Der Komm-Alarm klingelte so eindringlich, dass Geary sofort hellwach war. Er drehte sich um und drückte automatisch auf eine Taste, mit der er die eingehende Nachricht annahm. Insgeheim fürchtete er zu hören, dass sich weitere Schiffe von der Flotte abgespalten hatten.
»Captain Geary«, meldete sich eine aufgeregt und zugleich ängstlich klingende Commander Cresida. »Ich habe noch mal überlegt. Ziemlich verwegene Konzepte. Aber mir ist aufgefallen: Wenn die Hypernet-Matrizen auf so viele Trossen verteilt sind, würde eine Matrix vielleicht so reagieren wie ein Netz oder ein Segel. Das würde bedeuten, dass der Kollaps der Matrix davon abhängt, in welcher Form die Trossen gelöst werden.«
Geary versuchte das zu erfassen, aber zum Glück war Cresidas Vergleich nicht allzu kompliziert geraten. »Was bedeutet das für uns?«
»Nun, Sir, wenn die Art und Weise, wie eine Matrix in sich zusammenfällt, sich auf die Menge Energie auswirkt, die dabei freigesetzt wird — was auch der Fall sein sollte —, und wenn die Matrix davon abhängig so zusammenfällt, wie die Trossen abgeschaltet werden, dann sollte es theoretisch möglich sein, durch ein gezieltes Abschalten einzelner Trossen die freigesetzte Energie zu beeinflussen.«
»So wie eine Nuklearwaffe mit einem wählbaren Wirkungsgrad?«
»In etwa, ja … Auch wenn der physikalische Prozess und die damit verbundene Wissenschaft völlig verschieden sind.«
»Was benötigen Sie, um diese Idee genauer zu untersuchen?«, wollte Geary wissen. »Und können Sie eine Antwort liefern, mit der sich etwas anfangen lässt?«
»Möglicherweise.« Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich benötige vorrangigen Zugriff auf das flottenweite Netzwerk, Sir.«
»Auf alles?« Die Rechenkapazität des Netzwerks war etwas, das über Gearys Verstand hinausging, aber die Tatsache, dass sie es benötigte, vermittelte ihm einen Eindruck davon, wie komplex Cresidas Idee war. »Okay. Sollen Sie haben.«
Nachdem die Verbindung längst unterbrochen war, saß er noch eine Weile da und überlegte, ob er wirklich wollte, dass sie eine Antwort fand. Aber wenn sie mit ihrer Theorie richtig lag, dann bedeutete das einen taktischen Vorteil, den er sich nicht entgehen lassen konnte.
Die Gefechtssimulation, die Geary durchspielen ließ, während die Flotte auf den Sprungpunkt nach Sancere zuflog, lief zu seiner Zufriedenheit ab. Doch bei der anschließenden Flottenkonferenz störte es ihn, dass Offiziere wie Numos und Faresa nicht länger anwesend waren. Natürlich war es angenehm, nicht mit ihnen diskutieren zu müssen, aber ihr Fehlen erinnerte vor allem daran, dass sich vierzig seiner Schiffe auf einen Weg begeben hatten, der nach Gearys Ansicht nur in den Untergang führen konnte. Auch die anwesenden Offiziere sahen sich um und hielten nach vertrauten Gesichtern Ausschau, die nicht mehr zu finden waren.
Es war sicher nicht verkehrt, die Leute ein wenig abzulenken. »Hat jeder von Ihnen die modifizierten Einstellungen für den Sprungantrieb erhalten und übernommen, damit wir den Sprung bis nach Sancere schaffen?«
Alle Offiziere an dem nur scheinbar großen Tisch nickten, doch den Männern und Frauen war ihre Nervosität deutlich anzumerken. Er wusste, was ihnen Sorgen bereitete. Sich in den Kampf gegen einen menschlichen Gegner zu stürzen war eine Sache, aber sich auf eine zu weite Reise in den befremdlichen Sprungraum zu begeben, das war ein ganz anderes Thema. Schiffe, die einen zu großen Sprung unternommen hatten, waren nie wieder aufgetaucht. Geary kannte die Geschichten, die Matrosen sich erzählten. Geschichten über seit langer Zeit verschollene Schiffe, die plötzlich in einsamen Sternensystemen auftauchten, ihre Besatzungen auf eine grausame Weise zu Tode gekommen. Oder sie suchten nach wie vor ihr Schiff heim, da der Sprungraum sie zu etwas verändert hatte, das nicht länger leben, aber auch nicht sterben konnte. Ihm waren solche Geschichten in Bars und während der langen Nachtschichten an Bord von Schiffen zu Ohren gekommen, wenn die düsteren, verlassenen Korridore mit einem Mal eine unheimliche Stille ausstrahlten. Geary fragte sich, ob es wohl neue Versionen von den billigen alten Horrorfilmen über Untote aus dem Sprungraum gab.
»Ich versichere Ihnen«, betonte er. »Diese Einstellungen werden funktionieren. Ich habe mehr als einmal Sprünge über solche Entfernungen unternommen.« Das schien nicht die beruhigende Wirkung zu zeigen, die er sich erhofft hatte. »Sie müssen sich dabei nicht allein auf mein Wort verlassen. Wenn Sie in der Datenbank der Flotte suchen, werden Sie auf verschiedene Berichte stoßen. Ich kann Ihnen die Quellenangaben nennen.« Diese Berichte gingen in der immensen Masse an Informationen fast unweigerlich unter, und er selbst hatte sie auch nur finden können, weil er genau wusste, wonach er suchen musste. Immerhin war er seinerzeit selbst dabei gewesen. Manchmal fragte er sich, wie viel gesammeltes Wissen unter der Fülle von Daten begraben lag, die unablässig zusammengetragen und gespeichert wurden. In früheren Zeiten ging das Wissen verloren, weil die Aufzeichnungen nicht länger existierten, heute dagegen existierten von absolut allem Aufzeichnungen, und in dieser Flut von Informationen etwas zu finden war noch schwieriger als die berühmte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen — und das selbst dann, wenn man wusste, dass bestimmte Informationen existierten.
Allein die Tatsache, dass es einen Beweis für Gearys Behauptungen gab, sorgte allgemein für bessere Laune. »Glauben Sie mir, es wird für die Syndiks eine sehr unangenehme Überraschung sein, wenn wir aus diesem Sprungpunkt bei Sancere zum Vorschein kommen. In ihren Augen wird die Allianz-Flotte das Unmögliche geleistet haben.« Endlich sah Geary hier und da an dem langen virtuellen Tisch ein Lächeln aufblitzen. »Wir haben allen Grund zu der Annahme, dass wir sie völlig überrumpeln. Das wird uns einen entscheidenden Vorteil verschaffen, weil die Kommandoebene der Syndiks in Sancere wertvolle Zeit verlieren wird, bis man den ersten Schreck überwunden und verstanden hat, dass wir den Krieg zu ihnen gebracht haben.«
»In den Schiffswerften von Sancere entstehen zahlreiche Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer der Syndiks«, warf Captain Duellos ein.
»Selbst wenn nur die Hälfte von dem da ist, was wir erwarten«, sagte Geary, »werden es mehr als genug Ziele sein. Deshalb wird es auch extrem wichtig sein, dass wir unsere Angriffe aufeinander abstimmen. Wenn einfach jeder auf das losstürmt, was ihm besonders ins Auge sticht, kann es schnell vorkommen, dass ein Syndik-Schiff in seine Atome zerschossen wird, während ein halbes Dutzend andere Schiffe entkommt. Wir wollen aber nicht, dass uns auch nur ein einziges Schiff entwischt.« Dass es den Offizieren gefiel, so etwas zu hören, konnte er ihnen anmerken. Es sollte ihm helfen, sie im Zaum zu halten, wenn sie erst einmal mit einer ganzen Fülle von Zielen konfrontiert wurden.
»Captain Tyrosian.«
Sie nickte.
»Die Schnellen Hilfsschiffe in Ihrer Division haben hervorragende Arbeit geleistet, neue kinetische Bomben zu bauen und sie auf die anderen Schiffe zu verteilen. Den Besatzungen von Titan, Witch, Goblin und Jinn möchte ich für den Einsatz und die Hingabe meine Gratulation und meinen Dank aussprechen.« Tyrosian machte einen zu Recht zufriedenen Eindruck. Dank sei den lebenden Sternen, dass keines der Hilfsschiffe sich mit Falcos Gruppe davongemacht hat. Ich brauche diese Schiffe und das, was sie leisten können, um die Flotte nach Hause zu bringen.
Captain Tulev verzog skeptisch den Mund. »Wir haben zwar Grund zu der Annahme, dass wir die Syndiks völlig unvorbereitet erwischen, aber wir müssen auch davon ausgehen, dass die Verteidigung im Sancere-System auf dem neuesten Stand und nicht zu knapp bemessen sein wird.«
»Das sehe ich auch so«, entgegnete Geary. »Wenn wir in den Sprung wechseln, wird sich die Flotte in einer allgemeinen Angriffsformation befinden, aber das werden wir sofort anpassen, wenn ich ein Gefühl dafür bekommen habe, wie wir ihre Verteidigung am besten überwinden. Wie Sie meinem Angriffsplan entnehmen können, sollen die Schiffe der Eingreiftruppe Furious vorgeben, sie würden aus der Formation ausbrechen. Unsere Hoffnung ist, dass die Syndik-Kriegsschiffe sich an die Eingreiftruppe hängen und uns den Weg zum Hypernet-Portal freimachen.« Er hielt kurz inne, da er nicht den Enthusiasmus ersticken wollte, der bei der Erwähnung des Hypernet-Portals aufkeimte. »Wir müssen auch davon ausgehen, dass die Syndiks versuchen werden, das Portal zu zerstören, bevor wir es benutzen können.«
»Diese Portale sind sehr robust«, meldete sich ein anderer Kommandant zu Wort. »Die bestehen aus so vielen überflüssigen Bauteilen, dass sie eine Menge einstecken können.«
»Ja«, stimmte Geary ihm zu. Mittlerweile weiß ich, dass sie ganz bewusst so konstruiert sind, damit sie nicht bei der kleinsten Beschädigung zerstört werden, denn das kann unberechenbare Auswirkungen haben. Aber wenn ich allen erzähle, was unter Umständen passieren könnte, riskiere ich, dass im entscheidenden Moment Panik ausbricht. »Aber sie sind nicht dafür ausgelegt, einem gezielten Beschuss standzuhalten. Es kann sein, dass wir nicht schnell genug sind, um das Portal rechtzeitig zu erreichen. Aber wir werden unser Bestes versuchen.«
Sekundenlang herrschte Schweigen, dann fragte der Kommandant eines Zerstörers: »Sir, was ist mit den Schiffen, die sich bei Strabo von uns getrennt haben?«
Geary biss einen Moment lang die Zähne zusammen, dann erwiderte er: »Da können wir nicht viel machen. Verdammt, da können wir überhaupt nichts machen. Wir könnten ihnen ja nicht einmal folgen, um ihnen zu helfen, weil wir nicht wissen, zu welchem Stern sie gesprungen sind.« Was natürlich damit zusammenhängt, dass ich die Übertragung von Falcos Ansprache an die Flotte blockieren ließ, der zweifellos verkündet hat, wohin er mit seinen Schiffen reist, damit ihm noch mehr Commander auf seinem sinnlosen Feldzug folgen. »Ich glaube, sie werden in einen Syndik-Fleischwolf geraten, der von ihnen nichts übrig lässt. Kampfgeist ist gut und schön, und er ist tatsächlich unverzichtbar, aber er schützt nur schlecht gegen feindliches Feuer.« Er hielt inne, weil es ihm zuwider war, das laut auszusprechen. Aber er hatte das Gefühl, eine Tatsache zu bestätigen, die jedem von ihnen ohnehin klar war. »Aber sie haben noch eine Chance.«
»Ilion?«, fragte Captain Duellos. »Sie nannten ihnen vor dem Sprung aus dem Strabo den Namen dieses Sternensystems. Mir ist aufgefallen, dass es in Sprungreichweite von Sancere liegt.«
»Ja.« Geary zeigte auf das Sternendisplay über dem Tisch.
Natürlich hat Duellos die Antwort auf diese Frage längst recherchiert. »Wenn wir das Hypernet-Portal bei Sancere nicht benutzen können, dann springen wir von dort nach Ilion.«
»Warum Ilion?«, wollte der Captain der Terrible wissen. »Das ist von Sancere aus nicht die beste Route zurück ins Allianz-Territorium.«
»Richtig«, bestätigte Geary ruhig. »Aber es ist das einzige Sternensystem, das diese Schiffe erreichen können, falls sie kehrtgemacht haben und jetzt versuchen, sich uns wieder anzuschließen. Wenn es ihnen gelingt, den Syndiks zu entwischen, können sie sich nach Ilion zurückziehen und sich mit uns treffen.«
Captain Tulev betrachtete mit finsterer Miene das Display. »Sie meinen, falls es irgendeinem der Schiffe gelingen sollte, den Syndiks zu entkommen.«
»Ja. Falls sie es schaffen, wissen sie, wo sie uns finden können.« Geary sah einen Commander nach dem anderen an. »Für uns bedeutet das ein Risiko. Wie bereits angesprochen, ist es nicht die beste Route in Richtung Heimat, und wir werden uns bei Ilion länger aufhalten müssen, als mir lieb ist. Aber ich möchte den anderen Schiffen eine Chance geben, zur Flotte zurückzukehren. Leider ist es das Einzige, was wir in dieser Richtung tun können, und ich habe entschieden, dass wir dieses Risiko eingehen.«
Wieder folgte eine Pause, dann nickte der Captain der Terrible. »Jawohl, Sir. Vielen Dank, Captain Geary. Ich weiß, Sie lassen über Ihre Entscheidungen nicht abstimmen, aber wenn doch, hätte ich für Sie gestimmt.«
Niemand widersprach ihm, und Geary erwiderte das Nicken. »Danke.« Was soll ich noch sagen? ›Und seien Sie bitte so gut und setzen Sie sich mit Ihren Schiffen nicht auch noch ab‹?
Offenbar musste er aber weiter nichts sagen. Die allgemeine Unsicherheit war in unterschiedlichem Maße mal Begeisterung, mal Resignation gewichen. Die Besprechung löste sich auf. Nach und nach verschwanden die virtuellen Teilnehmer, bis nur Captain Duellos zurückblieb, der ihn ernst ansah. »Auf Ilion hätten Sie sofort zu sprechen kommen sollen. Ich wollte es erwähnen, aber dann kam mir die Terrible zuvor.«
»Ich war mir nicht sicher, wie sie es aufnehmen würden«, antwortete Geary ihm, »wenn ich auf die Schiffe zu sprechen komme, die Falco gefolgt sind.«
»Sie haben nicht als Einziger Angst, Captain Geary.« Duellos lächelte flüchtig, als er Gearys erschrockenen Blick sah. »Oh, Sie überspielen das außergewöhnlich gut, aber ich weiß es, weil ich mittlerweile genug über Sie weiß, um die Zeichen richtig zu deuten. Lassen Sie sich nicht von den tapferen Erklärungen meiner Kollegen täuschen. Wir haben alle Angst und fragen uns, ob das nächste System unser letztes sein wird und ob wir in einem Arbeitslager wie dem auf Sutrah V enden werden.«
Geary schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Sie mussten von mir hören, dass ich immer noch davon ausgehe, sie alle sicher nach Hause zu bringen, sogar die, die sich von uns abgespalten haben.«
»Ganz genau.« Duellos atmete mit einem gedehnten Seufzer aus. »Das ist übrigens für diese fast vierzig Schiffe die einzige Hoffnung. Dass sie die Flucht ergreifen, meine ich.«
»Ich weiß.« Geary bewegte seine Hand durch das Sternendisplay. »Aber mir wurde gesagt, dass die Flotte niemals die Flucht ergreift.«
»Hah! Lassen Sie mich raten: Desjani?«
Geary verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Nein.«
»Ja, natürlich. Sie beobachtet Sie und lernt von Ihnen. Wer könnte denn … ach, natürlich. Cresida. Unser kleiner Hitzkopf von der Furious.«
»Die anderen Captains schienen ihre Ansicht zu teilen«, betonte Geary.
Duellos lächelte. »Die Captains der Eingreiftruppe? Kein Wunder. Immerhin haben Sie diese Leute handverlesen. Aber wenn Sie nicht das Kommando hätten, dann würden sogar sie den Rückzug antreten, wenn es hart auf hart kommt. Und sie werden die Flucht ergreifen, wenn der glorreiche Falco der Kämpfer in den Hinterhalt gerät, mit dem Sie und ich fest rechnen.«
Geary spielte gedankenverloren mit den Displaykontrollen. »Was glauben Sie, was geschehen wird? Was wird Falco machen?«
»Zusammenbrechen«, kam Duellos knappe Antwort. »Das ist mein Ernst. Nüchtern betrachtet war er ein recht fähiger, aber fantasieloser Befehlshaber. Allerdings ging Captain Falco davon aus, dass der Feind genauso von ihm beeindruckt ist wie er selbst. Der Feind wurde dieser Annahme aber nicht immer gerecht, sehr zum Leidwesen der Allianz-Streitkräfte, die Falcos Kommando unterstellt worden waren.«
Geary nickte und fand, dass diese Ausführungen sehr zutreffend das zusammenfassten, was er über Falcos Schlachten gelesen hatte. »Aber er war nicht völlig unfähig. Ich kann noch immer nicht fassen, dass er mit so wenigen Schiffen geradewegs in eine garantierte Falle der Syndiks fliegt. Allerdings ist es mir auch ein Rätsel, wie ihm so viele Commander freiwillig folgen können.«
Duellos verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Widerwärtiges gebissen. »Captain Falcos Überredungskunst hat nicht allzu sehr gelitten. Ich konnte an eine Kopie der Nachricht gelangen, die er über die Shuttles auf diejenigen Schiffe geschmuggelt hat, von deren Befehlshabern er den Eindruck hatte, sie würden ihm folgen. Ich muss ehrlich sagen, es ist eine mitreißende Nachricht, die einen in ihren Bann schlagen kann.«
»Zu schade, dass keiner dieser Captains es für nötig hielt, mich davon in Kenntnis zu setzen«, merkte Geary enttäuscht an. »Vielleicht hätte ich einige von ihnen mitsamt ihren Schiffen vor einer Dummheit bewahren können. Aber es überrascht mich nicht, wenn Sie sagen, die Nachricht war mitreißend. Ich hatte ohnehin den Eindruck, dass Captain Falco sich ernsthaft für den Einzigen hält, der die Allianz retten kann. In der Hinsicht spielt er niemandem etwas vor.«
»Oh, die Allianz ist ihm tatsächlich wichtig«, bestätigte Duellos. »Oder besser gesagt: das, was er für die Allianz hält. Seine Reden sind so überzeugend, weil sie von Herzen kommen. Aber weil Falco auch glaubt, dass nur er wirklich weiß, was getan werden muss, und dass niemand außer ihm das leisten kann, hat er sich vor langer Zeit selbst weisgemacht, die Allianz zu retten und seine Karriere voranzubringen seien ein und dasselbe.« Duellos atmete schwer durch. »Er hat zwanzig Jahre damit verbracht, sich das Gleiche immer und immer wieder einzureden, und dabei war er von vornherein davon überzeugt, der Erretter der Allianz zu sein.«
Geary dachte eine Zeit lang darüber nach, ehe er abermals nickte. »Seine Argumente sind so eindringlich, weil er sie selbst glaubt, aber sie haben inzwischen noch weniger Bezug zur Realität als vor zwanzig Jahren.«
»Sogar ganz erheblich weniger«, bekräftigte ein sichtlich unglücklicher Duellos. »Hinzu kommt, dass Falco lange Zeit in einem Arbeitslager gesessen hat, wo alles nach Routine abläuft. Ist Ihnen aufgefallen, welche Schwierigkeiten er hat, auf etwas Unerwartetes zu reagieren, und das allein schon bei einer Unterhaltung? Er ist nicht mehr mit Notsituationen konfrontiert worden, er hat keine Gefechte ausgetragen, er hat keinerlei Übung mehr darin, ein Schiff zu befehligen. Und das ist nur die geistige Seite. Körperlich ist er älter geworden, und er hat unter aufreibenden Bedingungen gelebt. Die Ernährung war schlecht, die medizinische Versorgung noch schlechter.«
»Als ich diese Flotte übernahm, lag mein letztes Kommando hundert Jahre zurück«, hielt er dagegen.
Diesmal grinste Duellos breit. »Aber nur aus unserer Sicht. Für Sie waren nur ein paar Wochen vergangen. Und verzeihen Sie, wenn ich es so geradeheraus sage, aber Captain Falco hat mit Ihnen nur eine einzige Sache gemeinsam, nämlich das Rangabzeichen.«
»Freut mich, das zu hören«, gab Geary zu und lächelte dabei, um erkennen zu lassen, dass er das indirekte Kompliment nicht allzu ernst nahm. »Dann glauben Sie, Falco wird überhaupt nicht in der Lage sein, ein funktionierendes Kommando zuführen?«
Duellos schüttelte grimmig den Kopf.
»Und was werden diese Schiffe dann machen? Zum glorreichen Sturm auf die Syndik-Flotte blasen, von der sie dann in Stücke gerissen werden?«
Einen Moment lang betrachtete Duellos mit ernster Miene die Sterne auf dem Display. »Unwahrscheinlich, würde ich sagen. Ein glorreicher Sturmlauf in den Tod muss von jemandem angeführt werden. Wenn ich mit meiner Einschätzung nicht falschliege, dann wird Falco von den Ereignissen überwältigt werden und nicht in der Lage sein, das hinzubekommen. Die anderen Captains wie Numos oder Faresa haben weder eine mitreißende Wirkung, noch sind sie emotional in der Lage, diesen Mut der Verzweiflung aufzubringen. Also gibt es keinen Anführer, der die anderen antreiben kann. Schlimmstenfalls verlieren sie den Kopf und rennen in alle Richtungen davon, womit sie eine leichte Beute für die Syndiks werden. Bestenfalls erinnern sie sich an Ilion, halten ihre Formation so geschlossen wie möglich, um sich gegenseitig Schutz zu geben, und kämpfen sich den Weg dorthin frei. Die Syndiks werden nicht erwarten, dass die Schiffe einen Sprung unternehmen, der nur noch tiefer in ihr Gebiet führt. Dadurch könnte sich die Chance ergeben, mit dieser Taktik durchzukommen. Ist zwar nur eine minimale Chance, aber zumindest existiert sie.«
Geary nickte und musterte die gleichen Sterne. »Sie hören sich an, als hätten Sie meine Gebete an meine Vorfahren belauscht. Denn ich bete, dass die Schiffe genau das machen werden.«
»Wenn sie nach Ilion springen«, machte Duellos klar, »dann werden die Syndiks sie verfolgen. Sehr viele Syndiks.«
»Ich weiß. Wenn es dazu kommt, werden wir darauf gefasst sein. Wenn die Chancen schlecht stehen, werden wir bereit sein, uns den Weg aus dem System freizukämpfen. Stehen sie gut, versuchen wir, die Syndik-Streitmacht aus diesem Sektor zu vertreiben.«
»Das hätten Sie unseren Captains auch sagen sollen«, wandte Duellos ein.
»Das werde ich. Unmittelbar vor dem Sprung werde ich eine Nachricht senden.« Geary atmete tief durch. »Meinen Sie, es werden sich weitere Schiffe absetzen?«
»Jetzt? Nein, jetzt nicht mehr. Selbst diejenigen, die Ihnen mit einem unguten Gefühl folgen, haben mehr Angst davor, die Flotte zu verlassen. Deshalb sind sie auch nicht Captain Falco gefolgt.«
»Ich glaube, das ist das Beste, das ich mir erhoffen kann«, meinte Geary lachend.
Duellos erhob sich und salutierte. »Ich sehe Sie in Sancere wieder, Captain Geary.«
Geary erwiderte den Salut. »Darauf können Sie zählen.«
Zu seiner Überraschung tauchte Commander Cresidas Bild wieder auf, kaum dass Duellos verschwunden war. Sie wirkte abgekämpft. »Wir haben etwas, das funktionieren könnte.«
»Tatsächlich? Können wir die Energie beschränken, die bei einem Ausfall des Portals freigesetzt wird?«
»Zumindest in der Theorie, sofern die Annahmen zutreffen.« Cresida machte eine hilflose Geste. »Ob es funktioniert, können wir mit Gewissheit erst dann sagen, wenn wir es ausprobieren.«
»Und wenn nicht, könnte es zu spät sein, noch etwas anderes zu versuchen«, ergänzte Geary mürrisch. »Trotzdem haben Sie gute Arbeit geleistet.«
Geary hielt eine Datendisk in seiner Hand, als die Flotte zum Sprung ansetzte und die aufgedunsene Sonne von Cydoni hinter sich zurückließ. Bis nach Sancere würden sie über zwei Wochen im Sprungraum benötigen, ein Zeitraum, den außer Geary niemand in dieser Flotte ohne Unterbrechung dort verbracht hatte. Er nickte Captain Desjani zu, stand auf und wusste, dass er wahrscheinlich gedankenverloren wirkte. »Ich bin in meiner Kabine.«
Der Weg dorthin kam ihm ungewöhnlich kurz vor, da er mit seinen Gedanken anderswo war. Er setzte sich an seinen Tisch und tippte energisch auf die Komm-Kontrollen. »Madam Co-Präsidentin, ich muss mit Ihnen reden.«
»Das kommt mir jetzt ungelegen.« Victoria Riones Stimme klang nicht nur kälter als das All, sondern auch gelangweilt.
»Ich muss darauf bestehen.«
Erst nach ein paar Sekunden kam ihre Erwiderung. »Um was geht es?«
»Um etwas äußerst Wichtiges.«
»Und Sie erwarten, dass ich auf Ihre Einschätzung vertraue?«
Geary verkniff sich eine zornige Bemerkung. »Mir ist egal, ob Sie darauf vertrauen oder nicht. Ich muss etwas mit Ihnen besprechen. Wenn Ihnen die Sicherheit der Allianz wirklich etwas bedeutet, dann werden Sie herkommen und mit mir reden.«
»Und wenn nicht?«
Er starrte das Schott gegenüber an. Er konnte mit Gewaltanwendung drohen, doch dann würde Rione ihm erst recht nicht zuhören. »Bitte, Madam Co-Präsidentin, ich schwöre bei der Ehre meiner Vorfahren, es ist etwas, das Sie erfahren müssen.«
Diese Pause fiel noch länger aus. »Also gut, Captain Geary. An die Ehre Ihrer Vorfahren glaube ich nach wie vor. Ich werde in Kürze bei Ihnen sein.«
Geary ließ sich in seinen Sessel sinken und rieb sich die Augen. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mich mal auf Riones Besuche gefreut habe! Aber das ist zu wichtig, das kann ich nicht auf sich beruhen lassen.
Die Türglocke zu Gearys Kabine wurde betätigt, Rione trat ein. Ihre Miene verriet keine Regung, und ihre Augen glitzerten wie von einer Eisschicht überzogen. »Ich höre, Captain Geary.«
Er deutete auf den Sessel ihm gegenüber. »Nehmen Sie bitte Platz.«
»Ich bleibe lieber stehen.«
»Setzen Sie sich einfach hin!«, herrschte er sie so plötzlich an, dass nicht nur Rione zusammenzuckte, sondern auch er selbst über seine Lautstärke erschrak. »Entschuldigen Sie. Was ich mit Ihnen besprechen muss, ist von wirklich großer Bedeutung.« Der förmliche Tonfall half ihm, mit ruhigerer Stimme weiterzureden.
Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie ihn, nahm dann aber im Sessel Platz. »Was gibt es, Captain Geary?«
Es fiel ihm schwer sie anzusehen, und sein Blick schweifte zu der Sternenlandschaft, während er sich vorstellte, wie die von gewaltigen Explosionen zerrissen wurde. »Wir haben uns damit beschäftigt, was bei Sancere passieren könnte, wo es bekanntlich ein Hypernet-Portal gibt. Ich ging von der Annahme aus, die Syndiks könnten versuchen, diesen Zugang zu zerstören. Allerdings musste ich mittlerweile erfahren, dass die Vernichtung eines solchen Portals große Mengen Energie freisetzen könnte. Oder vielleicht auch gar keine. Das ist alles strikt theoretisch.«
Mit frostiger Stimme fragte sie: »Große Mengen Energie? Die Errichtung des Hypernet-Systems wurde genehmigt, lange bevor ich zum Allianz-Senat kam. Daher bin ich über die technischen Details nicht informiert. Wie groß sind diese Energiemengen?«
»Sie sind vergleichbar mit einer Supernova.« Das löste bei Rione schließlich doch eine Reaktion aus, da sie schockiert die Augen aufriss. Geary atmete tief durch und fuhr fort: »Einer der Captains, Commander Cresida, hat eine Theorie über die Hypernet-Portale aufgestellt. Wenn sie damit richtigliegt, dann hängt das Ausmaß an freigesetzter Energie davon ab, wie die Portaltrossen zerstört werden, also in welchen zeitlichen Abständen und in welcher Sequenz ihnen die Kontrolle über die Partikelmatrix entrissen wird. Das Flottennetzwerk hat diese Berechnungen mit einigen Mühen ausgeführt und einen Algorithmus für den Einsatz unserer Waffen entwickelt, der es uns erlauben sollte, die freiwerdende Energie auf ein absolutes Minimum zu beschränken.«
Riones Stimme war noch immer unterkühlt, ließ aber ihre Verständnislosigkeit erkennen. »Und warum beunruhigt Sie das, Captain Geary? Ich gebe zu, es überrascht mich, dass Hypernet-Portale eine so große potenzielle Gefahr darstellen. Aber wenn Sie einen Weg gefunden haben, den Schaden zu begrenzen, dann dürfte das doch etwas Gutes sein, oder nicht?«
Geary betrachtete die silberne Scheibe in seiner Handfläche. »Es beunruhigt mich aus einem bestimmten Grund, Madam Co-Präsidentin. Um herauszufinden, wie sich die Energieabgabe minimieren lässt, mussten wir auch in Erfahrung bringen, wie man sie maximieren kann.« Er hielt die Datendisk hoch und sah Rione an. »Wenn die Theorie auf die Praxis übertragbar ist, dann ist es uns möglich, die Portale zu den zerstörerischsten Waffen zu machen, die die Menschheit je gesehen hat. Womöglich sind wir in der Lage, nicht nur komplette Sternensysteme auszulöschen, sondern ganze Regionen des Weltalls.«
Victoria Rione sah ihn zutiefst entsetzt an. »Wie konnten die lebenden Sterne etwas derartiges zulassen? Als wir die alte Welt verließen, da glaubte die Menschheit, wir hätten die Gefahr gebannt, dass durch eine Katastrophe eine ganze Spezies ausgelöscht wird. Dass wir in Sicherheit sind, wenn wir uns inmitten der Sterne verteilen. Aber eine solche Waffe …« Ihr Blick richtete sich auf die Disk. »Was ist das?«
»Der Algorithmus für die Maximierung der Energieentladung. Wie ich bereits sagte, musste das Flottennetzwerk beide Varianten berechnen.« Er warf ihr die Scheibe zu, die sie reflexartig auffing. »Mir ist lieber, wenn diese Daten in Ihrem Besitz sind. Ich habe veranlasst, dass die Berechnungen im flottenweiten System gelöscht und überschrieben werden. Das da ist die einzige existierende Kopie.«
Sie starrte die Disk an, als hätte sie eine Giftschlange vor sich. »Warum?«
Er legte die Frage so aus, dass sie sich auf Rione bezog. »Weil es zu gefährlich ist, Madam Co-Präsidentin, sie irgendeinem anderen Menschen anzuvertrauen, mich eingeschlossen.«
Rione warf ihm einen stechenden Blick zu. »Warum wollen Sie das überhaupt irgendwem anvertrauen? Warum lassen Sie überhaupt eine Kopie erstellen?«
»Aus einem einfachen Grund: Wenn wir das berechnen können, ist das anderen ebenfalls möglich.«
Nun wurde Rione bleich. »Sie meinen … Aber wenn die Syndiks dazu in der Lage wären …«
»Dann hätte die Allianz inzwischen längst die Folgen zu spüren bekommen«, beendete Geary den Satz für sie. »Da stimme ich Ihnen zu. Ich glaube, die Syndiks sind noch nicht zu dieser Erkenntnis gelangt. Und ich glaube sogar, dass nicht einmal Commander Cresida erkannt hat, welch verheerende Waffen diese Portale sein können. Aber ich glaube, es gibt jemanden, der es weiß.«
»Ich verstehe nicht«, fuhr Rione ihn in nunmehr hitzigem Tonfall an. »Wenn Sie nicht glauben, dass die Syndiks diesen Schluss gezogen haben, wollen Sie dann behaupten, die Allianz weiß davon?«
»Nein, weder die Syndiks noch die Allianz«, sagte Geary geradeheraus. Er wusste, seine Worte waren brutal, aber er fand, er musste es aussprechen. »Ich habe erlebt, wie die Offiziere dieser Flotte nach hundert Jahren Krieg denken. Wüsste die Allianz, dass die Portale Waffen darstellen, dann hätte sie längst begonnen, die Portale zu sprengen und ganze Syndik-Systeme auszulöschen. So ist es doch, nicht wahr, Madam Co-Präsidentin?«
Nach kurzem Schweigen nickte Rione. »Es spricht vieles dafür, dass Sie recht haben«, räumte sie leise ein. »Was glauben Sie dann, wer von dieser erschreckenden Tatsache weiß? Es gibt keine Welten, die weder zu den Syndiks noch zur Allianz gehören. Es gibt niemanden sonst.«
»Niemanden, den wir kennen«, korrigierte Geary sie. »Niemanden von menschlicher Art.«
»Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie kopfschüttelnd. »Welchen Beweis haben Sie dafür?«
»Woher kommt das Hypernet?«
Die Frage schien sie zu überrumpeln, ihre Feindseligkeit war für den Moment vergessen. »Es war ein sehr plötzlicher Durchbruch, mehr weiß ich darüber auch nicht.«
»Und die Theorie dahinter verstehen wir bis heute nicht«, fügte Geary hinzu. »Das sagte mir Commander Cresida, und die Datenbank der Flotte bestätigt es. Wann gelangten die Syndiks in den Besitz der Hypernet-Technologie?«
»Etwa zur gleichen Zeit wie die Allianz.«
»Interessanter Zufall, nicht wahr?«, gab er zurück. »Ich hörte, dass die Allianz glaubt, die Syndiks hätten die Technologie gestohlen. Das wäre zumindest eine Erklärung.«
Rione nickte und senkte den Blick. »Ja, aber ich weiß aus anderen Berichten, dass die Syndiks glauben, wir hätten ihnen die Technologie gestohlen.« Sie schloss die Augen und dachte nach. »Sie ziehen also ernsthaft in Erwägung, dass eine nichtmenschliche Intelligenz uns mit der Technologie versorgt hat? Und zwar beide Seiten? Aber wieso? Das Hypernet ist für uns von beträchtlichem Nutzen. Die Fähigkeit, so schnell von einem Stern zum nächsten zu reisen, hat den menschlichen Zivilisationen einen enormen Auftrieb beschert.«
Geary ließ sich in seinen Sessel sinken und rieb sich die Augen. »Haben Sie jemals vom Trojanischen Pferd gehört? Einer Sache, die nach einem ansprechenden Geschenk aussieht, die aber in Wahrheit eine gefährliche Waffe darstellt?«
Abermals wurde Rione bleich. »Sie meinen, jemand … etwas … hat uns diese Technologie in dem Wissen überlassen, dass wir diese Portale bauen, die als Waffen gegen uns verwendet werden könnten?«
»Richtig.« Geary deutete auf sein Display. »Jede menschliche Kultur in jedem wichtigen Sternensystem verfügt über Hypernet-Portale. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn in jedem dieser Systeme eine Supernova explodiert. Ach, eine einfache Nova genügt. Von mir aus sogar eine Mininova.«
»Aber … warum?«
»Vielleicht haben sie Angst vor uns. Vielleicht wollen sie auch, dass wir sie in Ruhe lassen. Oder es ist ihre Art von Rückversicherung für den Fall, dass wir ihnen jemals gefährlich werden. Oder aber es ist ihre Art zu kämpfen, indem sie sich im Schatten verborgen halten und ihre Gegner in eine Falle locken.« Geary schüttelte den Kopf. »Dieser Krieg begann aus Gründen, die niemand so ganz begreift. Und er zieht sich schon so lange hin, dass er längst keinen Sinn mehr ergibt. Leider ist das in der Geschichte der Menschheit nichts Ungewöhnliches, aber dieser Krieg sorgt seit einem Jahrhundert dafür, dass die menschliche Rasse sich mit nichts anderem mehr beschäftigt. Weder die Syndiks noch die Allianz sind in diesen hundert Jahren in unerforschte Regionen vorgestoßen. Ich habe es nachgeprüft.«
Victoria Rione starrte in die Ferne. »Ihre Überlegungen sind aber pure Spekulation. Oder gibt es irgendwelche Beweise?«
»Keine Beweise. Ein paar seltsame Entdeckungen im Kaliban-System, wo die Marines feststellten, dass der Syndik-Tresor mit der Hilfe von nichtstandardmäßigem Werkzeug geöffnet worden war. Und niemand konnte sich erklären, warum die Syndiks gewisse Maßnahmen ergriffen hatten, bevor sie das System verließen. Das beweist nichts, außer dass etwas Ungewöhnliches geschehen ist.«
Sie sah die Sternenlandschaft an. »Wie sollte jemand die Hypernet-Portale dazu bringen, zu explodieren und dabei die maximale Energie abzugeben? Ist es möglich, irgendein Signal durch das Hypernet zu schicken? Uns ist keine Methode bekannt, wie das bewerkstelligt werden könnte.«
»Aber uns ist auch vieles andere über ihre Funktionsweise nicht bekannt«, betonte Geary. »Ich glaube, solange keine von beiden Seiten diesen Krieg gewinnt, dürften wir in Sicherheit sein. Vorausgesetzt, ich liege mit meiner Spekulation richtig.«
»Eine schreckliche Spekulation, Captain Geary.«
Er nickte und sah sie lange an. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch darüber nachdenken könnten. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, dass ich mich irre. Aber behalten Sie diese Disk auf jeden Fall bei sich. Verstecken Sie sie, und verraten Sie mir das Versteck nicht.«
»Nicht einmal Sie würden sich versucht fühlen, diese Informationen zu benutzen.«
»Nicht einmal ich?« Geary stieß ein schroffes Lachen aus. »Nicht einmal ich? Gibt es tatsächlich noch etwas, von dem Sie glauben, ich würde es nicht tun, Madam Co-Präsidentin? Sollte ich Ihnen dafür dankbar sein?«
»Ja, und zwar so dankbar, wie ich es bin, da ich nun im Besitz eines Instruments bin, mit dem die ganze menschliche Rasse ausgelöscht werden kann!«, fuhr Rione ihn an.
Geary biss sich auf die Lippe. »Tut mir leid, aber es gibt sonst niemanden, dem ich glauben würde, dass er diese Informationen nicht benutzen wird.«
»Sie haben behauptet, Sie wollten keine Zivilisten töten und keine Planeten verwüsten.« Rione schien ihn anzuflehen. »Wollen Sie sagen, dass das auch nicht stimmte?«
Wut regte sich in ihm. »›Auch nicht‹? Hören Sie, Madam Co-Präsidentin, Sie müssen erst noch den Beweis erbringen, dass ich in irgendeiner Hinsicht gelogen habe! Solange Sie das nicht können, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie nicht in einem Ton mit mir reden, als wäre ich bereits ehrlos.«
Ihre Miene verhärtete sich, dennoch nickte Rione. »Also gut, Captain Geary. Ich werde Sie nicht weiter als unehrenhaft bezeichnen, solange ich das nicht belegen kann.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran zu, dass sie davon ausging, den Beweis schon bald erbringen zu können.
»Danke«, erwiderte Geary kühl. »Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, ich hoffe, mir niemals zu wünschen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Aber ich habe mir vorgestellt, wie wir mit dem Rücken zur Wand stehen, während die Syndiks den Sieg über uns schon so gut wie in der Hand haben. Und ich fragte mich: Wenn alles verloren zu sein scheint, würde ich dann der Versuchung nachgeben und diese letzte Chance nutzen, auch wenn das Risiko besteht, dass die Energieentladung viel mehr vernichtet als nur den Gegner? Ich musste erkennen, dass ich diese Möglichkeit nicht mit absoluter Gewissheit ausschließen kann. Daher möchte ich erst gar nicht, dass mir diese Möglichkeit zur Verfügung steht.«
»Stattdessen wollen Sie, dass ich in Versuchung geführt werde!«
»Ich vertraue Ihnen mehr als mir selbst, Madam Co-Präsidentin. Mein Ziel ist es, diese Flotte nach Hause zu bringen. Sie dagegen haben ein Gesamtbild im Blick.« Einen Moment starrte Geary vor sich hin. »Für den Fall, dass es Ihnen nicht aufgefallen ist — ich habe Ihnen damit auch eine Waffe gegen Black Jack Geary in die Hand gegeben. Damit haben Sie die Möglichkeit, ihn zu stoppen, wenn es notwendig werden sollte.«
Er wusste, sie überwachte ihn. »Dann geben Sie also zu, dass Black Jack eine Gefahr für die Allianz darstellt.«
»Ich habe bereits zugegeben, dass er eine Gefahr für diese Flotte ist. Ich kann es mir nicht leisten, jemals zu glauben, dass ich der bin, den viel zu viele Menschen in der Allianz für Black Jack Geary halten. Aber ich bin mir sicher, Sie werden mir helfen, ein ehrlicher Mann zu sein.«
»Das versuche ich, seit Sie das Kommando über diese Flotte übernommen haben. Allerdings bin ich momentan der Ansicht, dass ich versagt habe.« Sie hielt die Disk hoch. »Und woher weiß ich, dass das wirklich die einzige Kopie ist? Wer sagt mir, dass Sie nicht noch eine weitere Kopie besitzen?«
»Warum sollte ich Sie belügen?«, wollte Geary wissen. »Welchen Nutzen sollte ich daraus ziehen können?«
»Das weiß ich nicht. Noch nicht.« Sie legte die Finger um die Disk, sodass sie seinen Blicken entzogen wurde. »Sie haben mir einmal etwas vorgemacht, Captain Geary, obwohl ich dachte, ich würde Sie kennen. Das wird sich nicht wiederholen.«
»Vielleicht machen Sie sich ja selbst etwas vor«, gab Geary zurück.
»Ja, vielleicht«, erwiderte sie, obwohl ihr Tonfall keinerlei Zustimmung signalisierte. »Ich weiß, was ich während der langen Reise nach Sancere tun werde. Was werden Sie in der Zeit machen?«
»Warum kümmert Sie das?«, konterte Geary. »Ich werde keinen Plan schmieden, wie ich die Allianz übernehmen oder einen weiteren Angriff auf das Heimatsystem der Syndiks durchziehen kann, falls Ihnen das Sorgen macht.«
»Sie scheinen zu glauben, Sie wissen, was mir Sorgen macht. Was macht Ihnen Sorgen, Captain Geary?«
Zu seiner Überraschung schien die Frage ehrlich gemeint zu sein. »Was mir Sorgen macht?« Er senkte den Blick und spürte einmal mehr, wie schwer das Kommando über die Flotte auf ihm lastete. »Mir macht Sorgen, dass die Syndiks diesen Zug vorausgeahnt haben könnten. Und dass vierzig Schiffe dieser Flotte unter dem Kommando dieses größenwahnsinnigen Dummkopfs Falco und seines schwachsinnigen Freundes Numos geradewegs in eine Falle fliegen.«
»Ich hätte noch eine weitere Sorge, die ich dazu beisteuern kann. Wenn Ihre Annahme zutrifft, was die Herkunft und den möglichen Zweck der Hypernet-Portale angeht, wagen Sie es dann zu siegen, Captain Geary?«
»Zu siegen?« Unwillkürlich musste er lachen. »Glauben Sie etwa, ich spiele mit dem Gedanken, diesen Krieg zu gewinnen? Ich will diese Flotte sicher nach Hause bringen, Madam Co-Präsidentin. Dabei wird es mir vielleicht möglich sein, den Syndiks den einen oder anderen Rückschlag zu bescheren. Aber ich bin nicht dem Irrglauben verfallen, diese Pattsituation auflösen zu können.«
»Aber Sie sind auf eine Waffe gestoßen, die genau das bewirken könnte.«
Geary atmete tief ein und ließ die Luft langsam aus seinen Lungen entweichen, ehe er antwortete: »Das ist eine Waffe, die ich aus freien Stücken nicht einsetzen werde. Ich hoffe, ich muss sie niemals einsetzen, aber ganz sicher nicht aus freien Stücken. Bewahren Sie sie sicher auf, Madam Co-Präsidentin. Wenn wir zu Hause angekommen sind, wird es bestimmt jemanden geben, dem Sie dieses Wissen anvertrauen können.«
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Da irren Sie sich, Captain Geary. Niemandem kann man ein solches Wissen anvertrauen.«
»Wollen Sie die Disk zerstören?«
»Und wenn ich es mache?«
Einen Augenblick lang dachte er darüber nach. »Das werde ich wohl nie erfahren. Das ist ganz allein Ihre Entscheidung.«
Rione stand auf, kam näher und musterte ihn eindringlich. »Ich werde aus Ihnen nicht schlau. Jedes Mal wenn ich glaube, Sie zu kennen, tun Sie etwas, das nicht zu den Dingen passt, die ich über Sie weiß.«
»Vielleicht strengen Sie sich einfach zu sehr an«, meinte er und grinste humorlos. »Ich bin gar nicht so komplex.«
»Unterschätzen Sie sich nicht, Captain Geary. Sie sind sogar noch komplexer als die Theorie, auf denen die Hypernet-Portale basieren. Ich hoffe nur, dass ich letzten Endes doch noch aus Ihnen schlau werde.«
Er nickte. »Wenn Sie das geschafft haben, dann sagen Sie mir Bescheid, damit ich auch weiß, wer ich bin.«
»Das werde ich machen.« Rione wandte sich zum Gehen, sah aber über die Schulter zu ihm. »Entweder sind Sie der gefährlichste Demagoge, der sich nach außen hin so ehrlich und anständig gibt, dass ihn niemand hassen oder ihm misstrauen kann, oder aber ich habe Sie schon wieder falsch eingeschätzt. Ich hoffe sehr, dass ich mich irre, Captain Geary. Sonst sind Sie nämlich sogar noch gefährlicher, als ich es bis jetzt geglaubt habe.«
Er sah ihr nach und verspürte trotz ihres offensichtlichen Misstrauens und ihrer Feindseligkeit ein Gefühl von Bestätigung. Wenn es in dieser Flotte jemanden gab, dem er diese Disk anvertrauen konnte, dann diese Frau. Gefährlich. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich über dieses Attribut noch gelacht, aber jetzt weiß ich, dass eine Waffe existiert. Was ich mit diesem Wissen mache, könnte nicht nur für die Allianz den Untergang bedeuten.
Was wissen die Syndiks? Sie haben diesen verdammten Krieg begonnen. Warum? Wussten sie irgendetwas, das sie zu diesem Schritt zwang?
Geary hatte das seltsame Gefühl ganz vergessen, das auftrat, wenn man sich zu lange Zeit ununterbrochen im Sprungraum aufhielt. Es war so, als wäre die Haut nicht mehr die eigene und als würde sie nicht mehr richtig sitzen. Aber davon nahm er jetzt kaum etwas wahr, da er auf der Brücke der Dauntless saß und darauf wartete, dass die Flotte den Sprung verließ. Nur noch ein paar Minuten, und er würde wissen, ob seine Taktik zumindest teilweise erfolgreich wäre. Und innerhalb weniger Tage würde er höchstwahrscheinlich erfahren, was geschah, wenn ein Hypernet-Portal vernichtet wurde.
Das Display für Sancere trieb gleich neben seinem Platz. Die Allianz besaß nur wenige Informationen über das System, und selbst die Syndik-Sternenkarte bot kaum mehr Brauchbares, weil die Standorte von Verteidigungsanlagen und deren Personalausstattung geheim waren. Sicher war nur, dass Sancere reich an Ressourcen und Sprungpunkten war. Acht nennenswerte Planeten kreisten um die Sonne, zwei kleinere in einem engen Orbit, zwei in einer Entfernung, die sie bewohnbar machte — einer von ihnen mit nahezu perfekten Bedingungen —, dann ein kälterer, aber immer noch brauchbarer Planet sowie drei weit entfernte Gasriesen mit beträchtlichen Rohstoffvorkommen. Die Allianz-Flotte würde jenseits des Orbits des äußersten Gasriesen in den Normalraum zurückkehren, womit sie vom Stern selbst rund dreieinhalb Lichtstunden entfernt waren.
»Eine Minute bis Sprungende«, meldete Captain Desjani ruhig.
Geary sah sich auf der Brücke um. Alle Wachhabenden wirkten nervös, aber auf eine aufgeregte, nicht auf eine verängstigte Weise. Unwissenheit ist ein Segen, dachte er. Nein, das kann nicht richtig sein. Es macht mich wahnsinnig, wenn ich etwas nicht sofort weiß. Unwissenheit kann nur dann ein Segen sein, wenn einem gar nicht klar ist, dass man etwas nicht weiß.
Er dachte noch immer darüber nach, als sich die Luke zur Brücke wieder öffnete und Co-Präsidentin Rione hereinkam, um sich auf den Beobachterplatz zu setzen, der seit ihrem Streit mit Geary im Sutrah-System leer geblieben war. Als er zu Rione sah, trafen sich ihre Blicke. Ihr Gesicht zeigte keine Regung, und ihre Augen ließen nicht erkennen, was sie in diesem Moment fühlte. Geary musste zurückdenken an seine Zeit als Oberfähnrich, wenn die Prüfer im Schiffssimulator hinter ihm standen und darauf lauerten, dass ihm irgendein Fehler unterlief.
Captain Desjani begrüßte Rione höflich, gab sich aber abweisend. Ihr war die frostige Atmosphäre zwischen Geary und Rione nicht entgangen, und Tanya Desjani konnte gar nicht anders, als sich hinter Geary und damit gegen jeden zu stellen, der etwas gegen ihn hatte. Da er einen offenen Schlagabtausch auf der Brücke der Dauntless vermeiden wollte, bei dem er zwischen den Fronten stehen würde, suchte er nach einer Ablenkung. »Captain Desjani, ich möchte der Crew der Dauntless eine Mitteilung machen.«
Sie wandte ihren Blick von Co-Präsidentin Rione ab und nickte Geary zu. »Selbstverständlich, Sir.«
Er tippte auf die notwendigen Kontrollen. Natürlich hätte er Desjani nicht erst fragen müssen, aber es wäre aus seiner Sicht unangemessen gewesen, sich an die Crew zu wenden, ohne zuvor den Captain um Erlaubnis zu bitten. »An die gesamte Besatzung, hier spricht Captain Geary. Wir erreichen in wenigen Augenblicken das Sancere-System. Ich weiß, Sie alle werden Ihr Äußerstes geben, um die Ehre der Flotte und der Allianz zu wahren. Mögen die lebenden Sterne uns einen ruhmreichen Sieg bescheren, und mögen unsere Vorfahren uns wohlgesinnt sein.« Einerseits hätte er gar nichts sagen müssen, weil es Selbstverständlichkeiten waren. Andererseits aber waren das aufmunternde Worte von der Art, die ein echtes menschliches Bedürfnis erfüllten. Unwillkürlich fragte er sich, ob diejenigen, die der Menschheit die Hypernet-Portale gegeben hatten, wohl ähnlich dachten und empfanden.
»Unsere Vorfahren haben uns bis hierher geführt«, merkte Desjani in viel sanfterem Tonfall an. Sie sah ihn an und ließ unausgesprochen, dass die Vorfahren auch Geary selbst zur Flotte geführt hatten. Doch ihm war nur zu bewusst, dass sie das in Gedanken anfügte.
Ihr Glaube konnte bisweilen zermürbend sein, aber sie war nur eine von vielen Tausenden in der ganzen Flotte, die so dachten. Ich frage mich, ob Captain Falco je das Gefühl empfand, dem Glauben nicht gerecht zu werden, den andere an ihn hatten. Machte er sich überhaupt darüber Sorgen, solange die Leute ihn nur für großartig hielten? So wie ich ihn kennengelernt habe, verbringt Falco nicht viel Zeit damit, sich über andere Menschen Sorgen zu machen. Und das betrifft auch seine eigene Fähigkeit, den Glauben der anderen in ihn zu rechtfertigen. Ich schätze, wenn man von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt ist, erledigen sich einige Ängste ganz von selbst. In der letzten Nacht hatte Geary lange Zeit mit seinen Vorfahren gesprochen, ihnen seine Ängste geschildert und sie um Hilfe gebeten. In Zeiten wie diesen ohne einen Glauben zu leben musste schwierig sein, und er fragte sich, wie andere sich ruhig und gelassen einer Krise stellen konnten, die diesen moralischen Rückhalt nicht besaßen.
»Bereithalten für Sprungende«, meldete ein Wachhabender. »Jetzt.«
Gearys Magen drehte sich leicht um, seine Haut saß gleich wieder fest und straff, und die Sterne erstrahlten wie gewohnt auf den Bildschirmen. Auf dem Display des Sancere-Systems flammten in rascher Folge unzählige Lichtpunkte auf, die Verteidigungsanlagen und Einrichtungen der Syndiks kennzeichneten. Die hatten alle schon existiert, lange bevor sie hier eingetroffen waren, doch die Sensoren der Flotte entdeckten sie in diesen Sekunden zum ersten Mal. Berichte kamen herein, und die Wachhabenden wiesen auf die wichtigsten und bedenklichsten dieser Anlagen hin. Die menschliche Schnittstelle mochte ungenauer und langsamer als die automatisierten Systeme sein, doch all seiner Schwächen und Mängel zum Trotz war der menschliche Verstand immer noch das beste Mittel, um Informationen zu filtern und die wichtigsten hervorzuheben.
»Die Warhelm meldet einen Überwachungssatelliten der Syndiks in der Nähe ihrer Position. Sie meldet, dass sie den Satelliten zerstört hat. Schiffe wurden zwanzig Lichtminuten nach Steuerbord auf der Systemebene ausgemacht und sämtlich als unbewaffnete Mineraltransporter identifiziert. Keine Minen zu entdecken. Sechs, ich wiederhole, sechs Schlachtschiffe der F-Klasse in der Schiffswerft im Orbit um den vierten Planeten. Nur eines von ihnen erscheint einsatzbereit. Acht, ich wiederhole: acht Schlachtkreuzer der D-Klasse an der zweiten Schiffswerft im Orbit um den vierten Planeten. Einsatzstatus unbestimmt. Syndik-Militärbasis in vierzig Lichtminuten Entfernung auf einem Mond des achten Planeten lokalisiert. Neun … nein, zehn Massebeschleuniger in Verteidigungsposition um die Basis herum …«
Geary sah sich rasch sein Flottendisplay an und betätigte eine Taste. »Captain Tulev, veranlassen Sie, dass Ihre Schiffe diese Syndik-Basis nahe dem achten Planeten mit kinetischen Salven ausschalten. Die sollen gar nicht erst die Gelegenheit bekommen, einen Schuss auf uns abzufeuern.«
Es vergingen einige Sekunden, ehe Tulevs Antwort einging. »Bombardierung der Waffenpositionen beginnt jetzt. Was ist mit dem Rest der Basis?«
Ihm blieb jetzt keine Zeit zum Überlegen und Grübeln, er musste agieren, bevor der Feind die Initiative ergriff und ihn zum Reagieren zwang. »Zerstören Sie die gesamte Basis. Wir können es uns nicht leisten, irgendeine Bedrohung im Rücken zu haben.«
Die Basis in der Nähe des fünften Planeten in einer Entfernung von über drei Lichtstunden war allem Anschein nach die nächstgelegene Gefahrenquelle. »Captain Duellos, feuern Sie kinetische Salven auf die Militärbasis im Orbit um den fünften Planeten ab. Die Basis soll nicht mehr existieren, wenn wir dort eintreffen.«
»Duellos verstanden. Bombardierung beginnt in zwei Minuten.«
Geary verkniff sich einen Fluch, als er sah, wie sich seine Formation plötzlich aufzulösen begann, dann aber fiel ihm ein, was da vor sich ging: Es waren die Schiffe seiner Eingreiftruppe Furious, die wie geplant zu einer scheinbar eigenmächtigen Attacke ansetzten. Hoffentlich würden sich die Syndiks davon genauso in die Irre führen lassen, wie es ihm sogar selbst soeben ergangen war. Vorfahren, seid bitte mit Commander Cresida, damit sie kehrtmacht, wenn die Situation es erfordert.
»Syndik-Kriegsflotte zwischen der fünften und der sechsten Welt gesichtet, Entfernung zur gegenwärtigen Position der Flotte 5,8 Lichtstunden. Zehn Schlachtschiffe, sechs Schlachtkreuzer, zwölf Schwere Kreuzer, zehn … Korrektur: elf Jäger. Momentane Position wird mit Zeitverzögerung dargestellt, geschätzte tatsächliche Entfernung jetzt 5,6 Lichtstunden.«
»Nichts, womit wir nicht fertig werden könnten«, erklärte Desjani und lächelte hintergründig. »Und auch nicht annähernd genug leichte Begleitschiffe für die großen Kaliber.«
»Aber auch nichts, was wir auf die leichte Schulter nehmen könnten«, hielt Geary dagegen. »Ich vermute, die großen Schiffe führen hier Übungsflüge durch. Vielleicht weil sie neue Besatzungen erhalten haben, vielleicht weil sie längere Zeit in der Werft waren. Also dürfte das keine tatsächlich gefechtsbereite Formation sein, auch wenn sie sie wahrscheinlich einsetzen, um das System zu bewachen.« Sein Blick wanderte weiter zum Hypernet-Portal. »Da ist niemand. Kein einziges Schiff bewacht das Portal.« Auf einmal leuchteten mehrere Symbole auf. »Was ist das?«
Desjani stutzte und sah sich die Anzeigen an. »Getarnte Verteidigungseinheiten rings um das Portal. Begrenzte Manövrierfähigkeit, leistungsfähige Schutzschilde, mäßige Feuerkraft.«
»Die können manövrieren?«
Sie nickte, um ihre Aussage zu unterstreichen.
»Das heißt, wir können keine Raketen vorausschicken, um sie auszuschalten, weil sie ihnen ausweichen würden.« Er überprüfte die Entfernung. Fast fünf Lichtstunden bis zum Hypernet-Portal. Auch wenn sie über Gefechtsgeschwindigkeit hinaus beschleunigen würden, hätte die Flotte immer noch eine Reisedauer von mindestens fünfunddreißig Stunden vor sich. Eine gehörige Strecke. Aber die Eingreiftruppe Furious »attackiert« eine noch weiter entfernte Syndik-Streitmacht, die davon erst in fast sechs Stunden Notiz nehmen wird. Das dürfe ein Schock für sie werden, aber ich kann nur hoffen, dass die Eingreiftruppe die Syndiks von uns ablenkt. Allerdings will ich auch nicht geradewegs auf das Portal zufliegen, wenn sich das irgendwie vermeiden lassen sollte.
Er probierte verschiedene Optionen an seinem Manöverdisplay aus, plante Kurse zu anderen Syndik-Zielen und verschob sie so, dass die Flugbahn sich dem Portal näherte. Wenn sie einen Bogen durch das System zu den Bergbauanlagen flogen, die sich um einen Gasriesen scharten, der eine Lichtstunde vom Stern Sancere entfernt lag, und dann das Portal ansteuerten, würden sie bei 0,1 Licht ungefähr dreiundfünfzig Stunden für die Strecke benötigen. Nach außen hin würde das Ziel der Allianz-Flotte der Gasriese sein und erst bei einer Entfernung von weniger als zwei Lichtstunden zum Portal wechseln. Doch selbst das bedeutete immer noch über achtzehn Stunden Reisezeit. Das war zwar keine ideale Voraussetzung, doch den Syndiks würde damit nur noch wenig Zeit zum Reagieren bleiben, wenn sie bis dahin nicht schon zusätzliche Einheiten am Portal in Position gebracht hatten.
»Hier«, sprach Geary Desjani an. »Wir werden auf diesen Kurs gehen und den Eindruck erwecken, wir wollten die Bergbau-Anlagen an diesem Gasriesen zerstören, um dann tiefer ins System einzudringen. In Wahrheit ändern wir aber kurz davor den Kurs und steuern das Portal an.«
Sie nickte und befasste sich mit seinem Plan. »Wir können vor dem Wendemanöver noch ein paar Bomben absetzen und damit noch einige Anlagen unbrauchbar machen.«
»Ich überlege, ob wir irgendetwas von ihnen gebrauchen könnten«, sagte Geary. »Ich werde es herausfinden, bevor wir den Punkt erreicht haben, an dem wir das Feuer eröffnen müssten. Es ist ja noch genug Zeit, um mit Captain Tyrosian von der Witch zu reden.« Die leitenden Ingenieure der Hilfsschiffe Titan, Witch, Goblin und Jinn würden wissen, welche Rohstoffe erforderlich waren, um das herzustellen, was die Flotte benötigte, um weiterfliegen zu können. Abermals betrachtete er das Display und spielte mit dem Gedanken, die Formation zu verändern, verwarf ihn dann aber gleich wieder. Es war noch viel zu früh, um zu erkennen, wie die Syndik-Flotte reagieren würde. Außerdem war diese Formation für einen Schlag gegen die Werften und andere Ziele im System genau richtig.
Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich die Kriegsschiffe anzusehen, die im Bau befindlich waren. Was einmal eine ernsthafte Bedrohung darstellen würde, wenn diese Schiffe fertiggestellt und bemannt waren, saß jetzt noch auf dem Präsentierteller und konnte von der Allianz-Flotte mühelos zerstört werden. Allerdings bestand immer noch die Möglichkeit, dass die Syndiks versuchen würden, mit den nahezu fertiggestellten Schiffen zu fliehen. Neben den fast kompletten Schiffen konnte er auch Komponenten ausmachen, die bei weiteren Schlachtschiffen und Schlachtkreuzern Verwendung finden sollten. All das ließ sich ohne Weiteres zusammen mit den Werften vernichten.
»Das ist schon seltsam«, stellte Co-Präsidentin Rione fest. Sie war von der Situation so gebannt, dass ihre Stimme jegliche Kälte verloren hatte. »Wir befinden uns im Krieg und wählen unsere Angriffsziele aus, und gleichzeitig weiß in diesem System praktisch niemand etwas von unserer Ankunft.«
»Das wird sich bald ändern«, erwiderte Captain Desjani mit einem finsteren Lächeln. »Sobald das Licht von unserer Ankunft sie erreicht, werden viele Syndiks anfangen, zu ihren Vorfahren zu beten.«
Geary musste zugeben, dass es interessant war, sich die Reaktion der Anführer und der Bürger der Syndikatwelten vorzustellen, wenn sie die Ankunft der Allianz-Flotte bemerkten. Auf seinem System-Display war um die Flotte herum eine Blase zu sehen, die die Bewegung des Lichts im Verhältnis zum gesamten Sancere-System darstellte. Er sah zu, wie diese Blase sich ausdehnte, deren vorderster Punkt den äußeren Gasriesen hinter sich gelassen hatte und sich weiter auf die nächsten Planeten zu bewegte. Sobald das Licht der Flotte sie erreichte, würden die Montanschiffe und die Orbitaleinrichtung auf den Alarm reagieren, den automatische Systeme auslösten, sobald sich ein Feind näherte. Sie würden auf ihre Anzeigen schauen und nicht glauben wollen, was sie zu sehen bekamen. Dann würden sie ihre Geräte überprüfen, um sich zu vergewissern, und sich eine vergrößerte Darstellung zeigen lassen. Es war zu hoffen, dass viele von ihnen sich weigerten, den Alarm ernst zu nehmen, und Anfragen an ihre Vorgesetzten schickten, mit denen sie um eine Bestätigung der Alarmmeldung baten. Anfragen, die Stunden brauchen würden, ehe sie ihre Adressaten erreichten. Diejenigen, die keine Zweifel hatten, würden ebenfalls Anfragen übermitteln, um Anweisungen zu erhalten, wie auf diese Bedrohung reagiert werden sollte.
All diese Nachrichten würden fast gleichzeitig bei den Syndik-Führern eingehen, nachdem man das Licht der Allianz-Flotte in diesem Sternensystem wahrgenommen hatte, und damit für zusätzliche Verwirrung sorgen. Und während jeder seine Beobachtung auch allen anderen im System mitteilte und hektische Rückmeldungen versandt wurden, würde das Kommunikationsnetz allmählich auf eine Überlastung zusteuern, was bedeutete, dass die Mitteilungen mit noch größerer Verzögerung beim Empfänger eintrafen, dessen Reaktion umso später entgegengenommen werden konnte.
Vielleicht würden die Verzögerungen sogar den Vorteil wettmachen, den die Syndiks bei der Verteidigung ihres eigenen Systems hatten.
»An alle Einheiten«, wies Geary an. »Achten Sie ständig auf mögliche kinetische Projektile, die auf uns abgefeuert werden, sowie auf treibende Minenfelder.« Er unterbrach sich, nahm noch einmal die gegenwärtige Situation zur Kenntnis, dann entschied er sich für den Kurs, der einen Angriff auf den am nächsten zur Sonne gelegenen Gasriesen vortäuschte. »Alle Einheiten der Hauptflotte, hier spricht Captain Geary. Gehen Sie nach Steuerbord auf Kurs drei drei neun, vier Grad nach unten, bei Zeit fünf eins.«
Die Darstellung der Schiffe von Gearys Flotte auf dem Display flackerte in grünen Wellen, die sich von der Dauntless her ausbreiteten, während jedes Schiff seinen Befehl erhielt und bestätigte. Das war ein völlig anderer Anblick als der wilde Haufen, den er vorgefunden hatte, als er diese Flotte bei Corvus befehligte. Unwillkürlich musste er lächeln.
Eine eingehende Nachricht lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. »Hier ist die Furious. Wir setzen den Angriff fort. Nächstes Ziel wird der fünfte Planet sein.«
Geary nickte beiläufig, bis er Riones argwöhnischen Blick bemerkte. »Das wird natürlich nicht passieren«, erklärte er ihr. »Sie werden einen Angriff auf den fünften Planeten vortäuschen und dann beidrehen.« Zumindest hoffe ich das.
Captain Desjani meldete sich schüchtern zu Wort. »Unsere leichten Einheiten, die die Backbordflanke abschirmen, werden den Montanschiffen am äußersten Gasriesen recht nah kommen.«
»Ja.« Okay, diesmal haben Sie recht. Diese Schiffe sind berechtigte Ziele, weil sie ein wichtiges industrielles Kapital in diesem System darstellen.
»Vierte Kreuzerdivision, Sechstes und Siebtes Zerstörergeschwader, sobald wir den äußersten Planeten passieren, feuern Sie auf die in Reichweite befindlichen Handelsschiffe. Manövrieren Sie eigenständig so, wie es nötig ist, um die Ziele zu erfassen. Informieren Sie zuvor deren Besatzungen, dass sie ihre Schiffe evakuieren sollen.« Damit hatte er das militärisch Notwendige angewiesen und war seiner humanitären Pflicht nachgekommen.
Das Systemdisplay, das nach wie vor auf neue Informationen stieß und sie einordnete, kennzeichnete Syndik-Verteidigungssysteme auf verschiedenen Monden und hob auch Hauptquartiere und Koordinationszentren auf Planeten und in Orbitaleinrichtungen hervor. Geary studierte die Fülle an Zielen, die sich auf einem festen Orbit befanden und auf Objekten zu finden waren, die ihrerseits einem festen Orbit folgten. Es war eine immense Auswahl, die ihm da geboten wurde. Er markierte Syndik-Schlachtschiffe und -Schlachtkreuzer, die noch in den Werften festgemacht waren, dann bat er das Gefechtssystem, einen Angriffsplan für alle militärischen oder mit dem Militär verbundenen Einrichtungen vorzuschlagen. Sekunden später wurde dieser Plan angezeigt, der auch kennzeichnete, welche Schiffe sich für das jeweilige Ziel in der günstigsten Position befanden, um kinetische Projektile abzufeuern. Geary ging die Aufstellung durch, konnte nichts Ungewöhnliches entdecken, tippte auf ›Zustimmen‹ und gleich danach auf ›Ausführen‹.
Die Schiffe der Allianz-Flotte begannen, einen Regen aus Projektilen abzufeuern, die sich auf die Verteidigungsanlagen der Syndiks zubewegten — einen Regen, den kein Schirm abhalten konnte. Die Syndik-Vorgesetzten, die sich in wenigen Stunden beratschlagen würden, sobald die Nachricht von der Ankunft der Flotte die Runde machte, sollten nur wenig später mit ansehen müssen, dass das Bombardement bereits unmittelbar bevorstand. In gewisser Weise war es bedauerlich, dass die Waffen bis zu ihren Zielen länger benötigten als das Licht, das ihre Annäherung verkündete, aber da diese Ziele den Geschossen weder ausweichen noch sie abwehren konnten, würde ihr Anblick lange vor dem verheerenden Einschlag die aufkommende Panik nur noch verstärken.
Die Gefechtssysteme wiesen auch darauf hin, dass der Witch, Jinn, Goblin und Titan der Befehl gegeben werden sollte, vorrangig Ersatz für die abgefeuerten kinetischen Projektile zu produzieren. Geary tippte auf die entsprechenden Kontrollen, um diese Information an Captain Tyrosian weiterzuleiten. Von hier draußen, am Rand des Systems, erschien das alles so mühelos und einfach. Je weiter die Flotte ins System vordrang und sich den Syndiks so weit näherte, dass die Reaktionszeiten nur noch Sekunden oder Minuten anstelle von Stunden betragen würden, umso stärker würde der Eindruck der Mühelosigkeit schwinden. Und sobald die kinetischen Geschosse ihre Ziele erreichten, würde eine Welle der Vernichtung die Welten überrollen, die um die Sonne von Sancere kreisten. Bei dem Gedanken daran, wie viele Allianz-Schiffe bei jenem Hinterhalt im Heimatsystem der Syndiks zerstört worden waren, bevor er das Kommando über die Flotte übernahm, verspürte Geary eine düstere Befriedigung, wenn er sich vorstellte, wie die Syndik-Führer reagieren würden, sobald sie vom Angriff auf Sancere erfuhren. Ihr dachtet, wir wären so verängstigt, dass wir um jeden Preis vor euch weglaufen würden. Jetzt werdet ihr sehen, wie sehr ihr euch geirrt habt.
Eine Sache musste noch erledigt werden. Geary richtete sich in seinem Sessel auf und nahm eine möglichst professionelle Haltung ein, dann setzte er zu einer Mitteilung an das gesamte Sternensystem an: »Bewohner des Sancere-Systems, hier spricht Captain John Geary, befehlshabender Offizier der Allianz-Flotte. Wir attackieren alle militärischen Ziele in diesem System. Alle übrigen Personen, Schiffe, Bürger, Kolonien, orbitale Einrichtungen und Planeten werden hiermit aufgefordert, sich sofort und bedingungslos zu ergeben. Wer sich ergibt, wird von uns dem Kriegsrecht entsprechend behandelt. Wer sich nicht ergibt, riskiert, als militärisches Ziel angesehen und von uns zerstört zu werden. Jeder Angriff sowie jeder Versuch eines Angriffs auf die Schiffe der Allianz-Flotte wird von uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln erwidert. Auf die Ehre unserer Vorfahren, hier spricht Captain John Geary, befehlshabender Offizier der Allianz-Flotte.«
Er beendete die Übertragung und atmete tief durch, um zur Ruhe zu kommen. »Ich tauge nicht als Schauspieler«, wandte er sich an Captain Desjani.
»Meiner Ansicht nach hat sich das beeindruckend angehört«, erwiderte sie. Desjanis Einstellung zum Abschlachten von Syndiks war unter Gearys Einfluss deutlich geringer geworden, trotzdem gefiel ihr offenbar die Drohung eines Massenmordes, die Geary soeben gesendet hatte.
Gut eineinhalb Stunden später passierte die Flotte den äußersten Gasriesen, und die Kreuzer und Zerstörer auf der dem Planeten zugewandten Seite machten einen Schwenk in dessen Richtung, um die großen, schwerfälligen Montanschiffe außer Gefecht zu setzen. Die Darstellung der optischen und Spektralscans zeigte Geary dunkle Umrisse, die sich vor dem Hintergrund des blassgrünen Gasriesen bewegten, während seine Kriegsschiffe vorbeiflogen und die geladenen Partikelspitzen ihrer Höllenspeere die unbewaffneten Montanschiffe in Stücke rissen. Als er sich zusätzliche Informationen anzeigen ließ, konnte Geary die winzigen Rettungskapseln ausmachen, die sich zügig von den Montanschiffen entfernten und in alle Richtungen davoneilten. Geary rief eine andere Darstellung auf und bekam mithilfe von feinen Linien den voraussichtlichen Kurs seiner Kriegsschiffe und der zivilen Schiffe angezeigt.
Aus der Ferne betrachtet, konnte ein Krieg ausgesprochen schön aussehen. Da Geary den Krieg aber aus der Nähe erlebt hatte, fiel es ihm nicht schwer, diesen schönen Schein zu durchschauen und stattdessen die zerfetzten Schiffe und ihre verzweifelten Besatzungen zu sehen, die jahrelange Arbeit, die innerhalb von Sekunden durch den Beschuss eines Kriegsschiffs zunichte gemacht wurde. Selbst ein großartiger Sieg war alles andere als ansprechend, wenn man sich an Deck eines der beteiligten Schiffe befand.
Sich ausbreitende Trümmerwolken kennzeichneten die Überreste der Orbitaleinrichtungen, die bereits mit der Gewalt der kinetischen Salven Bekanntschaft gemacht hatten. »Das Licht unseres Bombardements der Syndik-Militärbasis auf dem großen Mond des achten Planeten erreicht uns jetzt«, ließ Desjani ihn wissen.
Geary schaltete die Darstellung um. Die optischen Sensoren der Dauntless lieferten trotz der immensen Entfernungen bemerkenswert klare Bilder. In diesem Fall nahmen ihm jedoch Wolken die Sicht, die sich aus aufgewirbeltem Staub und Trümmerstücken der militärischen Einrichtung zusammensetzten. Die Bilder, die unmittelbar nach dem Einschlag der Projektile und vor dem Aufsteigen der Staubwolken empfangen worden waren, hatten dem Gefechtssystem des Schiffs erlaubt, eine Einschätzung des angerichteten Schadens zu liefern. Alle Angriffswaffen waren zerstört, alle Verteidigungssysteme eliminiert worden; Kommunikations- und Kontrollsysteme waren zertrümmert worden, als tonnenschweres Metall mit einem guten Teil der Lichtgeschwindigkeit einschlug. Was dem Angriff nicht ausweichen konnte, wurde zermalmt. »Das ist kein Krieg, das ist Mord.«
Desjani sah Geary überrascht an.
»Ich weiß«, fuhr er sogleich fort. »Es ist notwendig. Aber die Syndiks in diesen Basen haben keinerlei Überlebenschance, und ich kann mich nicht über die Tatsache freuen, dass diese armen Teufel dem Tod ausgeliefert sind.«
Desjani schien zu überlegen, dann nickte sie. »Sie bevorzugen einen ehrlichen Kampf. Das ist zweifellos ehrbar.«
»Ja.« Das war ein Punkt, in dem er und die modernen Matrosen einer Meinung sein konnten. Geary schaute abermals auf sein Display. Seine leichten Einheiten hatten die Syndik-Schiffe nahe dem Gasriesen ausgelöscht und kehrten in die Formation zurück. Es würden noch Stunden vergehen, bevor die Syndik-Befehlshaber dieses Systems die Allianz-Flotte sehen konnten. So wie unzählige menschliche Militärstreitkräfte vor ihnen musste auch diese Flotte sich dem uralten Ritual unterwerfen, erst in aller Eile zu handeln und dann wieder geduldig warten zu müssen.
Er musterte die Syndik-Flotte, deren um fast sechs Stunden verzögerte Darstellung derzeit kaum etwas zu bedeuten hatte. Wenn die Flotte ihrem Kurs weiter gefolgt war, würde sie sich jetzt dort befinden, wo sie auf dem Display angezeigt wurde. Eine Kursänderung dagegen konnte auch bei einer Geschwindigkeit von 0,1 Licht zu einer deutlich anderen Position führen. Er musste unbedingt darauf achten, dass er diese Flotte mit Vorsicht behandelte. Wenn ich angesichts dieser ersten, leicht errungenen Erfolge zu selbstsicher werde, könnten mich die Syndiks überraschen und uns Verluste zufügen, die in keinem Verhältnis zu ihrer Flottenstärke stehen. Aber sie sind dennoch nicht zahlreich genug, um für uns eine Bedrohung darzustellen. Wenn es Cresida gelingt, mit ihrer Formation die Aufmerksamkeit der Syndiks lange genug auf sich zu lenken, werden deren Kriegsschiffe nicht vor uns das Hypernet-Portal erreichen können. Das sieht sehr gut aus.
Rote Symbole flammten plötzlich in der Nähe des Portals auf, Gearys Blick zuckte hinüber. Weitere gleichartige Symbole folgten, während er versuchte, ihnen allein durch seine Willenskraft Einhalt zu gebieten. Zu früh gefreut. Haben die Syndiks doch durchschaut, was wir vorhatten? Haben sie es von Überlebenden der Schiffe erfahren, die Falco gefolgt waren? Aber sie könnten doch gar nicht genug Zeit gehabt haben, um darauf zu reagieren und Verstärkung herzuschicken.
Nicht zu viele Kriegsschiffe. Keine zu große Streitmacht. Vorfahren, ich bitte euch, lasst es nur eine kleine Flotte sein, mit der wir zurechtkommen können. Wir können dieses System nicht verlassen, ohne zuvor noch Vorräte an Bord zu nehmen.