Zehn

Nach Sancere wirkte Ilion karg und verlassen. Auf einer einzelnen, nur gerade eben bewohnbaren Welt fanden sich ein paar umschlossene Städte, von denen eine wegen Mangels an Einwohnern bereits aufgegeben worden war. Der Flugverkehr innerhalb des Systems beschränkte sich auf ein paar alte Schiffe, die zwischen der bewohnten Welt und einigen veralteten Industrieanlagen in der Nähe eines Asteroidengürtels pendelten. Kriegsschiffe waren nirgends zu sehen, und die Syndik-Militärbasis auf einem Mond im Orbit um einen Gasriesen hatte man eingemottet.

Geary beschloss, mit den Bewohnern der Syndik-Welt erst gar nicht Kontakt aufzunehmen. Er hatte nicht die Absicht, mit der Flotte diesen Planeten anzufliegen, und er konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie irgendetwas von Wert zu bieten hatte. Eine genauere Untersuchung der Militärbasis ergab, dass man nicht nur alle Vorräte, sondern auch einen Teil der fest installierten Ausrüstung mitgenommen hatte. »Sieht so aus, als hätten sie diese Basis über einen Zeitraum von einigen Jahrzehnten immer weiter ausgeschlachtet«, überlegte Desjani. »Da Sancere so nahe ist, muss längst jeder von hier weggegangen sein.«

»Und was glauben Sie, warum die Syndiks den Planeten nicht längst geräumt haben?«, fragte Geary.

»Ich möchte wetten, es wäre ein teures Vergnügen, all diese Leute von hier wegzubringen. Wahrscheinlich hat man sie sich selbst überlassen, weil die Kosten-Nutzen-Rechnung der Syndiks gegen eine Evakuierung spricht.«

»Einfach im Stich gelassen, meinen Sie«, sagte er nachdenklich und fragte sich, wie sich die Menschen dort wohl fühlten. Man ließ Ausrüstung zurück, weil ihr Abtransport zu kostspielig war, aber die Menschen mussten bleiben? Er hätte nicht erwartet, dass jemand so etwas tun würde. Wie lange konnten diese Leute von dem leben, was sie anbauten, herstellten und abbauten? Ganz sicher schrumpfte die Bevölkerungszahl kontinuierlich, sodass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis auch der letzte Mensch auf Ilion sterben würde. Er hatte mittlerweile einige Systeme zu Gesicht bekommen, die durch die Einrichtung der Hypernet-Portale in Vergessenheit geraten waren, doch Ilion hatte es bisher von allen am härtesten getroffen. »Bringen wir die Flotte in Position, damit der Sprungpunkt von Strena gesichert ist.« Wenn Schiffe unter Falcos Kommando überlebt haben sollten, dann würden sie über Strena hereinkommen müssen. »Ich möchte, dass wir zehn Lichtminuten vom Sprungpunkt entfernt sind. Wenn ein Schiff durchkommt, könnte es schnelle Hilfe benötigen.«

Er warf einen Blick auf sein Display und sah, dass die Flotte bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit gut zwei Tage benötigen würde, um den Sprungpunkt zu erreichen. »Ich schätze, es wird mal wieder Zeit für eine Flottenkonferenz.«

Es war ein gutes Gefühl, dass die Befehlshaber der dreißig Schiffe der Eingreiftruppe Furious wieder mit am Tisch saßen. Und es war ein gutes Gefühl zu sehen, dass alle mit dem Verlauf der Geschehnisse bei Sancere sehr zufrieden waren. Zumindest für den Augenblick schien niemand bereit, offen Feindseligkeit oder auch nur Antipathie erkennen zu lassen. Einmal mehr hatte Co-Präsidentin Rione beschlossen, nicht an der Konferenz teilzunehmen, was Geary zu der Frage brachte, welche Ziele sie eigentlich verfolgte. Warum begnügte sie sich mit Berichten aus zweiter Hand, anstatt selbst anwesend zu sein, um Fragen zu stellen und Einwände zu erheben? Sie musste doch wissen, dass er es nicht falsch auffassen würde, solange sie begründete Vorbehalte zur Sprache brachte.

Die Tage im Sprungraum auf dem Weg von Sancere nach hier hatten nach dem unablässigen Druck der dortigen Operationen weitestgehend der Erholung gedient. Da während der Schlafphasen kein Alarm losging, hatte Rione tatsächlich schlafen können, wenn sie mit ihm das Bett teilte, und es schien ihr auch gefallen zu haben. Und doch kam kein erklärendes Wort, warum sie nicht an der Konferenz teilnahm. Diese Frau war und blieb ihm ein Rätsel.

»Wir können nur mutmaßen, was aus den Schiffen geworden ist, die die Flotte verlassen haben«, sagte Geary zu den versammelten Schiffskommandeuren. Dabei vermied er ganz bewusst Begriffe wie Meuterer oder Deserteure. »Unsere Simulationen haben Folgendes ergeben: Falls einige dieser Schiffe die Konfrontation mit einer massiv überlegenen Syndik-Streitmacht bei Vidha überlebt haben sollten, dürften sie am ehesten versucht haben, über diese Sterne nach Ilion zu gelangen, wobei sie ihren letzten Zwischenstopp bei Strena eingelegt haben müssten.« Er beschönigte die Situation nicht, weil es die schlichte, wenn auch unerfreuliche Wahrheit war. Falls keines der Schiffe überlebt hatte, dann sollte sich niemand in seiner Flotte die Frage stellen müssen, woran das wohl gelegen haben könnte. »Wenn diese Schätzungen zutreffen, werden die Schiffe, die sich uns wieder anschließen wollen, frühestens ab morgen Abend und spätestens in vier Tagen hier eintreffen.«

»Wie lange werden wir warten?«, wollte der Commander der Dragon wissen.

Für ein paar Sekunden betrachtete Geary das Display, dann antwortete er: »Mindestens bis zum Ende dieser vier Tage. Wie viel länger, darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wir können nicht unendlich lange warten, aber wenn eines der Schiffe hier eintrifft, dann will ich dabei sein.«

»Und wenn die Syndiks sich zuerst hier blicken lassen?«, fragte der Captain der Terrible.

»Wenn es innerhalb dieser vier Tage geschieht, werden wir kämpfen. Danach wird meine Entscheidung von einer Vielzahl Faktoren abhängen.« Die Anwesenden nickten, einige zustimmend, andere lediglich in Anerkenntnis der Tatsache, dass er das Kommando hatte. Das war immerhin schon mal etwas. »Wenn die Syndiks den Schiffen auf den Fersen sind, die sich uns wieder anschließen wollen, dann erwartet uns ein Kampf. Es ist davon auszugehen, dass wir die eintreffenden Schiffe beschützen müssen, weil die Syndiks ihnen schwer zugesetzt haben dürften. Außerdem müssen wir unser Bestes geben, um die Syndik-Streitmacht so umfassend wie möglich auszulöschen.«

Geary deutete auf die Darstellung der Sterne. »Sobald wir die fehlenden Schiffe wieder in unsere Flotte aufgenommen und die möglichen Verfolger abgewehrt haben, beabsichtige ich, Kurs auf Tavika zu nehmen.« Einige der Versammelten begannen zu lächeln, da sie sich mit Tavika wieder dem Gebiet der Allianz näherten. »Tavika bietet uns drei Möglichkeiten für unseren nächsten Sprung. Wenn Baidur sicher aussieht, werden wir uns dorthin begeben.« Weitere lächelnde Gesichter waren zu sehen. Wenn sie Baidur erreichten, hatten sie die Strecke wettgemacht, die sie durch den Sprung nach Sancere verloren hatten. »Zu diesem Zeitpunkt ist in den höheren Kommandoebenen der Syndiks an vielen Orten — deren Heimatsystem eingeschlossen — noch nichts davon bekannt, dass wir Sancere einen Besuch abgestattet haben. Das heißt, sie ahnen vorläufig noch nicht, wo wir eigentlich sind. Wenn sie hören, dass wir bei Sancere waren, können sie ihre Suche nach uns fortsetzen, aber so schnell werden sie unsere Fährte nicht aufnehmen können.«

Er machte eine kurze Pause und sah sich am Konferenztisch um. »Falls Schiffe zu uns zurückkehren, müssen wir uns ein Bild von deren Zustand machen. Sollten die Schäden zu groß sein, werde ich deren Evakuierung anordnen müssen. Machen Sie sich also darauf gefasst, zusätzliches Personal an Bord zu nehmen, falls es dazu kommt. Im Idealfall werden wir kein Schiff zurücklassen müssen. Auf keinen Fall werden wir irgendwelche von unseren Leuten zurücklassen, ganz gleich wie sich die Umstände gestalten. Gibt es noch Fragen?«

Es gab keine Fragen. Alle verhielten sich fast schon zu gehorsam. Vielleicht war er ja paranoid, aber Geary konnte nicht recht glauben, dass keiner der Commander, die ihm mit Skepsis begegnet waren, auf einmal bereit sein sollte, alles zu schlucken und kein Widerwort zu geben. Aber vielleicht waren sie auch nur müde und erschöpft, schließlich war es bereits spät an diesem Schiffstag. »Ich danke Ihnen.«

Nachdem die anderen »aufgebrochen« waren, blieb Captain Duellos’ Bild noch am Tisch, sein Blick war auf das Display gerichtet. »Es ist frustrierend, dass wir nichts anderes tun können als abzuwarten und zu hoffen, dass wenigstens ein paar von diesen Schiffen auftauchen, nicht wahr?«

»Sehr frustrierend«, stimmte Geary ihm zu und ließ sich in seinen Sessel fallen. »Warum ist jeder so ruhig gefügig? Warum stellt keiner irgendwelche Fragen?«

Duellos warf Geary einen rätselhaften Blick zu. »Weil jeder so frustriert ist wie Sie und ich. Die Leute wollen diesen Dummköpfen helfen, die Falco hinterhergerannt sind. Aber ihnen fällt auch nichts Besseres ein als zu warten, ob sie es bis nach Ilion schaffen. Selbst der schlimmste Skeptiker in dieser Flotte akzeptiert das Risiko, das Sie mit dieser Entscheidung eingehen. Wäre Falco hier, um sie alle mit einem idiotischen Plan dazu zu bringen, von einem System zum nächsten zu springen, um nach diesen Schiffen zu suchen, sähe es vielleicht anders aus. Aber Falco wollte nicht warten, bis er noch mehr Unterstützer auf seine Seite gezogen hatte.«

»Glück für mich, würde ich sagen«, kommentierte Geary finster.

»Glück für alle Schiffe, die ihm nicht gefolgt sind«, korrigierte Duellos ihn. »Freuen Sie sich, Captain Geary. Die Dinge laufen gut.«

»Sie könnten schlechter laufen.« Geary hielt inne. »Okay, ich möchte Ihnen eine persönliche Frage stellen. Die mich betrifft.«

»Die Sie betrifft? Oder die Sie und die Eiserne Lady alias Co-Präsidentin Victoria Rione von der Callas-Republik betrifft?«

Geary lächelte. »Die eiserne Lady?«

»Sie ist eine knallharte Frau«, erläuterte Duellos. »Von der Sorte, die eine wertvolle Freundin und eine gefährliche Feindin darstellt.«

»Das ist eine gute Beschreibung für sie«, stimmte er ihm zu.

»Aber wie ich hörte, verstehen Sie sich mit ihr momentan ganz gut.«

»Das kann man so sagen. Die ganze Flotte weiß davon, oder?«

Duellos nickte. »Ich habe nicht jeden Matrosen in der Flotte persönlich befragt, aber es dürfte schwierig sein, jemanden zu finden, der es nicht weiß.«

»Niemand sagt irgendetwas dazu.«

»Was sollen wir sagen?«, gab Duellos zurück. »Herzlichen Glückwunsch? Oder sollen wir Sie fragen, welche Taktik Sie angewandt haben, um Ihr Ziel zu erreichen?«

Geary musste über die ironische Retoure lachen. »Ein gutes Argument. Ich will eigentlich nur wissen, ob das irgendwelche Probleme verursacht. Ich weiß, dass Numos und seine Freunde mir aus meiner Beziehung zu Rione bereits einen Strick drehen wollten, als die Gerüchte noch jeglicher Grundlage entbehrten.«

»Ich habe hier und da etwas mitbekommen«, gestand Duellos ein. »Wie ich Ihnen schon einmal sagte, ist das ganz allein Ihre Sache und hat mit Ihrer Befähigung als Befehlshaber nichts zu tun. Solange Sie und Co-Präsidentin Rione sich in der Öffentlichkeit zurückhalten, würde ich nicht davon ausgehen, dass irgendjemand sich darüber mokiert. Jedenfalls nicht nach außen. Diejenigen, die gegen Sie eingestellt sind, werden versuchen, das in ein schlechtes Licht zu rücken. Allerdings glaube ich nicht, dass die Sache viel Staub aufwirbeln wird, wenn Sie beide so weitermachen wie bisher. Die gehässigste Behauptung, die jemand aufstellen könnte, wäre die Unterstellung, Sie hätten Co-Präsidentin Rione zu einer Art Konkubine gemacht. Aber niemand, der die Frau je kennengelernt hat, würde ein solches Gerücht auch nur einen Moment lang glauben. Da ist nicht nur die Legende, dass Black Jack Geary unerschütterlich zur Allianz steht — Co-Präsidentin Rione ist ebenfalls dafür bekannt, ihrer Welt und der Allianz insgesamt loyal gegenüberzustehen.« Er warf Geary einen interessierten Blick zu. »Wie ernst ist es eigentlich zwischen Ihnen, wenn ich das so fragen darf?«

»Ehrlich gesagt weiß ich das nicht.«

»Nicht, dass Sie mich um meine Meinung gefragt hätten, trotzdem muss ich sagen, ich persönlich würde mit der Zuneigung einer Frau wie Co-Präsidentin Rione nicht spielen. Ihrem Zorn möchte ich lieber nicht ausgesetzt sein.«

Wieder lächelte Geary. »Ich bin mir ziemlich sicher, so weit wird es nicht kommen.«

Duellos betrachtete seine Hand. »Andererseits darf man nicht übersehen, dass die Frau an der Seite von Black Jack Geary bei der Rückkehr ins Gebiet der Allianz für eine Politikerin eine beneidenswerte Position einnimmt.«

»Das stimmt«, entgegnete er und achtete auf einen neutralen Tonfall.

Der Captain sah Geary eindringlich an. »Sie reiten auf einem Tiger, das wissen Sie ja.«

»Das weiß ich.« Ihm war dieses Sprichwort bereits selbst in den Sinn gekommen sowie der Gedanke, dass nichts dagegen einzuwenden war, auf einem Tiger zu reiten. Das Problem war nur, dass der Tiger einen hinführte, wohin er wollte, und man nicht wagen konnte abzusteigen, weil der Tiger sich sonst gegen einen wenden könnte. Sie ist mächtig und gefährlich. Ich frage mich, ob es diese Eigenschaften sind, die mich zu Victoria Rione hingezogen haben.

Gearys Gedanken kreisten noch immer um diese Frage, als er in seine Kabine zurückkehrte und dort auf Victoria Rione traf. »Ist die Konferenz gut verlaufen?«

»Haben deine Spione dir noch nicht Bericht erstattet?«, gab er zurück.

Diese Frage schien ihr nichts auszumachen. »Nicht alle. Es ist für sie recht unpraktisch, wenn du Flottenkonferenzen auf den Abend legst.« Sie deutete auf das Sternendisplay über dem Tisch. »Ich möchte dir etwas zeigen.«

Er setzte sich, den Blick auf die dargestellten Sterne gerichtet. Üblicherweise konnte er eine beliebige Region anhand markanter Sterne, Nebel oder anderer Merkmale erkennen, doch jetzt wollte ihm das nicht gelingen. Hier gab es nichts, was eine Erinnerung weckte. »Wo soll das sein?«

»Das ist die andere Seite der Syndikatwelten. Wundere dich nicht, wenn du das nicht erkennst. Niemand aus der Allianz ist je dort gewesen, außer vielleicht als Gefangener auf dem Weg zu einem Arbeitslager.« Riones Finger tänzelten über die Tastatur, um die Darstellung zu drehen. »Ich habe mich mit den Aufzeichnungen der Syndiks beschäftigt, die wir bei Sancere in unseren Besitz gebracht hatten. Das ist die aktuellste Version der Daten über die abgewandte Seite der Syndik-Welten. Fällt dir etwas auf?«

Er sah zu, wie die Sterne langsam ihre Position veränderten. Unerforschte oder nicht besiedelte Sternensysteme waren stets unübersichtlich, weil sich die Anordnung der Sterne im Kosmos nicht an die klar strukturierten Linien hielt, die von Menschen bevorzugt wurden. Etwas an diesem Bild sprach ihn an, doch er konnte nicht erkennen, was es war. »Was soll ich da sehen?«

»Vielleicht hilft es, wenn ich die Sternensysteme markiere, die innerhalb der letzten hundert Jahre verlassen wurden«, schlug Rione vor. »Und mit verlassen meine ich nicht, dass man sie allmählich hat verkümmern lassen, sondern dass sämtliche Anwesenheit aus ihnen abgezogen wurde.« Sie betätigte eine andere Taste, und verschiedene Sterne leuchteten heller auf.

Dann wurde Geary auf etwas aufmerksam. »Das sieht nach einer regelrechten Grenze aus«, stellte er fest.

»Genau«, stimmte Rione ihm zu. »Danach sollte es aber nicht aussehen, weil es nichts gibt, was von der anderen Seite an die Syndikatwelten angrenzt. Es gibt keinen Abschnitt, der besonders reiche Systeme jenseits dieser Grenze einschließt, und es existieren auch keine Lücken, weil sich dort ärmere Sterne befinden, die man unbesiedelt belassen hat.«

»So wie die Grenze zwischen den Syndikatwelten und der Allianz.« Geary beugte sich vor und betrachtete die Region genauer. »Das ist ja interessant.« Er zeigte auf das verlassene Sternensystem, das Rione markiert hatte. »Hier wäre diese ›Grenze‹ durchdrungen worden, die gar nicht dort sein sollte.«

»Ich musste an die Pufferzone denken, die die Marines in dieser Orbitalstadt schaffen sollten«, merkte Rione an. »Ein Gebiet, das niemand betreten soll, weil es die Syndikatwelten von jemandem oder etwas trennt. Aber von wem oder was? Pass auf: Ich werde jetzt eine Darstellung des Syndik-Hypernets darüberlegen.« Verschiedene Sterne leuchteten in einer anderen Farbe auf und bildeten ein komplexes Geflecht. »Was siehst du jetzt?«

Er stutzte sekundenlang, dann fragte er: »Bist du dir da wirklich ganz sicher?«

»Absolut sicher.«

Geary starrte die Darstellung an. Ihm war immer wieder gesagt worden, die Hypernet-Portale seien in den Systemen eingerichtet worden, die reich an Vorkommen oder außergewöhnlich genug waren, um die Kosten zu rechtfertigen. Systeme, in die die Leute reisen wollten. Sterne, deren Ressourcen und Bevölkerung genügend Wohlstand hervorbrachten, um die Portale rentabel zu machen. Aber das Hypernet diente auch militärischen Zwecken, um Streitkräfte schnell dorthin zu verlegen, wo sie gebraucht wurden. Ein armer Stern, der dennoch strategisch wichtig gelegen war, konnte allein aus diesem Grund ein Portal zugeteilt bekommen. Auf der abgelegenen Seite der Syndikatwelten gab es etliche dieser armen Sterne. »Etwas scheint ihnen Sorgen zu bereiten, nicht wahr?«

Rione nickte. »Aber wenn deine Überlegung zutrifft, dann haben diejenigen, die der Menschheit Zugang zur Hypernet-Technologie verschafften, den Syndik-Welten in Wahrheit ein Mittel an die Hand gegeben, um Bomben mit der Vernichtungskraft einer Nova in jedem System zu bauen, das dieser uns unbekannten Bedrohung zugewandt ist. Es sieht aus wie ein Schutzwall, aber tatsächlich handelt es sich um ein Minenfeld von unvorstellbaren Ausmaßen, das gegen die Leute gerichtet ist, die glauben, sie würden sich damit schützen.«

»Es ist mehr als nur das«, erwiderte Geary. »Ich sprach mit Commander … ach, verdammt, mit Captain Cresida darüber, was mit Schiffen passiert, die im Hypernet zu einem Portal unterwegs sind, wenn das Portal aufhört zu existieren. Es könnte sein, dass die Schiffe zerstört werden oder aber irgendwo im interstellaren Raum landen, wo sie Jahrzehnte benötigen, um den nächsten Stern zu erreichen. Wenn die Syndiks versuchen, Verstärkung in diese Gebiete zu schicken, dann werden die Entladungen dieser Portale zum einen absolut alles in der Region auslöschen, und zum anderen werden die Kriegsschiffe entweder zerstört oder auf Jahre hinaus als Bedrohung ausgeschaltet.«

»Womit die militärischen Fähigkeiten der Syndikatwelten zu einem großen Teil eliminiert würden. Damit wäre jegliche Form von Vergeltungsschlag im Keim erstickt.«

»Richtig.« Geary versuchte sich das mögliche Ausmaß der Zerstörung vorzustellen, das die Hypernet-Portale verursachen würden, doch es wollte ihm nicht gelingen, da es alle Dimensionen überstieg. »Wie halten die das unter Verschluss, Victoria? Wie können selbst die Syndiks verhindern, dass dieses Wissen Verbreitung findet?«

»Das ist eine Gesellschaft, die jeden Informationsfluss ohnehin streng überwacht«, machte sie ihm klar. »Dazu kommt der Krieg, der es rechtfertigt, die Leute zum Schweigen zu verdonnern, und nicht zu vergessen, die immense Fülle an verfügbaren Informationen. Da ist es ein Leichtes, wichtige Fakten in Bergen von unnützem Wissen zu verstecken. Wir haben von den verlassenen Einrichtungen bei Sancere ungeheure Datenmengen heruntergeladen, von denen ich mir nur einen winzigen Bruchteil oberflächlich angesehen habe. Ich werde weitersuchen, aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich nicht davon ausgehe, irgendeine Information zu finden, die das hier bestätigt. Die Aufzeichnungen, die wir sammeln konnten, bewegen sich alle auf den untersten Geheimhaltungsstufen. Alles, was nichtmenschliche Intelligenzen und erst recht eine von ihnen ausgehende Bedrohung angeht, wäre streng geheim.«

»Was bedeuten dürfte, dass wir vermutlich genau diese Daten vernichtet haben, als wir das Syndik-Hauptquartier bei Sancere zerbombten. Fast wünschte ich mir, wir könnten zu dieser fernen Grenze reisen, um sie zu überqueren und festzustellen, was dahinter liegt.« Ihm wurde bewusst, dass er in Gedanken bereits mögliche Routen zur abgelegenen Seite der Syndikatwelten durchgespielt hatte.

»Das wäre Selbstmord«, erklärte Rione. »Selbst wenn die Flotte dir folgen würde.«

»Ja, ich weiß. Und die Flotte würde mir nicht folgen. Jedenfalls will ich hoffen, dass sie es nicht tun würde.« Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Was können wir den anderen davon erzählen?«

»Gar nichts, John. Denn genau genommen ist das alles nichts weiter als Spekulation.«

»Glaubst du, es stimmt?«

»Ich fürchte ja.«

»Ich auch.« Er schlug die Augen auf und betrachtete die ungewohnten Sternensysteme. »Als hätten wir nicht schon genug Sorgen. Wie ich hörte, gibt es in den Dateien keine aktuellen geheimdienstlichen Informationen über das Voranschreiten des Krieges. Konntest du etwas dazu finden?«

»Nein, das ist alles veraltet.«

Geary nickte. Wieder fragte er sich, was sich an der Grenze zwischen Allianz und Syndikatwelten abgespielt haben mochte, als ihm auf einmal deutlich wurde, dass es aus dem Blickwinkel der Syndiks so aussehen musste, als säßen sie zwischen zwei Mächten in der Falle. War das der Grund, dass sich deren Führer von zwei Seiten gleichzeitig bedroht fühlten? »Die Syndiks haben ihren Leuten erzählt, dass sie unsere Flotte in ihrem Heimatsystem komplett ausgelöscht haben.

Das Gleiche werden sie auch der Allianz gesagt haben, und die hat keine Ahnung, dass es sich um eine Lüge handelt. Glaubst du, sie werden sich um einen Friedensschluss bemühen?«

»Nein.« Für einen Moment verzog Rione ihr Gesicht schmerzhaft. »Viele in der Allianz schützen sich gegen die Kälte eines endlosen Krieges, indem sie die Syndiks hassen. Sie würden keinem Friedensangebot trauen.«

»Wir haben gesehen, dass es Gründe für dieses Misstrauen gibt. Die Syndiks haben jede Abmachung gebrochen und uns Fallen gestellt, wo sie nur konnten.«

»Was trotz vorübergehender Vorteile auf lange Sicht gegen sie gearbeitet hat, weil wir nun mit ihnen überhaupt keine Vereinbarungen mehr treffen, denn wir trauen ihnen nicht mehr zu, dass sie sich daran halten.«

Er sah sich das Display an. »Da etliche Syndik-Kriegsschiffe damit beschäftigt sind, uns zu finden und zu vernichten, ist zu hoffen, dass sie die momentane militärische Situation nicht ausnutzen konnten.«

»Außerdem hast du mehr als nur ein paar Syndik-Kriegsschiffe zerstört«, ergänzte Rione.

»Das hat die Flotte geleistet«, korrigierte Geary sie. »Trotzdem … Ich frage mich, welche Kämpfe in diesem Moment nahe der Grenze zur Allianz ausgetragen werden. Diese Syndik-Matrosen, die wir bei Scylla gefangen genommen haben, konnten uns dazu gar nichts sagen.« Kämpften verbliebene Teile der Allianz-Flotte verzweifelt auf mehr oder weniger verlorenem Posten, während die Allianz selbst in aller Hektik neue Kriegsschiffe baute und Besatzungen ausbildete? Wie viele der Kriegsschiffe entlang der Grenze würden zerstört werden, während die Flotte unter Gearys Kommando alles daransetzte, nach Hause zurückzukehren? »Ich habe eine Großnichte auf der Dreadnought.«

Rione zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Woher weißt du das?«

»Michael Geary sagte es mir, kurz bevor die Repulse zerstört wurde.« Unmittelbar bevor sein Großneffe sich und sein Schiff geopfert hatte, um dem Rest der Flotte die Flucht aus dem Syndik-Heimatsystem zu ermöglichen. »Er gab mir eine Nachricht für sie mit.«

»Sag ihr, dass ich dich zum Schluss nicht mehr gehasst habe.« Ich kann ihm nicht mal verübeln, dass er Black Jack Geary gehasst hat, diesen unerreichbaren Helden, in dessen Schatten er sein Leben lang gestanden hatte. Den lebenden Sternen sei Dank, dass wir beide wenigstens genug Zeit miteinander verbringen konnten, damit er feststellen konnte, dass ich gar nicht jener Black Jack bin, den er zu hassen gelernt hatte. Hat meine Großnichte die gleiche Einstellung zu mir? Was könnte sie mir über die Familie erzählen, die mir die Zeit genommen hat?

»Ich hoffe, du findest sie«, sagte Rione leise.

»Du hast mir nie davon erzählt, ob du zu Hause Familie hast«, gab Geary zurück.

»Ich habe einen Bruder und eine Schwester und beide haben sie Kinder. Meine Eltern leben noch. Damit habe ich noch all das, was dir weggenommen wurde. Ich hoffe, du verstehst, warum ich sie noch nie erwähnt hatte. Mir behagt der Gedanke nicht, dass meine Erzählungen dich dazu zwingen, daran zu denken, was du verloren hast.«

Er nickte. »Das weiß ich zu schätzen. Aber wenn du darüber reden willst, kannst du das gerne tun. Was ich verloren habe, bekomme ich nicht dadurch zurück, dass du verleugnest, was du hast.«

»Bist du nicht gut im Verleugnen?«, fragte Rione lächelnd.

Geary schnaubte vor Selbstverachtung. »Ich denke, ich bin darin so gut wie jeder andere.«

»Da muss ich widersprechen.« Sie zeigte auf die Darstellung der Sternensysteme. »Du hast etwas gefunden, was uns allen entgangen ist. Oder was wir nicht haben sehen wollen.«

Diesmal schüttelte er nachdrücklich den Kopf. »Wir haben gar nichts gefunden. Wie du selbst gesagt hast, gibt es keinen einzigen Beweis. Meinst du, die hochrangigen Autoritätspersonen der Allianz werden das glauben?«

»Mir macht mehr die Tatsache Sorge, dass wir ihnen vielleicht von der möglichen Verwendung der Hypernet-Portale berichten müssen, um ihnen die Bedeutung dieser Entdeckung deutlich zu machen.«

Einen Moment lang saß er schweigend da. »Du glaubst immer noch, sie würden sie als Waffen einsetzen?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber wenn die Allianz-Regierung davon erfährt, ist es durchaus denkbar, dass sie mehrheitlich zustimmt, die Portale als Waffe gegen die Syndiks einzusetzen. Mein Instinkt sagt mir, dass sie so entscheiden würden.« Mit betrübter Miene betrachtete sie die Darstellung der Sternensysteme. »Und im Allianz-Senat käme sehr wahrscheinlich eine Mehrheit zugunsten dieser Verwendung zustande, wenn man ihm die Gelegenheit zu einer Abstimmung gibt. Überleg doch nur, John. Wir könnten Eingreiftruppen in jedes Syndik-System in unserer Reichweite schicken und dort die Tore zerstören. Dann reisen sie weiter von System zu System und ziehen eine Spur völliger Verwüstung hinter sich her.«

»So würde das nicht funktionieren«, berichtigte er sie. »Du hast den Kollaps des Portals bei Sancere miterlebt. Der Energieausstoß würde auch die Schiffe vernichten, die das Portal zerstören. Ihr Einsatz wäre nach dem ersten Portal zu Ende.«

Sie nickte gedankenverloren. »Also müssten wir Roboterschiffe konstruieren, die mit künstlichen Intelligenzen bemannt und von ihnen gesteuert werden, damit sie losziehen und Sternensysteme zerstören. Weil das All so groß ist, würde den Syndiks Zeit bleiben, um zu erkennen, was wir machen. Ihre Spione könnten ihnen Bericht erstatten, und sie könnten entsprechend Vergeltung üben. Ganze Flotten von künstlichen Intelligenzen, die ein Sternensystem nach dem anderen zerstören und nach und nach die gesamte Menschheit auslöschen. Was für einen Albtraum könnten wir entfesseln!«

Übelkeit erfasste ihn bei dem Gedanken, denn er wusste, dass Rione vollkommen recht hatte. »Es tut mir leid. Ich hatte nicht vorgehabt, dir so etwas aufzuhalsen.«

»Dir blieb kaum eine andere Wahl, und du hast gute Absichten verfolgt.« Sie seufzte. »Ich kann nicht erwarten, dass ein einzelner Mann alle Last dieser Flotte auf sich nimmt.«

»Ich habe dich nicht mal gefragt, ob du diese Last überhaupt mit mir teilen willst.«

»Na ja, du bist ein Mann, nicht wahr?« Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist ja gut ausgegangen.«

»Ist es das?«

Sie legte den Kopf schräg und musterte Geary. »Was macht dir zu schaffen? Wenn ich mich nicht irre, bezog sich deine Bemerkung nicht auf Syndiks, Außerirdische oder Killerroboter.«

Er erwiderte ihren Blick. »Es geht um dich und mich. Ich versuche zu verstehen, was zwischen uns läuft.«

»Guter Sex, gegenseitiger Trost, Gesellschaft. Erwartest du noch etwas anderes von unserer Beziehung?«

»Du denn?«

»Ich weiß nicht.« Rione dachte länger über die Frage nach, dann schüttelte sie den Kopf und wiederholte: »Ich weiß nicht.«

»Dann liebst du mich also nicht.«

Da war wieder dieser kühle, belustigte Gesichtsausdruck. »Soweit ich weiß, nein. Bist du enttäuscht?« Gearys Miene oder Körpersprache mussten ihn verraten haben, da Rione plötzlich ernst wurde. »John, es gab in meinem Leben einen Mann, den ich geliebt habe. Das habe ich dir gesagt. Er ist tot, aber das ändert nichts an meiner Liebe zu ihm. Seitdem habe ich mich ganz der Allianz verschrieben und versuche, den Menschen zu dienen, für die mein Mann sein Leben gab. Was noch übrig ist, gehört momentan dir.«

Er musste leise lachen. »Dein Herz bekomme ich nicht, deine Seele gehört der Allianz. Was bleibt dann noch für mich übrig?«

»Mein Verstand, und das ist nicht gerade wenig.«

Er nickte. »Nein, allerdings nicht.«

»Kannst du mit diesem Teil von mir glücklich sein, wenn du weißt, dass der Rest anderen vorbehalten ist?«, fragte sie ruhig.

»Ich weiß nicht.«

»Du bist einfach zu ehrlich, John«, seufzte sie. »Aber ich bin ganz genauso. Vielleicht sollten wir uns gegenseitig belügen.«

»Ich glaube, das würde nicht funktionieren«, konterte er ironisch und musste sich unwillkürlich fragen, ob sie das alles wirklich ehrlich meinte. Oder verfolgte sie heimlich eine andere Absicht, von der er nichts wusste? In vieler Hinsicht erschien ihm Victoria Riones Verstand genauso fremd wie die entlegene Grenze der Syndikatwelten.

»Nein, da hast du wohl recht.« Sie sah an ihm vorbei. »Würde denn Ehrlichkeit funktionieren?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Das wird die Zeit schon zeigen.« Sie betätigte eine Taste und schaltete die Darstellung ab. Dann stand sie auf und betrachtete ihn mit einer Miene, die er einfach nicht deuten konnte. »Ich vergaß, dass dir noch ein anderer Teil von mir zur Verfügung steht. Mein Körper. Du hast nicht gefragt, trotzdem sage ich es dir. Den habe ich seit dem Tod meines Mannes niemandem angeboten.«

Er konnte nicht die mindeste Spur von Unsicherheit bei ihr entdecken, und er würde den Teufel tun, diese Aussage anzuzweifeln. »Ich verstehe dich wirklich nicht, Victoria.«

»Ist das der Grund, warum du emotional Abstand wahrst?«

»Möglicherweise.«

»Das ist vielleicht auch besser so.«

»Du bist auch nicht gerade offen zu mir«, machte Geary klar.

»Das stimmt. Ich habe dir nichts versprochen, und du solltest mir auch nichts versprechen. Wir sind beide Veteranen, was das Leben angeht, John. Wir haben Narben von den Verlusten davongetragen, weil uns die Menschen etwas bedeuteten. Irgendwann solltest du mir von ihr erzählen.«

»Ihr?« Er wusste genau, was Rione meinte, aber er wollte es nicht zugeben.

»Wer immer sie auch war. Die eine, die du zurückgelassen hast. Die eine, an die du manchmal denkst.«

Er senkte seinen Blick und verspürte eine Leere, die aus möglicherweise verpassten Chancen geboren war. »Das sollte ich wirklich. Irgendwann.«

»Du hast mir gesagt, du warst nicht verheiratet.«

»Das stimmt. Es ist etwas, das hätte passieren können, das aber nicht eingetreten ist. Der Grund ist mir noch immer nicht so ganz klar. Aber es blieb vieles unausgesprochen, was hätte ausgesprochen werden sollen.«

»Weißt du, was nach deinem mutmaßlichen Tod im All aus ihr geworden ist?«

Geary starrte ins Nichts, während er zurückdachte. »Etwas geschah vor meinem Gefecht. Ein Unfall. Ein dämlicher Unfall. Weil ihr Schiff weit weg war, erfuhr ich davon erst, als sie bereits drei Monate tot war. Ich hatte vorgehabt, mit ihr wieder Kontakt aufzunehmen und mich zu entschuldigen, weil ich so ein Idiot gewesen war.«

»Das tut mir sehr leid, John.« Die Traurigkeit war ihren Augen deutlich anzusehen. »Es fällt nicht leicht, Träume sterben zu lassen, auch wenn sie nur Träume geblieben sind.« Sie griff nach seiner Hand und zog ihn hoch, damit er vor ihr stand. »Wenn du dich bereit fühlst, kannst du mir mehr von ihr erzählen. Du hast noch nie mit irgendwem darüber gesprochen, oder? Das dachte ich mir. Offene Wunden können nicht verheilen, John.« Sie kam näher und küsste ihn zärtlich. »Das ist für eine Nacht genug Gesellschaft, und du hast für uns beide zusammen viel zu viel gedacht. Ich möchte jetzt lieber das genießen, was unsere Beziehung noch zu bieten hat.«

Ihr Körper fühlte sich in seinen Armen warm und lebendig an, und für eine Weile waren wenigstens die Sorgen der Gegenwart und die Erinnerungen an die Vergangenheit vergessen.

Die richtige Formation zu finden war das Dilemma. Die Allianz-Flotte befand sich ganz in der Nähe des Sprungpunkts, durch den eine Syndik-Streitmacht zum Vorschein kommen konnte. Das bedeutete, ihm blieb nur wenig Zeit, um seine Formation anzupassen, sodass er vermutlich seine Flotte so einsetzen musste, wie sie angeordnet war. Aber er würde die Formation der feindlichen Streitmacht erst zu sehen bekommen, sobald die hier eintraf.

Klar war ihm nur eines: Wenn die Syndiks einer kleinen, schwer in Mitleidenschaft gezogenen Allianz-Streitmacht dicht auf den Fersen waren, würden sie mit ihrem Angriff keine Zeit vergeuden. Es war fast mit Sicherheit davon auszugehen, dass schnelle leichte Einheiten den fliehenden Allianz-Schiffen nachstellen würden. Die ließen sich leicht aus dem Weg räumen, ganz gleich wie Gearys Formation aussah. Das Problem war aber, was danach kam. Schwere Kreuzer ließen sich auch noch schnell eliminieren, doch wenn die Syndiks den leichten Einheiten Schlachtschiffe folgen ließen, dann musste Geary sicherstellen, dass die nicht zu viele von seinen eigenen Schiffen mit sich rissen.

Im schlimmsten Fall bekamen sie es mit einer überlegenen Syndik-Streitmacht zu tun, und dann musste die Allianz schnell und energisch zuschlagen, um das Überraschungsmoment zu nutzen.

»Das könnte sehr unangenehm werden«, merkte Geary an, nachdem er mit Captain Duellos die möglichen Optionen durchgesprochen hatte. »Aber da wir uns in der Nähe des Sprungpunkts aufhalten, bedeutet es, dass die sich nicht verteilen können. Ich werde unsere Schiffe eine modifizierte Becher-Formation einnehmen lassen.« Auf dem Display zwischen ihnen erinnerte die Formation tatsächlich an einen Becher mit einem dicken kreisförmigen Boden, bestehend aus mehr als der halben Flotte in einer Matrix mit überlappenden Schussfeldern. Die übrigen Schiffe waren in einem Halbrund angeordnet, das sich in Richtung des Feindes erstreckte. »Wir werden in der Lage sein, sie an einer Stelle massiv unter Beschuss zu nehmen und dann einen weiteren Abschnitt ihrer Formation zu attackieren, wie auch immer die aussehen mag.«

»Wenn sie uns zahlenmäßig weit überlegen sind, werden wir sie wie der Teufel bombardieren, selbst wenn wir dabei vernichtet werden«, erwiderte Duellos. »Nicht gerade der ideale Ausgang, aber zusammen mit den Verlusten, die wir ihnen bei Kaliban und Sancere zugefügt haben, werden die Syndiks im Krieg keinen zahlenmäßigen Vorteil mehr haben.«

Geary nickte und schaute auf das Display. »Also würde der Krieg weitergehen.«

»Der Krieg würde weitergehen«, bestätigte Duellos.

»Ich würde gern zu einem besseren Ergebnis gelangen.«

Duellos grinste zynisch. »Sie können auf die Flotte zählen. Hier kommt alles zusammen: der Stolz der Flotte, der Wunsch, die Schiffe unserer Kameraden zu retten, das aus den jüngsten Siegen geborene Selbstbewusstsein, die Ausbildung, die wir von Ihnen erhielten. Auch wenn unsere Chancen schlecht stehen, können wir etwas zustande bringen.« Sein Grinsen wurde noch etwas breiter. »Und gerade fällt mir etwas ein, wie wir unsere Chancen verbessern können.«

Man sollte meinen, dass man sich an das Warten gewöhnt, wenn man so viele Jahre bei der Flotte ist, überlegte Geary, während er durch die Korridore der Dauntless schlenderte. Sehr viel Zeit bei der Flotte verbrachte man einfach nur mit Warten. Warten darauf, irgendwo anzukommen. Warten, wenn man angekommen war. Warten auf einen Notfall oder eine Krise, die vielleicht gar nicht eintreten würden. Warten darauf, dass man herausfand, wie lange man würde warten müssen. Das schien genauso ein Teil des Lebens eines Militärs zu sein wie die miese Verpflegung und die Gefahr, getötet zu werden.

Diese Erkenntnis machte es ihm nicht leichter, darauf zu warten, ob irgendwelche Schiffe zu ihnen zurückkehren würden. Die Flotte war direkt vor dem Sprungpunkt in Position gegangen, durch den Allianz-Schiffe kommen konnten, sofern sie so lange überlebt hatten. Seine Schiffe hingen quasi im All, während sie dem Sprungpunkt auf seinem gemächlichen Weg durch das System folgten. Die Hilfsschiffe waren ausgelastet, da sie neue Waffen und Ersatzteile produzieren mussten, gleichzeitig waren an allen möglichen Kriegsschiffen Wartungen oder Reparaturen vorzunehmen. Geary hatte persönlich getan, was er konnte, um die Flotte vorzubereiten, aber er war zu rastlos, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Also streifte er durch die Korridore der Dauntless, wo er den Matrosen und Offizieren begegnete, deren Gesichter ihm allmählich vertrauter wurden und denen er nach und nach auch einen Namen zuordnen konnte. Ganz langsam stellte sich bei ihm das Gefühl ein, dass er wirklich hierher gehörte.

In einem Gang begegnete er Captain Desjani und stellte überrascht fest, dass sie jene gute Laune ausstrahlte, die ihr sonst nur anzumerken war, wenn sie zusah, wie Syndik-Schiffe zerstört wurden. »Sie wirken so gut gelaunt«, sprach er sie freundlich an.

Lächelnd erwiderte sie: »Ich konnte mich ausführlich mit jemandem von der Furious unterhalten, Sir.«

Die Furious war weit von der Flotte entfernt, da sie wieder die Eingreiftruppe auf einer weiteren Spezialmission anführte. Einen Moment lang rätselte Geary, warum Desjani sich ausgiebig mit Captain Cresida unterhalten sollte, zumal eine große Zeitverzögerung zu berücksichtigen war. Dann aber verstand er, was sie meinte. »Wie geht es Lieutenant Casell Riva?«

Sie errötete ein wenig. »Sehr gut, Captain. Er ist sehr beeindruckt von Captain Cresida und den neuen Sensoren und Waffen, die wir haben.«

»Verstehe. Es freut mich, dass ihm die neuen Waffen der Flotte gefallen.«

»Um ehrlich zu sein, er ist froh darüber, befreit worden zu sein, und es schien ihm zu gefallen, mit mir zu reden«, gestand Desjani.

»Ich nehme an, er ist sogar sehr froh, Tanya. Hat er sich auch gut eingelebt?«

Ihr Lächeln verblasste ein wenig. »Es gab ein paar schwierige Momente, hat er mir anvertraut. Die andauernde Gefangenschaft im Syndik-Arbeitslager ohne Hoffnung auf eine Heimkehr wird ihn noch lange Zeit verfolgen. Manchmal wacht er in Panik auf, weil er fürchtet, die Befreiung könnte nur eine Halluzination gewesen sein. Aber natürlich hat er jetzt wieder Hoffnung geschöpft.« Nach einer kurzen Pause fügte sie an: »Cas … Lieutenant Riva war überrascht über die Art, wie Sie die Flotte führen. Die Taktiken, die Sie anwenden, und so weiter. Dass Captain Falco die Flotte verlassen hat, irritiert und betrübt ihn noch immer. Aber er hat alles mitverfolgt, was bei Sancere geschehen ist, und er war sehr erstaunt, Sir.«

Nun fühlte Geary sich in Verlegenheit gebracht. »Vieles ist richtig gelaufen. Wir hatten Glück.«

»Für einen Großteil unseres Glücks waren Sie verantwortlich, Sir, wenn ich das so sagen darf.« Wieder verstummte sie kurz. »Er ist immer noch der Mann, den ich in Erinnerung hatte. Vielleicht wird sich daraus wieder etwas entwickeln.«

»Das möchte ich hoffen. Dieser Krieg bringt schon genug Menschen Chaos in ihr Leben. Da ist es schön, wenn zwei von ihnen eine Chance auf einen Neuanfang bekommen.«

Desjani nickte, ihre Gedanken waren weit in die Vergangenheit abgeschweift. »Wir werden sehen. Es ist viel Zeit nachzuholen, wir müssen viele Erfahrungen teilen. Wussten Sie eigentlich, dass sich unter den bei Sancere heruntergeladenen Dateien auch eine riesige Datenbank befindet, die die Kriegsgefangenen der Syndiks auflistet? Sie ist nicht auf dem neuesten Stand, die jüngsten Einträge sind auch schon wieder drei Jahre alt, aber es finden sich etliche Namen von Matrosen auf der Liste, die wir für tot gehalten haben. Falls wir … entschuldigen Sie, Sir. Wenn wir ins Gebiet der Allianz zurückkehren, wird es viele Leute geben, die sich freuen werden, welche Namen aufgelistet sind.«

Geary sah sie neugierig an. »Wie lange ist es her, dass die Syndiks der Allianz eine Aufstellung ihrer Gefangenen übermittelt haben?«

»Mindestens einige Jahre, aber das genaue Datum muss ich nachsehen. Irgendwann beschlossen die Syndiks, dass es der Moral der Allianz mehr schadet, wenn nicht bekannt ist, ob das verschollene Personal tot oder in Gefangenschaft ist. Die Allianz hat im Gegenzug den Syndiks natürlich auch keine Listen mehr überlassen.«

Das war kein angenehmer Gedanke. Es war schon schlimm genug, Freunde, Geliebte und Angehörige in den Krieg ziehen zu lassen, aber wenn man nicht einmal erfuhr, was aus ihnen geworden war, dann kam das einer quälenden Folterung gleich. »Wir müssen unsere Liste aktualisieren, danach können wir die Syndiks vielleicht dazu bewegen, dass der Datenaustausch wiederaufgenommen wird.«

»Wenn das jemandem gelingen kann, dann Ihnen«, erwiderte Desjani. »Ich habe gerade erst begonnen, mir die Liste anzusehen. Es sind unglaublich viele Namen, die auf eine etwas eigenartige Weise sortiert sind, daher bekomme ich bei meinen Suchen meistens Ergebnisse geliefert, um die ich gar nicht gebeten habe. Aber es gibt ein paar Leute, deren Schicksal mich interessiert. Einige von ihnen gerieten angeblich in Gefangenschaft, andere sind mutmaßlich im Gefecht gefallen. Vielleicht erhalte ich jetzt eine Bestätigung, was aus ihnen geworden ist.«

»Ich schätze, das werden außer Ihnen noch viele machen«, sagte Geary. Eine drei Jahre alte Liste würde ihm keine Auskunft darüber geben, ob es seinem Großneffen wie durch ein Wunder doch noch gelungen war, sich unmittelbar vor ihrer Zerstörung von der Repulse zu retten. Am besten war es, wenn er davon ausging, dass Michael Geary tot war. Dann konnte er sich immer noch angenehm überraschen lassen, sollte er doch noch leben. Allerdings gab es wenig Grund zu der Annahme, er könnte das Ende seines Schiffs überstanden haben.

Das brachte seine Gedanken zurück zu den neununddreißig Schiffen, die Captain Falco bei Strabo gefolgt waren. Wie viele von ihnen hatten überlebt? Er wünschte, er wüsste die Antwort darauf bereits, so schrecklich die vermutlich auch ausfallen würde. Die Ungewissheit war fast so schlimm wie die Befürchtung, dass allenfalls ein paar Schiffe nach Ilion gelangen würden.

»Sie sind da!«

Geary stürmte aus seiner Kabine, ohne zuvor noch einen Blick auf sein Display zu werfen. Er rannte durch die langen Korridore und kletterte Leitern nach oben, bis er schließlich keuchend auf der Brücke eintraf, wo er sich in seinen Sessel fallen ließ. Dann aktivierte er sein Display und betete insgeheim, es möge so viele Überlebende wie nur irgend möglich geben.

Zu seinem Erstaunen wurden drei Schlachtschiffe angezeigt. Die Systeme der Dauntless identifizierten sie als die Warrior, Orion und Majestic. Ein einzelner Schlachtkreuzer, die Invincible, war ebenfalls dabei, hatte aber so schwere Schäden davongetragen, dass Geary die Statusmeldung zweimal lesen musste, um sie zu glauben. Von den sechs Schweren Kreuzern hatten nur zwei überlebt. Keiner der vier Leichten Kreuzer war zu entdecken, und die neunzehn Zerstörer waren auf sieben Schiffe reduziert worden.

»Diese verdammten Idioten«, fluchte Geary leise. Ein Schlachtschiff und zwei Schlachtkreuzer hatten sie verloren, und von den insgesamt neununddreißig Schiffen, die Falco gefolgt waren, hatten es nur dreizehn nach Ilion geschafft.

Captain Desjanis Gesicht war vor Zorn kreidebleich. »Die Triumph hat es nicht geschafft. Ich muss Sie sicher nicht daran erinnern, dass es die Triumph war, die zurückblieb, um uns an einer Verfolgung der Flotte zu hindern, als sich die anderen großen Schiffe entfernten.«

»Das hat der Polaris und der Vanguard nicht viel gebracht«, fauchte Geary, der nur zu gut wusste, dass seine Stimme die Wut verriet, die er empfand. »Sehen Sie sich die Invincible an. Wie kann die sich überhaupt noch von der Stelle bewegen?«

»Ich habe keine Ahnung. Aber auch die anderen Schiffe wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ich weiß nicht, ob die Titan sie überhaupt wieder so weit wiederherstellen kann, dass sie voll einsatzfähig sind.«

»Das werden wir noch herausfinden.« Schließlich tippte Geary auf seine Komm-Kontrollen. »Colonel Carabali, nehmen Sie Kontakt mit den Marine-Einheiten auf der Warrior, der Orion und der Majestic auf. Die Captains Kerestes, Numos und Faresa werden mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert und sind unverzüglich unter Arrest zu stellen. Das Gleiche gilt für Captain Falco, der sich der groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht und auf verbrecherische Weise den Verlust etlicher Schiffe der Allianz herbeigeführt hat.« Eine Anklage wegen Meuterei konnte noch warten. Wichtig war Geary zu wissen, dass Falcos Dummheit sie so viele Schiffe gekostet hatte. Er betätigte eine andere Taste. »Warrior, Orion und Majestic, hier spricht Captain Geary, Befehlshaber der Allianz-Flotte. Ihre befehlshabenden Offiziere sind mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert. Ihre jeweiligen Stellvertreter übernehmen bis auf Weiteres das Kommando.« Eine weitere Taste, und er war mit der gesamten Flotte verbunden. »An alle Einheiten, die soeben im Ilion-System eingetroffen sind: Beschleunigen Sie, so gut Sie können, und begeben Sie sich hinter die Flottenformation zu den Schnellen Hilfsschiffen und ihren Eskorten. Wir gehen davon aus, dass Sie verfolgt werden, und benötigen ein freies Schussfeld. Die Eingreiftruppe Furious wird hinter Ihnen die Operation Barrikade ausführen. Alle anderen Einheiten der Allianz-Flotte machen sich gefechtsbereit. Wir haben eine Menge Kameraden zu rächen.«

»Operation Barrikade?« Rione war auf die Brücke gekommen und schnappte nach Luft, da sie offenbar ebenfalls gerannt war. Als sie auf das Display schaute und das Ausmaß der erlittenen Verluste erkannte, wurde sie bleich.

»Operation Barrikade ist eine nette kleine Idee von Captain Duellos«, erklärte er. »Wir haben die Schiffe, die der Furious unterstellt sind, mit den meisten Minen beladen, die wir haben. Im Augenblick passieren sie den Sprungpunkt und legen ein Minenfeld, das so dicht ist, wie es uns in der wenigen uns verbleibenden Zeit möglich ist.«

Captain Desjani freute sich bereits sichtlich auf den Anblick, wenn die Syndiks mit den Minen kollidierten. »Was das Ganze so erfreulich ironisch macht, ist die Tatsache, dass wir in der Lage sind, diese Minen einzusetzen, weil die Hilfsschiffe mit den bei Sancere an Bord genommenen Rohstoffen mehr als genug Nachschub produzieren können. Die Syndiks selbst haben uns in die Lage versetzt, ihnen dieses Hindernis in den Weg zu legen.«

Auf seinem Display konnte Geary zeitverzögert mit ansehen, wie die Furious und andere Schiffe der Eingreiftruppe den Ausgang des Sprungpunkts überquerten, um die Minen abzusetzen. »Was geschieht, wenn Syndik-Schiffe in dem Moment den Sprungpunkt verlassen, während sich die Furious noch davor befindet?«

»Das Risiko besteht natürlich«, räumte Geary ein. »Auch wenn die Eingreiftruppe in Bereitschaft stand, um sofort zu beginnen, sobald unsere Schiffe eingetroffen waren, besteht natürlich die Gefahr, dass die Syndiks früher hier eintreffen, wenn die Minen noch nicht komplett ausgelegt sind. Darum habe ich Captain Cresida auch lediglich gebeten, sich freiwillig für diesen Einsatz zu melden.« Wenigstens dachte er endlich daran, ihren neuen Dienstgrad zu benutzen.

Rione warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Glauben Sie ernsthaft, Captain Cresida würde die Bitte, sich freiwillig zu melden, anders behandeln als einen direkten Befehl?«

Desjani reagierte sichtlich verärgert, während Geary versuchte, keine Miene zu verziehen. Riones Vorwurf war zutreffend genug, um ihm einen Stich zu versetzen. »Madam Co-Präsidentin, wenn ich alles vermeiden würde, was den Tod einiger meiner Untergebenen zur Folge haben kann, dann wäre ich vor Unentschlossenheit wie gelähmt, und das würde für alle meine Untergebenen entweder den Tod oder ein Syndik-Arbeitslager bedeuten.«

»Solange Ihnen die Konsequenzen Ihres Handelns bewusst sind«, erklärte Rione.

Diesmal schaute Geary sie finster an und fragte sich, warum Rione so vorwurfsvoll agierte. Aber vielleicht wollte sie damit nur unterstreichen, dass sie weiter die Stimme seines Gewissens sein würde. »Wenn es Ihnen darum geht, dass ich ehrlich bin«, gab er leise zurück, »dann ist Ihnen das gelungen.«

Er konzentrierte sich wieder auf sein Display und sah, dass die Diskussion ihn wenigstens ein paar Minuten lang von seiner Sorge um die Eingreiftruppe Furious abgelenkt hatte. Der Ausgang des Sprungpunkts war zehn Lichtminuten entfernt, sodass sein Befehl, die Befehlshaber der drei Schlachtschiffe zu suspendieren, jetzt die Schiffe erreichte. Die Syndiks konnten schon vor einigen Minuten ins System gesprungen und mit der Eingreiftruppe kollidiert sein, und er würde jetzt noch immer nichts davon wissen.

Die Anzeige auf seinem Display wurde aktualisiert, und er bekam zu sehen, wo vor fast zehn Minuten die Minen im All verteilt worden waren. Es war ein erfreulich dichtes Feld, da Geary fast keine Minen zurückbehalten hatte, auch wenn sie später noch dafür würden zahlen müssen. Seine Schiffe würden zweifellos auch noch etliche Kartätschen und Geister einzusetzen haben und Schäden beim Gefecht davontragen, die repariert werden müssten. Die vier Hilfsschiffe waren nicht in der Lage, alle Ersatzteile gleichzeitig zu produzieren, auch wenn sie noch so viele Rohstoffe aus Sancere mitgenommen hatten. Es würde einige Zeit in Anspruch nehmen, das alles herzustellen und zu verteilen. Wenigstens konnten die Hilfsschiffe während des Sprungtransits die Produktion fortführen, und wenn sie Baidur erreichten, sollte ein Großteil der Waffen fertiggestellt sein.

Sofern sie Baidur erreichten, hielt sich Geary vor Augen. Sie waren noch weit von diesem Stern entfernt, und vor ihnen lag wahrscheinlich noch eine große Schlacht.

»Die Invincible hängt wirklich hinterher«, stellte Desjani fest.

»Mich wundert, dass sie überhaupt noch von der Stelle kommt«, erwiderte Geary und sah sich wieder die Auflistung der Schäden an, die dem Schlachtkreuzer zugefügt worden waren. Beim Blick auf das Display betrachtete er das Vorankommen der fliehenden Allianz-Schiffe und versuchte einzuschätzen, wann die sie verfolgenden Syndiks auftauchen würden. Wir dürfen uns nicht zu nah am Sprungpunkt aufhalten, wenn die Syndiks eintreffen, aber wenn wir uns jetzt nicht bewegen, dann werden wir womöglich nicht in der Lage sein, die Invincible zu beschützen. Ich muss die Repulse ihrem Schicksal überlassen, aber die Invincible lasse ich nicht im Stich.

»Alle Einheiten der Allianz-Flotte, beschleunigen Sie auf 0,05 Licht bei Zeit null vier. Bleiben Sie in relativer Position zum Flaggschiff.« Er wandte sich an Desjani. »Captain, halten Sie die Dauntless bitte auf einem Kurs, der auf das Zentrum des Sprungpunkts gerichtet ist.«

»Ja, Sir.« Desjani erteilte die entsprechenden Befehle und war nach außen hin so ruhig wie immer.

Geary überlegte einen Moment lang. »Eingreiftruppe Furious. Nach Abschluss der Operation Barrikade nehmen Sie eine Position hinter dem Sprungpunkt und ein Stück oberhalb davon ein.« Musste er noch andere Vorkehrungen treffen? Die Warrior, die Majestic und die Orion hatten mittlerweile fast den Rest der Flotte erreicht. Mehrere überlebende Zerstörer begleiteten sie, während die beiden verbliebenen Schweren Kreuzer und die restlichen Zerstörer bei der Invincible verharrten. Er würde sich merken müssen, dass sie das getan hatten. In Anbetracht des bevorstehenden Gefechts konnte Geary es sich nicht leisten, alle Commander zu suspendieren, die sich Falco angeschlossen hatten. Vielleicht würde das auch gar nicht nötig werden, wenn die Befehlshaber dieser Schiffe den Mut und die Disziplin bewiesen, bei der schwer beschädigten Invincible zu bleiben, obwohl der Rest der Flotte ihnen Sicherheit versprach.

Ein ganzes Stück hinter der Allianz-Formation wurden die Hilfsschiffe von vier Eskortschiffen aus der Zweiten Schlachtschiffdivision bewacht, die genügen sollten, um jeden auf ihre Schutzbefohlenen gerichteten Angriff abzuwehren. Niemand wollte die Gelegenheit versäumen, sich an einem Gefecht zu beteiligen, aber Geary hatte den Commandern dieser Schiffe versprochen, dass sie bei der nächsten Konfrontation mit den Syndiks — die es ganz sicher geben würde — an vorderster Front der Flotte zum Einsatz kommen sollten.

Die Majestic, die Warrior und die Orion flogen, als wäre der Teufel hinter ihnen her, und durchquerten die Allianz-Formation ohne auch nur abzubremsen. »Ich hätte mich ja in die Gefechtslinie eingereiht«, brummte Desjani verärgert darüber, dass die drei Schlachtschiffe es nicht für nötig hielten, den anderen beim Angriff auf ihre Verfolger zu helfen. Auch wenn diese Schiffe beschädigt worden waren, hatte Desjani nach Gearys Ansicht völlig recht. Der Austausch des Befehlshabers wird sie nicht zu zuverlässigen Bestandteilen der Flotte machen. Die Besatzungen wollen sich vor Angst irgendwo verkriechen, obwohl der Rest der Flotte hier ist, um sie zu beschützen. Es sollte mich eigentlich nicht wundern, dass Schiffe unter dem Kommando von Leuten wie Numos oder Faresa über keine hochmotivierten Crews verfügen. Es wird ein gewaltiges Stück Arbeit bedeuten, diese Leute umzuerziehen und zu inspirieren.

Arbeit, die auf mich wartet, wenn die Schlacht geschlagen ist, die zweifellos kommen wird.

Als hätten sie Desjanis Bemerkung gehört, machten die Zerstörer kehrt, die die drei verwundeten Schlachtschiffe begleiteten, und flogen auf die Geschwader zu, denen sie vor ihrer Abspaltung bei Strabo angehört hatten, und versuchten, ihren Platz in der Flottenformation einzunehmen. Geary warf einen Blick auf die Schadensmeldungen, die von ihnen an die Flotte gesendet wurden, und schüttelte den Kopf. »Claymore und Cinqueda, hier ist Captain Geary. Ihre Kampfbereitschaft habe ich mit Stolz und Vergnügen zur Kenntnis genommen, aber Sie sind zu stark beschädigt. Begeben Sie sich zu den Hilfsschiffen, damit die mit den Reparaturen beginnen können, und unterstützen Sie deren Eskorten.« Er hielt inne und überlegte, dass da noch eine Sache war, die gesagt werden musste. »Wenn sich die Syndiks den Hilfsschiffen nähern, dann weiß ich, ich kann mich auf Sie verlassen, dass Sie sie tapfer verteidigen werden.« Das klang ein wenig ungelenk, aber es sollte den Stolz dieser Schiffsbesatzungen ansprechen. Das war das Mindeste, was sie dafür verdienten, dass sie freiwillig hatten weiterkämpfen wollen. Kampfgeist hatte tatsächlich einen Platz in dieser Flotte.

Der Austrittspunkt aus dem Sprungraum war noch mehr als acht Lichtminuten entfernt, und von den Syndik-Verfolgern war bislang nichts zu sehen. Die Eingreiftruppe Furious hatte ihre Arbeit getan und befand sich auf dem Weg zur befohlenen Position. Desjani nahm die Entfernung bis zum Sprungpunkt mit Sorge zur Kenntnis. »Sollten wir nicht besser langsamer werden, Sir? Wenn wir zu dicht sind und die Syndiks tauchen auf …«

»Noch nicht«, wehrte Geary kopfschüttelnd ab. »Wir können die Invincible so nicht beschützen.«

»Verstanden, Sir«, meinte sie amüsiert.

Sollte er jemals Desjanis Rückhalt verlieren, dann wusste er, dass er sich einen Fehler geleistet haben musste, der schlimmer nicht ausfallen konnte. »Wir behalten unsere Geschwindigkeit bei, bis wir eine Lichtminute von der Invincible entfernt sind, und wenn die Syndiks dann noch immer nicht aufgetaucht sind …«

»Feindliche Streitkräfte verlassen den Sprungpunkt«, rief ein Wachhabender, währen der Alarm losgellte.

Geary schaute verwundert auf sein Display, als die Syndik-Flotte in den Normalraum geschossen kam. Kein Schwarm leichter Einheiten, sondern zwölf Schlachtkreuzer, die in drei vertikalen Diamantformationen angeordnet waren. Dann begriff er, dass diese Taktik durchaus einen Sinn ergab. Wenn der Syndik-Commander davon ausging, vier beschädigten großen Schiffen mit nur wenigen Begleitfahrzeugen gegenüberzutreten, warum sollte er dann leichte Einheiten losschicken, die möglicherweise bei einem Verzweiflungsangriff zerstört werden könnten? Da war es doch sinnvoller, die Verluste möglichst gering zu halten und Schiffe ins System zu schicken, von denen die vier Verteidiger förmlich überrannt werden konnten.

Zum Leidwesen des Syndik-Commanders und seiner zwölf Schlachtkreuzer erwartete sie aber der Rest von Gearys Flotte sowie ein dichtes Minenfeld.

Die Syndik-Schlachtkreuzer schwebten majestätisch mit 0,1 Licht ein paar Sekunden lang durch den Raum jenseits des Portals. Zweifellos sahen sie dabei die wartende Allianz-Flotte, deren Anblick ihnen verriet, dass die Gejagten den Spieß umgedreht hatten. Geary sah mit an, wie die Syndik-Schlachtkreuzer versuchten, nach unten auszuweichen. Ihm blieb gut eine Sekunde, um sich die Frage zu stellen, warum fliehende Schiffe fast immer »abtauchten«, anstatt »aufzusteigen«, so als wären sie Flugzeuge oder sogar Menschen auf einer Planetenoberfläche. Dabei erforderten beide Manöver im Weltall den gleichen Aufwand.

In diesem Fall bedeutete es, dass die Syndiks nicht mit dem Bug, sondern mit der Flanke in das Minenfeld steuerten, womit sie für die Minen eine noch größere Angriffsfläche boten. Wären Begleitschiffe bei ihnen gewesen, hätte deren Zerstörung sie noch warnen können, doch so waren die Treffer an den Schiffen selbst die einzige Warnung, dass sie in eine Falle geraten waren. Explosionen zuckten über die Hüllen und ließen die Schilde kollabieren, sodass die nächsten Treffer dem eigentlichen Rumpf galten. Die Schlachtkreuzer gerieten ins Schwanken, als die Minen Löcher in die Hülle rissen und Trümmerstücke ins All wirbelten. Ein Kreuzer explodierte aufgrund seines überhitzten Antriebs, zwei weitere folgten in kurzen Abständen, bis nur noch ein sich ausdehnendes Feld aus Metallfetzen von ihrer vormaligen Existenz zeugte. Von den neun verbliebenen Kreuzern waren acht nicht länger unter der Kontrolle ihrer Besatzungen, während sie von weiteren Explosionen erschüttert wurden — mal durch eine einzelne Mine, mal durch überlastete Schiffssysteme.

Der letzte Schlachtkreuzer, der noch ramponierter war als die Invincible, brachte das Minenfeld hinter sich, und obwohl der größte Teil der Antriebseinheiten und der Gefechtssysteme ausgefallen war, blieb er unerbittlich auf Kurs. Geary betrachtete die Anordnung auf dem Schlachtfeld. »Die Warspite befindet sich gerade innerhalb der maximalen Reichweite der Geister. Ist es den Versuch wert, ein paar Treffer zu landen?«

Desjani nickte. »Dieser Syndik kann keinem Geschoss ausweichen. Er sitzt auf dem Präsentierteller.«

»So wie es die Invincible für sie gewesen wäre«, stimmte Geary ihr zu. »Warspite, hier ist Captain Geary. Beschießen Sie den vordersten Syndik-Schlachtkreuzer mit Geistern. Alle anderen Schiffe: nicht feuern! Das kann nicht die komplette Verfolgerflotte sein. Sie alle werden noch früh genug ausreichende Ziele vorgesetzt bekommen.«

Vierzig Sekunden später kam die Antwort von der Warspite. »Aye, aye, Captain. Wir eröffnen das Feuer auf den führenden Schlachtkreuzer.« Auf seinem Display sah Geary vier Geister, die aus dem Schlachtschiff hervorschossen und in einer weiten, flachen Kurve Kurs auf das Syndik-Schiff nahmen.

»Ganz gleich, was ihnen noch geblieben ist, aber zwölf Schlachtkreuzer sind bei Weitem nicht genug, um unsere Verluste wettzumachen«, meinte Desjani.

»Ja, genau. Wo ist der Rest?«, wunderte sich Geary.

Die Antwort bekam er fast sofort, da sich der nunmehr keine siebeneinhalb Minuten entfernte Ausgang des Sprungpunkts mit feindlichen Schiffen füllte. Geary zwang sich, in aller Ruhe die Formation der Syndiks zu analysieren: ein tiefes Rechteck, das mit seiner Breitseite der Allianz-Flotte zugewandt war, schwere Schiffe an den Ecken und in der Mitte, die Lücken dazwischen mit leichteren Einheiten aufgefüllt.

»Zwanzig große Schiffe«, erklärte Desjani. »Sechzehn Schlachtschiffe und vier Schlachtkreuzer. Einunddreißig Schwere Kreuzer, zweiundvierzig Leichte Kreuzer und Jäger.«

»Mehr als genug, um die Allianz-Schiffe auszulöschen, denen sie hierher gefolgt sind«, stellte Geary fest.

»Warum haben die nicht noch mehr geschickt?«, rätselte Desjani. »Wenn es für die fliehenden Schiffe eine Chance gab, sich uns wieder anzuschließen, dann müssen sie doch gewusst haben, was sie hier erwarten konnte.«

»Weil sie nicht wussten, wo der Rest der Flotte abgeblieben war. Sie mussten uns finden und gleichzeitig alle Systeme beschützen, in die wir möglicherweise gereist waren. Da sie versuchten, sich für alle Optionen zu wappnen, bedeutete das, dass sie zu wenige Schiffe für diese Mission hier abstellen konnten. Hätten wir sie nicht erwartet, wäre es vielleicht gutgegangen, weil sie vor der Konfrontation hätten davonlaufen können. Aber so sind wir zu dicht an ihnen dran, als dass sie jetzt noch einem Kampf entkommen könnten.« Er tippte auf die Komm-Kontrolle für die ganze Flotte. »Alle Schiffe beschleunigen auf 0,1 Licht bei Zeit eins fünf. Eingreiftruppe Furious, korrigieren Sie Kurs und Geschwindigkeit, soweit das nötig ist, um der Formation den Rückweg abzuschneiden. Lassen Sie sie nicht zum Sprungpunkt zurückkehren. Alle Einheiten, feuern Sie zuerst auf die großen Schiffe.« Er überprüfte die Entfernung zur Invincible, die ihnen immer noch eine Lichtminute voraus war und sich zwischen der vorrückenden Allianz-Flotte und den überraschten Syndiks befand. Bei der momentanen Geschwindigkeit würden sie in sieben Minuten an die Invincible herankommen.

Die Hauptgruppe der Syndik-Flotte erreichte das Minenfeld, und viele Schiffe passierten unbehelligt die Lücken im Feld, die die zwölf Schlachtkreuzer gerissen hatten. Dennoch waren noch immer viele Minen übrig.

Syndik-Jäger explodierten und wurden von der Wucht der detonierenden Minen zerrissen, wobei ihre Trümmer durchs All gewirbelt wurden. Ein halbes Dutzend Leichte Kreuzer wurde in Stücke gesprengt, drei Schwere Kreuzer brachen aus der Formation aus, zwei wurden vollständig zerstört und ein dritter außer Gefecht gesetzt. Die Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer der Syndiks steckten Treffer am Bug ein, hatten aber dank der Opfer der leichteren Einheiten Zeit genug, um die Schilde dort zu verstärken, sodass sie das Minenfeld zwar mit geschwächten Schilden, ansonsten jedoch unversehrt hinter sich ließen. »Das ist für die Anelace, die Baselard, die Mace und die Cuirass«, verkündete Geary, woraufhin gedämpfter Jubel ausbrach, als die Brückencrew der Dauntless zustimmte, dass mit diesen Minen jene Schiffe gerächt wurden, die am Sprungpunkt bei Sutrah durch Syndik-Minen zerstört worden waren.

Die Invincible kämpfte sich mühsam durch die Flottenformation der Allianz. Unwillkürlich zuckte Geary zusammen, als er die Schäden an diesem Schiff genauer betrachten konnte. Das hatte so viele Treffer abbekommen, dass er sich nur wundern konnte, wie es noch in der Lage war, sich von der Stelle zu bewegen. Er überlegte, ob es wohl angemessen war, einer Schiffsbesatzung eine lobende Erwähnung auszusprechen, die sich unerlaubt von der Flotte entfernt hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es ihm egal war, ob es angemessen war oder nicht.

Hinter den Minen schwenkte die Syndik-Formation nach oben und zielte darauf, über der Allianz-Flotte hinwegzufliegen, um die von oben zu beschießen und dabei außerhalb der Reichweite der Allianz-Schiffe zu bleiben.

»Das wird nicht funktionieren«, erklärte Geary. »Alle Einheiten der Hauptgruppe: Ändern Sie den Formationskurs nach oben um drei fünf Grad bei Zeit vier sieben.« Zum angegebenen Zeitpunkt schwenkte die becherförmige Formation um die von der Dauntless gebildete Achse nach oben, sodass sie abermals auf die Syndiks ausgerichtet war, die über ihr hinwegzufliegen beabsichtigten. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob er das rechtzeitig merkt, um ein Ausweichmanöver zu versuchen.«

»Geschätzte Zeit bis zum Kontakt zwanzig Minuten.«

Die Geister der Warspite erreichten schließlich den von den Minen schwer beschädigten Syndik-Schlachtkreuzer. Vier gewaltige Explosionen hüllten das Schiff ein, ließen alle noch verbliebenen Systeme endgültig ausfallen und schleuderten das Wrack zu einer Seite weg.

Die überlebenden Syndik-Streitkräfte waren zahlenmäßig deutlich unterlegen, befanden sich dafür aber in einer breiter gestreuten Formation. Wenn weder Geary noch der Syndik-Commander an der jeweiligen Flottenformation etwas änderten, würde die Allianz allenfalls die Hälfte der feindlichen Schiffe treffen können. Dass der gegnerische Befehlshaber irgendetwas in dieser Richtung unternehmen würde, konnte sich Geary nicht vorstellen, da die Allianz ansonsten ihre überlegene Feuerkraft ganz zu ihrem Vorteil würde einsetzen können.

»Die Syndiks bewegen sich wieder. Sieht so aus, als würden sie ihre Formation nach Backbord und unten ändern.«

Auf Gearys Display drehte sich die Formation weg und versuchte eine Position einzunehmen, bei der eine Seite der Allianz-Formation über das abgeflachte Ende der Syndik-Flotte nach oben steigen würde. Das war gar kein schlechter Zug, musste Geary zugeben. Dieser Syndik-CEO war eindeutig kein Dummkopf. »Alle Einheiten, drehen Sie sich nach Steuerbord um neun null Grad, ändern Sie Kurs nach unten um sechs null Grad bei Zeit null sechs. Eingreiftruppe Furious, passen Sie Ihren Kurs so an, dass Sie weiterhin die Syndik-Flotte davon abhalten, Kurs auf den Sprungpunkt nach Tavika zu nehmen.« Er musste davon ausgehen, dass die Syndiks einen Fluchtversuch unternehmen würden, und da der Sprungpunkt, durch den sie hergekommen waren, nach wie vor von Minen versperrt wurde, war der Sprungpunkt nach Tavika der nächstbeste Fluchtweg.

»Acht Minuten bis zum Kontakt.«

Die Syndiks hatten aufgehört, sich innerhalb der Formation so zu drehen, dass der Bug der Schiffe auf die sich nähernde Allianz-Flotte gerichtet war, was wiederum bedeutete, dass die feindlichen Kriegsschiffe jetzt in ihrer rechteckigen Formation zur Seite zeigten. Die flache Seite dieser Form war nun fast vertikal »nach oben« und »nach unten« ausgerichtet.

Geary überlegte, ob er sich beim Einsatz der Feuerkraft seiner Schiffe etwas Schrulliges erlauben sollte, entschied sich jedoch dagegen. »Alle Einheiten: Feuern Sie nach eigenem Ermessen. Vorrangige Ziele sind die großen Schiffe. Behalten Sie die Formation bei, es sei denn, dass Ausweichmanöver erforderlich sind, um gegnerische Treffer zu vermeiden. Sie haben die Erlaubnis, das Feuer zu eröffnen, wenn sich aus Ihrer Sicht eine günstige Gefechtssituation ergibt.«

»Sechs Minuten bis zum Kontakt.«

Die Syndiks waren noch immer damit beschäftigt, ihre neue Formation einzunehmen, und sie fürchteten zweifellos, mitten in einem weiteren Manöver überrascht zu werden, als die Allianz-Flotte in Reichweite gelangte. Geary beobachtete auf seinem Display, wie die beiden Flotten aufeinander zuflogen, wobei die becherförmige Anordnung der Allianz-Schiffe die hintere Hälfte der Syndik-Formation überlappte. Er hatte seine Schiffe in Position gebracht, seinen Commandern die Autorität übertragen, das Feuer zu eröffnen, und nun blieb ihm nichts weiter zu tun als zuzusehen, wie die beiden Flotten sich rasant näherten.

»Der Feind eröffnet das Feuer«, meldete der Waffen-Wachhabende, obwohl Geary die warnenden Hinweise auf seinem Display aufblinken sah. Kartätschen, die auf jene Punkte konzentriert waren, zu denen die Allianz-Schiffe unterwegs waren. Sie waren am äußersten Rand der maximalen Reichweite abgefeuert worden, und Geary konnte nur hoffen, dass die Commander der betroffenen Schiffe die kurze Zeitspanne nutzen würden, um den Kurs geringfügig zu ändern, damit sie dem schlimmsten Sperrfeuer entgingen. Weitere Warnsymbole leuchteten auf seinem Display auf. Syndik-Raketen.

Die visuelle Darstellung zeigte helle Lichtpunkte, die aufflackerten, sobald die Syndik-Kartätschen auf die Schilde der Allianz-Schiffe trafen. Geary sah, wie seine eigenen Schiffe das Feuer erwiderten. Die Daten der am weitesten entfernten Schiffe trafen dabei mit einer Verzögerung von mehreren Sekunden ein.

Captain Desjani war ganz auf ihr eigenes Display konzentriert. Sie markierte ein Schlachtschiff. »Das ist unser Ziel«, ließ sie ihre Wachhabenden wissen. »Wollen wir ihm doch mal richtig wehtun.«

Die Seiten des Allianz-Bechers tauchten in das Syndik-Rechteck ein, wobei jedes Allianz-Schiff nur für kurze Zeit feindlichem Beschuss ausgesetzt war, als sich Formation durch Formation schob, während die Syndik-Schiffe in jenem Bereich von einem Schiff nach dem anderen beschossen wurden. Die leichteren Einheiten der Syndiks rings um die überlebenden großen Schiffe wurden von den wiederholten Treffern in Stücke gerissen, flammten auf und starben.

Dann erreichte der Hauptteil der Allianz-Flotte die Syndik-Formation.

Nachdem die letzten Minuten bis zum Kontakt unendlich langsam verstrichen waren, fiel der eigentliche Schlagabtausch so kurz aus, dass er etwas Desorientierendes hatte: Wären die Gefechtssysteme nicht in der Lage gewesen, unvergleichlich schneller als ein Mensch ein Ziel zu erfassen und darauf zu feuern, hätte vermutlich keine Seite je einen Treffer gelandet, da die beiden Flotten mit hoher Geschwindigkeit aneinander vorbeirasten. Es kam Geary so vor, als ob das Gefecht so schnell begonnen und wieder geendet hatte, dass er nur einmal hätte blinzeln müssen, um es ganz zu versäumen. Die Dauntless erzitterte immer noch unter den Treffern auf ihren Schilden, während die Schadensbilanz für den Schuss zusammengestellt wurde, der es durch einen punktuellen Ausfall in den Schilden geschafft hatte.

Hinter ihm hatte das von Desjani anvisierte Syndik-Schlachtschiff Treffer von weiteren Allianz-Schiffen einstecken müssen, darunter von der Daring, der Terrible und der Victorious. Unter dem massiven Beschuss waren zuerst die Schilde des Kriegsschiffs, einer Dreadnought der S-Klasse, ausgefallen und dann der Rumpf bombardiert worden. Etwas traf das Schiff an der falschen Stelle, und der Antrieb explodierte, während sich noch immer einige Allianz-Schiffe seiner Position näherten.

Sie waren bereits zu nah, als es geschah. Geary konnte nur auf sein Display starren und mit ansehen, wie der letzte Schlachtkreuzer der Allianz-Formation, die Terrible, dicht an dem Syndik-Schiff vorbeiflog und es aus nächster Nähe mit Höllenspeeren beschoss. Die Terrible war bereits wiederholt getroffen worden, was ihre Schilde erheblich geschwächt hatte. Die Schockwelle des explodierenden Syndik-Schiffs traf den Allianz-Schlachtkreuzer wie eine gewaltige Faust und ließ ihn durch das All wirbeln. Davon hätte sich der Kreuzer noch erholen können, aber ein anderer überlebender Syndik-Schlachtkreuzer war zu nahe und befand sich auf genau dem falschen Kurs. Nicht einmal die extrem schnellen Computer, die für die Steuerung der Schiffe verantwortlich waren, damit sie nicht miteinander zusammenstießen, konnten eben dies noch verhindern. Entsetzt musste Geary zusehen, wie die Terrible und das Syndik-Schiff kollidierten.

Der Zusammenprall, der sich mit einer relativen Geschwindigkeit von etwa 0,06 Licht oder grob achtzehntausend Kilometern pro Sekunde ereignete, verwandelte beide Schiffe in einen einzigen, gigantischen Feuerball und dann in einen von Menschenhand geschaffenen Nebel aus winzigen Trümmern, der die Leere des Ilion-Systems kurzzeitig erhellte.

Alle auf der Brücke der Dauntless hielten schockiert den Atem an. Geary hörte jemanden »Verdammt, verdammt, verdammt«, sagen und erkannte erst dann, dass er selbst diese Worte sprach. »Mögen die Vorfahren euch beschützen und die lebenden Sterne euch willkommen heißen«, murmelte er an die getötete Crew der Terrible gerichtet.

Desjani, die sich zum ersten Mal geschockt zeigte, seit die Flotte aus dem Heimatsystem der Syndiks entkommen war, erteilte Befehle, damit ihre Crew wieder zur Besinnung kam. »Schadensbericht!«

»Kleinere Treffer am Rumpf. Keine Systeme verloren«, meldete einer der Wachhabenden wie benommen.

Geary riss sich zusammen und zwang sich, den Blick von der Terrible abzuwenden, um die ganze Situation in Augenschein zu nehmen. In dem Teil der Syndik-Formation, mit dem die Allianz-Flotte zusammengetroffen war, hatten sich acht Schlachtschiffe und zwei Schlachtkreuzer befunden. Drei der Schlachtschiffe hatten überlebt, waren aber beschädigt worden. Die Leichten Kreuzer und die Jäger um sie herum waren vollständig ausgelöscht worden, und nur ein paar Schwere Kreuzer existierten noch.

Er atmete tief durch und konzentrierte sich auf die vordere Hälfte der Syndik-Streitmacht, die hart nach Backbord geflogen war und nun beschleunigte, während sie Kurs auf den Sprungpunkt nach Tavika nahm. Ihnen war ganz offenbar nicht nach Kämpfen zu Mute, wenn sich stattdessen eine Gelegenheit zur Flucht ergab. »Alle Einheiten nach rechts eins zwei null Grad und eins null Grad nach unten, beschleunigen Sie auf 0,15 Licht bei Zeit zwei neun.« Der riesige Becher kippte erneut zur Seite und richtete sich auf die fliehenden Syndiks.

»Die holen wir nicht mehr ein«, grummelte Desjani.

»Doch, das kriegen wir hin.« Geary zeigte auf die Eingreiftruppe Furious, die seitlich von oben auf die Syndiks zugeschossen kam. Das Syndik-Manöver, das erforderlich war, um den Sprungpunkt zu erreichen, hatte die Flotte auf Cresidas Formation hin ausgerichtet, wodurch es möglich wurde, die führenden Syndiks abzufangen.

Desjani grinste nicht, sondern bleckte die Zähne, als die Furious mit ihren Schiffen über den Gegner hinwegflog und das Feuer auf die leichteren Kriegsschiffe konzentrierte, um die verbliebenen großen Schiffe ihrer Eskorten zu berauben. Dann tauchte Cresidas Formation ab, um die Syndiks von unten zu beschießen. Ein weiteres Schlachtschiff löste sich trudelnd aus der Gruppe, während es von sekundären Explosionen durchgeschüttelt wurde.

Geary betrachtete die aktuelle Lage, beurteilte die Geometrie des Gefechts und kam zu einem Entschluss, während er zusah, wie die drei beschädigten Kriegsschiffe immer weiter hinter den Rest der Syndik-Formation zurückfielen. »Zweite Schlachtschiffdivision, Sie sind hiermit von der Bewachung der Hilfsschiffe entbunden. Fangen Sie die drei Syndik-Schlachtschiffe ab, die der Formation zu folgen versuchen, und zerstören Sie sie.«

Aufgrund der Entfernung dauerte es fast eine Minute, ehe die Antwort eintraf, doch die klang dafür umso begeisterter. »Zweite Schlachtschiffdivision hat verstanden. Wir sind schon auf dem Weg.«

Geary widmete sich wieder der zusammengeschossenen Syndik-Flotte, die unverändert versuchte, der Eingreiftruppe Furious zu entkommen, die ihrerseits wieder und wieder den vorderen Teil der Formation unter Beschuss nahm. Die Syndiks wurden kontinuierlich langsamer, da die noch unversehrten Schiffe sich an die Geschwindigkeit ihrer beschädigten Schwesterschiffe anpassten. Doch Geary erkannte auch, dass die Schilde der Schiffe seiner Eingreiftruppe von den häufigen Vorbeiflügen geschwächt worden waren. »Alle Einheiten, beschleunigen Sie auf 0,18 Licht.« Aber das würde möglicherweise nicht genügen, womit ihm nichts anderes übrigblieb, als einen weiteren Befehl zu erteilen, den er lieber vermieden hätte. »Alle Einheiten, nehmen Sie die Verfolgung auf. Schnappen Sie sich die Syndiks, bevor die uns entkommen können.«

Schon zuvor hatte er das beobachten können, dennoch versetzte es ihn auch jetzt wieder in Erstaunen, wie schnell seine so sorgfältig angeordnete Formation sich auflösen konnte, wenn er allen Schiffen freie Hand ließ. Ein Schwarm aus Zerstörern und Leichten Kreuzern machte bei maximaler Beschleunigung einen Satz nach vorn. Jedes für sich hätten diese Schiffe keine Chance gehabt, einem Schlachtschiff zu schaden, aber ihre große Zahl bedeutete mehr Feuerkraft, als selbst die Schilde eines solchen Schiffs aushalten konnten. Waren dann erst einmal deren Antriebssysteme beschädigt, wurden sie zwangsläufig langsamer, sodass zuerst die Schlachtkreuzer und dann die Schlachtschiffe sie einholen und ihr Schicksal besiegeln konnten. »Eingreiftruppe Furious, konzentrieren Sie sich darauf, die überlebenden großen Schiffe zu bremsen.«

Im Prinzip existierte die Syndik-Formation immer noch, war aber extrem in die Länge gestreckt worden, während sie unablässig von der Allianz beschossen wurde. Der einzelne Schlachtkreuzer, der noch überdauert hatte, befand sich ein deutliches Stück vor dem Rest seiner Flotte, doch damit war er auch zu weit entfernt, als dass seine eigenen Schlachtschiffe ihm hätten helfen können, als die Eingreiftruppe einen Regen aus Höllenspeeren auf seine Heckpartie niederprasseln ließ, die den größten Teil der Hauptantriebssysteme ausschalteten.

Während der Schlachtkreuzer an Fahrt verlor, kamen die Eskorten in die Reichweite der hinterherhängenden Syndik-Schlachtschiffe und feuerten alle verfügbaren Waffen auf deren Heckpartien ab. Innerhalb von zehn Minuten waren so viele Antriebseinheiten ausgefallen, dass sie unweigerlich langsamer wurden. Sie versuchten noch, sich mit Höllenspeeren zur Wehr zu setzen, doch die konnten der Masse an vorbeirasenden leichten Allianz-Schiffen nichts anhaben.

Die Verfolger rückten unerbittlich näher, wobei einige Zerstörer und Leichte Kreuzer beschädigt zur Seite auswichen, sodass der Rest ein Schiff nach dem anderen unter Beschuss nehmen konnte. Die Falcata kam zu nahe und musste eine Reihe von Treffern einstecken, die sie in ein Wrack verwandelten.

»An die Schweren Kreuzer: Meiden Sie die Schlachtschiffe und erledigen Sie diesen Schlachtkreuzer«, befahl Geary. Er wollte keinen seiner Schweren Kreuzer bei einem Wettkampf mit Schlachtschiffen verlieren, die immer noch gefährlich werden konnten. So gehorsam, wie Geary es ihnen noch vor ein paar Monaten niemals hätte zutrauen wollen, machten sie einen Bogen um die Schlachtschiffe und gingen stattdessen auf einen Abfangkurs zu dem vorauseilenden Schlachtkreuzer, der immer noch gefährlich genug war, um die Zerstörer und die Leichten Kreuzer der Allianz auf Abstand zu halten.

Die Fearless, die Resolution, die Redoubtable und die Warspite steuerten in einem flachen Winkel auf das hinterste Syndik-Schlachtschiff zu, das der Fearless als führendem Schiff ein Sperrfeuer aus Raketen, Kartätschen und Höllenspeeren entgegenschickte. Dennoch kamen alle vier Allianz-Schlachtschiffe näher und näher und eröffneten das Feuer erst, als sie nahe genug waren, um ihre eigenen Höllenspeere auf die Syndik-Schilde niederprasseln zu lassen. Die hinteren Schilde waren massiv verstärkt worden und hielten stand, bis die Fearless nahe genug herankam, um auch die seitlichen Schilde zu beschießen.

Die Schilde brachen zusammen, und dann durchbohrten die Höllenspeere den Rumpf. Die Waffensysteme des Syndik-Schiffs verstummten, und auf Gearys Display wurde der Ausfall fast aller Schiffssysteme angezeigt. Die Fearless feuerte eine Null-Feld-Ladung ab, die ein großes Loch in den Rumpf fraß. Rettungskapseln schossen zu allen Seiten aus dem Schlachtschiff, erst vereinzelt, dann in Zweier- und Dreiergruppen und schließlich in Massen. Als die Dauntless und ihre Schwesterschiffe schließlich vorüberflogen, verließen nur noch ein paar Nachzügler das Schiff. »Erledigt ihn«, befahl Desjani ruhig.

Die Höllenspeere der Dauntless regneten auf ganzer Länge auf das Syndik-Schlachtschiff herab, fraßen sich durch den Rumpf und zerstörten jedwedes noch funktionierende System an Bord. Als die Daring folgte, war das Syndik-Schiff eindeutig tot.

Captain Duellos’ Schiff Courageous nahm sich mit der Formidable, Intrepid und Renown ein weiteres beschädigtes Schlachtschiff vor und attackierte es mit solcher Gewalt, dass das Heck abbrach und beide Teile weiter ihrer letzten Flugbahn folgten.

Der letzte Syndik-Schlachtkreuzer, dessen Antriebssysteme nun auch ausgefallen waren, begann Rettungskapseln auszustoßen, obwohl viele seiner Waffen noch funktionstüchtig zu sein schienen. Geary vermutete, dass diese Systeme auf automatisches Feuer gestellt worden waren, was durchaus ausreichte, um Angreifern Respekt einzuflößen. Allerdings erfolgten die Auswahl von Zielen und der konzentrierte Beschuss nicht annähernd so gut wie unter der Handhabung durch einen Menschen. Mehr und mehr Schwere Kreuzer eröffneten das Feuer auf den Schlachtkreuzer, bis dessen Schilde versagten und schließlich auch das letzte Waffensystem verstummte, lange nachdem die Rettungskapseln das Schiff verlassen hatten.

Geary nahm sich einen Moment Zeit, um sich ein Bild davon zu machen, wo sich die Zweite Schlachtschiffdivision den drei beschädigten Syndik-Schlachtschiffen näherte. Zu seiner Verwunderung stieß auch dort schon eines der ersten Schiffe seine Rettungskapseln aus.

»So viel zum Thema, dass sie bis zum Tod kämpfen«, kommentierte Desjani.

»Welchen Sinn hätte das auch?«, wollte Rione wissen. »Die wissen doch, dass sie dem Untergang geweiht sind.«

»Man kämpft trotzdem weiter«, beharrte Desjani, die ihren Blick auf das nächste Syndik-Schlachtschiff gerichtet hielt, das von der Dauntless eingeholt wurde.

»Warum?«, hakte Rione nach.

Desjani warf Geary einen verzweifelten Blick zu, der verstand, was sie damit sagen wollte. Wie sollte man diese verquere Logik erklären, dass man manchmal einen aussichtslosen Kampf aus Gründen weiterkämpfen musste, die nichts mit der Hoffnung auf einen Sieg zu tun hatten? »Man macht es einfach«, wandte er sich an Rione. »Wenn Sie es nicht verstehen können, dann lässt es sich auch nicht erklären.«

»Ich verstehe, dass man weiterkämpft, wenn es noch eine Chance gibt, aber wenn es hoffnungslos ist …«

»Manchmal siegt man selbst dann, wenn es hoffnungslos zu sein scheint. Und manchmal verliert man dort, aber bewirkt dabei etwas, das anderswo hilft. Zum Beispiel indem man dem Feind noch richtig wehtut, während der einen tötet. Oder indem man ihn auf diese Weise für eine gewisse Zeit beschäftigt. Wie gesagt, ich kann es nicht erklären. Das ist etwas, das man einfach macht.«

»So wie Sie«, entgegnete Rione und sah ihn an. »Vor einem Jahrhundert.«

»Ja.« Er wich ihrem Blick aus, da er nicht an diesen hoffnungslosen Kampf zurückdenken wollte. An dem Tag war er derjenige gewesen, der mit einer erdrückenden Übermacht konfrontiert worden war. Er hatte gewusst, dass es für ihn eine Chance gab, den Überraschungsangriff auf den Konvoi hinauszuzögern, den er beschützen sollte. Er hatte gehofft, dass sich der Konvoi in Sicherheit bringen könnte und dass die anderen Kriegsschiffe entkommen würden. Aber es hatte keine Hoffnung gegeben, dass seinem eigenen Schiff ebenfalls die Flucht gelingen würde, auch wenn er die ganze Zeit über so getan hatte.

Er versuchte, sich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte — diese Taubheit in seinem Inneren, die ihn weitermachen ließ, während sein Schiff um ihn herum zerstört wurde und seine Kameraden entkamen. Aber da war jetzt zum größten Teil nur noch eine verschwommene Erinnerung, die ihm in Bruchstücken zeigte, wie sein Schiff ringsum in Stück gerissen wurde, wie die letzten Waffen aufhörten zu feuern, wie er die Selbstzerstörung aktivierte und durch die Korridore hastete, die durch die Zerstörungen fremd wirkten. Wie er zu einer Rettungskapsel lief, von der er hoffte, dass sie nicht vernichtet worden war. Sie war dort gewesen, wenn auch beschädigt. Aber da ihm keine Hoffnung und keine Zeit blieb, stieg er ein und ließ sie aus dem Schiff ausstoßen. Er versuchte, sich zu erinnern, wie er fast hundert Jahre im künstlichen Tiefschlaf verbrachte, weil das Notsignal der Kapsel nicht arbeitete und ihn niemand finden konnte. Bis diese Flotte das gleiche Sternensystem durchflog, um zur Heimatwelt der Syndiks zu gelangen, und ihn fand und auftaute.

In gewisser Weise war er an diesem Tag gestorben. Als er erwachte, war der John Geary verschwunden, den er kannte, und an seine Stelle war das unglaubliche edle und heldenhafte Bild von Black Jack Geary getreten, des legendären Helden der Allianz.

»Ja«, wiederholte er. »So ungefähr.«

Rione sah ihn an, in ihren Augen blitzte eine Gefühlsregung auf, die er nicht so recht zu deuten wusste.

»Kartätsche abfeuern«, befahl Captain Desjani, da sich die Dauntless einem weiteren beschädigten Syndik-Schlachtschiff näherte, das so langsam flog, dass ein gemächlicher Vorbeiflug unter gleichzeitigem Beschuss möglich war. Die Kartätsche bildete ein Muster aus tanzenden Lichtern, als sie auf den Schild des gegnerischen Schiffs traf. Die Daring und die Victorious feuerten von oben und unten auf den Feind und halfen, die Schilde weiter zu schwächen. Plötzlich feuerte das Syndik-Schiff ein Salve Höllenspeere ab, die konzentriert auf die Dauntless gerichtet waren. Geary sah, wie die Schilde durch den Beschuss geschwächt wurden, obwohl die Verteidigungssysteme längst damit beschäftigt waren, Energie aus den Teilen des Schiffs umzuleiten, wo sie nicht benötigt wurde. Der Schlachtkreuzer der Allianz erwiderte das Feuer, seine Höllenspeere bohrten sich durch die Panzerung des Gegners und sorgten für Chaos innerhalb des Schiffs. Null-Felder, die von der Dauntless und der Daring abgeschossen wurden, lösten ganze Teile des Schiffs in nichts auf. Da auch die Victorious sich weiter an dem Gefecht beteiligte, war das ohnehin sehr stark in Mitleidenschaft gezogene Schlachtschiff seinen Gegnern hoffnungslos unterlegen. Seine Waffen fielen nacheinander aus, aus den in den Rumpf geschossenen Löchern entwich die Atmosphäre, und die von den Null-Feldern erzeugten Krater wirkten so, als hätte ein unvorstellbar riesiges Monster Stücke aus dem Schiff gebissen.

Die Dauntless und ihre Schwesterschiffe überflogen das verstummte Syndik-Schiff, das seine Rettungskapseln auszustoßen begann, während es sich um seine eigene Achse drehte und ganze Stücke vom Rumpf abbrachen. »Und das ist für die Terrible«, murmelte Desjani.

Geary verschaffte sich abermals einen Überblick über die Gesamtsituation. Die Zweite Schlachtschiffdivision hatte die beiden anderen beschädigten Schlachtschiffe eingeholt, die nach wie vor auf der Flucht waren, und feuerte sie systematisch zu Schrott, während die leichteren Einheiten dafür sorgten, dass das aufgegebene Syndik-Schlachtschiff zerstört wurde. Nur ein anderes Syndik-Schlachtschiff erwiderte noch das Feuer, und während Geary zuschaute, erzitterte es unter dem vereinten Beschuss von einem halben Dutzend schwerer Allianz-Schiffe.

Die Jäger und die Leichten Kreuzer des Gegners waren bereits ausgelöscht worden, und nun unterlag auch noch der letzte Schwere Kreuzer einem Schwarm aus Zerstörern und Leichten Kreuzern der Allianz. Eine Wolke aus Rettungskapseln war unterdessen auf dem Weg zu der kaum bewohnbaren Welt in diesem System, um Zuflucht zu suchen. Geary ließ seinen Blick über seine weit verstreute Flotte und die umhertreibenden Wracks der Syndik-Streitmacht schweifen, die nach Ilion gekommen war, um die Schiffe unter Captain Falcos Kommando zu verfolgen. Wir haben gesiegt. Aber wie lange können wir noch damit rechnen, dass auch die nächste feindliche Streitmacht uns zahlenmäßig so sehr unterlegen ist, dass uns der Sieg so leicht fällt? Und wie viele Schiffe kann ich mir leisten zu verlieren?

Die Invincible und die Hilfsschiff-Flotte hatten fast zu ihnen aufgeschlossen, doch Geary sah keine Möglichkeit, wie der Schlachtkreuzer gerettet werden konnte. Die Triumph, die Polaris und die Vanguard hatten es gar nicht erst bis hierher geschafft, zusammen mit einer ganzen Schar von leichteren Einheiten, die sie bei Vidha verloren hatten. Die Warrior, die Orion und die Majestic waren alle schwer beschädigt worden, und sie hatten etliche Besatzungsmitglieder verloren.

Rettungskapseln der Falcata sendeten Notrufe aus, und einige von Gearys übrigen Zerstörern waren bereits auf dem Weg zu ihnen. Aber was von der Terrible und ihrer Crew übrig geblieben war, das waren so winzige Partikel, dass nicht einmal die besten Sensoren der Dauntless sie noch ausmachen konnten. Niemand an Bord war noch in der Lage gewesen, das Schiff zu verlassen.

Die Allianz-Flotte hatte gesiegt, dafür aber einen hohen Preis bezahlt.

Es konnte Gearys Laune nicht bessern, dass es zu dieser Schlacht nicht gekommen wäre, hätte sich dieser selbstverliebte Captain Falco nicht mit einem Teil seiner Flotte abgesetzt.

Der Konferenzraum schien überlaufener als üblich. Das lag nicht nur daran, dass die Commander der dreizehn überlebenden Schiffe sich ihnen wieder angeschlossen hatten. Es hing auch damit zusammen, dass die Captains Falco, Kerestes, Numos und Faresa auf einer Seite des Raums standen. Die Marines, von denen sie bewacht wurden, waren nicht Teil des holographischen Programms, darum waren sie hier nicht zu sehen. Ihre Anwesenheit war aber zu ahnen, wenn man sah, wie die vier Captains sich verhielten.

Ein Stück weiter den Tisch entlang war das Abbild von Co-Präsidentin Rione zu sehen, die mit den Befehlshabern der Schiffe der Rift-Föderation und der Callas-Republik zusammensaß. Sie hatte sich nun doch dazu entschlossen, wieder an einer Konferenz teilzunehmen, jedoch nur im virtuellen Modus, indem sie ihr Bild aus ihrer Kabine hierher übertragen ließ. Geary fragte sich, welche Bedeutung dieser Entscheidung zukommen mochte. Aber vielleicht wollte Rione auch nur sicherstellen, dass sie aus Gründen der Politik oder der Moral mit den Vertretern der Schiffe ihrer eigenen Republik gesehen wurde.

Falco hielt den Kopf hoch erhoben und schaute sich so selbstbewusst um, als rechne er damit, jeden Moment das Kommando über die Flotte übernehmen zu können. Geary hatte leise Zweifel an der geistigen Verfassung dieses Mannes, der in keiner Weise besorgt zu sein schien und der nicht einmal erkennen ließ, ob ihm klar war, dass er unter Arrest stand. Captain Kerestes dagegen stand vor Angst stocksteif da, er strahlte Schock und Verständnislosigkeit aus. Seine lange und erfolgreiche Karriere, in deren Verlauf er jegliches Verhalten vermieden hatte, das ihm hätte schaden können, war nun in sich zusammengestürzt, nachdem er alle Entscheidungen dem falschen Mann überlassen hatte. Numos und Faresa dagegen waren nicht verängstigt, sondern unübersehbar wütend. Beide hatten nach Gearys Meinung noch irgendetwas in petto. Dabei sollten sie besorgt sein. Numos war nicht gerade der Hellste, aber er war schlau genug, um zu wissen, wann man ihn zur Rechenschaft ziehen würde.

Geary stand auf und lenkte die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich. »Zunächst einmal möchte ich jedem Schiff, jedem Offizier und Matrosen dieser Flotte zu diesem außerordentlichen Sieg gratulieren. Der Verlust der Terrible und der Falcata war ein hoher Preis, aber die Syndiks mussten noch einen viel höheren Preis bezahlen. Bedauerlicherweise müssen wir auch den Verlust der Triumph, der Polaris und der Vanguard sowie einiger kleinerer Einheiten zur Kenntnis nehmen. Mir wurde außerdem mitgeteilt, dass die Invincible zu schwer beschädigt wurde, um noch eine Reparatur zu rechtfertigen. Deshalb werden wir sie aufgeben müssen.« Alle reagierten bestürzt auf diese Mitteilung. »Der momentane Befehlshaber der Invincible kann an dieser Konferenz nicht teilnehmen, weil die Schiffssysteme so massiv zerstört wurden, dass eine Übertragung nicht möglich ist. Diejenigen, die Captain Ulan persönlich kannten, werden mit Trauer zur Kenntnis nehmen, dass er beim Kampf im Strena-System fiel, als die Invincible ihren Schwesterschiffen während des Rückzugs aus dem System Rückendeckung gab.« Viele Offiziere bedachten Kerestes, Numos und Faresa mit finsteren Blicken. Sie hatten einem Schlachtkreuzer den Schutz seiner Kameraden überlassen. Das war eine Aufgabe für ein Schlachtschiff, das besser in der Lage war, anhaltenden Beschuss zu absorbieren. Trotzdem hatten die Warrior, die Orion und die Majestic das der Invincible überlassen.

»Ich widerspreche der Entscheidung, die Invincible aufzugeben«, ließ plötzlich eine energische Stimme verlauten. Ungläubig drehte sich Geary zu Captain Falco um, der sein markantes selbstbewusstes und gefälliges Lächeln zur Schau stellte. »Wir flicken die Invincible weder zusammen, und dann kehren wir zurück nach Vidha, wo die Triumph …«

»Ruhe.« Geary konnte die sich anschließende Stille nicht nur hören, sondern auch fühlen. »Sie sind nur aus dem Grund hier, gemeinsam mit allen anderen den Anlass für Ihre Verhaftung zu erfahren. Ich überlege immer noch, welche Anklagen die richtigen sind für Ihre Verfahren vor dem Kriegsgericht, wenn diese Flotte zur Allianz zurückgekehrt ist.« Falco konnte noch so beliebt sein, Geary würde ihn für diesen Akt der Meuterei nicht ungeschoren davonkommen lassen.

»Warum wollen Sie so lange warten?«, warf Captain Cresida ein. »Halten Sie ein Tribunal ab, und dann erschießen Sie diesen Hurensohn. Das wäre noch ein gnädigeres Schicksal als das, das die Dummköpfe ereilt hat, die ihm unbedingt folgen mussten.«

Daraufhin kam am Konferenztisch Unruhe auf. Einige Commander schienen Cresidas Vorschlag von ganzem Herzen zu unterstützen, aber viele andere zeigten sich geschockt oder ablehnend. Geary atmete tief durch, ehe er erwiderte: »Ihre Bemerkung war unangemessen, Captain Cresida. Captain Falco kann auf einen langen und erfolgreichen Dienst für die Allianz zurückblicken. Wir müssen davon ausgehen, dass die Belastung durch die Kriegsgefangenschaft im Arbeitslager bei ihm zu langfristigen Problemen geführt hat, die behandelt werden müssen.« Er hatte lange überlegt, was er über Falco sagen sollte, wie er den Respekt, den der Mann bei vielen Offizieren und Matrosen genoss, damit unter einen Hut brachte, dass niemand auf die Idee kam, seinen Arrest infrage zu stellen. »Captain Falco scheint in seiner Urteilsfähigkeit und damit in seiner Kommandotauglichkeit stark eingeschränkt zu sein. Erste Berichte von den Schiffen, die das Gefecht bei Vidha überstanden haben, lassen den Schluss zu, dass er nicht in der Lage war, die Flotte zu führen. Zu seiner eigenen Sicherheit und zur Sicherheit dieser Flotte muss Captain Falco bis auf Weiteres in Gewahrsam bleiben.«

Viele Offiziere machten eine betretene Miene, manche zuckten angesichts seiner Worte zusammen, doch niemand wagte es, ihm zu widersprechen. Merkwürdigerweise reagierte Falco selbst nur auf seine übliche Art, indem er die Stirn in Falten zog. »Wenn wir Mut zeigen, dann ist der Sieg zum Greifen nah. Diese Flotte braucht meine Führung. Die Allianz braucht meine Führung.« Seinen Bemerkungen folgte Schweigen. »Wenn die Syndiks in dieses System kommen, können wir bereit sein sie zu empfangen.«

Geary sah kurz zu den anderen Offiziere, ehe er entgegnete: »Captain Falco, die Syndik-Streitkräfte, die Ihre Schiffe verfolgten, sind bereits eingetroffen und wurden von uns vernichtet. Mir ist nicht klar, wieso Sie davon nichts wissen.« Was ging eigentlich in Falcos Kopf vor? Charisma war eine Sache, Selbstvertrauen war ebenfalls wichtig, aber wie konnte er so reden, als hätten sich die jüngsten Ereignisse nie zugetragen?

Falco stutzte, dann lächelte er abermals. »Gut. Exakt so, wie ich es geplant hatte. Ich werde mich mit dem Verhalten aller Schiffe während der Schlacht beschäftigen und Belobigungen und Beförderungen aussprechen, wo sie angebracht sind.« Er schaute sich um und grübelte einen Moment lang. »Warum findet diese Konferenz auf der Dauntless statt? Die Warrior ist nach wie vor das Flaggschiff der Flotte«, beschwerte er sich. »Wo ist Captain Exani?«

Geary musste kurz überlegen, ehe ihm einfiel, dass Exani der Befehlshaber der Triumph gewesen war. »Er ist wahrscheinlich tot.«

»Dann benötigt die Triumph einen neuen Commander«, erklärte Falco knapp und lächelte die Anwesenden entschlossen, wenn auch etwas betrübt an. »Jeder Offizier, der an diesem Kommando interessiert ist, soll nach der Konferenz mit mir Kontakt aufnehmen.«

»Die Vorfahren mögen uns beistehen«, flüsterte jemand.

Captain Duellos meldete sich mit ernster Stimme zu Wort. »Ich fürchte, Captain Falco ist noch dienstuntauglicher, als wir es vermutet haben.«

»Captain Falco«, begann Geary behutsam. »Die Triumph wurde zerstört, als sie die Schiffe schützte, die sich mit Ihnen aus dem Vidha-System zurückzogen.«

Falcos Lächeln bröckelte sichtlich. »Vidha? Ich war nicht in Vidha. Das System liegt tief in Syndik-Territorium. Warum war die Triumph dort?«

Das ließ einige am Konferenztisch erschrocken nach Luft schnappen.

»Sie folgte Ihnen«, antwortete Captain Tulev.

»Nein«, widersprach ihm Falco, schwieg sekundenlang und erklärte dann entschieden: »Ich muss mit dem Senat der Allianz sprechen. Es gibt eine Möglichkeit, diesen Krieg zu gewinnen, und ich kann das schaffen.«

Geary hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als er die Taste bediente, um mit den Marines auf der Warrior zu reden. »Entfernen Sie Captain Falco von der Konferenz und bringen Sie ihn in sein Quartier zurück.« Dann verschwand Falcos Bild aus dem Raum. Geary kniff kurz die Augen zu. Wie sollte er einen Mann vor Gericht stellen, der offensichtlich den Verstand verloren hatte? Duellos hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen, dass es Falco zerstören würde, wenn er sah, dass all seine Träume zerschmettert worden waren, die ihn das Syndik-Arbeitslager hatten ertragen lassen. Wunschtraum und Realität waren bei Vidha aufeinandergeprallt. Dann zerplatzte der Wunschtraum wie eine Seifenblase und riss Falcos Verstand mit sich. Vielleicht kam Falco auch nicht mit einer Realität zurecht, in der er nicht der Erretter der Allianz sein konnte.

So schmerzhaft es auch gewesen war, Falcos Auftritt mitanzusehen, machte er aber zumindest allen Anwesenden deutlich, dass dieser Mann nicht in der Verfassung war, eine Flotte zu befehligen.

Geary schlug die Augen wieder auf und sah Kerestes, Numos und Faresa an. »Haben Sie drei irgendetwas dazu zu sagen?«

Numos antwortete in seinem gewohnt arroganten Tonfall: »Wir haben die Befehle eines vorgesetzten Offiziers befolgt. Wir haben nichts Verkehrtes getan und müssen uns auch nicht rechtfertigen.«

»Tatsächlich?« Geary spürte, wie sich die Wut in ihm regte, die er dicht unter der Oberfläche zurückhielt. »Sie wussten ganz genau, dass Captain Falco nicht zur Befehlshierarchie dieser Flotte gehörte. Sie wussten, diese Flotte war auf dem Weg nach Sancere. Sie haben meine Befehle gehört, zur Flotte zurückzukehren.«

»Captain Falco erklärte uns, wir würden an einem Ablenkungsmanöver teilnehmen, über das Sie informiert gewesen seien, und alle Befehle von Ihrer Seite seien Teil dieses Manövers«, entgegnete Numos. »Er bestand darauf, dass wir darüber schwiegen und nur die Captains der großen Schiffe einweihen durften.«

Captain Tulevs Stimme war so kalt wie die Leere zwischen den Sternen, als er konterte: »Von denen bis auf Sie drei alle tot sind. Und der Mann, der Ihnen das angeblich gesagt hat, ist verrückt. Wie praktisch für Sie.«

Numos machte einen ehrlich entrüsteten Eindruck. »Wir konnten nicht wissen, dass dieser vorgesetzte Offizier den Verstand verloren hatte, daher haben wir nach besten Fähigkeiten seine Befehle befolgt. Wie können Sie es wagen, meine Ehre infrage zu stellen?«

»Ihre Ehre?«, warf Geary ein und wusste genau, wie schroff er sich anhörte. »Sie haben keine Ehre. Sie haben nicht nur gegen Ihren Eid gegenüber der Allianz verstoßen, Sie haben im Angesicht des Feindes wissentlich Befehle missachtet, und jetzt tischen Sie uns Lügen auf und schieben tote Offiziere und einen verrückt gewordenen Captain vor, um Ihre Lügen zu decken.«

»Wir bestehen auf einem Verfahren vor einem Kriegsgericht«, forderte Captain Faresa, die sich zum ersten Mal äußerte und noch giftiger dreinblickte, als Geary es in Erinnerung hatte. »Darauf haben wir ein Recht.«

»Ein Kriegsgericht?«, wiederholte Captain Duellos verwundert. »Damit Sie sich für unschuldig erklären, weil Sie angeblich geheime Befehle von Captain Falco befolgt haben? Damit Sie die Verantwortung für den Verlust von sechsundzwanzig Kriegsschiffen der Allianz leugnen können? Damit Sie jegliche Beteiligung am Tod dieser Besatzungen von sich weisen können? Haben Sie eigentlich gar kein Schamgefühl?«

»Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten«, erklärte Numos voll überheblichem Stolz.

»Ich sollte Sie dafür standrechtlich erschießen lassen.« Geary brauchte ein paar Sekunden, ehe ihm bewusst wurde, dass er diese Worte gesagt hatte. Und noch während ihm das klar wurde, wusste er, dass er es sogar tun konnte. Offiziere, denen Meuterei im Angesicht des Feindes vorgeworfen wurde, fanden im Gebiet der Allianz nur wenige Verteidiger und noch weniger Freunde. Hier zumindest schienen Numos und Faresa schon keine Freunde mehr zu haben, auch wenn Geary aus bitterer Erfahrung wusste, dass die Freunde solcher Leute sich seinem Blickfeld entziehen konnten. Aber keiner von ihnen war wie Falco, dem Heldenverehrung aus vergangenen Zeiten zuteilwurde und der auf die Schrecken im Arbeitslager verweisen konnte, um Mitgefühl zu wecken.

Ja, er konnte sie erschießen lassen. Er konnte den Befehl dazu erteilen, auch ohne Kriegsgericht oder Tribunal. Das hier war ein Schlachtfeld, und als Befehlshaber der Flotte konnte er auch Urteile verhängen. Wer würde jetzt und hier versuchen, ihn davon abzuhalten? Und wenn er die Flotte erst einmal nach Hause gebracht hatte, wer würde dann noch sein Handeln infrage stellen? Wer würde seine Entscheidungen diskutieren, wenn er allein diese Flotte zurück nach Hause führte? Niemand in der ganzen Allianz würde das wagen.

Er konnte Numos erschießen lassen. Faresa ebenso. Vielleicht auch Kerestes, obwohl der Mann die Kugel nicht wert zu sein schien. Niemand konnte ihn aufhalten, und Numos würde bekommen, was er verdient hatte. Der Gerechtigkeit wäre damit Genüge getan.

Es war so verlockend, weil es sich so richtig anfühlte und weil es der Zorn war, der ihn zum Handeln anzutreiben versuchte.

Geary atmete tief durch. So fühlt es sich also an, Black Jack Geary zu sein. Ich kann tun, was ich will. Ich kann meine eigenen Regeln aufstellen, ich bin ein Held. Der Held der Allianz. Der Held dieser Flotte. Und ich möchte Numos und Faresa so sehr für das bezahlen lassen, was sie angerichtet haben.

So sehr, dass ich von der Macht Gebrauch mache, von der ich immer behauptet habe, ich sei an ihr nicht interessiert? So sehr, dass ich mich wie ein Syndik-CEO aufführe? So sehr, dass ich zu dem Mann werde, für den mich Victoria Rione gehalten hat? Laufen darauf all meine Predigten an diese Menschen hinaus, wenn ich ihnen sage, sie sollen das tun, was ehrbar ist? Dass ich mich über meine eigenen Regeln hinwegsetze, weil ich das kann, wenn der Anlass für mich Grund genug ist? Wenigstens hat Falco ernsthaft geglaubt, er könne die Regeln brechen, weil er etwas Besonderes ist und weil nur er die Allianz retten kann. Ich könnte nicht mal diese Entschuldigung vorbringen. Ich würde es machen, weil andere mich für etwas Besonderes halten, während ich selbst gar nicht daran glaube.

Er sah zu Rione, die ihn mit ausdrucksloser Miene betrachtete. Doch ihre Augen durchbohrten ihn wie eine ganze Batterie aus Höllenspeeren. Sie wusste, was er dachte und fühlte.

Geary schaute nicht zu Numos, da er sich nicht sicher war, ob er beim Anblick dieses arroganten Mannes nicht doch den Befehl zur Hinrichtung geben würde. »Ich sollte es, aber ich werde es nicht machen. Dieser Zwischenfall wird gemäß den Buchstaben und dem Geist der Flottenvorschriften gehandhabt werden. Es wird Anklage gegen Sie erhoben, und falls sich die Gelegenheit dazu ergibt, wird noch vor der Rückkehr ins Allianz-Gebiet ein Kriegsgericht einberufen. Falls nicht, werden Sie den Allianz-Behörden übergeben, die die Anklage weiterverfolgen werden.«

»Wir verlangen, freigelassen zu werden«, beharrte Faresa. »Es gibt keinen Grund für diesen Arrest.«

»Treiben Sie es nicht auf die Spitze«, warnte Geary sie, erkannte im gleichen Moment aber, dass er Numos und Faresa vermutlich noch eine Freude bereiten würde, wenn sie ihn dazu brachten, seinen Prinzipien untreu zu werden und sie beide hinzurichten. Den Gefallen tue ich euch nicht. Nicht jetzt und nicht hier. Jedes Mal, wenn ich aufwache und wenn ich mich wieder schlafen lege, wird mir der Gedanke durch den Kopf gehen, dass ich sie für ihr Verhalten bezahlen lassen könnte. Mögen die Vorfahren mir helfen, nicht dieser Versuchung zu erliegen. »An Ihren Händen klebt das Blut von Matrosen der Allianz«, erklärte er. »Besäßen Sie einen Funken Ehre, würden Sie Ihr Offizierspatent zurückgeben. Besäßen Sie Mut, dann wären Sie geblieben und hätten die Triumph entkommen lassen.« Er nutzte seine Macht jetzt aus, indem er sie einschüchterte, während die Marines neben ihnen standen und sie es so hinnehmen mussten. Es war einfach viel zu leicht, seine Macht zu missbrauchen. Schließlich wandte er sich an die Marines, damit sie die drei wegbrachten, und sie verschwanden aus dem Konferenzraum.

Er fuhr sich durchs Haar, starrte auf die Tischplatte und versuchte, seinen Zorn abebben zu lassen. Nach ein paar Sekunden wandte er sich wieder den anderen Offizieren zu und hoffte, dass seine Stimme ruhig klang, als er zu reden begann. »Es wird eine Weile dauern, bis die Invincible vollständig evakuiert ist. Ihre Crew hat sich in herausragender Weise verhalten. Sie und das Schiff werden eine lobende Erwähnung für besondere Tapferkeit erhalten, noch bevor die Besatzung von Bord geholt und das Schiff aufgegeben wird. Wir werden das Schiff anschließend sprengen, damit es nicht dem Feind in die Hände fallen kann. Den Verlust der Invincible bedauere ich zutiefst, ebenso den jüngsten Verlust der anderen Schiffe. Ich möchte, dass wir morgen bereit sind, das System zu verlassen, vorausgesetzt die Warrior, die Majestic, die Orion und die leichteren Einheiten, die Schäden davongetragen haben, sind bis dahin zum Sprung bereit. Ich möchte über alle Probleme informiert werden, die sich auf diesen Schiffen ergeben und die unsere Abreise verzögern könnten. Unser Ziel wird Tavika sein. Gibt es irgendwelche Fragen?«

Eine Frau mit geplagtem Gesichtsausdruck meldete sich zu Wort. »Was beabsichtigen Sie mit den Schiffen zu machen, die Captain Falco gefolgt sind, Sir?«

Geary betrachtete die Frau. Commander Gaes von der Lorica, einem der überlebenden Schweren Kreuzer. Ihr Schiff war bei der Invincible geblieben, als die sich schwerfällig in Sicherheit brachte. »Was denken Sie, was ich tun sollte?«

Sie setzte ein paar Mal vergeblich zum Reden an, dann sagte sie: »Uns für unser Verhalten zur Rechenschaft ziehen, Sir.«

»Wie schlimm war es bei Vidha?«, wollte Geary wissen.

Commander Gaes biss sich auf die Lippe und schaute einen Moment lang zur Seite. »Sehr schlimm. Der Gegner besaß eine erdrückende Übermacht. Auf dem Weg nach Vidha verloren wir an einem verminten Sprungpunkt bereits zwei leichte Kreuzer und einen Zerstörer. Bei der Ankunft im Vidha-System fielen vier weitere Schiffe Minenfeldern zum Opfer. Die Polaris wurde so schwer beschädigt, dass sie den Anschluss an die Flotte verlor. Die Syndiks kamen auf uns zu, und als wir nach Befehlen fragten, kam keine Antwort. Die Triumph wies uns an, die Flucht zu ergreifen, während sie uns den Rücken freihielt. Ohne sie wäre keiner von uns mehr da rausgekommen.« Sie hielt kurz inne. »Mein XO ist bereit, das Kommando über mein Schiff zu übernehmen.«

Gaes hatte sich vermutlich genauso schuldig gemacht wie Numos, aber immerhin was sie bereit, die Konsequenzen für ihr Handeln zu tragen. Und sie war bei der Invincible geblieben, um nach Kräften zu helfen, wie ein beschädigter Schwerer Kreuzer einem noch stärker in Mitleidenschaft gezogenen Schwesterschiff eben helfen konnte. »Noch nicht«, erwiderte Geary. »Sie haben einen schweren Fehler gemacht, und das gilt auch für die Commander der anderen Eskortschiffe. Im Gegensatz zu gewissen Captains sind Sie bereit, Ihren Fehler einzugestehen und die Verantwortung zu übernehmen. Sie waren außerdem so tapfer und ehrbar, dass Sie die Invincible nicht im Stich ließen. Das ist mir nicht entgangen. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen bin ich bereit, Ihnen eine zweite Chance zu geben. Werden Sie diesmal bei der Flotte bleiben, Commander Gaes?«

»Ja, Sir.«

»Dann zeigen Sie mir, wie gut Sie als Befehlshaberin sein können. Sie und die anderen. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich Sie alle ganz besonders im Auge behalten werde. Können Sie damit leben?«

Sie sah Geary wieder mit diesem geplagten Blick an. »Ich werde mit den Erinnerungen an Vidha leben müssen, Sir.«

»Da haben Sie recht. Ich hoffe, es wird Sie und die anderen zu besseren Offizieren machen. Wenn einer von Ihnen zu der Ansicht gelangt, dass er die Last seines Kommandos nicht länger ertragen kann, dann soll er es mich wissen lassen. Bis dahin führen Sie weiter Ihre Befehle aus, Commander Gaes.«

Sie nickte bestätigend. »Das werde ich machen.«

»Dann sehen wir uns alle bei Tavika wieder.« Geary blieb sitzen, während die Bilder der anderen Offiziere rasch verschwanden — auch das von Victoria Rione. Desjani saß kopfschüttelnd da und schaute Geary mitfühlend an, dann entschuldigte sie sich, da sie sich um andere Aufgaben kümmern musste.

Nach kurzer Zeit war nur Captain Duellos’ Bild noch übrig. Er machte eine nachdenkliche Miene. »Ich habe mich nie für Captain Falco interessiert, aber so etwas ist traurig mitanzusehen, nicht wahr?«

Geary nickte und fragte: »Wie ziehen wir einen Mann zur Rechenschaft, der nicht mehr in dieser Welt lebt?«

»Vielleicht haben die Flottenärzte ja eine Möglichkeit, ihn zu heilen.«

»Damit wir ihn dann vor Gericht stellen können? Damit er seine Fähigkeiten einsetzen kann, um wieder das Kommando über die Flotte zu beanspruchen?« Geary lächelte bitter. »Oder sollen wir ihn heilen, damit er begreift, was er diesen Schiffen und ihren Besatzungen angetan hat, die ihm gefolgt sind? Das wäre schon eine Art Rache, nicht wahr? Aber würde Falco seine Schuld jemals einsehen? Oder würde er einen Weg finden, jegliche Verantwortung von sich zu weisen?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, was ich in einem solchen Fall als Gerechtigkeit ansehen soll«, gab Duellos zurück. »Aber Captain Falco hat lange Zeit in einem Universum gelebt, das sich nur um ihn drehte. Zugegeben, er war auch voller Hingabe für die Allianz, doch in seinem Weltbild sind er und die Allianz ein und dasselbe. Ich glaube, er würde niemals verstehen, welche Rolle er bei der Zerstörung dieser Schiffe gespielt hat.«

»Und die anderen?«, hakte Geary nach.

»Sind sie nicht verachtenswert?«, kommentierte Duellos angewidert. »Man kann nur hoffen, dass sie mit diesem Auftritt, mit dem sie jegliche Verantwortung für ihr Handeln von sich weisen wollten, auch noch ihre letzten Anhänger verprellt haben. Aber vielleicht auch nicht. Manche Leute finden immer einen Weg, sich aus der Affäre zu ziehen. Ich glaube, Sie sind mit Kerestes, Numos und Faresa richtig umgegangen. Aber was die Commander der leichteren Einheiten angeht, sollten Sie wissen, dass nicht alle von denen so wie Commander Gaes ihre Lektion gelernt haben.«

»Ich weiß, und ich werde sie auch im Auge behalten. Ich hasse es nur, Befehlshaber gleich im Rudel zu suspendieren. Das ist was für die Syndiks.«

»Manchmal ist das aber notwendig.« Duellos hielt inne und betrachtete Geary forschend. »Aber ich vermute, Sie waren etwas zu nachsichtig, nachdem Sie fast etwas zu rachsüchtig geworden wären.«

Geary versuchte, gegen einen Kopfschmerz anzukämpfen. »Das ist Ihnen aufgefallen?«

»Ja, das ist es. Ich weiß nicht, wer es sonst noch gemerkt hat. Aber Sie haben eindeutig die richtige Entscheidung getroffen. Und das aus meinem Mund, wo ich einen Moment lang drauf und dran war, mich freiwillig zum Erschießungskommando zu melden.«

»Danke.« Geary musterte die Darstellung des Systems, die unverändert über dem Tisch schwebte. »Warum sterben Menschen wie die Besatzung der Terrible, während Leute wie Numos und Faresa weiterleben dürfen?«

»Ich fürchte, die Antwort darauf übersteigt meinen Verstand«, gestand ihm Duellos. »Ich weiß aber, dass ich heute Abend mit meinen Vorfahren darüber reden werde.«

»Ich ebenfalls. Mögen sie uns die Weisheit bringen, die wir benötigen.«

»Und den Trost. Wenn Sie anfangen, sich zu sehr auf diejenigen zu konzentrieren, die hier starben, Captain Geary, dann denken Sie an die Matrosen, die diesen Kampf überlebt haben und die unter Ihrem Kommando aus dem Heimatsystem der Syndiks entkommen sind.«

»Sie glauben, das würde es aufwiegen, wie? Das tut es aber nicht. Jedes Schiff, jeder Matrose, den wir verlieren, versetzt mir einen Schlag.«

»Und trotzdem ist es das, was wir tun müssen«, meinte Duellos zum Abschied.

Exakt sechzehn Stunden später beobachtete Geary auf seinem Display, wie das im All treibende Wrack der Invincible durch einen überhitzten Antrieb in Stücke gerissen wurde. Die Syndiks würden aus dem Schiff keinen Nutzen mehr ziehen können, und die Besatzungsmitglieder waren alle auf die Flotte aufgeteilt worden. Dennoch war es ein trauriger Moment, der ihn unwillkürlich an das Schicksal der Triumph erinnerte. »Alle Einheiten, beschleunigen Sie auf 0,05 Licht und gehen Sie auf Kurs nach unten eins drei Grad, backbord zwei null Grad bei Zeit fünf eins.« Der Moment war gekommen, nach Tavika zu springen und sich von Ilion zu verabschieden.

Er musste sich auf dem Schiff sehen lassen, er musste der Crew zeigen, dass er ihre Anstrengungen zu schätzen wusste und dass sie ihm wichtig war, obwohl das vorrangig in Captain Desjanis Zuständigkeit fiel. Gemächlich ging Geary durch die Korridore, grüßte Besatzungsmitglieder, blieb hier und da kurz stehen und unterhielt sich mit Matrosen, die tatsächlich an eine Heimkehr zu glauben begannen. Ihr Vertrauen in ihn machte ihn noch immer nervös, doch zumindest konnte er sich damit trösten, dass er zwar einige Fehler begangen, aber zugleich auch die Flotte so weit geführt hatte, obwohl immer wieder ernsthafte Hindernisse zu überwinden gewesen waren.

Plötzlich hörte er leise, aber wütende Stimmen, und als er um die nächste Ecke bog, sah er Captain Desjani und Co-Präsidentin Rione, die sich in dem ansonsten menschenleeren Korridor so dicht gegenüberstanden, als wollten sie sich jeden Moment gegenseitig an die Gurgel gehen. Als sie ihn bemerkten, verstummten sie beide. »Stimmt etwas nicht?«

»Nein, Sir«, antwortete Desjani knapp. »Eine persönliche Angelegenheit. Wenn Sie gestatten, Sir.« Dann salutierte sie präzise und ging rasch weg.

Gearys Blick wanderte zu Rione, die Desjani aufgebracht hinterhersah. »Was ist hier los?«

Sie verbarg ihre Verärgerung hinter einer neutralen Miene. »Sie haben Ihren Offizier gehört, Captain Geary. Eine persönliche Angelegenheit.«

»Wenn es mich betreffen sollte …«

»Glauben Sie etwa, wir würden um Sie kämpfen, Captain Geary?«, fragte sie spöttisch.

Wut stieg in ihm auf. »Nein. Aber ich habe ein Recht zu erfahren, wenn es zwischen Ihnen und Captain Desjani Unstimmigkeiten gibt.«

Rione reagierte wieder mit diesem kühlen Gesichtsausdruck, der nichts von dem verriet, was in ihr vorging. »Aber nein, Captain Geary. Captain Desjani und ich verstehen uns bestens.« Sie sagte es so, dass es wie eine Lüge klang, und er wusste, sie machte das absichtlich. Der Grund dafür war ihm allerdings ein Rätsel.

Er versuchte, sein Temperament zu bändigen. »Victoria …«

Sie hob eine Hand, damit er schwieg. »Co-Präsidentin Rione hat zu diesem Thema weiter nichts zu sagen. Wenn Sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollen, dann befragen Sie Ihren Offizier. Guten Tag, Captain Geary.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging weg. Ihre steifen Bewegungen verrieten ihren Zorn.

Sie waren noch immer einige Stunden vom Sprungpunkt nach Tavika entfernt, und schon musste er sich mit einem neuen Problem beschäftigen. Aber was war überhaupt das Problem? Desjani war in letzter Zeit Rione gegenüber toleranter aufgetreten, auch wenn sie weit davon entfernt war, ihr vor Freude um den Hals zu fallen. Rione wiederum hatte es geschafft, seit der Konferenz einen Bogen um ihn zu machen. Er wusste noch immer nicht, was sie über die Geschehnisse während dieser Konferenz dachte, und in den kurzen Unterhaltungen seitdem war Rione immer wieder unter dem Vorwand ausgewichen, sie sei mit Recherche und anderen Aufgaben beschäftigt.

In seiner Kabine angekommen, setzte sich Geary hin, starrte eine Zeit lang auf sein Display, ehe er die interne Komm-Taste bediente. »Captain Desjani, kommen Sie bitte in meine Kabine, sobald Sie Zeit haben.«

»Ich bin gleich da, Sir«, meldete sie sich in einem neutralen Tonfall. Wenige Minuten später betrat sie seine Kabine und machte einen äußerlich gefassten Eindruck, doch ihre Augen ließen ihre Besorgnis erkennen.

»Setzen Sie sich bitte«, bot er ihr an, was sie auch tat, ohne sich dabei aber zu entspannen. Auch sonst saß sie in Habachthaltung da, doch jetzt wirkte es irgendwie verkrampft. »Es tut mir leid, wenn ich hartnäckig bleibe, aber ich muss Sie nochmals fragen. Können Sie mir sagen, was der Grund für den Streit zwischen Ihnen und Co-Präsidentin Rione war?«

Sie sah über seine Schulter an ihm vorbei, ihr Mienenspiel verriet nichts. »Ich muss Ihnen die Antwort darauf bei allem Respekt verweigern, Sir. Es ist eine persönliche Angelegenheit.«

»Das ist Ihr gutes Recht«, gab Geary widerstrebend zurück. »Aber ich muss wissen, ob Sie trotzdem weiterhin in der Lage sein werden, problemlos mit Co-Präsidentin Rione zusammenzuarbeiten.«

»Ich versichere Ihnen, Sir, dass ich vorbehaltlos in der Lage bin, meinen Pflichten auf eine professionelle Weise nachzukommen.«

Er nickte, ließ sich aber seine Unzufriedenheit anmerken. »Mehr als das kann ich von Ihnen nicht fordern. Lassen Sie es mich bitte wissen, wenn Sie das Gefühl haben, dass sich daran etwas ändert. Und wenn Sie es irgendwann für vertretbar halten, mir zu sagen, um was es bei diesem Streit ging, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie es mir mit Blick auf die Sicherheit dieser Flotte und ihres Personals anvertrauen würden.«

Desjani ließ sich weiterhin nichts anmerken. »Ja, Sir.«

»Ihnen ist doch klar, dass ich mich hier in einer Zwickmühle befinde.«

»Das tut mir leid, Sir.«

»Na gut.« Geary wollte ihr gerade sagen, sie dürfe wegtreten, da ging die Tür zu seiner Kabine auf und Rione trat ein — entweder zufällig oder aber in der vollen Absicht, die Tatsache kundzutun, dass sie uneingeschränkten Zutritt zu Gearys Quartier hatte. Es war auf jeden Fall ein bemerkenswerter Zufall, dass Rione ausgerechnet diesen Moment wählte, nachdem sie ihn seit der Konferenz beharrlich gemieden hatte.

Rione sah sie ohne eine erkennbare Regung an. »Störe ich?«

Desjani stand auf und präsentierte sich von einer gleichermaßen kühlen Seite. »Keineswegs, Madam Co-Präsidentin. Ich wollte sowieso gerade gehen.«

Fasziniert beobachtete Geary die beiden, die sich wie zwei Schlachtkreuzer belauerten: die Schilde auf maximaler Leistung, alle Waffen feuerbereit, aber doch völlig beherrscht, sodass die Situation sich nicht in ein Blutbad verwandeln konnte. Und er hatte nicht die geringste Ahnung, warum die beiden sich so feindselig verhielten. »Danke, Captain Desjani«, sagte er behutsam, während er sich fragte, ob wohl ein falsches Wort von seiner Seite genügen würde, um den Streit offen ausbrechen zu lassen. Er war nicht so von sich eingenommen, dass er geglaubt hätte, die beiden würden sich um ihn streiten, aber diese Erkenntnis half ihm nicht weiter, da er nach wie vor nicht wusste, was zwischen ihnen vorgefallen war.

Desjani verließ die Kabine, und es kam ihm fast so vor, als würde sich die Luke hinter ihr mit besonders viel Wucht schließen. Geary atmete schwer aus und sah Rione an. »Ich habe eine Menge um den Kopf, wie Sie wissen.«

»Das ist mir mehr als einmal deutlich geworden«, stimmte sie ihm in diesem merkwürdig distanzierten Tonfall zu.

Einen Moment lang musterte er sie und wunderte sich, wie sie mal so vertraut und mal so fremd erscheinen konnte, was manchmal sogar beides zugleich der Fall war. »Wer stattet mir diesen Besuch ab? Rede ich mit Victoria oder mit Co-Präsidentin Rione?«

»Das kommt darauf an. Rede ich mit John Geary oder Black Jack Geary?«

»Ich bin immer noch John Geary.«

»Tatsächlich? Vor Kurzem habe ich Black Jack zu sehen bekommen. Er war im Begriff, jemanden erschießen zu lassen. Er wollte es wirklich.«

»Er war nicht der Einzige, der das wollte.« Er wandte den Blick ab. »Mag sein, dass Sie Black Jack gesehen haben. Aber Black Jack hat keine Entscheidung getroffen.«

»Er stand aber dicht davor, nicht wahr?« Rione war mehr als eine Armlänge von ihm entfernt, sodass sie körperlich und emotional zu ihm auf Abstand blieb. »Was war das für ein Gefühl zu wissen, dass Sie hätten tun können, was Sie wollten?«

»Ein beängstigendes.«

»War das alles?«

Er atmete tief durch und dachte daran zurück, welche Gefühle ihm da durch den Kopf gegangen waren. »Ja. Es war beängstigend, weil es so verlockend war. Weil ich diese Idioten für das bezahlen lassen wollte, was sie angerichtet hatten. Und ich wusste, ich würde mit dem davonkommen, was ich tun wollte. Und dieses Wissen machte mir Angst.« Geary richtete seinen Blick wieder auf Rione. »Und was fühlen Sie?«

»Ich?« Sie schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich irgendetwas fühlen?«

»Heißt das, zwischen uns ist es aus? Sind Sie hergekommen, um mir das zu sagen? Gehen Sie mir deshalb seit der Konferenz aus dem Weg?«

»Aus?« Sie schien eine Minute zu benötigen, um über seine Frage nachzudenken, dann schüttelte sie erneut den Kopf. »Nein. Es gibt da … einige andere Dinge, um die ich mich kümmern muss. Aber ich möchte gern in John Gearys Nähe bleiben. Ich glaube, er könnte mich brauchen.«

»Und was ist mit Black Jack?«, fragte er, da er sich erinnerte, dass Rione ihm ohne Umschweife erklärt hatte, ihre oberste Loyalität gelte der Allianz, nicht ihm.

»Wenn er sich wieder zeigt, wäre ich auch gern in der Nähe.« Sie sagte es in einem ruhigen, nahezu gefühllosen Ton, während sie ihm in die Augen sah.

Um dafür zu sorgen, dass ich ehrlich bleibe?, überlegte er. Oder um sicherzustellen, dass du dich in einer Position befindest, um die Macht zu nutzen, von der Black Jack ohne zu zögern Gebrauch machen würde?

Oder um sicherzustellen, dass Black Jack der Allianz keinen Schaden zufügt, und um das notfalls dadurch zu verhindern, indem du mir im Schlaf ein Messer ins Herz jagst? Ist mir eigentlich je der Gedanke gekommen, dass ich mit einer Frau schlafe, die mich im wahrsten Sinne des Wortes umbringen könnte, wenn sie glaubt, nur so das beschützen zu können, woran sie glaubt? Und woran ich ebenfalls glaube?

Aber wenigstens kann ich sie auf diese Weise auch im Auge behalten.

»Es ist noch ein weiter Weg zurück zur Allianz«, erklärte er. »Aber wir werden es schaffen, und wenn sich uns noch so viele Syndiks in den Weg stellen. Diese Flotte wird heimkehren. Und Captain John Geary wird ebenfalls heimkehren. Jegliche Hilfe, die Sie dabei leisten können, ist gern gesehen. Und Sie selbst sind auch immer gern gesehen.« Jedenfalls fast immer.

»Dass die Flotte es zurück nach Hause schafft, daran glaube ich jetzt auch«, stimmte Rione ihm leise zu. »Ob es John Geary ebenfalls gelingen wird, das werden wir sehen.«

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