Der Gürtel hing wie ein schäbiges Spielzeug in der Luft über Pallis. Zwei plattenförmige Fluggeräte trieben zwischen Pallis’ Baum und dem Gürtel; alle paar Minuten emittierten sie Dampfwölkchen und bewegten sich ruckartig einige Meter durch die Wolken. Die Mineure beobachteten von ihrem Fahrzeug aus den einige Meter entfernt stehenden Baum.
Die Flugscheiben wirkten wie eiserne Motten in einem großen Bottich mit roter Luft. Doch mit einem Seufzer erkannte Pallis, daß sie eine Sperre so solide wie aus Holz oder Metall bildeten. Er stand am Stumpf seines Baumes, schaute zu den Posten hoch und rieb nachdenklich das Kinn. »Es hat keinen Sinn, hier herumzuhängen«, erkannte er. »Wir müssen hineingelangen.«
Jaens breites Gesicht war mit Ruß von den Feuerkesseln verschmiert. »Pallis, du bist verrückt. Sie wollen uns doch offensichtlich nicht durchlassen.« Mit ihrem muskulösen Arm wedelte sie in Richtung der Bergleute. »Das Floß und der Gürtel stehen im Krieg miteinander, um Himmels willen!«
»Immer, wenn man euch abgehalfterte Wissenschaftler als Baum-Pilot-Lehrlinge einsetzt, muß man sich über eure ständige Nörgelei ärgern. Warum, zum Teufel, kannst du nicht einfach das tun, was man dir sagt?«
Ein Grinsen erschien auf Jaens breitem Gesicht. »Würdest du lieber wieder Gover zurückhaben, Pilot? Du solltest dich nicht beklagen, wenn die Revolution dir so hochqualifiziertes Personal beschert hat.«
Pallis richtete sich auf und entfernte den Staub von seinen Händen. »Okay, du hochqualifizierte Mitarbeiterin, wir müssen an die Arbeit. Laß uns diese Rauchkessel anheizen.«
Sie runzelte die Stirn. »Meinst du das ernst? Wir brechen durch?«
»Du hast gehört, was Rees gesagt hat… Was wir diesen Mineuren erzählen müssen, ist vielleicht die wichtigste Nachricht, seit das Schiff damals im Nebel aufgetaucht ist. Und wir werden diese verdammten Bergleute zum Zuhören bewegen, ob sie wollen oder nicht. Wenn das bedeutet, daß sie uns vom Himmel blasen, dann können wir eben nichts machen. Dann wird ein anderer Baum kommen, der auch zerstört werden wird, und dann wieder einer, bis diese verdammten Idioten von Minenratten begreifen, daß wir wirklich nur mit ihnen reden wollen.«
Während seiner wenig ausgefeilten Ansprache hatte Jaen nach unten geschaut und sich damit beschäftigt, das Feuer im Kessel in Gang zu bringen; jetzt sah sie hoch. »Ich glaube, daß du recht hast.« Sie biß sich auf die Lippe. »Ich wünschte nur…«
»Was?«
»Ich wollte nur, daß es nicht Rees gewesen wäre, der von den Toten zurückgekehrt ist, um die menschliche Rasse zu retten. Diese kleine Minenratte war schon großspurig genug, als er…«
Pallis lachte. »Mach deinen Kessel voll, Lehrling.«
Jaen ging an ihre Arbeit. Pallis genoß es im stillen, mit ihr zu arbeiten. Sie war eine gute Fahrensfrau, schnell und leistungsfähig; irgendwie wußte sie immer schon, was zu tun war, ohne daß er es ihr erst sagen mußte und ohne daß sie ihn bei seiner eigenen verdammten Arbeit behinderte…
Unter dem Blätterdach entwickelte sich ein Rauchvorhang. Der Baum rotierte schneller und eilte dem Gürtel entgegen, wobei die Luft durch seine Blätter rauschte und klare, heimatliche Gerüche in Pallis’ Nase spülte. Die Patrouillenfahrzeuge hoben sich als unbewegliche Schatten gegen den roten Himmel ab. Pallis stützte sich mit den Beinen am Stumpf seines Baumes ab; das massive Holz vermittelte ihm einen festen Halt. Dann legte er die zu einem Trichter geformten Hände an den Mund. »Mineure!«
Gesichter erschienen über dem Rand jedes Fahrzeuges. Mit zusammengekniffenen Augen konnte Pallis das in Bereitschaft gehaltene Waffenarsenal erkennen: Speere, Messer, Knüppel.
Er breitete die Hände weit aus. »Wir kommen in Frieden! Bei den Boneys, das müßt ihr doch sehen. Was glaubt ihr wohl, habe ich mitgebracht, eine Armee unter meinen Ästen versteckt?«
Ein Bergmann rief herunter: »Verpiß dich nach Hause, Waldläufer, bevor du noch dran glauben mußt.«
Er spürte, wie allmählich Zorn sein narbiges Gesicht überzog. »Mein Name ist Pallis, und ich werde mich nirgendwohin verpissen. Ich habe Neuigkeiten, die jeden Mann, jede Frau und jedes Kind auf dem Gürtel betreffen. Und ihr werdet sie mich euch mitteilen lassen!«
Mißtrauisch kratzte der Bergmann sich am Kopf. »Welche Neuigkeiten?«
»Laßt uns durch, und ich sage es euch. Sie kommen von einem der Euren. Rees…«
Nachdem die Mineure miteinander konferiert hatten, wandte sich der Sprecher wieder an Pallis. »Du lügst. Rees ist tot.«
Pallis lachte. »Nein, ist er nicht. Und um seine Geschichte geht es bei dem, was ich euch zu sagen habe…«
Mit erschreckender Schnelligkeit kurvte ein Speer über den Rand der Flugplatte. Er rief Jaen eine kurze Warnung zu; der Speer glitt durch die Blätter und verschwand in den Tiefen des Nebels.
Mit den Händen in den Hüften stand Pallis da und sah zu den Mineuren hoch.
»Ihr seid wirklich lausige Zuhörer!«
»Waldläufer, wir verhungern hier wegen der Gier des Floßes. Und gute Männer sterben bei dem Versuch, das zu ändern…«
»Laßt sie sterben! Niemand hat sie aufgefordert, das Floß anzugreifen!« brüllte Jaen.
»Sei still, Jaen«, zischte Pallis.
Sie schnaubte verächtlich. »Sieh, Pilot, diese Bastarde sind bewaffnet, und wir nicht. Sie haben offensichtlich bei keinem unserer Worte zugehört. Und wenn wir versuchen, näher heranzukommen, werden sie den Baum wahrscheinlich mit ihren Düsen abfackeln. Es hat keinen Sinn, Selbstmord zu begehen, nicht wahr? Wir müssen eben einen anderen Weg finden.«
Er kratzte sich am Bart. »Aber es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen mit ihnen reden.« Und ohne über seine Handlungsweise nachzudenken, holte er mit einem Bein aus und trat den nächsten Rauchkessel um. Der qualmende Zunder rieselte heraus, und bald züngelten winzige Flämmchen an den Blättern.
Für vielleicht fünf Sekunden stand Jaen bewegungslos da; dann explodierte sie in wirbelnder Bewegung. »Pallis, was, zum Teufel,… ich hole die Decken…«
Mit seiner kräftigen Hand umklammerte er ihren Arm. »Nein, Jaen. Laß es brennen.«
Mit blankem Unverständnis starrte sie ihm ins Gesicht.
Die Flammen verbreiteten sich wie Lebewesen. Die sichtlich verblüfften Mineure starrten herab.
Pallis mußte sich die Lippen lecken, bevor er sprechen konnte. »Das Laub ist sehr trocken, wie du siehst. Das ist auf das Sterben des Nebels zurückzuführen. Die Luftfeuchtigkeit ist zu gering, und das Frequenzspektrum des Sternenlichts hat sich mittlerweile so verändert, daß in den Blättern keine Photosynthese mehr stattfinden kann…«
»Pallis«, verlangte Jaen mit Nachdruck, »hör mit dem Geschwätz auf!«
»…Ja. Ich hoffe darauf, daß sie uns bergen. Es ist unsere einzige Chance.« Er zwang sich dazu, das verkohlte und verbogene Holz und die im Luftzug zitternden, versengten Blätter anzusehen.
Jaen berührte seine narbige Wange; als sie ihre Finger wegnahm, waren die Spitzen feucht. »Das hier scheint dich wirklich mitzunehmen.«
Er lachte schmerzlich. »Jaen, ich brauche meine ganze Willenskraft, um nicht die Decken zu holen.« Plötzlich wurde seine Traurigkeit von Zorn durchsetzt. »Weißt du, von all den lausigen und schrecklichen Dingen, die von Menschen in diesem Universum verübt werden, ist dies das Schlimmste. Es kümmert mich überhaupt nicht, was sich die Menschen gegenseitig antun; doch jetzt bin ich gezwungen, einen meiner eigenen Bäume zu zerstören…«
»Du kannst meinen Arm loslassen.«
»Was?« Er blickte überrascht nach unten und sah, daß er noch immer ihren Arm umklammert hielt. Er ließ ihn los. »Tut mir leid.«
Reumütig massierte sie das Fleisch. »Ich verstehe schon, Baum-Pilot. Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten. Sie streckte die Hand aus. Dankbar ergriff er sie, diesmal aber vorsichtig.
Die Plattform erbebte, daß sie beide stolperten. Die Flammen im Brennpunkt des Feuers schlugen mittlerweile höher als Pallis Körpergröße. »Es geht schnell«, murmelte er.
»Ja. Sollen wir uns an einem der Vorratsbehälter festhalten?«
Angesichts dieser Vorstellung lachte er laut auf. »Damit wir wenigstens einen Imbiß auf unserem Weg zum Kern haben?«
»Okay, eine dumme Idee. Aber nicht so dumm, wie den verdammten Baum in Brand zu setzen.«
»Vielleicht hast du ja recht.«
Ein kompletter Randabschnitt brach weg und verschwand in einem Glutschauer; abgetrennte Äste brannten wie dicke Kerzen. »Es ist wohl Zeit«, meinte Pallis.
Jaen sah sich um. »Ich glaube, die beste Strategie wäre, zum Rand zu rennen und hinterherzuspringen. Die maximale Absprunggeschwindigkeit erreichen und hoffen, daß wir uns dadurch und durch die Rotation des Baumes so weit wie möglich von diesem ganzen Trümmerhaufen entfernen.«
»Okay.«
Sie sahen sich in die Augen — und Pallis Füße trommelten über das dürre Laub; der Rand näherte sich, und er bekämpfte seinen Lebenserhaltungstrieb, der ihm befahl, stehenzubleiben, und dann hatte er den Rand unter seinen Füßen und…
…und er segelte durch die leere, bodenlose Luft und hielt Jaens Hand fest.
Sie taumelten, und ihr Flug verlangsamte sich schnell in der rauchigen Luft. Pallis hing im Himmel, mit den Füßen in Richtung des Gürtels, Jaen zu seiner Rechten und den Baum vor sich.
Der Rand des Baumes war eine Kante aus Feuer. Dichter Rauch quoll aus der Laubmasse, die auf der Plattform verstaut war. Explosionsgleich bildeten sich Risse in den geformten Ästen, die nacheinander wegbrachen. Ganze in Flammen gehüllte Abschnitte der Scheibe lösten sich und tauchten funkenstiebend weg. Bald war nur noch der Baumstamm übrig, ein knorriger, ringsum mit den Bruchstellen seiner Äste besetzter Torso.
Schließlich verschwand der zerstörte Baum am Himmel, und Pallis und Jaen hingen, immer noch Hand in Hand, in der Leere.
Die Mineure waren nirgends zu sehen.
Merkwürdig verlegen sah Pallis Jaen an. Worüber, fragte er sich, sollten sie jetzt reden? »Du mußt wissen, daß die Kinder auf dem Floß mit der Angst vor dem Fallen aufwachsen«, erklärte er. »Ich vermute, daß sie die flache und glatte Fläche unter ihren Füßen als alleinigen Maßstab nehmen und dabei vergessen, daß das Floß eigentlich nicht mehr als ein in der Luft treibendes Blatt ist… nicht im entferntesten so stabil wie diese großen, unglaublichen Planeten in diesem anderen Universum, von dem ihr Wissenschaftler uns erzählt.«
»Aber die Kinder des Gürtels wachsen auf einer zerbrechlichen Kette aus Behältern auf, die einen erloschenen Stern umkreisen. Sie haben nicht einmal eine feste Ebene, auf der sie stehen können. Und sie fürchten sich nicht so sehr davor, zu fallen, sondern nichts zu haben, woran sie sich festhalten können…«
Jaen schob das Haar aus ihrem breiten Gesicht. »Pallis, hast du Angst?«
Er dachte darüber nach. »Nein. Ich glaube nicht, daß ich Angst habe. Ich hatte mehr Angst, bevor ich den verdammten Kessel umstieß.«
Sie zuckte die Achseln. Bei dieser aerodynamisch relevanten Bewegung ging ein Rucken durch ihren Körper. »Ich habe eigentlich auch keine. Es tut mir nur leid, daß deine Rechnung nicht aufgegangen ist…«
»Na gut, einen Versuch war es wert.«
»…und ich würde mir wünschen zu erfahren, was am Ende aus all dem wird…«
»Was glaubst du, wie lange wir überleben können?«
»Vielleicht ein paar Tage. Wir hätten doch den Proviantbehälter mitnehmen sollen. Doch wenigstens haben wir eine schöne Aussicht — Pallis!« Ihre Augen weiteten sich schreckerfüllt; sie ließ Pallis’ Hand los und vollführte krabbelnde Schwimmbewegungen, als ob sie versuchen wollte, durch die Luft zu kriechen.
Alarmiert sah Pallis nach unten.
Die harte Oberfläche eines Patrouillenfahrzeugs der Mineure kam auf ihn zugeflogen; zwei Bergleute hingen an einem über das Metall gespannten Netz. Das Eisen raste wie eine Wand auf ihn zu…
Er hatte einen blutigen Geschmack im Mund.
Pallis öffnete die Augen. Er lag auf dem Rücken, offensichtlich auf dem Fluggerät der Mineure. Durch sein Hemd spürte er die Knoten des Netzes. Er versuchte sich aufzusetzen — und war nicht übermäßig überrascht, daß er mit Händen und Füßen an das Netz gefesselt war. Er entspannte sich und versuchte, nicht den Anschein zu erwecken, eine Bedrohung darzustellen.
Ein breites, bärtiges Gesicht erschien dicht über ihm. »Der hier ist in Ordnung, Jame; er ist mit dem Kopf aufgekommen…«
»Besten Dank«, schnappte Pallis. »Wo ist Jaen?«
»Ich bin hier«, rief sie von außerhalb seines Blickfeldes.
»Ist bei dir alles klar?«
»Es wäre klarer, wenn diese Trottel es zulassen würden, daß ich mich hinsetze.«
Pallis lachte — und zuckte zusammen, als ein Schmerz durch Mund und Wangen jagte. Offenbar würde er seine Kollektion von Narben um einige neue Exemplare ergänzen müssen. Jetzt tauchte kopfüber in Pallis’ Blickfeld ein zweites Gesicht auf. Pallis kniff die Augen zusammen. »An dich erinnere ich mich. Ich glaube, deinen Namen schon gehört zu haben. Du bist Jame aus der Quartiermeisterei.«
»Hallo, Pallis«, meinte Jame brummig.
»Bist du immer noch so ein Bierpanscher/Barkeeper?«
»Du bist ein höllisches Risiko eingegangen, Baum-Pilot. Wir hätten dich abstürzen lassen sollen«, grummelte Jame…
»Habt ihr aber nicht«, erwiderte Pallis grinsend und entspannte sich.
Während der kurzen Reise mit den Bergleuten zum Gürtel erinnerte sich Pallis wieder an das Gefühl des Wunders, mit dem er Rees’ Geschichte zum erstenmal gehört hatte. In seiner Eigenschaft als Freund des zurückgekehrten Verbannten hatte er mit Rees, Decker und Hollerbach in dem Büro des alten Wissenschaftlers zusammengesessen und den Blick auf die simplen Handbewegungen geheftet, mit denen Rees bestimmte Aspekte seiner Abenteuer zu unterlegen pflegte.
Es war so phantastisch, der Stoff, aus dem Legenden sind: Die Boneys und ihre Knochenwelt, die Wale, der Gesang… doch Rees’ Ton war trocken, faktenorientiert und völlig überzeugend, und er hatte alle Fragen von Hollerbach mit Verve beantwortet.
Schließlich kam Rees zu der Beschreibung der großen Walwanderung. »Aber natürlich«, hatte Hollerbach gekeucht. »Ha! Es ist ja so offensichtlich.« Und dann drosch er mit der Faust auf den Schreibtisch.
Der aus seiner Verzauberung gerissene Decker sprang auf. »Du blöder alter Furz«, grollte er. »Was ist so offensichtlich?«
»So viele Teile passen zusammen. Internebulare Wanderungen…! Natürlich; wir hätten darauf kommen müssen.« Hollerbach erhob sich von seinem Stuhl und begann im Raum umherzustiefeln, wobei er eine knochige Faust auf die Handfläche klatschte.
»Es reicht jetzt mit der Schauspielerei, Wissenschaftler«, sagte Decker. »Werd deutlicher.«
»Zunächst der Gesang der Wale: Diese alten Spekulationen, die unser Held jetzt bestätigt hat. Sag mir nur eins: Warum sollten die Wale sonst über ein so großes Gehirn verfügen, eine solch signifikante Intelligenz und eine derart differenzierte Kommunikation? Wenn man es durchdenkt, sind sie eigentlich nur Herdentiere, und — aufgrund ihrer reinen Größe — weitestgehend sicher vor Räubern, was Rees ja auch bestätigt hat. Sicher brauchen sie kaum mehr zu tun, als durch die Atmosphäre zu kreuzen und sich von dem zu ernähren, was so durch die Luft fliegt. Dazu gehört kaum mehr Intelligenz als die eines, sagen wir, Baumes, um diesem Schatten auszuweichen und die Gravitationsquelle zu umgehen…«
Pallis rieb sich die Nasenwurzel. »Aber ein Baum würde nie in den Kern fliegen — jedenfalls nicht freiwillig. Willst du das damit sagen?«
»Exakt, Baum-Pilot. Sich dem Streß eines solchen Gezeitenwechsels und einer so gefährlichen Strahlung auszusetzen, erfordert eine größere Gehirnkapazität, den Weitblick, die elementaren Instinkte abzublocken, eine hochstrukturierte Kommunikation — vielleicht sogar auf telepathischer Basis —, so daß jeder nachfolgenden Generation das richtige Verhalten weitervererbt wird.«
Rees lächelte. »Also muß ein Wal seine Flugbahn um den Kern ganz präzise festlegen.«
»Natürlich, natürlich.«
Deckers Gesicht zeigte eine Mischung aus Verwirrung und Zorn. »Wartet… Laßt uns das Schritt für Schritt durchgehen.« Er kratzte sich am Bart. »Was haben die Wale davon, wenn sie in den Kern tauchen? Gehen sie dort nicht einfach in die Falle?«
»Nicht, wenn sie ihre Flugbahn richtig definieren«, erklärte Hollerbach ein wenig ungeduldig. »Das ist der eigentliche Punkt… Erkennst du das? Es ist eine Gravitationsschleuder.« Er hielt eine hagere Faust hoch und verdrehte sie, um die Rotation darzustellen. »Hier ist der wegrotierende Kern. Und…« — die andere Hand hielt er flach und ließ sie auf den imaginären Kern zustoßen — »hier kommt ein Wal.« Der Modellwal fegte am Kern vorbei, ohne ihn zu berühren. Seine hyperbolische Flugbahn verdrehte sich in der gleichen Richtung, in welcher der Kern rotierte. »Für einen kurzen Moment wird der Wal von der Gravitation des Kerns erfaßt, wobei das Tier einen gewissen Betrag seiner Winkelgeschwindigkeit übernimmt… Durch sein Rendezvous mit dem Kern erfährt er also einen leichten Energiezuwachs.«
Pallis schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, daß ich da nicht jedesmal durchmuß, wenn ich einen Baum fliege.«
»Es ist ganz einfach. Die Wale schaffen das schließlich auch… Und sie nehmen all das nur auf sich, um genug Energie zum Erreichen der Fluchtgeschwindigkeit des Nebels zu sammeln.«
Decker ließ eine Faust auf den Schreibtisch krachen. »Genug geschwätzt. Was ist jetzt die Relevanz der ganzen Sache?«
Hollerbach seufzte und führte seine Finger zur Nasenwurzel, auf der Suche nach seiner schon lange verschwundenen Brille. »Die Relevanz ist die: Beim Erreichen der Fluchtgeschwindigkeit können die Wale den Nebel verlassen.«
»Sie wandern«, intervenierte Rees engagiert. »Sie reisen zu einem anderen Nebel… Einem neuen, mit vielen jungen Sternen und einem blauen Himmel.«
»Wir sprechen hier von einem großen Populationstransfer zwischen den Nebeln«, führte Hollerbach aus. »Zweifellos sind die Wale nicht die einzige Spezies, die zwischen den Nebeln hinund herreist… doch selbst wenn es so wäre, würden sie in ihrem Verdauungstrakt vielleicht so viele Sporen und Samen befördern, um dem Leben einen neuen Brückenkopf zu ermöglichen.«
»Das ist alles sehr aufregend.« Rees schien regelrecht trunken. »Ihr seht, daß die Tatsache der Migration auch ein anderes altes Rätsel löst: den Ursprung des Lebens hier. Der Nebel ist erst ein paar Millionen Schichten alt, und deswegen konnte sich hier noch kein Leben nach dem Vorbild der Evolution auf der Erde entwickeln.«
»Und die Lösung dieses Rätsels«, ergänzte Hollerbach, »könnte so aussehen, daß es hier vielleicht überhaupt nicht entstanden ist.«
»Es ist von irgendwo anders in den Nebel gelangt?«
»Das ist richtig, Baum-Pilot. Aus einer anderen, erschöpften Materieballung. Und jetzt, wo dieser Nebel auch am Vergehen ist, wissen die Wale, daß es Zeit zum Weiterziehen ist. Es hat vielleicht vor dem Vorgänger unseres Nebels schon andere gegeben: eine ganze Wanderungskette, die bis an den Anfang der Zeit zurückreicht.«
»Es ist ein wunderbares Bild«, sagte Rees verträumt. »Als sich das Leben erst einmal irgendwo in diesem Universum etabliert hatte, muß es sich schnell ausgebreitet haben; vielleicht sind all die Nebel schon auf die eine oder andere Art besiedelt, mit fremden Spezies, die unaufhörlich den Leerraum durchkreuzen…«
Decker starrte von einem Wissenschaftler zum anderen. Er sagte ruhig: »Rees, wenn du nicht zum Punkt kommst — in verständlichen Worten und gleich jetzt —, werde ich dich mit meinen bloßen Händen über die verdammte Kante werfen. Und den alten Furz gleich dazu. Verstanden?«
Rees breitete die Hände auf dem Schreibtisch aus, und wieder erkannte Pallis in seinem Gesicht diese neue, merkwürdige Sicherheit. »Decker, der Punkt ist der: genauso wie die Wale dem Tod des Nebels entkommen können, schaffen wir das auch.«
Deckers Stirnrunzeln vertiefte sich. »Erklär das.«
»Wir haben zwei Möglichkeiten.« Rees schlug mit der Handkante auf den Schreibtisch. »Nummer eins. Wir bleiben hier, beobachten das Erlöschen der Sterne und bekriegen uns wegen der restlichen Lebensmittelvorräte. Oder…« Ein weiterer Karateschlag. »Option Zwei. Wir machen es genauso wie die Wale. Wir stürzen um den Kern und nutzen den Schleudereffekt aus. Wir wandern zu einem neuen Nebel aus.«
»Und wie genau machen wir das?«
»Ich weiß es nicht genau«, konzedierte Rees bitter. »Vielleicht koppeln wir die Bäume ab und lassen das Roß in den Kernbereich stürzen.«
Pallis versuchte sich das vorzustellen. »Wie willst du verhindern, daß die Besatzung davongeblasen wird?«
»Weiß ich nicht, Pallis«, erwiderte Rees lachend. »Das ist nur ein Entwurf; ich bin sicher, daß es bessere Möglichkeiten gibt.«
Decker hatte sich zurückgelehnt. Sein narbiges Gesicht war eine Maske aus angespannter Konzentration.
Hollerbach streckte einen gekrümmten Finger in die Luft. »Natürlich hast du diese Reise mehr oder weniger unfreiwillig unternommen, Rees. Wenn du keinen Weg gefunden hättest, den Wal zu dirigieren, würdest du noch heute mit ihm zwischen den stellaren Nebeln herumreisen.«
»Möglicherweise können wir es auf diese Art tun«, regte Pallis an. »Wir schneiden uns einen Weg in die Wale, deponieren dort Lebensmittel und Wasser und lassen uns von ihnen zu unserer neuen Heimat bringen.«
Rees schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das so funktionieren würde, Pilot. Das Innere eines Wals ist keine geeignete Umgebung für Menschen.«
Und wieder dachte sich Pallis in die fremde Materie hinein. »Wir müssen also das Floß nehmen… doch außerhalb des Nebels wird es seine ganze Luft verlieren, nicht wahr? Deshalb müssen wir eine Art von Hülle konstruieren, um die Atmosphäre zu speichern…«
Hollerbach nickte, sichtlich zufrieden. »Das ist richtig gedacht, Pallis. Vielleicht machen wir aus dir noch einen Wissenschaftler.«
»Gönnerhaftes Arschloch«, murmelte Pallis voller Zuneigung.
Wieder brannte dieses Feuer in Rees. Er richtete seinen intensiven Blick auf Decker… »Decker, irgendwo in diesem ganzen Mist liegt der Schlüssel für das Überleben unserer Rasse. Denn das steht auf dem Spiel. Wir können es schaffen, keine Frage. Aber wir brauchen deine Hilfe.« Danach schwieg Rees.
Pallis hielt den Atem an. Er spürte die Bedeutung dieses Augenblicks, der einen Wendepunkt in der Geschichte seiner Spezies darstellte, und irgendwie hing alles jetzt von Rees ab. Pallis musterte den jungen Wissenschaftler gründlich und glaubte dabei ein leichtes Zittern seiner Wangen erkannt zu haben; doch in Rees’ Augen stand nur Entschlossenheit.
»Wie fangen wir an?« fragte Decker schließlich ruhig.
Pallis atmete langsam aus; er sah Hollerbachs Lächeln, und eine Art Sieg leuchtete in Rees’ Augen. Doch beide waren klug genug, in ihrem Triumph nicht in Überschwang zu verfallen. »Zuerst verständigen wir die Mineure«, bestimmte Rees.
»Was?« explodierte Decker.
»Sie sind schließlich auch Menschen«, erkannte Hollerbach in sanftem Ton. »Sie haben ein Recht zu leben.«
»Und außerdem brauchen wir sie«, meinte Rees. »Wir werden Eisen benötigen. Viel Eisen…«
Und so hatten Pallis und Jaen einen Baum zerstört und saßen jetzt im Gürtel auf dem Dach eines Hauses. Der Kern des Sterns hing als ein Punkt über ihnen; ein Regenguß ging um sie herum nieder und klebte Pallis’ Haar und Bart ins Gesicht. Ihnen gegenüber saß Sheen und mummelte an einem Stück Fleisch. Hinter ihr befand sich mit verschränkten Armen Jame. »Ich weiß immer noch nicht, warum ich euch nicht einfach töten sollte«, sinnierte Sheen langsam.
Pallis grunzte empört. »Trotz all deiner Schwächen, Sheen, habe ich dich nie für einen Dummkopf gehalten. Erkennst du denn nicht die Bedeutung der Sache, die zu unterbreiten ich hierher gekommen bin?«
Jame grinste. »Wie sollen wir wissen, daß es nicht irgendein Trick ist? Pilot, du vergißt, daß wir im Krieg sind.«
»Ein Trick? Du hast doch selbst erklärt, wie Rees seinen Exodus vom Gürtel überlebt hat — und wie es dazu kam, daß er auf einem Wal reitend zurückkehrte. Mein Gott, wenn du darüber nachdenkst, läuft seine Geschichte auf die einfachste Hypothese hinaus.«
Jame kratzte sich an seiner dreckverkrusteten Kopfhaut. »Läuft worauf hinaus?«
Jaen grinste. »Ich werde es dir irgendwann erklären«, sagte Pallis. »…Verdammt, ich sage dir, daß die Zeit für Krieg jetzt vorbei ist, Barkeeper. Es gibt keine Rechtfertigung mehr dafür. Rees hat uns einen Weg aus diesem Gasgefängnis gezeigt, in dem wir stecken — aber wir müssen zusammenarbeiten. Sheen, können wir diesen blutigen Teufelskreis nicht beenden?«
Der Regen lief ihr übers Gesicht. »Du bist hier nicht willkommen. Das habe ich schon gesagt. Du wirst hier lediglich geduldet. Du bist nicht berechtigt, eine Hütte…«
Seit Pallis damit begonnen hatte, seine Mission zu erläutern, hatten sich ihre Worte nicht wesentlich geändert — doch war ihr Ton jetzt nicht etwas unsicherer? »Schau, Sheen, ich bitte dich nicht um einen einseitigen Handel. Wir brauchen euer Eisen und eure Kompetenz in der Metallverarbeitung — aber ihr braucht Lebensmittel, Wasser und Medikamente, nicht wahr? Und ob das nun zum Besseren oder Schlechteren ist; das Floß hat noch immer das Monopol auf die Versorgungsmaschinen. Ich kann dir jetzt mit voller Rückendeckung von Decker, dem Komitee und auch sonst von verdammt jedem, der dir einfällt, garantieren, daß wir bereit sind zu teilen. Wenn ihr wollt, teilen wir euch auf dem Floß einen Abschnitt zu, den ihr mit eigenen Maschinen bewirtschaften könnt. Und längerfristig — bieten wir den Mineuren an, ihre Kinder dort wohnen zu lassen.«
Jame beugte sich vor und spuckte in den Regen. »Du bist ein Scheißkerl, Baum-Pilot.«
Jaen ballte die Fäuste. »Du verdammter Idiot…«
»Haltet beide eure Klappe!« Sheen schob sich das nasse Haar aus dem Gesicht. »Schau, Pallis, selbst wenn ich ›ja‹ sagen sollte, wäre es damit noch nicht getan. Wir haben kein ›Komitee‹ oder einen Boß oder sonst etwas in der Art. Wir diskutieren die Dinge unter uns aus.«
Pallis nickte, und Hoffnung keimte explosionsartig in seinem Herzen auf. »Das verstehe ich.« Er blickte in Sheens braune Augen und versuchte seine ganze Persönlichkeit, all ihre gemeinsamen Erinnerungen in seine Worte zu legen. »Sheen, du kennst mich. Du weißt, daß ich kein Narr bin, wessen ich mich auch sonst schuldig gemacht habe… ich bitte dich, mir zu vertrauen. Überlege doch mal. Hätte ich freiwillig Schiffbruch verursacht, wenn ich meiner Sache nicht sicher wäre? Würde ich etwas so Wertvolles aufgegeben haben wie…?«
»Wie was, dein wertloses Leben?« spottete Jame.
Mit echtem Erstaunen drehte sich Pallis zu dem Barkeeper um. »Jame, ich habe meinen Baum gemeint.«
Widersprüchliche Empfindungen spiegelten sich in Sheens Gesicht. »Pallis, ich weiß nicht. Ich brauche Zeit.«
Pallis hielt die Handflächen hoch. »Ich verstehe. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. In der Zwischenzeit… läßt du uns bleiben?«
»Beim Quartiermeister bleibst du nicht. Soviel steht fest.«
Pallis lächelte nachsichtig. »Barkeeper, selbst wenn ich deine verwässerte Pißbrühe niemals mehr trinke, dauert mir das nicht lange genug.«
Sheen schüttelte den Kopf. »Du änderst dich auch nicht, Pilot, was? Weißt du, selbst wenn… wenn deine Geschichte stimmen sollte, ist dein irrer Plan noch voller Schwachstellen.« Sie deutete auf den Kern des Sterns. »Nachdem wir schon so lange auf diesem Ding arbeiten, haben wir vielleicht ein besseres Gefühl für die Gravitation als ihr Leute. Ich kann dir sagen, daß dieses Schwerkraft-Schleuder-Manöver verdammt heikel werden wird. Ihr müßt es hundertprozentig richtig anstellen…«
»Ich weiß. Und sogar während wir hier sitzen, bekommen wir in dieser Angelegenheit Ratschläge.«
»Ratschläge? Von wem?«
Pallis grinste.
Gord wurde von Geschrei geweckt.
Er setzte sich auf und fragte sich benommen, wie lange er wohl geschlafen hatte… Hier gab es natürlich nicht den Rhythmus der Schichten, keinen sich im Uhrzeigersinn drehenden Gürtel nichts, womit man den Zeitablauf hätte ermitteln können außer unruhigem Schlaf, stumpfsinniger, anspruchsloser Arbeit und ekelhaften Expeditionen zu den Öfen. Zumindest meldete der Magen des ehemaligen Ingenieurs, daß wenigstens einige Stunden verstrichen waren. Er betrachtete die trübe schimmernden Nahrungsmittel, die in einer Ecke seiner Hütte aufgestapelt waren — und erschauerte. Noch ein wenig länger, und er wäre vielleicht so hungrig, daß er noch mehr von dem Zeug verzehren würde.
Das Geschrei wurde lauter und weckte einen Anflug von Neugier in ihm. Auf der Welt der Boneys war alles geregelt, und es gab keine Zwischenfälle. Was konnte einen solchen Tumult verursachen? Ein Wal? Aber die Ausguckposten meldeten die großen Tiere normalerweise viele Schichten vor ihrer Ankunft, und außerdem war kein Gesang angestimmt worden.
Widerwillig stand er auf und ging zur Tür.
Eine Schar von ungefähr einem Dutzend Boneys jeden Alters stand mit nach oben gerichteten Gesichtern auf der ledernen Oberfläche ihrer Welt. Ein kleines Kind deutete in den Himmel. Verwirrt trat Gord aus der Hütte und schloß sich ihnen an.
Eine Brise wehte über ihn hinweg und brachte den Duft von Holz und Blättern mit sich, der für kurze Zeit den fauligen Geruch in seiner Nase vertrieb. Er schaute nach oben — und schnappte nach Luft.
Ein Baum rotierte majestätisch und beschaulich am Himmel. Sein Stamm befand sich höchstens fünfzig Meter über ihm.
Seit seiner Verbannung aus dem Gürtel hatte Gord keinen Baum mehr gesehen. Einige von den Boneys hatten vielleicht in ihrem ganzen Leben noch keinen zu Gesicht bekommen.
Ein Mann baumelte kopfüber am Baum. Er war dunkelhaarig, schlank und kam Gord irgendwie bekannt vor. Er winkte. »Gord? Bist du das…?«
»Rees? Das kann nicht sein… Du bist doch tot. Oder nicht?«
»Man erzählt mir laufend, daß ich es eigentlich sein müßte«, sagte Rees lachend.
»Du hast deinen Sprung auf den Wal überlebt?«
»Mehr als das… Ich bin sogar wieder zum Floß zurückgekehrt.«
»Du machst Witze.«
»Es ist eine lange Geschichte. Ich komme extra vom Floß, um mit dir zu reden.«
Gord schüttelte den Kopf und und breitete die Arme aus, um die Kontur des Knochensacks anzudeuten, der seine Welt war. »Wenn das stimmt, mußt du verrückt sein. Warum bist du zurückgekommen?«
»Weil ich deine Hilfe brauche…«, rief Rees.