Zwei

Der fünfte Planet sah wie für ein Arbeitslager der Syndiks geschaffen aus. Er war zu weit von der Sonne entfernt, um jemals einen richtigen Sommer zu erleben, und über die Oberfläche erstreckte sich eine unauffällige Tundra, hier und da unterbrochen von einer zerklüfteten Gebirgskette, die wie Inseln aus einem Meer flacher, zäher Vegetation herausragte. Gletscher erstreckten sich weitläufig um die Polkappen und schienen einen Großteil des Wassers dieser Welt zu speichern, da die nicht von Eis bedeckten Flächen nur von kleinen Seen durchsetzt waren. Beim Anblick dieser kümmerlichen Welt war Geary auf Anhieb klar, warum das System nicht für würdig befunden worden war, einen Zugang zum Hypernet zu erhalten. Der vierte Planet konnte nicht absolut paradiesisch sein, da er sich etwas zu nahe an der Sonne befand und dort vermutlich unangenehm hohe Temperaturen herrschten, weshalb die Syndiks das Thema Sutrah als bedeutungslos abgehakt hatten, als sie ihr Hypernet schufen.

Als man noch auf den Sprungantrieb angewiesen war, der ein Schiff von einem Stern zum nächsten brachte, mussten alle die Systeme durchqueren, die sich zwischen Start und Ziel befanden. Jedem System war ein gewisser Anteil am Schiffsaufkommen sicher gewesen, da sie alle auf dem Weg zu irgendeinem Ziel lagen. Doch das Hypernet ermöglichte es den Schiffen, ohne Zwischenstopp den gewünschten Stern anzufliegen, auch wenn er noch so weit entfernt sein mochte. Ohne diesen Schiffsverkehr waren die Systeme, die keine besonderen Vorzüge aufwiesen, plötzlich im Nichts gestrandet und verkümmerten allmählich, da jeder, der dazu in der Lage war, in Systeme umsiedelte, die an das Hypernet angeschlossen waren. Die menschlichen Ansiedlungen auf dem fünften Planeten von Sutrah waren sogar einem noch schnelleren Schwund ausgesetzt als üblich. Die Sensoren wiesen zwei Drittel der Unterkünfte auf dieser Welt als verlassen aus, und es gab keine Hinweise darauf, dass sich dort noch irgendwelche Aktivitäten abspielten.

Geary konzentrierte sich auf die Darstellung des Arbeitslagers auf diesem Planeten. In der Nähe befanden sich Minen, die einen wirtschaftlichen Wert besitzen mochten, die aber ebenso gut nur dem Zweck dienen konnten, die Gefangenen zu beschäftigen. Mauern gab es rings um das Lager nicht, doch das war auch nicht nötig, da es weit und breit nur Tundra gab. Eine Flucht kam einem Selbstmord gleich, es sei denn, man versuchte zum Landeplatz zu gelangen, der jedoch mit einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben war.

Ihm wurde bewusst, dass Captain Desjani geduldig darauf wartete, von ihm bemerkt zu werden. »Entschuldigen Sie, Captain. Was halten Sie von meinem Plan?« Da Geary nur ungern mit der Flotte in einen Orbit um den Planeten einschwenken wollte, hatte er überlegt, sich der Welt zu nähern, die Geschwindigkeit zu verringern, damit die Shuttles abgesetzt werden konnten, um dann in einem weiten Bogen um die kleinen Monde des fünften Planeten zu fliegen und auf dem Rückweg die Shuttles mit den befreiten Gefangenen an Bord zu nehmen.

»Es ginge schneller, wenn wir einige Schiffe im Orbit lassen würden«, schlug Desjani vor.

»Ich weiß.« Er betrachtete nachdenklich das Display. »Hinweise auf Minenfelder gibt es keine, schwere Waffen scheinen sich auch nicht auf dem Planeten zu befinden, und selbst diese Militärbasis der Syndiks scheint nur noch mit halber Besetzung zu arbeiten. Trotzdem stört mich da irgendwas.«

Desjani nickte verstehend. »Nach dem Versuch der Syndiks, diese Handelsschiffe als Selbstmordkommandos gegen uns zu richten, kann ich verstehen, dass Sie skeptisch sind.«

»Die Syndiks hatten Zeit genug, um das Minenfeld einzurichten. Das heißt, sie hätten auch das Arbeitslager tarnen oder zumindest die Gefangenen wegbringen können. Aber auf eine solche Maßnahme deutet nichts hin. Wieso nur? Weil die Einrichtung noch ein viel besserer Köder ist als diese leichten Kriegsschiffe in der Nähe des Sprungpunkts? Weil es etwas gibt, das wir nicht ignorieren können?«

»Allerdings haben wir keinen Hinweis auf irgendeinen erdenklichen Hinterhalt.«

»Stimmt«, pflichtete Geary ihr bei und fragte sich, ob er vielleicht nur übervorsichtig war. »Co-Präsidentin Rione sagte, die zivilen Führer dieser Welt seien nahezu in Panik gewesen, als sie mit ihnen sprach. Aber kein Offizier des Militärs habe für ein Gespräch zur Verfügung gestanden.«

Das ließ Desjani aufhorchen. »Interessant. Aber was könnten sie planen? Wenn sie irgendetwas vor uns verstecken, hätten wir es längst entdecken sollen.«

Gereizt tippte Geary auf einige Tasten. »Angenommen, wir schwenken in einen Orbit ein. Diese Flotte ist so groß, dass wir einen entsprechenden Abstand zum Planeten halten müssen.«

»Diese Monde werden uns dabei im Weg sein, allerdings sind sie nicht viel größer als Asteroide. Jede unserer Formationen kann ihnen mühelos ausweichen, da sie sich dicht beieinander befinden und einer festen Flugbahn folgen.«

»Ja, und sogar mit meinem Plan müssten wir an den Monden vorbeifliegen.« Er betrachtete mürrisch das Display. Nichts, was er seit seiner Rettung über diesen Krieg in Erfahrung gebracht hatte, half ihm jetzt weiter, also versuchte er, sich stattdessen daran zu erinnern, welche Lektionen er seinerzeit von erfahrenen, mittlerweile längst verstorbenen Offizieren gelernt hatte. Von jenen Männern, die in den ersten Jahrzehnten dieses Krieges ebenso gestorben waren wie diejenigen, an die sie ihr Wissen und ihre Tricks und Kniffe weitergegeben hatten. Aus irgendeinem Grund weckte der Anblick der kleinen Monde bei ihm die Erinnerung an einen dieser Tricks: ein einzelnes Schiff, das hinter einer viel größeren Welt lauert, um plötzlich hervorzuschießen und ein vorbeifliegendes Ziel anzugreifen. Aber das funktionierte hier nicht, denn die Monde des fünften Planeten waren viel zu klein, sodass sich dahinter allenfalls ein paar leichte Einheiten hätten verstecken können. Selbst wenn die einen Selbstmordversuch wagen sollten, würden sie gegen die geballte Macht der Allianz-Flotte nichts ausrichten können, die in einer dichten Formation unterwegs war, damit die Shuttles nur eine möglichst kurze Strecke zurücklegen mussten.

Aber was hätte der Commander dieses anderen Schiffs gesagt? »Wäre ich eine Schlange, hätte ich Sie beißen können. Ich war genau über Ihnen, und Sie haben es nicht mal geahnt.«

Geary grinste finster. »Ich glaube, ich weiß, was die Syndik-Militärs beabsichtigen und warum die Zivilisten auf der fünften Welt solche Angst haben. Wir werden an meinem Plan ein paar Änderungen vornehmen.«

Die fünfte Welt, die im typischen Bürokratenstil der Syndikatwelten den poetischen Namen Sutrah V trug, war bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit der Flotte nur noch dreißig Minuten entfernt. Nach seinem ursprünglichen Plan hätten die Schiffe an diesem Punkt einen Schwenk nach Backbord gemacht, um über den Planeten hinwegzufliegen und schließlich den Orbit der Monde von Sutrah zu kreuzen.

Wieder betrachtete er die fünf Monde, die im Abstand von nur ein paar zehntausend Kilometern untereinander als Gruppe die Welt umkreisten. Vor langer Zeit hatte womöglich ein einziger Trabant bestanden, der irgendwann den Anziehungskräften des fünften Planeten nicht mehr hatte standhalten können oder aber durch eine Kollision mit einem anderen Objekt in fünf Fragmente zerschlagen worden war.

Geary tippte auf seine Kommunikationskontrollen. »Captain Tulev, sind Ihre Schiffe bereit?«

»Bereit, Sir«, meldete Tulev ohne erkennbare Begeisterung.

»Sie dürfen das Feuer eröffnen«, befahl Geary ihm.

»Verstanden. Geschosse werden jetzt abgefeuert.«

Auf Gearys Display lösten sich große Objekte aus dem Pulk, den Tulevs Schiffe bildeten, Raketenantriebe beschleunigten sie auf etwas mehr als jene 0,1 Licht, mit denen die Flotte unterwegs war.

Co-Präsidentin Rione auf ihrem Beobachterplatz auf der Brücke der Dauntless sah zu Geary hinüber. »Wir feuern? Auf wen?«

»Auf diese Monde«, erklärte er und bemerkte, dass Captain Desjani ihre Belustigung über Riones Erstaunen zu überspielen versuchte.

»Die Monde der fünften Welt?« Ihr Tonfall verriet eine Mischung aus Skepsis und Neugier. »Haben Sie eine besondere Abneigung gegen Monde, Captain Geary?«

»Normalerweise nicht.« Geary amüsierte sich köstlich über die Tatsache, dass Riones Spione in der Flotte von dieser Operation nichts mitbekommen hatten.

Sie wartete und war schließlich so ungeduldig, dass sie sich zur nächsten Frage durchrang. »Und warum greifen Sie diese Monde an?«

»Weil ich glaube, dass sie Waffen darstellen.« Er tippte auf seine Kontrollen und ließ ein vergrößertes Bild der Monde entstehen, deren Oberfläche an die von Asteroiden erinnerte. »Sehen Sie das da? Hinweise darauf, dass dort Bereiche ausgeholt wurden. Gut versteckt, sodass wir erst einmal eine Weile danach suchen mussten. Aber wir sind fündig geworden.«

»Auf kleinen Monden ohne Atmosphäre?«, fragte sie. »Wie können Sie erkennen, dass es jüngeren Datums ist?«

»Von hier aus gar nicht. Aber auf allen fünf Monden sind identische Spuren zu finden.«

»Ich verstehe. Und was glauben Sie, was in diesen Monden vergraben wurde, Captain Geary?«

»Feuerwerkskörper, Madam Co-Präsidentin. Richtig große Feuerwerkskörper.« Die Anzeigen für die abgefeuerten Projektile näherten sich auf einer geschwungenen Flugbahn den Monden. Obwohl sie verheerende Schäden anrichten konnten, kamen solche Waffen für gewöhnlich nicht zum Einsatz, da sie recht schwerfällig waren und ein Schiff ihnen mühelos ausweichen konnte. Aber die Monde folgten einer festen Flugbahn, und das schon seit unzähligen Jahren, sodass der Gedanke etwas seltsam anmutete, dass sie das nach dem heutigen Tag nicht mehr machen würden.

Geary öffnete die Komm-Verbindung zur gesamten Flotte. »Alle Einheiten, führen Sie das vorbereitete Manöver Sigma bei Zeit vier fünf durch.«

Die Zeit lief zurück, und jedes Schiff in der Flotte drehte sich um seine Achse, um mit der Antriebseinheit die Geschwindigkeit zu verringern und um den Kurs nach Steuerbord zu ändern, damit sie Sutrah V auf der Seite passieren konnten, die von der Kollision der Monde mit den Geschossen abgewandt war. Geary beobachtete das Manöver und genoss das komplexe Ballett, als sich alle Schiffe vor der Schwärze des Alls gleichzeitig bewegten. Sogar die schwerfälligen und recht irreführend bezeichneten Schnellen Hilfsschiffe wie die Titan und die Witch bewegten sich mit einer ungewöhnlich anmutenden Schnelligkeit.

Zwanzig Minuten später bewegte sich die beständig langsamer werdende Flotte immer noch auf Sutrah V zu, als die großen Projektile von Tulevs Schiffen mit einer Geschwindigkeit von mehr als dreißigtausend Stundenkilometern fast gleichzeitig auf allen fünf Monden einschlugen.

Selbst der kleinste dieser Monde war nach menschlichen Maßstäben noch gewaltig, aber die mit jeder Kollision einhergehende kinetische Energie genügte, um einen ganzen Planeten zu erschüttern. Gearys Sicht auf die Monde war verdeckt, da die Sensoren der Dauntless automatisch die grellen Lichtblitze des Zusammenpralls filterten. Dann war nur noch eine schnell größer werdende Wolke aus Staub und Trümmern zu sehen, die sich von der Detonation wegbewegte.

Geary wartete in Ruhe ab, da er wusste, dass Desjani den Wachhabenden auf der Brücke bereits entsprechende Befehle erteilt hatte, die damit wussten, wonach sie Ausschau halten mussten. Bis zur ersten Meldung dauerte es nicht lange. »Spektroskopische Analyse ergibt ungewöhnlich große Mengen an radioaktivem Material und Spuren von Gasen, die zu sehr großen Nuklearsprengköpfen passen.«

»Sie hatten richtig vermutet«, stellte Desjani fest und ließ in ihrem Blick das grenzenlose Vertrauen erkennen, das Geary so zu schaffen machte. Er mochte es bei ihr genauso wenig wie bei jedem anderen in der Flotte, weil er davon überzeugt war, dieses Vertrauen früher oder später zu enttäuschen. Sie hielten ihn für vollkommen, und er wusste, dass das Gegenteil der Fall war.

»Würden Sie mir das bitte erklären?«, fragte Rione mit schneidender Stimme. »Warum sollten die Syndiks große Nuklearwaffen in diesen Monden verstecken? Einige der größeren Trümmerstücke werden Sutrah V treffen.«

»Sie waren bereit, dieses Risiko einzugehen«, antwortete Geary. »Angesichts der spärlichen Bevölkerung sind die Chancen gering, dass dort unten irgendetwas Wichtiges getroffen wird. Sehen Sie, Madam Co-Präsidentin, die Syndiks wussten, dass wir auf jeden Fall zu zwei Manövern gezwungen waren: Wir mussten uns dem Planeten nähern, und wir mussten in einer sehr kompakten Formation fliegen, damit unsere Shuttles nicht länger als unbedingt nötig unterwegs sein würden, um die Gefangenen aus dem Arbeitslager zu holen, zurückzukehren und sie auf den Schiffen zu verteilen.« Er deutete auf die Trümmerwolke. »Sobald wir in die Nähe dieser Monde gelangt wären, hätten sie die Explosionen ausgelöst und uns mit den Trümmerstücken bombardiert. Das hätte uns viele Schiffe gekostet, und vermutlich sogar einige große Kriegsschiffe.«

Riones Augen funkelten wütend. »Kein Wunder, dass diese Zivilisten solche Angst hatten, als ich mit ihnen sprach.«

»Ich bezweifele, dass die Führer des Planeten wussten, was genau ihnen bevorstand«, wandte Geary ein. »Aber ihnen war zumindest klar, dass die Syndik-Führer in diesem System etwas unternehmen würden.«

»Etwas, das sie der Gefahr eines Bombardements mit den Trümmerstücken der Monde und einem Vergeltungsschlag der Flotte ausgesetzt hätte.« Rione machte eine finstere Miene. »Captain Geary, ich weiß, das Kriegsrecht erlaubt Ihnen, auf diesen geplanten Anschlag mit einem flächendeckenden Bombardement der Einrichtungen und Städte auf Sutrah V zu antworten. Dennoch möchte ich Sie bitten, gegenüber den unbeteiligten Zivilisten auf dieser Welt Gnade walten zu lassen.«

Geary konnte fast Desjanis ablehnenden Gesichtsausdruck sehen, als er nickte. »Wir werden Vergeltung üben, Madam Co-Präsidentin, aber ich werde keine unschuldigen Zivilisten abschlachten. Nehmen Sie bitte mit den Zivilbehörden auf Sutrah V Kontakt auf und fordern Sie sie auf, sofort alle Industrieanlagen, Bergwerke und Transportcenter zu evakuieren. Alle Weltraumeinrichtungen sind ebenfalls zu räumen. Richten Sie ihnen aus, dass ich erst entscheide, wie viel ich davon zerstöre, und dass ich mir vorbehalte, weitere Ziele auf die Liste zu setzen, wenn ich weiß, wie unsere Marines im Arbeitslager empfangen worden sind.« Er ließ seine Wut über das durchschimmern, was unter anderen Umständen hätte geschehen können. »Machen Sie ihnen klar, wenn sich noch weitere Probleme ergeben, dann werden sie dafür bezahlen müssen.«

Rione nickte und lächelte flüchtig. »Gut, Captain Geary. Ich werde dafür sorgen, dass Ihre Befehle verstanden werden und dass ihr Überleben davon abhängt, wie sie mit uns kooperieren.«

Desjani rutschte hin und her, als sei ihr unbehaglich. »Das gilt auch für die Militärbasis, richtig, Captain Geary?«

Er sah auf sein Display und stellte fest, dass die Basis inzwischen in Sichtweite der Flotte gerückt war. »Ich nehme an, die wurde bereits evakuiert.«

Desjani stutzte und überprüfte ihre Anzeigen. »Nein, es scheint momentan eine teilweise Evakuierung zu laufen.«

»Teilweise?«

»Ja. Da sind einige Kolonnen mit Bodenfahrzeugen unterwegs, aber die scheinen lediglich Familienangehörige zu transportieren. Uniformiertes Personal ist kaum zu entdecken.« Desjani schaute fragend zu Geary. »Es sieht so aus, als planten die Syndik-Truppen, ihre Positionen bis zum Ende beizubehalten.« Es schien Desjani nicht zu stören.

Geary sah das jedoch anders. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Bodenfahrzeuge. Sonst hat nichts die Basis verlassen?«

»Mal sehen.« Diesmal zog Desjani verwundert die Augenbrauen hoch. »Ah, doch. Vor einer halben Stunde haben mehrere Luftfahrzeuge die Basis verlassen und sind zur nächstgelegenen Gebirgskette geflogen. Das System konnte sie verfolgen.«

»Die oberste Führungsebene. Die Herren Offiziere wollen sich in ihren Kommandobunker zurückziehen, um in Sicherheit und Luxus unseren Vergeltungsschlag abzuwarten«, erklärte er.

Desjani nickte zustimmend.

»Ich will diesen Bunker ausfindig machen.«

Sie grinste.

»Ich nehme an, wir haben genügend kinetische Salven, um damit ein Loch in massiven Fels zu sprengen, oder?«

»Ja, die haben wir, Sir«, erwiderte Desjani strahlend. Geary hatte soeben den Wunsch durchblicken lassen, Syndiks zu töten, und damit war ihre Welt wieder in Ordnung.

Ein ganzer Schwarm Shuttles hatte die Allianz-Flotte verlassen und senkte sich wie ein großer Insektenschwarm auf Sutrah V herab. Über ihnen waren die Schiffe der Flotte zu einer kompakten Formation zusammengeschlossen, die dennoch einen weitläufigen Bereich in Anspruch nahm. Geary wusste, dass die Bewohner von Sutrah V in diesen Sekunden ängstlich zum Himmel aufblickten, da sie wussten, dass diese Flotte den Tod auf sie herabregnen lassen und den ganzen Planeten binnen kürzester Zeit völlig unbewohnbar machen konnte.

Das virtuelle Display, das die Positionen der Shuttles anzeigte, schwebte gleich neben Gearys Platz. Die begleitenden Marines wurden daneben wie auf Sammelkarten dargestellt. Mit einer Bewegung seiner Finger konnte er mit jedem von ihnen in direkten Kontakt treten oder mittels Helmsensoren das sehen, was sie selbst sahen. Aber der einzige Marine, den er rief, war Colonel Carabali, da er niemanden in der Befehlskette übergehen wollte, auch wenn die technischen Möglichkeiten ihm genau das verlockend einfach machten.

»Die Erkundungsshuttles haben rings um das Arbeitslager keine Hinweise auf Nuklearwaffen oder andere Massenvernichtungswaffen finden können«, meldete Carabali. »Wir suchen noch einmal alles ab, dann landen die Erkundungsteams.«

»Können Sie bestätigen, dass die angegebene Zahl an Gefangenen zutrifft?«, fragte er sie.

»Sieht ganz so aus«, meinte sie grinsend. »Und von hier oben betrachtet, wirken sie ziemlich fröhlich.«

Geary lehnte sich lächelnd zurück. Seit seiner Rettung war er in viele Situationen geraten, mit denen er nie gerechnet hätte, und die meisten von ihnen waren unangenehm gewesen. Die Pflicht war für ihn eine schwere Last, doch jetzt waren da einige tausend Menschen, die niemals mit einer Befreiung gerechnet hatten, und die sahen nun die Flotte aus Shuttles, die sich ihnen näherte. Menschen, die vielleicht schon seit Jahrzehnten hier gefangen waren und keine Hoffnung mehr auf Rettung besaßen. Diese Flotte, seine Flotte würde sie retten, und das war ein gutes Gefühl.

Wenn die Syndiks bloß nicht noch einen weiteren Trick versuchten. Es war immer noch möglich, dass Tausende, die kurz vor ihrer Befreiung standen, doch sterben mussten.

»Erkundungsshuttles gelandet«, meldete Carabali und bestätigte damit die Anzeige auf Gearys Display, das er auf das Lager ausgerichtet hatte. »Teams gehen von Bord.«

Geary konnte der Versuchung nicht widerstehen und rief einen der Offiziere aus Carabalis Team auf. Ein Fenster öffnete sich, das den Blick vom Helm des Mannes aus darstellte. Staub und Schmutz waren ebenso zu sehen wie ramponierte Bauwerke. Der Himmel zeigte ein verwaschenes Blau, das zu Grau tendierte und so trostlos wirkte, wie das Leben in diesem Arbeitslager gewesen sein musste. Syndik-Wachen waren nirgends zu sehen, aber die Gefangenen hatten sich in Reihen aufgestellt, die Offiziere vor ihnen, während sie nervös und auch ein wenig benommen zusahen, wie die Marines an ihnen vorbeieilten, um nach Hinweisen auf mögliche Gefahren zu suchen.

Der Marine, durch den Geary das Geschehen mitverfolgte, blieb vor einer Gruppe von Gefangenen stehen und wandte sich der Frau an deren Spitze zu. »Wissen Sie, ob hier irgendwo Waffen verborgen sind? Irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten?«

Die dünne ältere Frau, deren Haut ledrig geworden war, nachdem sie ohne entsprechende Schutzkleidung wohl den größten Teil ihres Lebens hier zugebracht hatte, antwortete ruhig und präzise: »Nein, Lieutenant. Wir wurden letzte Nacht in unsere Quartiere geschickt und konnten nichts von dem beobachten, was draußen vor sich ging, aber wir hörten, wie die Wachen vor Sonnenaufgang in aller Eile das Lager verließen. Wir haben alles abgesucht, Waffen haben wir allerdings keine gefunden. Das Verwaltungsgebäude ist dieses dort drüben.«

Der Marine hielt kurz inne und salutierte. »Vielen Dank, Commander.«

Geary zwang sich, dieses Fenster zu schließen und stattdessen die gesamte Flotte im Auge zu behalten.

»Sieht ruhig aus«, ließ Desjani ihn wissen. »Die einzige feststellbare Aktivität sind die Kolonnen mit Evakuierten, die sich von den Zielen entfernen. Ein Trümmerstück der Monde bewegt sich auf eine Stelle zu, die rund dreihundert Kilometer vom Lager entfernt liegt«, fügte sie an und deutete auf das Display. »Rings um die Absturzstelle wird alles verwüstet werden, aber im Lager dürften sie davon wohl nur einen dumpfen Knall und die Ausläufer der Druckwelle mitbekommen.«

Geary las die Berechnung für den Aufprall durch. »Und vielleicht werden sie ein Zittern im Boden spüren. Immer, wenn wir bislang geglaubt haben, dass in diesem System Ruhe herrscht, warteten die Syndiks mit einer neuen bösen Überraschung auf. Was könnten wir diesmal übersehen haben?«

Desjani schürzte die Lippen und grübelte. »Die Marines untersuchen die Gefangenen, ob sie biologischen Kampfstoffen ausgesetzt wurden, die erst mit Verzögerung ihre Wirkung entfalten. Die Gefangenen selbst müssten bemerkt haben, wenn irgendetwas im Lager vergraben worden wäre. Die einzigen Syndik-Schiffe im System sind — von ein paar Frachtern abgesehen — die drei Jäger, die wir seit unserer Ankunft im Auge behalten und die alle mehr als eine Lichtstunde von uns entfernt sind. Ich würde ihnen zutrauen, dass sie den ganzen Planeten in die Luft jagen, nur um uns schwere Verluste zuzufügen, aber es gibt keine Waffe, die so etwas bewerkstelligen kann.«

Vor Geary öffnete sich ein Fenster, und Colonel Carabali salutierte. »Ich schicke jetzt die Hauptgruppe rein, Captain Geary. Bislang keine Bedrohung entdeckt.« Auf seinem Display konnte er mitverfolgen, wie der Pulk der Shuttles zur Landung ansetzte; viele davon außerhalb des Lagers, da nicht genug Platz vorhanden war. Marines stürmten heraus und wirkten in ihrer Gefechtsausrüstung selbstbewusst und todbringend.

Geary empfand den Anblick jedoch als besorgniserregend. Fast alle Marines der Flotte waren dort unten. Wenn ihnen etwas zustieß, würde er eine sehr wichtige Kampfeinheit verlieren, die zugleich jenen Teil der Flotte darstellte, auf deren Gehorsam er sich verlassen konnte. Im nächsten Moment gab er sich im Geist eine Ohrfeige, dass er die möglichen Verluste allein danach bemaß, anstatt daran zu denken, wie viele gute Männer und Frauen er verlieren würde.

Co-Präsidentin Rione schien Gearys Unbehagen zu teilen. »Nach all diesen Fallen, die uns die Syndiks hier gestellt haben, geht das jetzt fast schon eine Spur zu glatt.«

Geary nickte. »Aber im Lager ist nichts zu finden. Die Gefangenen sagten, sie hätten es selbst abgesucht, und sie müssten wissen, wenn sich dort etwas Ungewöhnliches befände.«

Wieder meldete sich Colonel Carabali. »Wir haben das Verwaltungsgebäude eingenommen und gehen jetzt die Akten durch. Alle Gefangenen sind mit Implantaten versehen, um ihre Position zu überwachen, außerdem verläuft um das Lager herum eine virtuelle Mauer, damit sie nirgendwo hingehen, wo sie nichts zu suchen haben. Wir deaktivieren derzeit die Implantate und die Mauer.«

»Gut.« Geary sah zurück zum Display. »Wenn die virtuelle Mauer abgeschaltet ist, können die Gefangenen das Lager verlassen und sich zu den Shuttles begeben«, sagte er zu Desjani.

»Verdammt!«

Abrupt drehte er sich auf seinem Platz herum, da ihn Riones lauter und untypischer Fluch völlig unvorbereitet getroffen hatte. Sie zeigte auf die Displays. »Außerhalb des Lagers, Captain Geary! Sie alle halten Ausschau nach Bedrohungen, die im Lager auf Sie warten könnten, aber die meisten Ihrer Shuttles sind außerhalb des Lagers gelandet!«

Geary spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, als ihm klar wurde, was Rione meinte. Er tippte auf seine Kontrollen, um Carabali zu rufen. »Außerhalb des Lagers, Colonel! Dort konnten die Gefangenen nicht hingehen, also konnten sie da auch nicht suchen! Wir haben uns bei unserer Suche ganz auf das eigentliche Lager konzentriert. Etliche Shuttles stehen da draußen, und dort sollen die Gefangenen hingebracht werden.«

Carabali presste die Lippen aufeinander. »Verstanden.«

Geary sah, wie das Kommando- und Kontrollnetzwerk der Marines aufleuchtete, als Carabali mit ihren Leuten Kontakt aufnahm. Einheiten, die unterwegs waren, um einen weiten Bereich zu sichern, begannen sich zurückzuziehen und schwärmten in Suchmustern aus, während andere aus dem Lager kamen, um die unmittelbare Umgebung abzusuchen.

»Nuklearwaffen hätten wir auch dort entdeckt«, wandte Desjani wütend ein.

»Richtig«, stimmte Geary ihr zu. »Aber da könnte auch etwas anderes vergraben sein.«

»Wir sind auf Minen mit verzögertem Auslöser gestoßen«, meldete sich plötzlich Carabali in kühlem Tonfall. »Eine Mischung aus Splitterbomben mit Chemikalien. Ältere Modelle, dennoch nicht so leicht zu entdecken. Hätten wir den Bereich jetzt nicht gesondert abgesucht, wären wir nicht auf die Dinger gestoßen. Meine Minenexperten vermuten, dass sie so eingestellt sind, dass sie erst reagieren, wenn sie genügend Menschen registrieren. Wir arbeiten mit hochenergetischen Impulsen, um die Zünder durchzuschmoren, damit sie keinen Schaden mehr anrichten können.«

»Und wie sieht es weiter weg vom Lager aus?«, wollte Geary wissen.

»Da suchen wir im Augenblick.« Wut mischte sich in Carabalis sonst so ruhigen Tonfall. »Ich werde einen umfassenden Bericht meines Versagens hinsichtlich dieser Bedrohung vorlegen, damit Sie die entsprechenden disziplinarischen Maßnahmen ergreifen können, Sir.«

Geary konnte sich einen Seufzer nicht verkneifen, während er zu Rione sah, die nun wieder mit regloser Miene dasaß. »Danke, Colonel, aber wir haben diese Möglichkeit genauso übersehen, also können wir uns die Schuld teilen. Sie können sich bei Co-Präsidentin Rione bedanken, weil es ihr noch rechtzeitig eingefallen ist.«

Als Carabali sich wieder meldete, schimmerte in ihren Worten Selbstironie durch. »Bitte richten Sie der Co-Präsidentin meinen Dank aus, Sir.«

Geary schaute Rione an. »Haben Sie das gehört?«

Rione nickte dankend. »Ich bin daran gewöhnt, die mögliche Bedeutung von Worten zu untersuchen. Es gibt Momente, da ist sogar der verschlagene Verstand eines Politikers noch zu etwas gut, nicht wahr, Captain Geary?«

»Ja, allerdings«, stimmte er ihr zu. Er sah Captain Desjani grinsen und erkannte, dass ihre Meinung über Rione sich soeben deutlich gebessert hatte.

»Die Zahl der Gefangenen und die Daten der Syndiks stimmen überein«, gab Carabali bekannt. »Meine Leute erfassen jetzt die ehemaligen Gefangenen und werden sie an Bord der Shuttles gehen lassen, sobald der Landebereich keine Gefahr mehr darstellt.«

Geary tippte auf eine Kontrolle und ließ die gesamte Oberfläche von Sutrah V darstellen. Quer über die ganze Karte waren unzählige Ziele markiert, und als Geary den Bereich heranzoomte, der die meisten Symbole aufwies, veränderte sich die Darstellung und zeigte die tatsächliche Landschaft. Die meisten industriellen Anlagen waren längst erkaltet, da sie seit langer Zeit nicht mehr in Betrieb waren. Der Raumhafen war heruntergekommen und baufällig. Als Geary andere Ziele betrachtete, wurde ihm klar, warum die Syndiks ein vergeltendes Bombardement riskiert hatten. Diese Welt verfügte über keinerlei aktive Industrie, sie besaß keine Ressourcen und militärisch war sie ohne Wert. Nur rund hunderttausend Menschen, die hierzu überleben versuchen. »Captain Desjani, verfügen wir über Daten zu Sutrah IV?«

Desjani konnte sich ein genüssliches Grinsen nicht ganz verkneifen, als sie die Daten auf Gearys Display übertrug. Sutrah IV ging es im Vergleich wesentlich besser als der Schwesterwelt. Okay, wir können die Syndiks nicht in dem Glauben lassen, dass wir ihnen das durchgehen lassen. Aber ich will keine Zivilisten töten, worauf die Syndiks vermutlich hoffen, weil sie das für ihre Propaganda ausschlachten können. Geary markierte die großen Raumhafen auf Sutrah IV, die Militärbasis, den Regierungskomplex in der Hauptstadt und zum guten Schluss alle orbitalen Einrichtungen. Dann schaltete er zurück zu Sutrah V und markierte den größten Raumhafen und die noch aktiven Industriegebiete.

Dann hielt Geary inne und musterte wieder die Militärbasis. Er zoomte den Ausschnitt heran und überflog die geheimdienstlichen Informationen, die daneben angezeigt wurden. Die Konvois mit Zivilisten waren noch immer unterwegs, und die meisten Militärs hielten die Stellung in der Basis. Wo sind diese sogenannten Anführer? Er veränderte den Maßstab und bekam die Daten geliefert. Linsen, die so entwickelt waren, dass sie über Milliarden von Kilometern Details erfassen konnten, zeigten ihm den Eingang zum Kommandobunker, wo sich die ranghöchsten Offiziere verkrochen hatten. Geary merkte, wie grimmig er grinste, als er dieses Ziel für eine kinetische Salve kennzeichnete, die beim Einschlag tief bis ins Innere vordrang.

Als er über das Schicksal von zwei Welten entschieden hatte, verließen soeben die ersten Shuttles Sutrah V, und die Allianz-Flotte kehrte von ihrer Schleife zurück, um jene Stelle zu passieren, an der sich vor Kurzem noch die fünf Monde befunden hatten. Viele kleine Trümmerstücke waren vom Schwerkraftfeld von Sutrah V erfasst worden und würden vielleicht eines Tages einen dünnen Ring um den Planeten bilden.

»Captain Geary«, meldete Colonel Carabali. »Alle Personen sind an Bord. Die letzten Shuttles sollten bei Zeit eins sechs starten.«

»Verstanden, Colonel, vielen Dank.« Geary übertrug die Zielerfassungsdaten an das Gefechtssystem, das die Ziele bewertete, die auf jedem Schiff verfügbaren Waffen erfasste und die Abschusswinkel berechnete, ehe es zwei Sekunden später einen detaillierten Plan ausspuckte. Geary überflog diesen Plan, überprüfte, wie viele kinetische Waffen ihn sein Vergeltungsschlag kosten würde, und kam zu dem Schluss, dass ihm genügend Geschosse zur Verfügung standen, selbst wenn die Titan und ihre Schwesterschiffe keinen Nachschub würden herstellen können. Beim Blick auf die geschätzte Zahl der Opfer hielt er inne. »Ich muss eine Nachricht an alle Syndiks in diesem System schicken.«

Desjani nickte und gab dem Kommunikationsoffizier ein Zeichen, der sofort einen Kanal öffnete und dann den Daumen hochreckte. »Sie können, Sir.«

Geary sammelte sich. Er vergewisserte sich, dass die letzten Allianz-Shuttles den Planeten verlassen hatten. »Bewohner des Sternensystems Sutrah, hier spricht Captain John Geary, Befehlshaber der Allianz-Flotte, die Ihr System durchfliegt. Sie wurden von Ihren Führern verraten. Deren hinterhältige Attacken auf diese Flotte und auf die Streitkräfte, die Kriegsgefangene befreit haben, zwingen uns, diese Taten mit einer Bombardierung Ihrer Welten zu vergelten.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »In der Hoffnung, einige unserer Schiffe zu beschädigen, haben diese Führer Ihr Zuhause und Ihr Leben in unsere Hände gelegt. Sie können sich glücklich schätzen, dass die Allianz-Flotte keinen Krieg gegen Zivilpersonen führt.« Jedenfalls nicht mehr. Zumindest nicht, solange Geary das Kommando hatte. Hoffentlich würden seine »altmodischen« Einstellungen eines Tages auch auf die anderen Offiziere abfärben.

»Wir werden Vergeltungsschläge gegen von uns ausgewählte Ziele auf Sutrah IV und Sutrah V führen. Eine Liste mit Zielen, die in von Zivilisten bewohnten Bereichen oder in deren Nähe liegen, wird dieser Mitteilung folgen, damit vor der Bombardierung eine Evakuierung erfolgen kann. Wir sind nicht dazu verpflichtet, eine solche Liste zur Verfügung zu stellen, aber unser Krieg richtet sich gegen Ihre Führer. Denken Sie immer daran, dass wir nach dem Kriegsrecht alles Leben in diesem System auslöschen dürften. Wir haben uns dagegen entschieden. Die Allianz ist nicht Ihr Feind, sondern Ihre eigenen Führer sind Ihre Feinde.«

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Auf die Ehre unserer Vorfahren!« Man hatte ihm gesagt, dass diese alte Form als Abschluss einer Nachricht kaum noch Verwendung fand, dennoch hielt er daran fest. Er glaubte immer noch daran, und es half ihm, sich in dieser Zukunft zurechtzufinden, in der der Ehre manchmal eine seltsame Bedeutung zukam. »Hier spricht Captain John Geary, Befehlshaber der Allianz-Flotte. Ende der Übertragung.«

Rione meldete sich hinter ihm zu Wort. »Danke, dass Sie das Leid der Zivilbevölkerung auf diesen Welten auf ein Minimum beschränken.«

Er sah zu ihr. »Gern geschehen. Aber ich hätte das so oder so getan. Es ist das, was die Ehre von mir verlangt.«

»Die Ehre unserer Vorfahren«, sprach Rione ohne eine Spur von Ironie in ihrem Tonfall.

Captain Desjani stand auf. »Die Shuttles der Dauntless werden in Kürze wieder andocken. Ich sollte mich zum Shuttlehangar begeben und unsere Gäste begrüßen.«

»Das sollte ich besser auch machen«, stimmte Geary ihr zu, erhob sich ebenfalls und versuchte, seine ablehnende Haltung zu überspielen. Es war tatsächlich seine Pflicht, die befreiten Gefangenen zu begrüßen, obwohl er sich viel lieber in seine Kabine zurückgezogen hätte, um dem damit verbundenen Rummel zu entgehen.

»Darf ich Sie begleiten?«, fragte Rione sie beide.

»Selbstverständlich«, erwiderte Desjani, die von der Bitte offenbar überrumpelt worden war. Sie musste überrascht sein, weil Rione eigentlich jedes Recht hatte, auf ihrer Anwesenheit zu bestehen. Stattdessen hatte sie um Erlaubnis gefragt. Unwillkürlich fragte er sich, ob da politisches Kalkül im Spiel war, um Desjani für sich zu gewinnen, oder ob sie die übergeordnete Rolle des Captains anerkannte. Er konnte nur hoffen, dass Letzteres der Fall war.

Zu dritt begaben sie sich zum Shuttlehangar, wobei Geary und Desjani jedes Besatzungsmitglied der Dauntless grüßten, das ihnen begegnete. Geary genoss es, wie viele von der Crew ihm dabei salutierten. Seine Kampagne, den Salut wieder zu einem Teil der Begrüßung zu machen, schien Früchte zu tragen.

»Gefällt es Ihnen, mit Salut begrüßt zu werden?«, fragte Rione in neutralem Tonfall. »Der Salut scheint wieder in Mode zukommen.«

Geary schüttelte den Kopf. »Ich brauche das nicht für mein Ego, wenn Sie darauf anspielen. Es geht um das, was der Salut bedeutet, Madam Co-Präsidentin, um das Maß an Disziplin, von dem ich glaube, dass die Flotte davon profitiert.« Er verkniff sich die Anmerkung, dass diese Flotte solche Disziplin dringend nötig hatte, wenn sie nicht auseinanderbrechen und auch weiterhin in der Lage sein wollte, sich gegen die Syndiks zur Wehr zu setzen. Der Sprung von einem simplen Salut bis hin zu einer sicheren Heimkehr der Flotte mochte gewaltig erscheinen, doch Geary war davon überzeugt, dass diese Verbindung existierte.

Erst als sie den Shuttlehangar erreichten, wurde Geary bewusst, dass er sich dort nicht mehr aufgehalten hatte, seit Admiral Bloch mit seinem Stab zu jenem schicksalhaften Zusammentreffen mit den Syndiks abgereist war. Er war in fast jedem Winkel der Dauntless gewesen, also musste er unbewusst einen Bogen um den Hangar gemacht haben. Er versuchte sich zu erinnern, wie er sich damals gefühlt hatte; er dachte an das Eis, das seine Gefühle und seinen Geist überzogen hatte. Er verspürte Erleichterung darüber, dass er dieses Eis hatte zurückdrängen können, da der Druck des Kommandos auf ihm lastete. Oder vielleicht obwohl dieser Druck auf ihm lastete. Auf jeden Fall konnte er jetzt hier stehen, ohne von Admiral Blochs Geist verfolgt zu werden, der ihn anflehte, den Rest der Flotte in Sicherheit zu bringen.

Er sah zu Captain Desjani, die neben ihm stand und wartete, dass die ersten Passagiere die Shuttles verließen. Während sie sonst eigentlich eher ernst war und sich nur freuen konnte, wenn Syndik-Schiffe in Stücke geschossen wurden, machte sie jetzt einen ganz anderen Eindruck. Die Vorfreude auf die Begegnung mit den befreiten Gefangenen ließen sie ungewöhnlich glücklich erscheinen. »Tanya?« Desjani sah ihn verblüfft an, da er nur selten ihren Vornamen benutzte. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, wie froh ich bin, dass die Dauntless mein Flaggschiff ist. Sie ist ein gutes Schiff, und Sie sind eine gute Befehlshaberin. Ihre Kenntnisse und Ihre Unterstützung bedeuten mir wirklich viel.«

Sie wurde vor Verlegenheit rot. »Vielen Dank, Captain Geary. Sie wissen, ich bin seit Ihrem Auffinden sehr froh über Ihre Anwesenheit.«

Er lächelte ein wenig spöttisch. Desjani gehörte zu denjenigen, die davon überzeugt waren, dass die lebenden Sterne ihn zur Flotte geschickt hatten, um ihr in der Stunde ihrer größten Not beizustehen. Geary konnte sich nicht vorstellen, dass ihm dieses Maß an Vertrauen und Glauben wirklich jemals behagen würde. In dieser Hinsicht teilte er sogar Victoria Riones Ansicht: Wenn ihm diese Heldenverehrung jemals zusagen würde, dann war er längst im Begriff, für diese Flotte eine größere Gefahr darzustellen als die Syndiks selbst.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, meldete sich Co-Präsidentin Rione zurückhaltend zu Wort: »Wir können in der Tat froh sein, dass Captain Geary unser Befehlshaber ist.«

Die Shuttles der Dauntless bewegten sich wie riesige, schwerfällige Tiere in den Hangar. Kein Wunder, dass ein Shuttle im Flottenslang als »Vogel« bezeichnet wurde. Die äußeren Hangartore schlossen sich, die inneren gingen auf, und einen Moment später wurden die Rampen der Shuttles heruntergelassen.

Die der Dauntless zugeteilten Marines gingen als Erste von Bord, stellten sich in Formation auf und hielten respektvoll ihre Waffen hoch. Dann kam die Gruppe ehemaliger Gefangener zum Vorschein. Die Leute sahen sich um, als würden sie erwarten, dass sie jeden Moment aufwachten und sich immer noch in lebenslanger Gefangenschaft auf einer vergessenen Syndik-Welt befanden, von der es kein Entrinnen gab. Sie alle waren schmal, fast schon mager. Nur wenige besaßen noch eine unversehrte Uniform, während die anderen etwas trugen, das nach abgelegter Zivilkleidung aussah.

Captain Desjani sprach in ihre mobile Komm-Einheit. »An alle auf der Dauntless. Das von uns befreite Allianz-Personal benötigt Uniformen. Ich bitte jeden, das zur Verfügung zu stellen, was er erübrigen kann.« Sie sah Geary an. »Wir werden sie wieder ordentlich einkleiden, Sir.«

»Das werden sie sicher zu schätzen wissen«, gab er zurück, während er sich vorstellte, dass sich ähnliche Szenen wie diese im Augenblick in der gesamten Flotte abspielten.

Geary hörte Captain Desjani überrascht nach Luft schnappen, als die befreiten Gefangenen an ihnen vorbeigingen. »Casell?«

Ein Mann mit den matten Abzeichen eines Lieutenants an seiner zerfetzten Jacke drehte sich um, als er seinen Namen hörte. Sein Blick erfasste Desjani. »Tanya?« Einen Moment später lagen sich die beiden in den Armen. »Ich kann es nicht fassen! Die Flotte taucht hier urplötzlich auf, und du bist mit dabei!«

»Ich dachte, du wärst bei Quintarra umgekommen«, sagte sie, und Geary nahm fassungslos zur Kenntnis, dass die sonst so willensstarke Befehlshaberin der Dauntless gegen Tränen anzukämpfen schien.

»Nein«, gab Casell zurück. »Die halbe Crew hatte überlebt, aber wir wurden alle von den Syndiks einkassiert.« Dann fiel sein Blick auf ihre Uniform, er bekam den Mund nicht mehr zu und ging einen Schritt zurück. »Captain? Du bist ein … Captain?«

Desjani grinste ihn an. »Viele sind während der Kämpfe befördert worden. Das hier ist mein Schiff.« Sie wandte sich zu Geary um. »Sir, das ist ein alter Freund von mir, Lieutenant Casell Riva.«

Lächelnd streckte Geary seine Hand aus. Nach den viel zu jungen Senioroffizieren, die Geary bislang gesehen hatte, die sämtlich allzu schnell in ihren jetzigen Positionen befördert werden mussten, weil der Krieg zu viele Opfer kostete, war es umso eigenartiger, einem älteren Junioroffizier gegenüberzustehen. Allerdings wurde in einem Arbeitslager auch niemand befördert. »Ist mir ein Vergnügen, Lieutenant. Schön, Sie an Bord zu haben. Ich bin Captain John Geary, Befehlshaber der Flotte.«

Lieutenant Riva, der noch immer verarbeiten musste, dass seine alte Freundin inzwischen Captain war, ergriff Gearys Hand reflexartig, als er mit einiger Verspätung verstand, was der gesagt hatte: »Sa-sagten Sie Captain John Geary, Sir?«

Desjani lächelte ihn strahlend an. »Captain John ›Black Jack‹ Geary. Er lebt, Casell. Er ist unser Befehlshaber, und er bringt diese Flotte heim.«

Rivas Gesicht nahm jenen Ausdruck an, den Geary fürchten gelernt hatte: eine Mischung aus Ehrfurcht, Unglauben und Staunen. »Natürlich«, hauchte der Mann. »Einer der Marines sagte, Captain Geary habe die Flotte hergebracht, aber wir hielten das nur für eine Redewendung. Doch es ist wahr.« Begeisterung ließ seine Miene aufleuchten. »Die Syndiks sind zum Untergang verdammt. Tanya … ich meine, Captain Desjani, wissen Sie, wer der Senioroffizier im Lager war? Captain Falco.«

Desjani starrte ihren alten Freund an. »Falco der Kämpfer? Er lebt auch noch?«

»Ja, und mit ihm und Black Jack …« Lieutenant Riva schluckte. »Ich wollte sagen, mit ihm und Captain Geary ist diese Flotte unschlagbar!«

Geary nickte und behielt sein höfliches Lächeln bei. Wenn er sich die Flotte ansah, die er geerbt hatte, dann konnte ein Offizier mit dem Spitznamen »der Kämpfer« nur für all das stehen, was Geary abzuschaffen versuchte. Aber vielleicht auch nicht. Er konnte nicht einen Mann vorverurteilen, der offenbar großes Ansehen genoss.

Ein großer dünner Mann tauchte am Kopf der Shuttlerampe auf und hielt mit dramatischer Geste inne, verschaffte sich einen Eindruck von der Szene und kam dann mit forderndem Ausdruck in den Augen zu ihnen. Er trug das Abzeichen eines Flottencaptains, das am Kragen einer vergleichsweise gut erhaltenen Jacke befestigt war. Andere Leute drehten sich zu ihm um, da der Mann die Aufmerksamkeit seiner Umgebung einem Magneten gleich an sich zog. Geary musste unwillkürlich an Riones Abneigung gegenüber »Helden« denken, die eine Flotte in ihren Untergang führen konnten. Dieser Mann war dazu auch fähig, überlegte Geary.

Der Mann blieb vor Geary stehen und lächelte ihn selbstbewusst und kameradschaftlich an. »Ich muss zum Befehlshaber der Flotte.«

Geary entging nicht, dass sein Gegenüber diese Worte nicht als Bitte ausgesprochen hatte. »Ich bin der Befehlshaber dieser Flotte.«

»Ein Captain!« Der Mann blickte sich irritiert um, als suche er nach einem Admiral, der sich irgendwo versteckt hielt. »Sie müssen schwere Verluste erlitten haben.«

»Das ist leider richtig«, bestätigte Geary.

Der Mann seufzte und machte eine bedauernde Miene, die andeutete, dass das nicht passiert wäre, wenn er das Kommando gehabt hätte. Geary wurde bewusst, der Mann war ein Meister darin, Unausgesprochenes so zu projizieren, dass jeder glaubte, er habe es tatsächlich gesagt. »Also gut. Den Müden gönnt man keine Pause, nicht wahr?«, sagte er zu Geary und warf ihm erneut einen verstehenden Blick zu. »Aber die Pflicht ist eine brutale Geliebte, die von den Ehrbaren nicht ignoriert werden kann. Dann übernehme ich jetzt das Kommando.«

Geary schaffte es, seine Reaktion auf ein Zucken seiner Augenbrauen zu beschränken. »Wie bitte?«

Der Mann, den Geary für Falco den Kämpfer hielt, reagierte mit einem überraschten Blick. »Ich denke, ich gehe recht in der Annahme, dass ich hier der dienstälteste Captain bin. Von daher ist es meine Pflicht und meine Verantwortung, das Kommando zu übernehmen.«

Geary nickte auf eine Weise, von der er hoffte, dass sie nicht als Zustimmung gedeutet wurde, sondern lediglich als Bestätigung, dass er ihn gehört hatte. »Die Situation dürfte sich nicht so gestalten, wie Sie es glauben, Captain …?«, fragte er, obwohl er den Namen bereits erahnte.

Seine Worte brachten ihm ein zutiefst verärgertes Stirnrunzeln ein. Der Schuss, den er auf das Ego des Mannes abgegeben hatte, durchdrang mühelos jenen Schild aus kameradschaftlicher Autorität, mit dem er sich unübersehbar gern umgab. »Sie sollten mich erkennen.«

Lieutenant Riva, der die Spannung zwischen den beiden nicht bemerkte, verkündete voller Stolz: »Das ist Captain Falco, Sir.«

»Captain Francesco Falco«, präzisierte der Mann. »Ich darf davon ausgehen, dass der Name Ihnen ein Begriff ist.«

»Um ehrlich zu sein, habe ich ihn vor ein paar Minuten zum ersten Mal gehört.« Geary wusste nicht, warum er das gesagt hatte, aber der Gesichtsausdruck, den er damit bei Falco auslöste, war jegliche Konsequenzen wert. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, fügte Geary in neutralem Tonfall an.

»Nach Ihrem Alter zu urteilen«, erklärte Falco ernst, »ist es offensichtlich, dass ich der dienstälteste Captain bin.« Es war nicht zu überhören, dass er sich entschieden hatte, Geary unmissverständlich klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. »Wenn Sie mir dann meine Kabine zeigen würden. Ich bin mir sicher, es gibt eine Menge zu tun. Und berufen Sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Flottenkonferenz ein.« Er wartete darauf, dass Geary sich rührte, doch der starrte ihn einfach nur an und zeigte keine weitere Regung. Falco war offenbar nicht daran gewöhnt, seine Befehle wiederholen zu müssen. »Wer sind Sie, Captain?«

Desjani war die angespannte Atmosphäre sehr wohl aufgefallen, da sie sich sehr behutsam einmischte: »Captain Falco, dies ist Captain Geary.«

»Geary? Wohl mit dem Helden verwandt, wie?« Falco hatte einen mahnenden Tonfall angenommen, als würde er mit einem widerspenstigen Kind reden. »Wir alle verdanken dem Vorbild von Black Jack Geary viel, aber das heißt noch lange nicht …«

»Nein«, fiel Geary ihm ins Wort. »Ich fürchte, Sie irren sich.« Falco legte die Stirn in Falten, was er oft zu tun schien, wenn etwas nicht nach seinen Wünschen und Vorstellungen verlief oder wenn man ihn unterbrach. »Ich bin nicht mit ihm verwandt. Mein Name ist John Geary.«

Falco setzte wieder die Miene des Kumpeltyps auf, der zufälligerweise das Kommando hatte. Sein Blick wanderte zu Desjani, die bestätigend nickte. »Captain Geary ist nicht vor hundert Jahren bei Grendel ums Leben gekommen«, erzählte sie, als zitiere sie aus einem Bericht. »Diese Flotte fand seine Rettungskapsel, kurz bevor sie versagte, und wir konnten ihn wiederbeleben.«

»Black Jack Geary?« Falco schien von dieser Information regelrecht überfahren zu werden, da er mit einem Mal nur noch zu einem verwirrten Gesichtsausdruck fähig war.

Genüsslich konterte Geary: »Ich bin tatsächlich schon etwas länger Captain als Sie. Genau genommen sind das fast hundert Jahre. Aber natürlich danke ich Ihnen für Ihre Bereitschaft, der Allianz Ihre Dienste anzubieten.« Das war ein Satz aus Gearys Zeit, der üblicherweise zum Einsatz kam, bevor ein besonders unangenehmer Befehl erteilt wurde. Jetzt erschien es ihm als passende Phrase, um Falcos Ansinnen abzulehnen und dabei auch noch respektvoll zu klingen. »Als dienstältester Offizier und als der Offizier, dem von Admiral Bloch unmittelbar vor dessen Tod das Kommando übertragen wurde, werde ich auch weiterhin diese Flotte befehligen.« Ein Teil von ihm war schockiert. Wie oft hatte er sich gewünscht, irgendwem in dieser Flotte das Kommando zu übertragen! Aber nicht diesem Mann! Es hatte nicht nur damit zu tun, dass der seine Autorität herausgefordert hatte, sagte sich Geary. Nein, Falco erschien ihm auch wie jemand, der mehr Wert auf sein Auftreten legte als darauf, was er tatsächlich leistete.

Geary sah, dass Rione ihn beobachtete und zweifellos an all die Male dachte, als er in ihrem Beisein geschworen hatte, die erstbeste Gelegenheit zu nutzen, um das Kommando abzugeben. Aber er wusste auch, was Rione von »Helden« hielt, und sie würde sicher nicht von ihm erwarten, dass er das Kommando über die Flotte einem Mann wie Falco in die Hände legte.

Die Erkenntnis, wer vor ihm stand, hatte Falco vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht. Geary deutete unterdessen auf Desjani. »Dies ist Captain Tanya Desjani, Befehlshaberin der Dauntless.«

Falco nickte rasch und sah Desjani an. Als habe er etwas benötigt, worauf er sich konzentrieren konnte, erlangte er die Ausstrahlung eines Vorgesetzten zurück, der zugleich ein Kamerad war. »Es ist immer eine Freude, einem tapferen Offizier der Allianz-Flotte zu begegnen. Es ist nicht zu übersehen, dass Sie Ihr Schiff gut im Griff haben, Captain Desjani.«

Sie reagierte mit einem höflichen Nicken. »Vielen Dank, Captain Falco.«

»Und dies«, fuhr Geary mit einer Geste zu Rione fort, »ist Victoria Rione, Co-Präsidentin der Callas-Republik und Senatsmitglied der Allianz.«

Diesmal drehte sich Falco um, nickte langsam und höflich, was von Rione erwidert wurde. Das Funkeln in ihren Augen verriet Geary, dass sie Falco nicht im Mindesten leiden konnte. Er fragte sich, was sie über ihn wusste, um so zu reagieren. Ihm fiel auf, dass Falco Desjani mit einem Kompliment bedacht hatte, das zweifellos frei erfunden sein musste, da er keine Grundlage für die Behauptung besitzen konnte, sie habe ihr Schiff gut im Griff. Gegenüber der Senatorin verhielt er sich allerdings viel zurückhaltender, ja, er behandelte sie wie eine Rivalin. Jemand, mit dem man sich arrangieren musste. Jemand, der nicht zu seinen von Bewunderung erfüllten Untergebenen gehörte.

Desjani war aufmerksam genug, um das ebenfalls zu bemerken. Er sah ihrem Blick an, dass es ihr nicht gefiel, für jemanden gehalten zu werden, den man mit ein paar schmeichelnden Worten einlullen konnte. Rione wiederum reagierte mit einer Bemerkung, der es an jeglicher Wärme fehlte. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Captain Falco.«

Geary rätselte noch, was sie damit meinte, als ihm auffiel, dass die anderen befreiten Gefangenen ihn mit dem gleichen hoffnungsvollen und bewundernden Blick bedachten, den Lieutenant Riva schon zur Schau gestellt hatte. Geary, der versuchte, nicht mit Ablehnung zu reagieren, bemerkte, dass Captain Falco etwas Neues gefunden hatte, das sein Missfallen erregte. Er mag es nicht, dass sie mich so ansehen. Aber nicht aus dem Grund, der Rione Sorgen macht. Nein, wenn ich Captain Falco richtig einschätze, ist er eifersüchtig.

Wunderbar. Als hätte ich nicht schon genug Probleme. »Captain Falco, Lieutenant Riva«, erklärte er höflich. »Ich muss mich um dringende Angelegenheiten kümmern. Captain Desjanis Crew wird sich um Sie kümmern.«

Falco, dessen zwischenzeitlich gelassene Miene in Anbetracht der jüngsten Entwicklungen nicht länger aufrechtzuerhalten war, verfiel wieder in einen mürrischen Gesichtsausdruck. »Angelegenheiten?«

»Eine Besprechung«, warf Rione wie beiläufig ein. »Captain Geary und ich müssen jetzt gehen. Im Namen der Allianz-Regierung«, fuhr sie laut genug fort, damit man sie überall im Hangar hörte, »heiße ich Sie alle in der Flotte willkommen.«

Schwacher Jubel kam in den Reihen der ehemaligen Gefangenen auf, während Rione Geary aus dem Hangar dirigierte. Geary hatte das Gefühl, dass sich Falcos Blick in seinen Rücken bohrte, da der Mann in ihm zweifellos das größere Problem sah. Er wollte jedoch nicht über Falco reden, solange irgendjemand etwas von ihrer Unterhaltung mitbekommen konnte. Also gingen er und Rione schweigend durch die Korridore, bis sie seine Kabine erreicht hatten. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, drehte sich Rione zu ihm um. »Dieser Mann stellt eine Gefahr dar.«

»Ich dachte, ich sei die Gefahr«, gab er mürrisch zurück und ließ sich in seinen Sessel fallen.

»Ja, und zwar weil Sie intelligent sind. Von Captain Falco geht eine andere Art von Gefahr aus.«

»Wie Sie sich denken können, weiß ich gar nichts über ihn. Wollen Sie damit sagen, dass er dumm ist?«

Rione machte eine wegwerfende Geste. »Nein. Ihr Dauerkontrahent Captain Numos ist dumm. Seine Dummheit ist sogar so unglaublich konzentriert, dass mich wundert, dass er nicht seinen eigenen Ereignishorizont besitzt. Aber Captain Falco ist auf seine Art sehr gerissen.«

Geary gelang es, über die allzu zutreffende Bemerkung über Numos nicht zu lachen. »Kannten Sie Falco, bevor er in Gefangenschaft geriet?«

»Halten Sie mich ernsthaft für so alt?«, gab Rione verwundert zurück. »Captain Falco wurde vor über zwanzig Jahren gefangen genommen. Ältere Politiker erzählten mir von ihm, als ich Senatsmitglied wurde. Captain Falco war zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme ein sehr ehrgeiziger und charismatischer Offizier, der in der Lage war, ein Blutbad als großartigen Sieg zu verkaufen. Er ließ auch verlauten, dass die Syndiks nur dann vernichtend geschlagen werden könnten, wenn wir bereit wären, unser angeblich wirkungsloses demokratisches System vorübergehend zugunsten einer autokratischen Regierung aufzugeben, wie sie die Syndiks praktizieren.«

Kein Wunder, dass Falco gar nicht erst versucht hatte, Rione zu umschmeicheln. Selbst wenn ihm nicht aufgefallen sein sollte, was sie von ihm hielt, betrachtete er gewählte Politiker als Rivalen bei seinen Machtbestrebungen. Geary lachte humorlos auf. »Ich darf wohl annehmen, dass Captain Falco bei einer solchen autokratischen Regierung eine zentrale Rolle zukommen würde. Warum hat die Regierung ihn für eine solche Bemerkung nicht unehrenhaft entlassen?«

Rione seufzte. »Die Allianz suchte damals genauso verzweifelt nach Helden wie heute. Captain Falco schaffte es, genügend Senatoren so zu umgarnen, dass sie sich schützend vor ihn stellten. Und er war ausgesprochen beliebt. Sie haben ihn ja eben da draußen erlebt. Falco könnte eine Schlange überreden, Vegetarier zu werden. Der regierende Rat fürchtete sich vor der öffentlichen Empörung, die Falcos Entlassung nach sich gezogen hätte. Aber schließlich nahm seine Glückssträhne ein Ende, und er verschwand so spurlos wie viel zu viele von unseren Leuten. Dass die Flotte ihm nachtrauerte, habe ich nie verstanden, denn er hat mehr Allianz-Matrosen auf dem Gewissen als getötete Syndiks auf seinem Konto. Die Allianz-Regierung war nicht sonderlich betrübt, ihn los zu sein, auch wenn sie öffentlich ihr Beileid aussprach.«

»Und jetzt ist er wieder da«, sagte Geary. »Ich kann verstehen, warum die Flotte ihn mochte. Er ist einer von diesen Leuten, die einem ein Messer in den Rücken jagen und dabei noch das Gefühl auslösen, sie hätten einem damit einen Gefallen getan.«

»Ich sagte doch, er ist charismatisch, oder nicht?«

»Für meinen Geschmack viel zu charismatisch. Zu schade, dass mir kein Vorwand einfällt, um ihn den Syndiks zurückzugeben.«

»Wenn mir einer einfällt, werde ich es Sie wissen lassen.« Sie stand da und starrte gedankenverloren auf das Schott. »Captain Falco wird versuchen, Ihnen das Kommando abspenstig zumachen.«

»Dafür hat er keine Grundlage«, erklärte Geary. »Ich habe mindestens achtzig Dienstjahre mehr auf dem Buckel.«

Rione lächelte flüchtig. »Das hat Captain Falco nicht gut aufgenommen.«

»Das ist mir nicht entgangen. Aber wenigstens hat mir diese Tatsache zur Abwechslung einmal Spaß gemacht.«

»Falco wird versuchen, Ihnen das Kommando über die Flotte streitig zu machen, Captain Geary, und die Vorschriften werden ihn dabei nicht kümmern. Wenn Sie Captain Numos und seine Verbündeten bislang für gefährlich hielten, dann nehmen die sich nun neben Falco wie Chorknaben aus.«

»Danke für Ihre Einschätzung der Situation.« Die leider mit meiner absolut identisch ist. Rione schien seine Bemerkung mit Skepsis aufzunehmen, also bekräftigte er: »Ihr Urteil ist mir sehr wichtig, das ist mein Ernst. Ich bin wirklich dankbar dafür, dass Sie mit der Flotte reisen.«

Eine Weile musterte sie ihn, ohne dass er ihre Miene zu deuten wusste. »Danke, Captain Geary.«

Nachdem Rione gegangen war, nahm sich Geary die Zeit, einen Blick auf die Aufzeichnungen von Captain Falcos Schlachten zu werfen. Als die im Gefechtssimulator gezeigt wurden, erkannte er schnell, wie zutreffend Riones Einschätzung war. Die Verluste, die Falco bei diesen angeblichen Siegen hatte hinnehmen müssen, waren erschreckend. Und seine Niederlagen waren mehr als einmal die Folgen von kapitalen Fehlern. Falco der Kämpfer? Schon kurios, dass der kämpferische Captain so viele Schlachten überlebt hat, während unzählige andere Allianz-Offiziere gefallen waren.

Es gab auch Reden und Nachrichtenausschnitte, die einen viel jüngeren Falco zeigten, wie er mit hochtrabender Rhetorik und scheinbar völliger Überzeugung die Zuhörer in seinen Bann schlug. Einen Moment lang fragte Geary sich, ob er den Mann wohl falsch eingeschätzt hatte, doch dann hörte er genauer hin, was Falco erzählte. Erschrocken hörte er genau das, was Rione gesagt hatte: Falco schob die Schuld am Verlauf des Krieges der Regierung in die Schuhe und kandidierte indirekt für die Rolle des alleinigen Führers. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn die Syndiks Falco nicht in ihre Gewalt bekommen hätten. Kein Wunder, dass Co-Präsidentin Rione so besorgt war, als ich das Kommando übernahm. Sie dachte, ich würde mich wie Falco aufführen. Aber zum Glück stamme ich noch aus einer Zeit, als Flottenoffiziere so etwas schlicht nicht taten. Ich hätte nie gedacht, dass jemand sich so benehmen würde wie er — und damit auch noch erfolgreich sein könnte, indem er sich ans Volk wandte.

Zwanzig Jahre. Desjani kannte Falco nur dem Ruf nach. Im ersten Moment schien sie begeistert zu sein, doch das änderte sich sichtlich, als Falco ihm das Kommando streitig zu machen versuchte. Geary fragte sich, wie der Rest der Flotte zu diesem Mann stehen würde. Vor allem dann, wenn er und Falco offen um die Befehlsgewalt streiten sollten.

Ich will nicht ewig das Kommando über diese Flotte am Hals haben, aber ich kann es auch nicht jemandem mit Falcos Vergangenheit überlassen. Er würde sie in den Untergang führen und dann eine Presseerklärung herausgeben, welch großartigen Sieg er damit errungen hat. Und falls es ihm irgendwie gelingen sollte, ins Gebiet der Allianz zurückzukehren, dann würde er für die Regierung genau die Bedrohung darstellen, die Rione in ihm sieht.

Es sei denn, die Zeit im Arbeitslager hat aus ihm einen anderen Menschen gemacht. Ich darf den Mann so lange nicht vorverurteilen, bis ich weiß, wie sich diese Erfahrung auf ihn ausgewirkt hat.

Das erinnerte ihn daran, dass er sich im Augenblick besser mit der aktuellen Situation seiner Flotte beschäftigen sollte, anstatt sich über Falco Gedanken zu machen. Die Flotte verließ Sutrah V und begab sich in den freien Raum oberhalb des Systems, wo keine Fallen der Syndiks auf sie lauern konnten, also gab es für die Schiffe keine akute Bedrohung. Selbst wenn vor einem der Sprungpunkte eine Syndik-Flotte auftauchen sollte, hätten sie noch fast einen Tag Zeit, um sich darauf vorzubereiten. Aber was ist längerfristig? Was hecken die Syndiks in diesem Moment aus, um dieser Flotte im nächsten und im übernächsten Sternensystem Schaden zuzufügen?

Geary rief das Display für diese Region des Alls auf und beschäftigte sich lange Zeit damit, indem er im Geist die Flotte von einem Stern zum nächsten springen ließ und alle zur Auswahl stehenden Ziele ansteuerte. Aber egal, wie er vorging, er gelangte stets zur gleichen unerfreulichen Schlussfolgerung. So erging es ihm schon, seit die Flotte in Sutrah eingetroffen war, und er fand nie eine andere Lösung. Auch ohne Simulationen durchzuführen, sagte sein Instinkt ihm, dass sich das Netz der Syndiks immer enger um die Flotte zog. Entkommen konnte er dem Feind nur, wenn er etwas so Unwahrscheinliches tat, das die Syndiks es nicht einmal in Erwägung ziehen würden. Was war so unwahrscheinlich, dass es nicht zugleich auch selbstmörderisch war?

Sein Blick kehrte immer wieder zu einem Stern zurück. Sancere.

Nein, das ist verrückt.

Ist es verrückt genug, dass die Syndiks nicht glauben werden, ich könnte die Flotte dorthin bringen?

Vielleicht. Ich bin mir sicher, die Syndiks sind davon überzeugt, dass es nicht auf die Art erfolgen kann, die mir vorschwebt. Aber da irren sie sich. Ich weiß nämlich einen Weg.

Die Frage ist nur, wie überzeuge ich die Flotte davon, mir nach Sancere zu folgen?

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