißmutiger Stille; offensichtlich wartete er auf irgend etwas. Rees stand neben ihm und schaute sich um. Der übersichtliche, gerade Pfad war ungefähr zehn Meter breit: Es war, als schaue man in einen baumüberdachten Tunnel. Der Weg war ausgeleuchtet; Rees konnte Lampen erkennen, die an den Kabeln befestigt waren und genauso aussahen wie die Leuchten tief unten in dem Bergwerk auf dem Stern.
Überall waren Menschen, ein gleichmäßiger Strom, der sich zielstrebig in beiden Richtungen den Pfad entlang bewegte. Einige starrten Rees’ unordentliches Äußeres an, aber die meisten sahen höflich weg. Sie alle waren sauber und gepflegt, obwohl man auch tiefe Augenhöhlen und fahle Wangen sehen konnte, als ob das Floß von irgendeiner Krankheit heimgesucht würde. Sowohl Männer als auch Frauen trugen Kombinationen aus feinem, grauem Stoff; einige hatten goldene Schulterstücke oder Litzen, die oft zu eleganten Mustern geflochten waren. Rees betrachtete seinen eigenen abgenutzten Anzug — und zuckte zusammen, als er bemerkte, daß dieser ein altes Modell der Kleidung war, die die Floßbewohner trugen. Trugen die Bergleute also die abgelegten Kleidungsstücke der Floßbewohner auf?
Er fragte sich, was Sheen dazu sagen würde…
Zwei kleine Jungen standen vor ihm und blickten mit runden Augen auf seine schmutzige Kleidung. Rees, dem das schrecklich peinlich war, zischte Gover zu: »Worauf warten wir noch? Können wir nicht weitergehen?«
Gover schüttelte nur den Kopf und fixierte Rees mit einem Ausdruck blasierter Arroganz.
Rees versuchte, die Jungen anzulächeln. Sie starrten ihn einfach an.
Nun kam ein leiser, rauschender Klang aus der Mitte des Floßes. Rees trat mit einiger Erleichterung hinaus auf die Lichtung und sah das bizarre Schauspiel einer Reihe von Gesichtern, die sich über die Menge hinweg auf ihn zubewegten. Gover ging vorwärts und hob die Hand. Rees betrachtete ihn neugierig…
…und das Rauschen schwoll zu einem Brüllen an. Rees wandte sich um und sah den stumpfen Bug eines Maulwurfs, der sich auf ihn zubewegte. Er stolperte zurück, und der vorbeirasende Zylinder verfehlte seine Brust nur um Haaresbreite. Ein paar Meter von Gover und Rees entfernt kam der Maulwurf zum Stehen. Eine Reihe einfacher Sitze war auf der Oberseite des Maulwurfs angebracht; darauf saßen Menschen, die ihn gleichgültig ansahen.
Rees öffnete und schloß unwillkürlich den Mund. Er hatte bereits einige wunderbare Dinge auf dem Floß gesehen, aber das hier? Die Münder der kleinen Jungen waren rund vor Erstaunen über seine komische Pose. Gover grinste. »Was ist los, Minenratte? Noch nie einen Bus gesehen?« Der Assistent ging auf den Maulwurf zu und schwang sich mit einer geübten Bewegung auf einen freien Sitz.
Rees schüttelte den Kopf und eilte dem Assistenten hinterher. An der Unterseite des Maulwurfs war ein Trittbrett befestigt; als Rees darauf trat, drehte es sich langsam und beförderte ihn auf den Sitz neben Gover — und der Maulwurf setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Rees taumelte zur Seite und klammerte sich an die Stuhllehne; er mußte sich etwas verrenken, bis er in Fahrtrichtung sah, und schließlich bemerkte er, daß er sanft über die Köpfe der Menge glitt.
Die Jungen rannten dem Maulwurf rufend und winkend hinterher; Rees ignorierte sie nach besten Kräften, und nach ein paar Metern ging ihnen die Puste aus, und sie gaben auf.
Rees starrte den neben ihm sitzenden Mann unverhohlen an; es war eine dünne Person mittleren Alters mit einem breiten Goldbesatz an seinen Ärmelaufschlägen. Der Mann musterte ihn geringschätzig und rutschte dann fast unmerklich auf die andere Kante seines Sitzes.
Rees wandte sich an Gover. »Du nennst mich immer ›Minenratte‹. Was ist eine ›Ratte‹?«
Gover grinste spöttisch. »Ein Wesen von der alten Erde. Ungeziefer, das Niedrigste vom Niedrigsten. Hast du schon von der Erde gehört? Das ist der Ort, wo wir…« — er betonte das letzte Wort — »herkommen.«
Rees dachte darüber nach; dann studierte er das Fahrzeug, in dem er fuhr. »Wie nennt ihr dieses Ding?«
Gover sah ihn mit spöttischem Mitleid an. »Das ist ein Bus, Minenratte. Nur eine der Kleinigkeiten, die wir hier in der zivilisierten Welt haben.«
Rees musterte die Konturen des mit Sitzbänken und Menschen beladenen Zylinders. Es war auf jeden Fall ein Maulwurf; da waren die verschmorten Stellen, wo — was auch immer — abmontiert worden war. Spontan beugte er sich vor und schlug mit der Faust auf die Oberfläche des ›Busses‹. »Status!«
Gover ignorierte ihn geflissentlich. Rees bemerkte, daß sein dünner Nachbar ihn mit einer Mischung aus Neugier und Abscheu ansah…
…und dann meldete der Bus mit lauter Stimme: »Schwere Sensorstörung.«
Die Stimme war von irgendwoher unter dem dünnen Mann gekommen; er sprang auf und starrte mit offenem Mund auf den Sitz unter sich.
Gover blickte Rees mit mißmutigem Interesse an. »Wie hast du das gemacht?«
Rees lächelte und kostete den Moment aus. »Oh, das war gar nichts. Weißt du, da, wo ich herkomme, haben wir auch… äh… Busse. Ich werd’ dir später davon erzählen.«
Mit süffisanter Gelassenheit setzte er sich wieder hin und genoß die Fahrt.
Die Reise dauerte nur ein paar Minuten. Der Bus hielt oft an, und an jeder Haltestelle stiegen Fahrgäste aus und zu.
Von einem Moment zum anderen verließen sie das Kabelgewirr und glitten über ein Stück freier Fläche des Decks. Ungefiltertes Licht des Nebels blendete Rees. Als er zurückblickte, sahen die Kabel aus wie eine mehrere hundert Meter hohe Wand aus geflochtenem Metall mit einem Dach aus Blättern darüber.
Die Schnauze des Busses begann sich zu heben.
Zuerst dachte Rees, es sei nur Einbildung. Dann bemerkte er, daß die Passagiere sich auf ihren Sitzen hin- und herbewegten; und noch immer nahm der Steigungswinkel des Fahrzeugs zu, bis Rees schließlich den Eindruck hatte, daß er über eine Metallrutsche zu den Kabeln hinunterglitt.
Er schüttelte müde den Kopf. Für diese Schicht hatte er von Wundern genug. Wenn Gover ihm doch nur kurz erklärt hätte, was sich hier abspielte…
Er schloß die Augen. Komm schon, du mußt von selbst darauf kommen, sagte er sich. Er dachte an das Floß, wie es von oben ausgesehen hatte. Hatte es denn wie eine Schale gewirkt? Nein, während der ganzen Fahrt zum Rand war es flach gewesen; da war er sich ganz sicher. Also was war es dann?
Furcht packte ihn. Angenommen, das Floß war dabei, abzustürzen. Vielleicht waren die Kabel an tausend Bäumen abgerissen; vielleicht kippte das Floß um und warf seine menschliche Fracht in die abgrundtiefe Luft…
Er schnaufte, als er nach einigem Nachdenken auf die Lösung des Problems kam. Der Bus überwand die Anziehungskraft des Floßes, die in seinem Schwerpunkt am stärksten war. Wenn die Bremsen des Busses jetzt versagten, würde er über die Ebene, die vom Rand ins Zentrum des Floßes führte, zurückrollen… gerade so, als ob er bergab rollte. In Wirklichkeit war das Floß natürlich eine flache, im Raum schwebende Platte; aber sein zentrales Schwerefeld bewirkte, daß jeder, der nahe am Rand stand, den Eindruck hatte, daß dieser sich aufwölbte.
Als sich das Gefälle normalisiert hatte, kam der Bus ruckelnd zum Stehen. Auf dem Deck waren entlang der Busroute einige Stufen angebracht, die zum äußeren Rand führten. Die Passagiere sprangen herunter. »Du bleibst hier«, befahl Gover Rees, und folgte den anderen auf die flachen Stufen.
In unmittelbarer Nähe des Randes waren die großen Konturen einer Versorgungsmaschine zu erkennen, vor der die Passagiere eine kurze Schlange bildeten.
Rees blieb gehorsam auf seinem Platz. Er hätte die Maschine am Rand gerne näher in Augenschein genommen. Aber diesen Plan würde er in einer späteren Schicht, wenn er Zeit hatte und wieder bei Kräften war, realisieren.
Es wäre trotzdem schön gewesen, zum Rand zu gehen und in die Tiefen des Nebels zu schauen… Vielleicht hätte er sogar den Gürtel sehen können.
Nacheinander kamen die Passagiere zum Bus zurück; sie trugen Proviantpakete wie die, die Pallis zum Gürtel gebracht hatte. Der letzte Passagier schlug gegen den Bug des Busses, worauf die verschlissene alte Maschine sich in Bewegung setzte und den imaginären Abhang hinunterfuhr.
Pallis Kabine war ein simpler, in drei Räume unterteilter Würfel: Es gab einen Eßbereich, einen Wohnraum mit Sitzen und Hängematten sowie eine Naßzelle mit einem Abfluß, einer Toilette und einer Dusche.
Pallis hatte ein langes, schweres Gewand angezogen. An dem Kleidungsstück waren grüne Kragenspiegel mit der stilisierten Darstellung eines Baumes angebracht, die, wie Rees erkannt hatte, Pallis’ Rang unter den Waldläufern auswiesen. Pallis wies Rees und Gover an, sich zu waschen. Als Rees an der Reihe war, näherte er sich den glänzenden Wasserhähnen mit einiger Ehrfurcht; er konnte kaum glauben, daß der reine, glitzernde Stoff, der aus diesen Armaturen kam, Wasser war.
Pallis bereitete ein Essen vor, eine kräftige Fleischbrühe. Rees hatte sich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden der Kabine niedergelassen und aß mit gutem Appetit. Gover saß auf einem Stuhl und hatte sich in sein übliches Schweigen gehüllt.
Es gab in Pallis’ Wohnung keinerlei Schmuck, mit Ausnahme von zwei Exponaten im Wohnbereich. Eines dieser Objekte war ein von der Decke herabhängender Käfig aus Korbgeflecht; er beherbergte fünf oder sechs junge Bäume, deren noch nicht ausgewachsene Zweige herumwirbelten. Sie füllten den Raum mit Bewegung und einem angenehmen Holzgeruch. Rees sah, wie die Skitters, von denen ein oder zwei mit hellen Blumen verziert waren, auf die Kabinenbeleuchtung zuschossen und in leiser Enttäuschung gegen die Wände ihres Käfigs prallten. »Wenn sie zu groß werden, lasse ich sie frei«, sagte Pallis zu Rees. »Sie sind nur — Gesellschaft für mich, glaube ich. Ich weiß, daß es Leute gibt, die die frisch geschlüpften Skitters mit Draht anbinden, damit sie nicht wachsen, und sie auf diese Weise entstellen. Ich könnte so etwas nie tun. Ganz gleich, wie dekorativ das Ergebnis wäre.«
Der andere Schmuckgegenstand war ein Foto, das Bild einer Frau. Solche Dinge waren auf dem Gürtel unbekannt — die alten, verblassenden Bilder wurden in den Familien weitergereicht wie schäbige Erbstücke — aber dieses Portrait wirkte frisch und lebendig. Mit Pallis’ Erlaubnis nahm Rees es in die Hand…
… und zuckte zusammen, als er das lächelnde Gesicht erkannte.
Er wandte sich zu Pallis. »Das ist Sheen.«
Pallis rutschte unangenehm berührt auf seinem Stuhl hin und her, und seine Narben wurden glutrot. »Ich hätte mir denken können, daß du sie kennst. Wir — waren mal Freunde.«
Rees stellte sich den Piloten und seine Schichtführerin zusammen vor. Das Bild bedrückte ihn zwar ein wenig, schmerzte aber nicht direkt wie die Konterfeis einiger anderer Paare, die er in der Vergangenheit schon gesehen hatte. Pallis und Sheen, ein Paar; das war eine Vorstellung, mit der er sich zur Not noch anfreunden konnte.
Er steckte das Foto in den Rahmen zurück und machte sich nachdenklich kauend wieder an sein Essen.
Beim Schichtwechsel legten sie sich schlafen.
Rees fühlte sich in der elastischen Hängematte irgendwie zu Hause. Die nächste Schicht würde neue Veränderungen, Überraschungen und verwirrende Situationen bringen; aber er war darauf gefaßt. Für die nächsten Stunden jedenfalls war er in der schützenden Schale des Floßes in Sicherheit.
Ein respektvolles Klopfen ließ Hollerbach aus seiner tranceähnlichen Konzentration aufschrecken. »He? Wer, zum Teufel, ist das?« Seine Augen benötigten ein paar Sekunden, um sich zu akkomodieren — und seine Gedanken brauchten noch länger, um sich von der Hektik der Lebensmitteltests zu lösen. Er tastete nach seiner Brille. Natürlich war das alte Modell nicht das Optimale für seine Augen, aber die Linsen halfen ihm ein wenig.
Ein großer, narbenbedeckter Mann kam unscharf ins Bild und betrat zögernd das Büro. »Wissenschaftler, ich bin’s. Pallis.«
»O Pilot. Ich glaube, ich habe Sie zurückkommen sehen. War die Reise erfolgreich?«
Pallis lächelte müde. »Ich fürchte nicht, Sir. Die Bergleute haben einige Probleme…«
»Haben wir die nicht alle?« knurrte Hollerbach. »Ich hoffe nur, daß wir die armen Kerle mit unseren Proviantlieferungen nicht vergiften. Also, Pallis, was kann ich für Sie tun — oh, bei den Boneys, ich weiß schon. Sie haben diesen verdammten Jungen mitgebracht, nicht wahr?« Er sah an Pallis vorbei, und sein Blick fiel auf die hagere, schlappe Gestalt von Gover. Hollerbach seufzte. »Du gehst besser zu Grye und kümmerst dich um deine üblichen Pflichten, Junge. Und um deine Studien. Vielleicht machen wir doch noch einen Wissenschaftler aus dir, he? Oder«, murmelte er, als Gover wegging, »ich schmeiße dich eigenhändig über den Rand des Floßes — was wahrscheinlicher ist. Ist das alles, Pallis?«
Der Baumpilot machte einen verlegenen Eindruck; er druckste herum, und sein Narbengewirr lief dunkelrot an. »Da ist noch etwas, Sir. Rees!«
Nun betrat ein anderer Junge das Büro. Er war dunkelhaarig und mager und trug die zerlumpten Überreste einer Arbeitskombination — und er blieb überrascht im Türrahmen stehen, die Augen auf den Boden geheftet.
»Komm her, Junge«, sagte Pallis in einem nicht unfreundlichen Ton. »Es ist nur ein Teppich; der beißt nicht.«
Der merkwürdige Junge schritt vorsichtig über den Teppich, bis er vor Hollerbachs Schreibtisch stand. Er hob den Blick — und wieder fiel ihm, offensichtlich geschockt, die Kinnlade herunter.
»Du liebe Güte, Pallis«, meinte Hollerbach, »wen haben Sie mir denn da angeschleppt? Hat er etwa noch nie einen Wissenschaftler gesehen?«
Pallis räusperte sich; er schien ein Lachen zu unterdrücken. »Ich glaube nicht, daß es daran liegt, Sir. Bei allem Respekt, ich vermute, der Junge hat noch nie einen so alten Menschen gesehen.«
Hollerbach öffnete den Mund — und schloß ihn wieder. Er sah sich den Jungen genauer an, bemerkte die Muskelpakete, die narbenbedeckten Hände und Arme. »Wo kommst du her, Junge?«
Rees sprach laut und prononciert: »Vom Gürtel.«
»Er ist ein blinder Passagier«, meinte Pallis entschuldigend. »Er ist mit mir hergekommen und…«
»Muß sofort wieder zurückgebracht werden.« Hollerbach lehnte sich zurück und verschränkte seine dünnen Arme. »Tut mir leid, Pallis; aber wir sind sowieso schon überbevölkert.«
»Das weiß ich, Sir, und ich will die Formalitäten jetzt über die Bühne bringen. Sobald ein Baum beladen ist, könnte er wieder weg sein.«
»Warum haben Sie ihn dann hergebracht?«
»Weil…« Pallis zögerte. »Hollerbach, er ist ein schlaues Köpfchen«, ergänzte er hastig. »Er kann… er kann Statusberichte von den Bussen abfragen…«
Hollerbach zuckte die Achseln. »Das bringt in jeder Schicht eine ganze Reihe aufgeweckter Kinder fertig.« Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Du liebes bißchen, Pallis, Sie haben sich auch nicht verändert, nicht wahr? Erinnern Sie sich noch, wie Sie mir als Kind zerbrochene Skitters gebracht haben? Und ich mußte kleine Stifte aus Papier fabrizieren, um sie wieder zu reparieren. Das ist denen natürlich nicht sehr gut bekommen, aber wenigstens haben Sie sich danach besser gefühlt.«
Pallis’ Narben wurden dunkel vor Wut, und er versuchte, dem neugierigen Blick von Rees auszuweichen.
»Und nun bringen Sie mir diesen aufgeweckten jungen blinden Passagier ins Haus und erwarten von mir, daß ich ihn als meinen Chefassistenten anstelle?«
Pallis zuckte die Achseln. »Ich dachte, vielleicht solange, bis der Baum fertig ist…«
»Da haben Sie eben falsch gedacht. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, Baumpilot.«
Pallis wandte sich an den Jungen. »Sag ihm, warum du hier bist. Sag ihm, was du mir gesagt hast, auf dem Baum.«
Rees starrte Hollerbach an. »Ich habe den Gürtel verlassen, um herauszufinden, warum der Nebel stirbt«, sagte er einfach.
Wider Willen neugierig geworden, rutschte der Wissenschaftler auf seinem Stuhl nach vorne. »Ach ja? Wir wissen selbst, warum er stirbt. Zu wenig Wasserstoff. Das liegt doch klar auf der Hand. Was wir aber nicht wissen, ist, was wir dagegen tun sollen.«
Rees musterte ihn, und es war ihm anzusehen, daß er über Hollerbachs Worte nachdachte. Dann fragte er: »Was ist Wasserstoff?«
Hollerbach trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum und war drauf und dran, Pallis hinauszuwerfen… Aber Rees wartete mit einem intelligent fragenden Blick auf eine Antwort.
»Hmm. Das kann man nicht in einem Satz erklären, Junge.« Wieder trommelte er mit den Fingern. »Nun, es kann nichts schaden… und es ist vielleicht ganz amüsant…«
»Sir?« meinte Pallis fragend.
»Kannst du mit einem Besen umgehen, Junge? Wir könnten nun wirklich jemanden gebrauchen, der dieses nutzlose Stück von Gover unterstützt. Ja, warum eigentlich nicht? Pallis, nehmen Sie ihn mit zu Grye. Lassen Sie ihn ein paar Gelegenheitsarbeiten verrichten; und richten Sie Grye von mir aus, daß er ihm ein bißchen Grundlagenwissen beibringen soll. Vielleicht kann er sich ja nützlich machen, wenn er schon unseren Fraß ißt.
Aber nur bis der Baum abgeht, denken Sie daran.«
»Danke, Hollerbach…«
»Oh, machen Sie, daß Sie rauskommen, Pallis. Sie haben gewonnen. Nun lassen Sie mich weiterarbeiten. Und in Zukunft behalten Sie ihre verdammten lahmen Skitters selbst.«