Acht

Sein Komm-Alarm ertönte, und Geary schreckte hoch. Er rollte sich zur Seite und wollte bereits den Ruf annehmen, da fiel ihm im letzten Moment ein, nur Audio zu aktivieren, damit niemand sah, dass er nicht allein war. »Geary hier.«

»Sir, Captain Desjani möchte Sie darüber informieren, dass Colonel Carabali ihre Sorge zum Ausdruck bringt, was die Bewegungen der Flottenformation Bravo betrifft.«

»Sorge?« Wenn die Marine bislang wegen irgendeiner Sache besorgt gewesen war, hatte sie damit jedes Mal recht gehabt. »Ich bin in einer Minute für sie da. Bitten Sie Carabali zu warten.«

»Jawohl, Sir.«

Geary setzte sich vorsichtig auf und versuchte, keinen Lärm zu machen.

»Hast du wirklich gedacht, das hätte mich nicht aufgeweckt?«, fragte Victoria Rione.

»Tut mir leid.«

»Ich schätze, daran werde ich mich gewöhnen müssen.«

Geary hielt in seiner Bewegung inne und sah zu ihr, wie sie auf dem Rücken dalag und ihn so selbstverständlich anschaute, als würden sie schon seit Jahren jeden Morgen Seite an Seite aufwachen. »Willst du, dass das was Langfristiges wird?«

Fragend zog sie eine Augenbraue hoch. »Soll das heißen, du willst das nicht?«

»Nein, das soll es nicht heißen. Ich würde es gern versuchen. Ich glaube, etwas Langfristiges würde mich …«

»Glücklich machen? Es ist in Ordnung, glücklich zu sein, John. Nach dem Tod meines Mannes habe ich lange gebraucht, um das zu verstehen, aber schließlich habe ich es erkannt.«

»Wie lange hast du dafür gebraucht?«, fragte er leise.

»Bis heute Nacht. Und jetzt sprich mit Colonel Carabali, und zieh dir vorher was an!«

»Ich möchte wetten, Carabali hat schon Schlimmeres gesehen«, gab Geary zurück, zog aber hastig seine Uniform an, während er zu seinem Schreibtisch ging. Dort aktivierte er das Komm-Terminal und versuchte, seine Gedanken an die Nacht mit Rione zu verdrängen, damit er sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte. »Was beunruhigt Sie denn, Colonel?«

Carabali war sichtlich übermüdet, was Geary Schuldgefühle bereitete, da er so ausgeruht war wie schon lange nicht mehr. Die Befehlshaberin der Marines zeigte auf ein Display gleich neben ihr. »Sir, Ihre Schiffe bewegen sich ganz in der Nähe der vierten Welt. Normalerweise geht mich das ja nichts an, aber es ist meine Aufgabe, Flottenoffiziere auf mögliche Bedrohungen hinzuweisen, die von Planeten ausgehen können.«

»Bedrohungen? Wir haben auf dieser Welt alles zerbombt, was uns bedrohen könnte. Da sollte keine antiorbitale Waffe mehr übrig sein.«

»Richtig«, stimmte Carabali ihm zu. »Aber ›sollte‹ besagt nicht, dass es auch so ist. Sir, wir haben alles getroffen, was wir aus einer Entfernung von einigen Lichtstunden erkennen können. Allerdings handelt es sich um eine dicht bevölkerte und massiv bebaute Welt. Bei so vielen Gebäuden und Anlagen ist es nicht so einfach, alles zu erkennen, was es da unten gibt. Außerdem haben die Einschläge unserer Waffen viel Staub und Wasserdampf in die obere Atmosphäre aufsteigen lassen, weshalb wir im Moment von der Oberfläche praktisch nichts sehen können. Wir wissen nicht, was wir übersehen haben, und wir haben auch keine Ahnung, was sich jetzt dort unten befindet.«

Geary betrachtete das Display und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Gutes Argument«, musste er eingestehen. Der Kampf im All verleitet einen allzu leicht zu der Annahme, dass man jede Bedrohung sehen kann, lange bevor sie einen erreicht. Das trifft hier aber nicht zu, und das hätte ich erkennen sollen. Die Siege über die Syndiks im Sancere-System und die vereitelte Katastrophe des zusammenbrechenden Hypernet-Portals haben mich zu selbstsicher werden lassen. Ich war nicht so paranoid wie sonst, um darüber zu spekulieren, was in diesem System vielleicht noch auf uns lauert. »Können die uns durch diese Wolkendecke hindurch mit irgendetwas beschießen?«

»Wir haben ganz sicher nicht jeden Luft- und Raumhafen erwischen können, Sir. Die müssen nur etwas weit genug in die Atmosphäre schießen, das ein Bild von der Situation über der Wolkendecke an die Oberfläche übermittelt. Das könnte zum Beispiel eine unbemannte Drohne sein, die nur sehr schwer zu entdecken wäre.«

Geary rief den Flugplan auf, um sich anzusehen, wohin Formation Bravo unterwegs war. »Unsere Schiffe fliegen die Orbitalwerften an oder besser gesagt: das, was davon noch übrig ist, außerdem einige große zivile Orbitaleinrichtungen. Wir brauchen das, was sich dort befindet, Colonel, vor allem die Lebensmittelvorräte und die Rohstoffe.«

»Sir, das gefällt mir nicht.«

»Können Sie einen Plan liefern, Colonel? Damit unsere Schiffe diese Einrichtungen zu plündern in der Lage sind, während die Syndiks daran gehindert werden, Waffen von der Planetenoberfläche auf uns abzufeuern, die uns entgangen sind?«

Nachdenklich senkte Carabali den Blick. »Wir haben Scoutschiffe, die wir in die Atmosphäre schicken könnten. Recce-Drohnen. Aber ich kann nichts dazu sagen, wie tief die gehen müssen, um sich umschauen zu können. Je tiefer sie sind, umso geringer ist der Radius, den sie erfassen können.«

»Über wie viele dieser Drohnen verfügt die Formation Beta?«

Die Marine überprüfte etwas auf einer Anzeige, die Geary nicht sehen konnte. »Zehn, Sir, und alle einsatzfähig. Aber wenn wir sie losschicken, gibt es keine Garantie, dass sie auch zu uns zurückkommen werden. Soweit ich weiß, können Ihre Hilfsschiffe die nicht herstellen.«

»Die können auch keine neuen Raumschiffe herstellen«, hielt Geary dagegen und überlegte kurz. »Ich werde mit dem Commander der Formation Beta reden. Das ist Captain Duellos. Wir werden die Recce-Drohnen einsetzen, um einen Blick unter den Müll in der Atmosphäre zu werfen. Und wir werden die Schiffe aus dem niedrigen Orbit raushalten. Ich werde sehen, was mir sonst noch einfällt, und melde mich dann bei Ihnen.«

»Danke, Sir.« Colonel Carabali salutierte, dann löste sich ihr Bild auf.

Geary seufzte schwer und erhob sich von seinem Platz, dann drehte er sich zu Rione um. Sie stand nahe seiner Koje gegen das Schott gelehnt, war immer noch nackt und musterte ihn. »Dir gönnt man auch keine fünf Minuten Ruhe, nicht wahr?«

»Ich hatte mehr Ruhe als die meisten anderen«, murmelte er und sah zur Seite.

»Was ist los, Captain Geary?«, fragte Rione leicht amüsiert.

»Ich versuche, mich auf meine Verantwortung als Befehlshaber der Flotte zu konzentrieren. Du lenkst mich ein wenig davon ab.«

»Nur ein wenig? Wir sehen uns später auf der Brücke.«

»Okay.« Geary hielt inne, bevor er seine Kabine verließ, dann programmierte er die Zugangsberechtigung so um, dass Rione jederzeit Zutritt hatte. Er wusste, sie sah ihm auch dabei zu.

Auf dem Weg zur Brücke verspürte er ein eigenartiges Unbehagen. Rione war extrem leidenschaftlich gewesen, als sie mit ihm geschlafen hatte, doch jetzt zeigte sie wieder diese kühle Distanz, sogar als sie völlig nackt vor ihm stand. Unwillkürlich musste er an eine Katze denken, die die gewünschte Zuneigung erfahren hatte, sich aber das Recht vorbehielt, sich jederzeit von einem abzuwenden und dabei keine Reue zu verspüren. Er hatte nie ernsthaft in Erwägung gezogen, Victoria Rione könnte an einer Beziehung zu ihm interessiert sein, deshalb war er auch nicht auf die Idee gekommen, sich Gedanken darüber zu machen, was eine solche Beziehung bedeuten könnte. Sie hatte gesagt, dass sie ihn mochte, aber das Wort Liebe war nicht gefallen. Benutzte Rione ihn nur, um sich selbst zu trösten? Oder — was noch schlimmer wäre — suchte sie seine Nähe, um einen politischen Vorteil zu erlangen, entweder gegenüber dem von ihr so gefürchteten Black Jack Geary oder gegenüber ihren Politikerkollegen?

Welchen Nutzen konnte ein ehrgeiziger Politiker daraus ziehen, wenn er der Gefährte des legendären Helden war, der wie durch ein Wunder die Allianz-Flotte sicher nach Hause gebracht hatte?

Wie kann ich über so etwas nur nachdenken? Rione hat keinerlei Ehrgeiz in dieser Richtung erkennen lassen.

Aber sie hat auch viele andere Dinge nicht erkennen lassen, jedenfalls mir gegenüber. Zum Beispiel die Tatsache, dass sie mit mir ins Bett wollte. Angenommen, sie will noch immer die Allianz vor Black Jack Geary retten: Wie schwierig ist es denn für sie, sich klarzumachen, welche Macht sie erlangt, wenn sie die Nähe zu mir sucht, weil sie dann viel besser in der Lage ist, mich zu kontrollieren? Woher weiß ich, ob sich unter diesem engagierten Äußeren nicht doch eine äußerst ehrgeizige Frau verbirgt, die mich benutzen will, um auf der Karriereleiter nach oben zu kommen?

Vorfahren, steht mir bei. Rione macht einen völlig ehrlichen Eindruck. Warum muss ich anfangen, an ihr zu zweifeln? Warum muss ich ihr misstrauen?

Weil ich so verdammt viel Macht besitze, und ich werde noch viel mehr Macht erlangen, wenn ich diese Flotte nach Hause bringe. Rione ist diejenige, die mir genau das überhaupt bewusst gemacht hat.

Sollte sie mich andererseits doch benutzen, dann kann ich das Vergnügen genießen, solange es geht. Und wenn ich für sie nur ein Mittel zum Zweck bin, um eine einflussreichere Position in der Allianz-Regierung zu erlangen, dann kann ich mir schlimmere Schicksale vorstellen. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass sie skrupellos oder machthungrig ist.

Gutes Argument, Geary. Du kannst die Frau so gut einschätzen, dass sie dich erst ins Bett zerren muss, damit du die Andeutung begreifst.

Nicht zum ersten Mal war Geary verblüfft darüber, wie Riones Verstand arbeitete, und er freute sich schon darauf, sich wieder mit einem relativ durchschaubaren Feind zu beschäftigen, dem es nur darauf ankam, ihn zu töten.

Captain Desjani gähnte und nickte Geary zum Gruß zu, als der die Brücke der Dauntless betrat. »Sie haben mit Colonel Carabali gesprochen?«

»Ja«, erwiderte er, setzte sich und rief sein Display auf, um es sekundenlang anzustarren. In den letzten fünf Stunden hatte er entweder geschlafen oder sich anderweitig mit Co-Präsidentin Rione beschäftigt. Mit Blick auf das Sternensystem hatte sich in dieser Zeit nicht viel getan. Die Flottenformation Beta steuerte noch immer auf die vierte Welt zu, die mit ihren Vorräten und Rohstoffen lockte. Die Courageous war knapp über dreißig Lichtminuten von der Dauntless entfernt, sodass eine Unterhaltung mit Captain Duellos sich zu einer langwierigen Angelegenheit entwickeln würde.

Nachdem Geary seine Gedanken geordnet hatte, nahm er mit der Courageous Kontakt auf. »Captain Duellos, hier ist Captain Geary. Hier wurde Sorge laut, was die Risiken angeht, wenn Sie mit Ihren Schiffen dieser dicht besiedelten Welt näher kommen, die möglicherweise noch über funktionstüchtige antiorbitale Systeme verfügt, die jetzt nur durch die Staubwolken in der Atmosphäre verdeckt werden. Setzen Sie bitte die an Bord Ihrer Schiffe befindlichen Recce-Drohnen ein, damit die unterhalb der Wolkendecke nach Hinweisen auf mögliche Bedrohungen suchen. Bringen Sie die Schiffe nach Möglichkeit nicht in einen zu niedrigen Orbit und scannen Sie die obere Atmosphäre nach Anzeichen für Syndik-Drohnen oder andere Aufklärungsbemühungen vonseiten der Syndiks. Ergreifen Sie alle aus Ihrer Sicht notwendigen Sicherheitsmaßnahmen und halten Sie mich auf dem Laufenden.« Sollte ich noch etwas hinzufügen? Nein, Duellos weiß, was er macht. Er muss sich von mir keine Predigten anhören, dass er vorsichtig sein und keine Schiffe verlieren soll. »Geary Ende.«

Er ließ sich in seinen Sessel sinken und rieb sich die Stirn. Als ich die Flotte aufgeteilt habe, war mir gar nicht bewusst, dass ich die Echtzeitverbindung zu den meisten Schiffen verlieren würde. Aber wenigstens muss ich mir keine Gedanken machen, Numos könnte wieder irgendetwas verbocken. Dummerweise erinnerte dieser schwache Trost ihn an die fast vierzig Schiffe, die Falco gefolgt und inzwischen möglicherweise zerstört worden waren.

Desjani schüttelte den Kopf. »Mit Ihrer Erlaubnis, Captain Geary, würde ich mich gern nach unten begeben und ein paar Stunden echten Schlaf genießen. Momentan vergeude ich hier oben nur meine Zeit.«

Automatisch warf Geary wieder einen Blick auf das Display. Die Formation Delta rings um die Dauntless war fast einen Tag von den Orbitalanlagen um den dritten Planeten entfernt, auf den sie zusteuerte. Von Syndik-Schiffen war im ganzen System keine Spur zu entdecken, wenn man von der Streitmacht Alpha absah, die sich zwischen dem siebten und achten Planeten aufhielt und damit einen großen Abstand zur Eingreiftruppe Furious hielt. Geary fragte sich, wann der Syndik-Commander wohl einsehen würde, dass es für seine Karriere nicht förderlich sein konnte, in sicherem Abstand zu verharren und mit seiner Flotte zu überleben, während die Allianz in aller Ruhe das Sternensystem zerlegte. »Warum nur für ein paar Stunden?«, konterte er. »Ich werde erst mal eine Weile hier sein.«

»Danke«, sagte Desjani amüsiert. »Aber auch wenn Sie auf der Brücke sind, bin ich immer noch der Captain dieses Schiffs.«

»Wie wäre es, wenn ich Ihnen befehle, mindestens vier Stunden zu schlafen?«

»Einen ausdrücklichen Befehl kann ich wohl kaum verweigern«, erklärte sie mit sichtlichem Widerwillen, stand auf und streckte sich. »Sie scheinen sich besser zu fühlen, Sir, wenn ich das so sagen darf.«

»Es hilft eben, sich auszuruhen.« Co-Präsidentin Rione wählte ausgerechnet diesen Augenblick, um die Brücke zu betreten. Sie nickte Desjani kühl zu und ließ Geary zum Gruß die gleiche Geste zukommen. Er grüßte zurück, was er mit deutlich mehr Freude als in den letzten Wochen tat. Als er sich wieder umdrehte, sah er noch eben, wie Desjani ihren verwunderten Gesichtsausdruck hinter einer nichtssagenden Miene zu verbergen versuchte. Desjani hat es gemerkt? Wie kann das so offensichtlich sein?, fragte er sich. Wir haben nicht mal ein Wort gesprochen.

Captain Desjani wandte sich ihrem Senior-Wachhabenden zu. »Ich bin in meiner Kabine und ruhe mich aus.« Bei den letzten Worten warf sie Geary einen Seitenblick zu, und ihr Mundwinkel zuckte bei dem nicht ganz erfolgreichen Bemühen, sich ein Lächeln zu verkneifen. Als sie die Brücke verließ, blieb sie kurz bei Rione stehen. »Es ist ein Vergnügen, Sie an Bord zu haben, Madam Co-Präsidentin.« Soweit Geary sich erinnern konnte, hatte Desjani sich gegenüber Rione noch nie so geäußert.

Geary spürte, wie bei ihm Kopfschmerzen einsetzten, auch wenn Rione Desjani amüsiert nachschaute. »Wie ist das möglich?«, raunte er Rione zu.

»Ich fürchte, diese Information ist streng vertraulich«, erwiderte sie in einem sachlichen Tonfall.

»Mit anderen Worten, das ist was unter Frauen.«

»Wenn Sie es so sehen wollen.«

Er lehnte sich zurück und deutete auf das Display. »Was meinen Sie? Colonel Carabali war in Sorge, die Formation Beta könnte dem vierten Planeten zu nahe kommen. Sieht für Sie noch irgendwas anderes bedenklich aus?«

»Ich kann es mir anschauen. Aber Sie erwarten doch sicher nicht von mir, dass ich befähigt bin, eine militärische Einschätzung abzugeben.«

»Nein. Trotzdem kann jemand mit einer militärischen Ausbildung manchmal Dinge übersehen, die für einen Laien offensichtlich sind. Mir fällt auf, dass Sie überhaupt nicht beunruhigt wirken. Wenn wir sonst in Syndik-Gebiet unterwegs sind, dann überschütten Sie mich für gewöhnlich mit Warnungen, was alles schiefgehen könnte.«

»Und das gefällt Ihnen?«

»Sagen wir, ich habe mich daran gewöhnt. Außerdem haben Sie des Öfteren recht gehabt.«

Rione lächelte ihn flüchtig an, dann nickte sie und beugte sich vor, um das Display vor ihrem Sessel genauer zu studieren. Geary warf einen Blick auf die Uhr. Noch gut zwanzig Minuten, bevor Captain Duellos seine Nachricht erhalten würde. Und vermutlich rund eine Stunde bis zum Eintreffen der Antwort.

Wer hätte je gedacht, dass ein Krieg so langweilig sein könnte? So langweilig, dass man es irgendwann mit der Angst zu tun bekam.

Duellos bestätigte Gearys Anweisungen und ergänzte, er werde seine Schiffe möglichst in einer Position halten, bei der sich die Orbitalanlagen zwischen der Flotte und dem Planeten befanden. Vermutlich würden nicht mal die Syndiks vorsätzlich ihre eigenen Einrichtungen zerstören, um an den Feind zu gelangen.

Die Formation, zu der die Dauntless gehörte, hatte den Orbit der vierten Welt zum Teil hinter sich gebracht und war auf dem Weg zum dritten Planeten. Bei der kürzesten Distanz war Geary vier Lichtminuten von der Formation Beta entfernt. Auf seinem Display markierten kleine Symbole die von den Recce-Drohnen weitergeleiteten Daten über die vierte Welt, wobei die Übertragung zeitweilig von statischem Rauschen überlagert wurde, wenn der Staub in der oberen Atmosphäre zu sehr störte.

Als visuelle Darstellung zeigten die Bilder eine recht ansprechende Welt mit großen Städten und Siedlungen sowie weiten Naturgebieten, die hier und da Narben aufwiesen, wo Bodenschätze gefördert wurden. Nach diesen Bildern zu urteilen handelte es sich um eine nahezu verlassene Welt; Straßen und Plätze waren fast frei von Menschen und Fahrzeugen. Die wenigen Fahrzeuge, die man entdecken konnte, waren eindeutig offizieller Natur und bewegten sich größtenteils in Konvois. Die restliche Bevölkerung hatte wohl in Kellern und Bunkern Zuflucht gesucht, obwohl die keinen Schutz geboten hätten, wäre die Allianz zu dem Entschluss gekommen, den Planeten massiv zu bombardieren.

Vereinzelt waren Krater zu sehen, wo die kinetischen Bomben eingeschlagen waren. Alle Bilder von diesem Planeten wirkten gräulich und verwaschen, als würde man einen sehr bewölkten Tag erleben. Die Übertragungen von der Nachtseite zeigten nur völlige Schwärze, da die Staubschicht in der Atmosphäre verhinderte, dass Licht von den Sternen auf die Oberfläche gelangte.

Mithilfe seiner Kontrollen konnte Geary die Darstellung auf Infrarot, Radar oder auf das elektromagnetische Spektrum umschalten. Ihm standen noch andere Varianten zur Verfügung, doch von denen ließ er lieber die Finger, da er fürchtete, unbeabsichtigt den Drohnen irgendeinen Befehl zu erteilen. Von Zeit zu Zeit meldete eine Drohne, dass sie von den Syndiks beschossen wurde, aber selbst unter besten Bedingungen stellten diese automatischen Aufklärer nur schwer erfassbare Ziele dar. Da sie nun auch noch in der dichten Wolkendecke Schutz suchen konnten, war es umso schwieriger, eine von ihnen abzuschießen.

»Captain Geary, hier ist Captain Duellos. Das, was von den Verteidigungsanlagen auf der Planetenoberfläche verblieben ist, versucht sich ein Bild von unserer Flotte zu verschaffen.« Mit der Nachricht wurde ein Link übertragen, der zeigte, wie Syndik-Drohnen für wenige Augenblicke aus der Wolkendecke auftauchten, die Situation aufzeichneten, und dann auch schon wieder verschwanden, bevor die Allianz-Sensoren sie erfassen und das Feuer auf sie eröffnen konnten. »Ein Muster ist nicht erkennbar. Wenn die versuchen, Zielerfassungsdaten zu sammeln, können wir nicht nachvollziehen, auf was sie ausgerichtet sind. Ich habe allen Schiffen in meiner Formation den Befehl gegeben, von Zeit zu Zeit Position und Geschwindigkeit zu ändern.«

Duellos würde die Antwort erst in vier Minuten hören, als Geary erwiderte: »Danke, wollen wir hoffen …« Er unterbrach sich, als auf seinem Display ein Alarm ertönte.

»Die Formation wird von der vierten Welt aus beschossen«, meldete ein Wachhabender der Dauntless. »Partikelkanonen. Sieht nach einer ganzen Batterie aus.«

Vor vier Minuten. »Wissen wir schon, ob es Treffer gab?«

Es folgte eine schier unerträglich lange Pause. »Falchion und Renown wurden knapp verfehlt. Keine Treffer.«

Desjani, die zurück auf der Brücke war und deutlich ausgeruhter wirkte, schüttelte verächtlich den Kopf. »Die feuern blindlings drauflos, und jetzt wissen wir, dass sie immer noch über aktive Verteidigungsanlagen verfügen.«

»Duellos hatte unmittelbar zuvor noch zufällige Ausweichmanöver angeordnet«, machte Geary klar. »Ansonsten wären den Syndiks womöglich ein paar Treffer gelungen.« Im Gegensatz zu den Waffen auf einem Schiff konnten planetare Partikelkanonen deutlich größer ausfallen, zumal sie mit erheblich mehr Energie versorgt werden konnten. Ein einziger Treffer war in der Lage, sich durch Schutzschilde zu fressen und sich in den Schiffsrumpf zu bohren.

Noch während Geary redete, meldeten die Sensoren der Dauntless den Abschuss einer weiteren Salve. Es kribbelte ihm in den Fingern, Befehle zu geben, wie die Formation auf den Beschuss reagieren sollte, aber er musste sich vor Augen halten, dass das alles bereits vor einigen Minuten geschehen war und dass Duellos zweifellos Gegenmaßnahmen eingeleitet hatte. »Das sollte eigentlich genügen, um die Position dieser Kanone auf dem Planeten zu bestimmen«, kommentierte Desjani.

Augenblicke später setzten Duellos’ Schlachtkreuzer auch schon eine Salve kinetischer Geschosse ab, die sich ihren Weg durch die Wolkendecke bahnten, während die Schiffe abermals die Position innerhalb der Formation wechselten. Die Syndiks feuerten eine dritte Salve ab, der die Gauntlet nur knapp entging. »Ein Glück, dass es eine Weile dauert, um diese Kanonen wieder aufzuladen«, kommentierte Geary.

»Eine weitere Salve werden sie wahrscheinlich noch abfeuern können«, gab Desjani zu bedenken und sollte recht behalten. Die Schüsse jagten ziellos durch die Wolkendecke.

Eine der Recce-Drohnen hatte sich in eine Position gedreht, von der aus man den Standort der Kanone beobachten konnte. Die kinetischen Geschosse zuckten vom Himmel herab und hinterließen gleißende Spuren. Der Aufprall wurde von grellen Blitzen begleitet, und als das Licht verblasste, bildeten sich Rauchpilze, die wie ein Grabstein für die zerstörte Kanone wirkten.

»Hoffen wir, dass sie nicht mehr zu bieten haben«, meinte Geary seufzend.

»Unwahrscheinlich«, gab Desjani zurück.

»Ich weiß.« Er tippte wieder auf seine Komm-Kontrolle. »Captain Duellos, ich gratuliere Ihnen. Gute Arbeit. Halten Sie die Augen offen, falls sie es noch mal versuchen sollten.«

Beim Anblick der von den Recce-Drohnen übermittelten Bilder verzog er das Gesicht. Ich kann verstehen, wieso es so verlockend ist, einfach einen ganzen Planeten in Grund und Boden zu bombardieren, damit da unten nach Möglichkeit nichts überlebt, das uns gefährlich werden könnte. Aber was gibt mir das Recht, Millionen von Zivilisten zu töten, nur weil ich dabei hoffentlich getarnte Verteidigungsanlagen vernichten kann? Sollten die auch noch zusätzlich gepanzert sein — wovon auszugehen ist —, dann wäre nicht mal sicher, dass wir alles treffen. Er sah zu Desjani. »Glauben Sie, auf dem dritten Planeten erwartet uns das Gleiche?«

»Womöglich. Wir werden auf jeden Fall davon ausgehen müssen, dass die Bedrohung existiert.«

Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. »Warum können die sich nicht vernünftig verhalten? Sie haben kaum eine Chance, uns wehzutun, und mit jedem weiteren Schuss nehmen sie Vergeltungsmaßnahmen in Kauf.«

Desjani sah ihn fragend an. »Sir, wir befinden uns jetzt seit einem Jahrhundert im Krieg. Ich glaube, die Vernunft ist da schon vor langer Zeit auf der Strecke geblieben.«

»Da muss ich Ihnen recht geben. Glauben Sie, es hilft etwas, wenn ich ihnen eine Aufforderung zukommen lasse, dass sie nicht unsere Schiffe angreifen sollen?«

»Schwer zu sagen«, meinte sie schulterzuckend. »Der Energieimpuls des kollabierenden Hypernet-Portals hat mit Sicherheit jeden ungeschützten Empfänger in diesem System durchschmoren lassen, aber es könnte noch ein paar Geräte geben, auf denen man Sie hören kann.«

»Nur gehören die wahrscheinlich alle der Regierung und dem Militär.«

»Ja, Sir, und die werden auf vernünftige Forderungen wohl kaum reagieren.«

Geary nickte, dann betrachtete er Desjani. »Captain, als ich Sie kennenlernte, da hätten Sie nicht gezögert, alles menschliche Leben auf diesen Planeten auszulöschen. Jetzt scheinen Sie an so etwas nicht mehr interessiert zu sein.«

Sie sah eine Zeit lang vor sich hin, dann antwortete sie: »Ich habe Ihnen zugehört, Sir, und ich habe mich ausführlich mit meinen Vorfahren unterhalten. Es hat nichts Ehrenhaftes, die Wehrlosen zu töten. Und das, was wir hier angerichtet haben, zwingt die Syndiks zu erheblichen Wiederaufbaumaßnahmen. Hätten wir alles ausgelöscht, könnten sie das System einfach abschreiben.« Nach einer kurzen Pause fügte sie an: »Und es kann uns niemand vorwerfen, wir hätten uns genauso verhalten wie die Syndiks. Wir sind nicht wie sie. Mir ist klar geworden, dass ich nicht die Dinge auf dem Gewissen haben möchte, die die Syndiks tun würden.«

»Danke, Captain Desjani.« Zwischen Ehre und praktischen Erwägungen war sie zu dem Schluss gekommen, dass er recht hatte. Es war ein viel angenehmeres Gefühl, als wenn sie ihm einfach nur zugestimmt hätte, weil er Black Jack Geary war. Er hatte sich bereits gefragt, was geschehen würde, sollte er plötzlich tot umfallen. Seine Befürchtung war gewesen, die Flotte könnte wieder auf die Taktiken und Denkweise verfallen, die vor seiner Ankunft allgemein anerkannt waren. Aber wie es aussah, kehrten zumindest einige Offiziere zu Taktiken zurück, mit denen Geary noch vertraut war. Er war nicht so dumm zu glauben, dass in der Vergangenheit immer nur alles gut gewesen war, aber es war nichts verkehrt daran, das Kriegsrecht zu beachten, ehrbar zu handeln und umsichtig, anstatt nur tapfer zu kämpfen.

In den nächsten Stunden, in denen sich Gearys Formation dem dritten Planeten näherte, musste Captain Duellos die vierte Welt noch drei weitere Male bombardieren. Keiner der Versuche der Syndiks, eines seiner Schiff zu treffen, war erfolgreich verlaufen, was nicht weiter verwunderte, konnten doch die Waffen auf der Oberfläche ihre Ziele nicht direkt anvisieren, sondern mussten sich auf die Daten von Drohnen verlassen, die immer nur kurz aus der Wolkendecke hervorkamen und nicht mehr als eine Augenblicksaufnahme von der Situation liefern konnten. Im Gegenzug hörten zwei Recce-Drohnen auf, Daten zu übertragen, was den Schluss zuließ, dass man sie abgeschossen hatte. Das würde Colonel Carabali gar nicht gefallen, doch Geary hielt zwei Drohnen für einen vertretbaren Preis dafür, dass Treffer der Syndiks verhindert werden konnten.

Als sich die Formation Delta der dritten Welt näherte, wurden Shuttles gestartet, die die Marines zu ihren Zielen brachten. Die meisten von ihnen steuerten einen großen, stark bevölkerten orbitalen Komplex an, die übrigen nahmen Kurs auf Lagerhäuser im Orbit, die Rohstoffe und Vorräte enthielten, die normalerweise auf die Planetenoberfläche gebracht oder zu anderen Standorten im System verschickt wurden, wo sie beim Bau von Syndik-Kriegsschiffen zum Einsatz kamen. Nun jedoch würde die Allianz-Flotte sie sich einverleiben, um die Vorräte zu produzieren, die die Crews benötigten.

Mit skeptischem Blick beobachtete Geary die dritte Welt, der sich seine Formation näherte. Sie war nicht ganz so dicht mit Verteidigungsanlagen und ähnlichen Einrichtungen überzogen, weshalb dort insgesamt weniger Ziele getroffen worden waren. Dementsprechend war die Wolkendecke aus Staub und Wasserdampf nicht so dicht, dennoch war die Oberfläche nicht allzu gut zu sehen. Auch wenn diese Welt nach menschlichen Maßstäben etwas zu warm war, ließ es sich dort aushalten. Zumindest war das bislang der Fall gewesen, doch jetzt würden die Massen von Staub das Leben auf dieser Welt für die nächste Zeit etwas unangenehmer machen. Allerdings gab es für die Bewohner keinen Grund zur Beschwerde, immerhin hätte die Allianz-Flotte den Planeten völlig unbewohnbar machen und jede Stadt in Schutt und Asche legen können.

Die Sensoren der Dauntless und die der anderen Schiffe in dieser Formation suchten die Planetenoberfläche gründlich ab, doch es schien, als hätten die von der Allianz-Flotte abgefeuerten Geschosse keines der anvisierten Ziele verfehlt. »An alle Einheiten der Formation Delta: Gehen Sie nicht in einen zu niedrigen Orbit um den dritten Planeten. Nehmen Sie außerdem zufällige Kurs- und Geschwindigkeitswechsel vor, solange wir uns in Waffenreichweite dieser Welt befinden.«

Der Befehl wurde noch von den anderen Schiffen bestätigt, da bahnten sich leistungsfähige Partikelstrahlen ihren Weg durch die Atmosphäre der dritten Welt, die auf die Daring zielten. Zum Glück waren die Syndiks übereifrig gewesen und feuerten aus extrem großer Entfernung, weshalb sie den Schlachtkreuzer knapp verfehlten. Geary schlug mit der Faust auf seine Kontrollen. »Daring, vernichten Sie diese Kanonen.«

»Mit Vergnügen, Sir«, erwiderte die Daring. Eine zweite Salve traf die Position, an der sich das Schiff gerade eben noch aufgehalten hatte, und gab der Daring die nötigen Zieldaten für den Gegenschlag. Der Schlachtkreuzer spuckte kinetische Projektile aus, die durch die Atmosphäre rasten. Diesmal konnte Geary die Lichtblitze auf dem Planeten sehen, als die Geschosse die Partikelstrahl-Batterie zerstörten und einen tiefen Krater in den Boden rissen.

Inzwischen variierten alle Schiffe der Formation immer wieder minimal Position und Geschwindigkeit, was bereits genügte, um den Beschuss von der Planetenoberfläche ins Leere laufen zu lassen. Geary versuchte sich zu entspannen, obwohl er wusste, dass sie alle nervös mit weiteren Angriffen rechneten, solange sie sich in der Nähe dieser Welt aufhielten. »Ich hoffe, dass uns nicht mehr als das erwartet«, sagte er zu Desjani.

Kaum hatte er das ausgesprochen, tauchte vor ihm in der Luft ein kleines Fenster auf, das Colonel Carabalis besorgte Miene zeigte. »Unsere Truppen werden in dieser orbitalen Stadt beschossen«, meldete sie.

Das kommt davon, wenn man dummes Zeug redet. Ich habe den Arger nur herausgefordert. »Die orbitale Stadt.« Geary rief die Informationen auf. Die Bevölkerung betrug rund fünfzigtausend Personen, was die Einrichtung nach den allgemein gültigen Maßstäben zu einer Stadt erhob, die über einen erfreulich großen Vorrat an Lebensmitteln verfügte, um nicht nur die Bewohner zu ernähren, sondern auch die Besatzungen von Syndik-Kriegsschiffen, die herkamen, um ihre Bestände aufzufüllen. Die Allianz-Flotte konnte diese Lebensmittel gut gebrauchen, allerdings hatte Geary darauf bestanden, dass genug zurückgelassen wurde, dass keine Hungersnot ausbrach. »Was genau ist da los?«

»Wir haben die meisten Lebensmittellager gesichert, ebenso die umliegenden Bereiche, aber Spezialeinheiten der Syndiks feuern von außerhalb auf uns und benutzen die Zivilbevölkerung als Schutzschild. Sie tauchen aus der Menschenmenge auf, feuern und verschwinden dann gleich wieder.«

Es war klar, dass sich etliche Angehörige des Syndik-Militärs hier aufhalten mussten, und das nicht nur, um das System zu verteidigen. Sie sorgten zweifellos auch für die innere Sicherheit, was nichts anderes bedeutete, als dass sie ihre eigenen Leute überwachten. Mindestens ein Teil dieser Militärs hatte kein Problem damit, den Tod jener Zivilisten in Kauf zu nehmen, die sie eigentlich beschützen sollten. Aber er dachte in diesem Moment wieder wie ein Vertreter der Allianz. Diese Truppen waren in Wahrheit nicht hier, um die Bürger von Sancere zu beschützen, sondern um die Interessen der Syndikatwelten und ihrer Führer zu wahren. Wenn dabei ein paar Bürger zu Tode kamen — oder auch ein paar Millionen —, dann war das eben Pech für die Betroffenen. »Was wollen Sie unternehmen?«, fragte Geary.

Carabali blickte mürrisch drein. »Uns bleiben drei Möglichkeiten. Erstens: Wir erwidern das Feuer, was zweifellos den Tod vieler Zivilisten zur Folge haben wird. Zweitens: Wir ziehen uns zurück und geben unsere Bemühungen auf. Drittens: Wir erleiden weitere Verluste ohne eine Chance, uns zur Wehr zu setzen. Ihnen wird nicht entgangen sein, dass die Syndiks in jedem Fall die Sieger sind.«

»Verdammt.« Sollte er mit Vergeltungsmaßnahmen gegen den Planeten drohen? Würde das die Militärs von ihrem Tun abbringen? Leute, die jetzt schon gezeigt hatten, dass ihnen die Zivilbevölkerung egal war. Und wenn sie nicht aufhörten, war er dann bereit, seine Drohung in die Tat umzusetzen? »Wir brauchen diese Lebensmittel. Hat es sich als sicher erwiesen?«

»Bislang ja. Denen war nicht klar, dass wir deswegen herkommen, daher hatten sie auch keine Chance, es zu vergiften.«

Es musste doch noch eine vierte Möglichkeit geben. Ein Kompromiss war bei einer militärischen Aktion für gewöhnlich eine gefährliche Vorgehensweise, aber in diesem Fall schien es die einzige Wahl zu sein. »Was ist, wenn Sie eine Pufferzone um unsere Truppen herum schaffen und die Zivilisten wegschicken? Sagen Sie ihnen, sie sollen sich schnell zurückziehen, weil nach Ablauf einer bestimmten Zeit alles als Ziel angesehen wird, das sich in dieser Zone noch bewegt. Würde das funktionieren?«

Carabali nickte nachdenklich. »Könnte sein. Aber wenn Sie glauben, dass sich alle Zivilisten entfernen werden, dann täuschen Sie sich. Einige werden immer bleiben. Manche, weil sie zu stur oder zu dumm sind, andere, weil sie sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht von der Stelle bewegen können. Einige werden sich weiter in der Gefahrenzone aufhalten.«

»Aber nicht annähernd so viele.«

»Nein, Sir.«

Geary schüttelte den Kopf. »Ich sehe keine andere Lösung. Diese Spezialeinheiten drängen uns in die Ecke. Zu schade, dass wir keine intelligente Munition haben, die nur die Bösen trifft.«

»Ich glaube, die hat sich seit dem ersten Krieg jeder Befehlshaber gewünscht. Ausgenommen natürlich die bösen Befehlshaber«, sagte Carabali.

»Erledigen Sie das, Colonel. Geben Sie den Zivilisten so viel Zeit, wie Sie für eine Räumung für nötig halten, aber gehen Sie mit Ihren Truppen keine unnötigen Risiken ein.« Kaum hatte Geary zu Ende gesprochen, wurde ihm klar, dass dies ein Befehl von dieser nervtötend widersprüchlichen Art war, die ihn früher verrückt gemacht hatten, wenn er sie erhielt. Carabali verdiente klarere Anweisungen. »Halten Sie eine halbe Stunde für ausreichend?«

»Fünfzehn Minuten wären mir lieber, Sir. Das sollte für den Bereich genügen, der geräumt werden soll.«

Ich werde nicht an der Entscheidung der Person zweifeln, die da drüben die Hauptverantwortung für diese Truppen trägt. »Also gut, fünfzehn Minuten.«

»Und danach haben wir die Erlaubnis, in der Pufferzone vertretbare Gewalt anzuwenden?«

»Solange Sie keine Löcher in die Außenhülle dieser Stadt schießen. Ich möchte nicht, dass die gesamte Atmosphäre ins All entweicht.«

Carabali grinste. Ihre vorangegangene Aufregung war ihrem Sinn für Humor gewichen. »Jawohl, Sir. Ich werde die Befehle weitergeben.«

»Gern geschehen.« Nachdem das Gespräch beendet war, lehnte Geary sich zurück und bemerkte Rione, die auf die Brücke gekommen war und ihn beobachtete. »Sieht so aus, als hätte ich eine Marine glücklich gemacht.«

»Wieso? Darf sie jemanden erschießen?«

»Vermutlich ja.« Er zögerte und suchte das Systemdisplay nach Hinweisen auf andere Bedrohungen ab. Die Syndik-Streitmacht Alpha hatte sich jedoch noch immer nicht von der Stelle gerührt, und andere Aktivitäten waren auch nicht festzustellen. Beruhigt zog Geary das Display der Landetruppen heran, deren zahlreiche kleine Bilder zeigten, was die Geschwaderführer sahen, die sich durch die Orbitalstadt bewegten. Er wählte zufällig eines aus und berührte es, um es zu vergrößern.

Der Lieutenant, den Geary erwischt hatte, schaute über einen kleinen Hof hinweg zu einer Gebäudegruppe auf der anderen Seite, hinter der mehr von der Stadt zu sehen war, gebaut in der klassischen, zweckmäßigen Zylinderform, die es erlaubte, auf künstliche Schwerkraft zu verzichten.

Etwas blitzte zwischen den Gebäuden auf, und der Lieutenant zog ruckartig den Kopf nach hinten. Splitter flogen durch die Luft, als ein massives Metallgeschoss Mauerwerk absprengte. Geary stellte den Ton lauter, sodass zu hören war, wie das Echo des Schusses nachhallte. Dann ertönte eine dröhnende Stimme: »Dieses Gebiet wird sofort geräumt. Alle Bürger der Syndikatwelten werden aufgefordert, sich auf der Stelle in einen Bereich jenseits der Fünften Straße zurückzuziehen. Wer sich weiterhin auf dieser Seite der Fünften Straße aufhält, wird als feindlicher Kämpfer angesehen und angegriffen.«

Die Aufforderung wurde wiederholt, und Geary konnte aus der Sicht des Lieutenants mitverfolgen, wie Männer, Frauen und Kinder aus den Gebäuden gestürmt kamen und davonliefen. In einiger Entfernung stellte sich ein Mann mit einer Waffe den Flüchtenden in den Weg und machte drohende Gesten, die die Menge anhalten ließen. »Erledigt ihn«, befahl der Lieutenant, dann wurde ganz in der Nähe eine Waffe abgefeuert, und Augenblicke später sank der Mann zuckend zu Boden, als hätte ihn ein heftiger Schlag niedergestreckt. Die Zivilisten stürmten weiter und nahmen keine Notiz von dem reglos daliegenden Mann.

Geary wechselte zu einigen anderen Kameras und bekam überall die gleichen Bilder geliefert. Aus den Gebäuden gegenüber den Marines wurden weiter Schüsse abgefeuert, doch nach der fünfzehnminütigen Schonfrist begannen diese Bauwerke zu explodieren, da die Marines mit schweren Waffen vorgingen. Habe ich das genehmigt? Eigentlich ja, oder?

Es mochte sein, dass in den Gebäuden auch Zivilisten ums Leben kam, doch daran konnte er nun nichts mehr ändern. Allerdings fühlte er sich deswegen nicht besser. Gegen einen Feind zu kämpfen, der ihn immer wieder dazu zu zwingen versuchte, Grausamkeiten gegen Unschuldige zu begehen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Ich tue, was ich tun muss, aber kein bisschen mehr, ihr kaltblütigen Bastarde. Ihr werdet den Tod von Zivilisten weder mir noch meiner Flotte in die Schuhe schieben können.

Es dauerte fast einen Tag, um so viele Lebensmittel und andere Vorräte aus den Lagerhäusern einzuladen und in Shuttles zu den verschiedenen Raumschiffen zu bringen, wie die Allianz-Flotte mitnehmen wollte. Die Allianz-Truppen mussten dabei immer wieder Schüssen von der Planetenoberfläche ausweichen und Gegenschläge ausführen. Keine Waffenbatterie auf dem Planeten konnte irgendwelche Treffer erzielen, und keine überlebte den ersten Schussversuch, und doch schienen immer neue, verborgene Einrichtungen aufzutauchen.

Zwanzig Stunden nach der Ankunft im Orbit der dritten Welt gab Geary den Befehl zum Rückzug und überflog erfreut, aber müde die Liste der ihnen von den Syndiks »überlassenen« Vorräte. Die Orbitalstadt hatte zwar wegen der anhaltenden Kämpfe zwischen den Marines und den Syndik-Spezialeinheiten einige Schäden hinnehmen müssen, doch sie war nun wieder sicher. Bei den Lagerhäusern im Orbit gestaltete sich das jedoch etwas anders. Nachdem Geary bestätigt worden war, dass sich kein Personal mehr dort aufhielt, ordnete er ihre Zerstörung an. Alles, was die Allianz-Schiffe nicht mitnahmen, würde ansonsten von den Syndiks genutzt werden können. Das galt auch für die Lagerhäuser, hätte Geary sie unversehrt gelassen.

Sancere war nicht das einzige System, das die Syndiks mit Kriegsschiffen versorgte. Es gab genügend andere Systeme, die große Schiffe und Heerscharen von kleineren Einheiten fast am laufenden Band produzierten. Dafür wurde auf Ressourcen einer interstellaren Macht zugegriffen, die viele Sternensysteme umfasste. Doch der Verlust der Werften von Sancere würde etwas bewirken, weil die Syndiks wenigstens für eine Weile nicht so schnell ihre Verluste ausgleichen konnten.

»An alle Schiffe: Gut gemacht.« Er gähnte, während er bestätigte, dass die Formation sich zu einer neuen Position außerhalb des Orbits der vierten Welt begab. »Ladies und Gentlemen, ich werde mich jetzt eine Weile schlafen legen.« Desjani verzog den Mund zu einem müden Grinsen, da sie sich gleichfalls bereit machte, die Brücke der Dauntless zu verlassen.

Auf dem Weg zu seiner Kabine überlegte Geary, ob Victoria Rione wohl auf ihn wartete.

»Geary hier.« Er zwinkerte, um den Schlaf aus seinen Augen zu vertreiben, und überprüfte, ob er die Videoübertragung auch abgeschaltet hatte.

»Sie wollten benachrichtigt werden, wenn sich die Formation Bravo vom vierten Planeten zurückzieht, Sir. Wir haben gehört, dass der Rückzug begonnen hat, und wir haben die Bestätigung erhalten, da sich die Schiffe tatsächlich von der Stelle bewegen.«

»Danke«, sagte er und legte sich hin. Er war dankbar dafür, dass es wenigstens einmal eine gute Meldung war, die keine sofortige Reaktion erforderte. Und er wusste damit auch, er könnte für eine Weile aufhören, sich Sorgen wegen der Partikelkanonen zu machen.

»Du weißt, sie merken es, dass du etwas vor ihnen verheimlichst«, hörte er Riones Stimme neben sich.

»Meinst du?«

»Ich weiß es, John. Hast du bislang die Videoübertragung blockiert? Ich glaube kaum. Außerdem redest du mit gedämpfter Stimme. Die werden sich ganz bestimmt längst fragen, wen du nicht aufwecken willst.«

»Verdammt.« Ihre Worte ließen plötzlich Angst in ihm wach werden. »Sie könnten glauben, es ist jemand aus der Flotte.« Eine Offizierin. Oder schlimmer noch: eine Matrosin. Also genau das, was er wegen seiner Autorität unbedingt vermeiden musste.

Rione stützte sich auf den Ellbogen auf und lächelte ihn schmallippig an. »Also muss ich dafür sorgen, dass die Flotte erfährt, mit wem ihr Held in Wahrheit schläft. Ich frage mich, wie eine solche Ankündigung aussehen soll.«

Er zuckte leicht zusammen. »Es war nie meine Absicht gewesen, dich zum öffentlichen Gesprächsthema zu machen. Das sollte etwas Privates sein.«

»Nichts von dem, was dich betrifft, kann jemals privat sein, John. Wenn es dir bislang nicht klar gewesen ist, dann sollte es das ab jetzt sein.«

»Es geht hier um dich, nicht um mich.«

»Willst du etwa meine Ehre verteidigen?«, gab sie sichtlich amüsiert zurück. »Ich bin alt genug, um das selbst zu erledigen. Und für den Fall, dass du dich das fragst: Als ich mich darauf einließ, war mir bewusst, dass daraus ein öffentliches Gesprächsthema entstehen würde.«

Leider erinnerten ihre Worte Geary an seine Überlegungen, Rione könnte sich mehr zu seiner Macht als zu ihm selbst hingezogen fühlen. Doch wenn das tatsächlich der Fall war, würde sie es niemals zugeben. Und wenn es nicht der Fall war, müsste er schon verrückt sein, sie darauf anzusprechen.

»Unsere Beziehung ist weder unangemessen noch illegal«, betonte sie. »Am Morgen werde ich die Befehlshaber der Schiffe der Callas-Republik und der Rift-Föderation informieren. Ich weiß, dass sie in der Vergangenheit auf Gerüchte angesprochen wurden, ob zwischen uns etwas ist, und sie haben stets verneint. Da sich das nun geändert hat, werde ich es ihnen allein schon aus dem Grund sagen, dass das Vertrauensverhältnis nicht gestört wird. Sobald die Commander es wissen, wird es sich mit Überlichtgeschwindigkeit in der gesamten Flotte herumsprechen.«

Unwillkürlich musste Geary seufzen. »Muss die Flotte wirklich davon erfahren?«

»Ja.« Sie sah ihn ernst an. »Und das weißt du auch. Würden wir versuchen, das persönliche Verhältnis zwischen uns zu vertuschen, dann käme der Eindruck auf, dass wir selbst glauben, wir würden etwas Unrechtes tun.«

»Es ist nichts Unrechtes.«

»Versuchst du, mich davon zu überzeugen, John? Während ich mit dir im Bett liege? Das kommt aber ein bisschen spät.«

»Ich versuche, ernsthaft mit dir zu reden. Hör zu, da ist eine Sache, die mir Sorgen macht. Es gibt da etwas, auf das ich mich bei dir in der Vergangenheit immer verlassen konnte, und ich möchte, dass das so bleibt.«

»Was soll das sein?«

»Ich möchte, dass du meinen Plänen weiter mit Skepsis begegnest. Du musst skeptisch und fordernd sein, du musst mich hinterfragen. Du bist die Einzige in der Flotte, die in der Lage ist, meine Pläne wie eine Außenstehende zu betrachten. Das brauche ich auch weiterhin von dir.«

»Du willst, dass ich fordernd bleibe?«, fragte sie. »Das ist für einen Mann etwas ungewöhnlich, aber ich werde gern versuchen, weiter so fordernd zu sein.«

»Ich meine es ernst, Victoria«, beharrte er.

»Victoria wird dir da wohl nicht helfen können, aber Co-Präsidentin Rione hat die Absicht, dich auch weiterhin mit Sorge und Skepsis zu beobachten. Beruhigt dich das?«

»Ja, das tut es.«

»Gut, dann möchte ich mich wieder schlafen legen. Gute Nacht.« Sie drehte sich um und bot ihm den atemberaubenden Anblick ihres nackten Rückens, ohne dass es ihr bewusst zu sein schien.

Es kostete ihn große Mühe, den Blick abzuwenden, dann starrte er eine Weile die Decke an. Dann wird sie also der ganzen Galaxis erzählen, dass sie mit mir schläft. Aber sie hat recht damit, dass wir es den anderen sagen müssen. Wenn Gerüchte die Runde machen, ich würde mit irgendeiner anderen Frau schlafen, könnte das große Probleme nach sich ziehen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass die ganze Flotte es erfährt, weil ich mir nicht sicher bin, wie ich eigentlich zu ihr stehe. Fühle ich mich nur zu ihr hingezogen, weil ich eine starke Frau an meiner Seite brauche? Oder ist es nur etwas Körperliches, und ich rede mir bloß ein, dass sie mir wichtig ist? Nein, das kann ich selbst nicht glauben. Sie ist eine fantastische Frau, und mir gefällt eine Menge an ihr. Aber wenn wir keinen Sex haben, gibt sie sich nicht sehr warm und anschmiegsam. Sie hält immer etwas zurück. Nein, das ist eine blanke Untertreibung. Sie hält eine Menge zurück. Wenn wir es bis nach Hause geschafft haben, könnte Victoria Rione zu dem Entschluss kommen, dass ich langweilig geworden bin, und dann wendet sie sich von mir ab. Oder sie beschließt, Black Jack zu stoppen. Oder aber ich bin ihr völlig egal, und sie bleibt nur an meiner Seite, weil sie von meinem Status profitieren kann.

Oder aber ich bin ihr wirklich wichtig.

Sieh’s doch ein, Geary. Du hast keine Ahnung, was ihr beide füreinander empfinden werdet, wenn ihr zurück im Allianz-Gebiet seid — ob ihr zusammen nach Kosatka reisen werdet, um zu heiraten, oder ob ihr euch die Hand reicht und dann für den Rest eures Lebens getrennte Wege gehen werdet.

Ich glaube, damit kann ich mich befassen, wenn wir an diesem Punkt angekommen sind. Falls wir je dort ankommen.

Die bislang über das Sancere-System zusammengetragenen Daten waren rein mengenmäßig überwältigend, sie halfen aber in Bezug auf die wichtigsten Punkte nicht weiter. Die Marines hatten von verlassenen Syndik-Terminals so viele Dateien heruntergeladen, wie es nur ging, aber bislang hatte keine von ihnen brauchbare Informationen liefern können. Mehrere Rettungskapseln von den zerstörten Schiffen der Syndik-Streitmacht Bravo waren geborgen worden, doch die an Bord befindlichen Matrosen konnten nur berichten, dass sie an einer Schlacht bei Scylla in der Nähe der Grenze zur Allianz beteiligt gewesen waren. Ein Syndik-Offizier hätte mehr erzählen können, jedoch waren die Rettungskapseln mit den Offizieren an Bord durch die Energieentladung des kollabierenden Portals vernichtet worden. Die Schlacht bei Scylla musste in einem blutigen Patt geendet haben, nach dem sich beide Seiten zurückgezogen hatten. Die kleinen Einrichtungen, die sich nach Gearys Erinnerung vor hundert Jahren bei Scylla befunden hatten, waren vor langer Zeit zerstört oder aufgegeben worden, als beide Seiten unablässig um ein ansonsten völlig nutzloses Sternensystem kämpften.

Sie haben wie verrückt aufeinander eingeprügelt und dann den Kontakt abgebrochen. Es war keine große Schlacht, denn was wir in Sancere eintreffen sahen, war in etwa die gesamte Syndik-Flotte. Und die Allianz war ungefähr gleich groß. Aber daraus kann ich keine Rückschlüsse ziehen. Ich weiß nicht, was sich anderswo an der Front abspielt.

Frustriert durchsuchte Geary die Komm-Verbindungen zum Geheimdienst der Dauntless. »Hier ist Captain Geary. Ich möchte persönlich mit dem ranghöchsten oder dienstältesten Syndik-Matrosen reden, den wir aufgelesen haben. Ist das jetzt möglich?«

Die Antwort brauchte einen Moment. »Ich muss nachsehen …« Die Stimme brach ab, dann hörte Geary im Hintergrund jemanden aufgebracht brüllen. »Ähm, jawohl, Sir!

Sofort, Sir! Möchten Sie einen virtuellen Kontakt oder ein tatsächliches Gespräch?«

»Ein tatsächliches Gespräch.« Geary war bis heute nicht den Verdacht losgeworden, das diese Software für die virtuellen Besprechungen nicht jede Bewegung und Nuance völlig exakt übertrug. Aus seiner Erfahrung wusste er, dass Software dazu neigte, die Dinge glattzubügeln, die nicht in ihre Parameter passten, obwohl Menschen oftmals gerade durch kleine, oftmals scheinbar widersprüchliche Verhaltensweisen wichtige Sachen verrieten. Was die Software für eine Anomalie hielt und wegließ, konnte das Wichtigste sein, was eine Person von sich zu erkennen gab.

Die Geheimdienst-Abteilung befand sich hinter beeindruckenden Sicherheitsschleusen. Ein etwas nervöser Lieutenant wartete davor und führte Geary eilig durch den Hochsicherheitsbereich. Aus einem unerfindlichen Grund kam es ihm dort immer so vor, als müsse alles ganz leise zugehen, auch wenn es auf den ersten Blick so aussah wie in jeder beliebigen anderen Abteilung, nur dass hier noch ein paar Ausrüstungsgegenstände und Geräte mehr auf den Tischen und in der einen oder anderen Ecke standen. Einer alten Tradition folgend war die Geheimdienst-Abteilung eine in sich geschlossene Welt, die zwar ein Teil des Schiffs darstellte, sich aber dennoch ganz von der restlichen Crew fernhielt. Diese enger gestrickte Umgebung, in der die Abteilungsmitglieder arbeiteten, wurde durch einen lockereren Umgang ausgeglichen.

Auf einem der Schreibtische stand sogar eine Grünpflanze, eine kleine, echte Grünpflanze. Geary warf dem Lieutenant einen fragenden Blick zu, der noch etwas nervöser antwortete: »Das ist Audrey, Sir.«

Natürlich. Wenn es auf einem Raumschiff eine Grünpflanze gab, dann hieß sie üblicherweise Audrey. Der Grund dafür — sofern es überhaupt einen Grund gab — hatte sich im Nebel der Vergangenheit verloren, dennoch freute sich Geary, dass es etwas gab, das sich seit seiner Zeit bis heute nicht geändert hatte. Geary lächelte aufmunternd und folgte dem Lieutenant zum Verhörraum.

Der Verhörraum folgte einem Design, das äußerlich seit Jahrhunderten keine Veränderung erfahren hatte. Geary sah durch eine von der anderen Seite verspiegelte Scheibe in den Raum, wo eine offenbar nicht gefesselte Syndik-Unteroffizierin auf einem Stuhl saß. Sie wirkte benommen und verängstigt, aber sie versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. »Wenn sie einen Schritt auf Sie zumacht, schicken wir sie mit einer Betäubungsladung zu Boden«, versicherte der Lieutenant ihm.

»Sie scheint mir nicht der Typ zu sein, der in Selbstmordabsicht auf einen anderen losstürmt«, meinte Geary und sah sich dann die Anzeigen der Instrumente gleich vor ihm an. »Spielen die alle eine Rolle bei Ihren Verhören?« Er war schon einmal hier unten gewesen, aber da hatten sich keine Gefangenen im Raum befunden.

»Ja, Sir.« Der Lieutenant deutete auf die Geräte. »Wir können während der Befragung die Hirnaktivität scannen und dadurch feststellen, wann der Befragte uns etwas vormacht.«

»Und was tun Sie dann?«

»Manchmal hilft es schon, die Person damit zu konfrontieren. Einige Leute geben auf, wenn sie erkennen, dass wir ihre Lügen durchschauen. Bei den Zähen ist die beste Lösung die, ihnen enthemmende Medikamente zu verabreichen. Wir fragen, sie reden.«

»Das hört sich menschlicher an, als sie zu schlagen«, kommentierte Geary amüsiert.

»Sie zu schlagen?« Der Lieutenant schien seinen Ohren nicht zu trauen. »Warum sollten wir so etwas machen? Das liefert nur unzuverlässige Informationen.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Sir. Nicht ganz so schlimm wie bei Folter, aber immer noch unzuverlässig. Unsere Aufgabe ist es, Ihnen präzise Informationen zu liefern. Körperliche und geistige Misshandlungen bringen einen Menschen zwar zum Reden, aber man erhält keine zuverlässigen Aussagen.«

Geary nickte und war innerlich erleichtert, dass schlichter Pragmatismus die Grausamkeiten vermeiden half, die er anderswo miterlebt hatte. Hätten seine Geheimdienstleute sich auf Foltermethoden verlassen, dann wären sie genauso gestört gewesen wie die Kampftaktiken der Flotte, die er anfangs hatte beobachten müssen. »Okay, dann lassen Sie mich mal rein.«

Die Syndik-Matrosin riss den Kopf hoch, als die schwere Tür geöffnet wurde. Geary trat ein, die Matrosin starrte auf sein Uniformabzeichen, während er näher kam. »Wer sind Sie?«, fragte er. Die Geheimdienstleute hätten ihm das auch sagen können, aber er hielt es für eine gute Eröffnung für eine Unterhaltung.

Mit recht fester Stimme antwortete die Frau: »Gyal Barada, Matrosin siebten Grades des allgemeinen Dienstes, Selbstverteidigungsstreitmächte der Syndikatwelten, Direktorat der mobilen Weltraum-Streitmächte.«

Geary nahm ihr gegenüber Platz und war dankbar dafür, dass er bei einer Flotte diente, aber nicht bei einem »Direktorat der mobilen Weltraum-Streitmächte«. »Ich bin Captain John Geary.« Die Frau blinzelte verdutzt. »Man nannte mich mal Black Jack Geary. Vermutlich ist Ihnen mein Name da schon einmal begegnet. Ich bin der Befehlshaber dieser Flotte.«

Ihre Verwirrung verwandelte sich in Angst. »Darum also …«, platzte die Matrosin heraus, verkniff sich aber jedes weitere Wort.

Im ruhigen Plauderton hakte Geary nach: »Darum also was?«

Sie starrte ihn fast wie in Panik an. »Ich hörte die Offiziere reden, bevor unser Schiff zerstört wurde. Der Feind dürfte gar nicht hier sein, sagten sie. Er kann eigentlich gar nicht hergekommen sein. Aber er war da.«

Geary nickte. »Damit hatte ich tatsächlich etwas zu tun.«

»Man sagte uns, diese Flotte sei zerstört worden. Im Heimatsystem. Und man sagte, Sie seien bereits vor hundert Jahren gestorben.« Die Frau war so blass geworden, dass Geary fürchtete, sie könnte jeden Moment ohnmächtig werden.

»Wurden Sie während des Gefechts verletzt?«, fragte er.

Sie schüttelte hastig den Kopf. »Nein, ich glaube nicht.«

»Hat man Sie dem Kriegsrecht entsprechend behandelt, seit Sie in Gefangenschaft geraten sind?«

Nun wirkte sie wieder verwirrt. »Ich … ja.«

»Gut. Wie kommt der Krieg voran?«

Sie schluckte und begann dann in einem Tonfall zu reden, als leiere sie etwas auswendig Gelerntes herunter. »Die Syndikatwelten eilen von Triumph zu Triumph. Der endgültige Sieg ist zum Greifen nah.«

»Ach ja?« Geary fragte sich, wie lange die Syndik-Propaganda schon den zum Greifen nahen Sieg ankündigte. »Haben Sie diese Erklärung schon mal infrage gestellt?« Die Frau schüttelte stumm den Kopf. »Das dachte ich mir. Wahrscheinlich ist es gefährlich, das anzuzweifeln.« Noch immer keine Antwort. »Möchten Sie gern zurück nach Hause?« Lange Zeit starrte sie Geary nur an, schließlich nickte sie. »Das möchte ich auch. Aber in meiner Heimat bin ich frei. Sie sind es in Ihrer Heimat nicht. Stört Sie das nicht?«

»Ich bin eine Bürgerin der Syndikatwelten, ich lebe in Wohlstand und Sicherheit, und das verdanke ich den Opfern, die meine Führer erbringen«, rasselte sie herunter.

Erstaunlich. Seit einem Jahrhundert hat sich nichts an dem Unsinn geändert, den man den Syndiks eintrichtert. Aber was soll man auch verbessern, wenn man eine so einfache und irreführende Formel gefunden hat? »Glauben Sie das wirklich?«

»Ich bin eine Bürgerin …«

»Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden. Was ist nötig, damit Sie auf meine Frage antworten?«

Sie starrte ihn an und war wieder völlig verängstigt. »Ich werde auf Ihre Fragen nicht antworten.«

Geary nickte. »Ich hatte gar keine Antwort erwartet. Ich bin nur neugierig, was passieren muss, damit jemand wie Sie sich gegen die Regierung auflehnt, von der Sie versklavt und benutzt werden.«

Die Matrosin sah ihn lange an, bis sie erwiderte: »Ich muss meine Heimatwelt verteidigen.« Wieder eine Pause. »Ich habe auf dieser Welt Familie.«

Er dachte über ihre Worte nach und nickte abermals. Alte, aber wirkungsvolle Motive. Verteidige deine Heimatwelt gegen Invasoren. Beschütze deine Familie vor der eigenen Regierung. In der Menschheitsgeschichte hatten unzählige totalitäre Regime erfolgreich darauf gebaut. Jedenfalls für eine Weile. »Ich werde Ihnen jetzt etwas erzählen. Ich erwarte nicht, dass Sie mir glauben, aber ich erzähle es trotzdem. Die Allianz will Ihre Heimatwelt nicht angreifen, und sie will auch Ihrer Familie nichts antun. Niemand in der Allianz kämpft, weil er Angst vor seiner eigenen Regierung hat. Jeder, der zu den Syndikatwelten gehört, hat die Wahl, seinen Führern in diesen hässlichen Krieg zu folgen oder darauf zu bestehen, dass er beendet wird und gegenseitige Sicherheit Einzug hält.«

Ihre Miene war so verschlossen wie die eines streng Gläubigen, dem man erzählte, dass seine Vorfahren in Wahrheit gar nicht über ihn wachten. Sie saß nur da und schwieg. Schweigen im Angesicht der Autorität, selbst wenn man anderer Meinung war, musste eine Überlebenstaktik für die Bewohner der Syndikatwelten sein.

Geary stand auf. »Ihre Schiffe haben tapfer gekämpft. Ich bedauere die Tatsache, dass wir sie zerstören mussten. Mögen unsere Kinder eines Tages in Frieden leben.« Diese Worte ließen die Frau wenigstens aufhorchen, doch sie schwieg weiter, als er den Raum verließ.

»Sie können sie nicht dazu bringen, gegen ihre Führer zu arbeiten«, sagte der Lieutenant zu ihm. »Wir haben es versucht. Man sollte meinen, dass ihr Eigennutz sie motivieren könnte.«

Geary schüttelte den Kopf. »Lieutenant, wenn Eigennutz Menschen motivieren könnte, dann säßen Sie, ich und jeder Allianz- und Syndik-Soldat jetzt auf unserer Heimatwelt am Strand und würden ein Bier trinken. Ob zum Guten oder zum Schlechten, die Menschen glauben an das, wofür sie zu kämpfen bereit sind. Für uns zum Guten, für sie zum Schlechten.«

»Ja, Sir. Aber Sie haben da drinnen eine interessante Saat ausgestreut, Sir. Uns war nicht klar, was dabei herauskommen würde.«

»Wovon reden Sie?«, fragte Geary.

»Sie hält Sie für tot und diese Flotte für zerstört. Haben Sie gesehen, wie verängstigt sie war? Die Werte für ihren Metabolismus sind in die Höhe gesprungen. Sie hält uns für eine Geisterflotte, die von einem Geist befehligt wird.« Der Lieutenant grinste. »Das könnte der Moral der Syndiks einen Dämpfer versetzen.«

»Könnte sein.« Durch das verspiegelte Fenster sah er die Matrosin an. »Welche Pläne haben Sie mit ihr und den übrigen Gefangenen?«

»Das überlegen wir derzeit noch. Für unsere Abteilung sind sie wertlos. Aber wir können sie benutzen, um Gerüchte zu verbreiten, die für uns von Nutzen sein könnten«, erklärte der Lieutenant bedächtig. »Vielleicht sollten wir überlegen, sie … freizulassen.«

»Befinden sich deren Rettungskapseln noch an Bord?«

»Ja, Sir.« Der Lieutenant schien überrascht, dass sich Geary über diesen Vorschlag nicht aufgeregt hatte. »Wir haben die Kapseln gründlich durchsucht, ob sich irgendetwas von Wert an Bord befindet, aber das war nicht der Fall.«

Geary musterte die Syndik-Matrosin und überlegte, dass er unter leicht veränderten Umständen jetzt an ihrer Stelle sein könnte. Allerdings schon vor hundert Jahren, wenn die Syndiks nach dem Gefecht seine Rettungskapsel an Bord geholt hätten. Oder vor ein paar Monaten, wenn diese Flotte nicht aus dem Heimatsystem der Syndiks entkommen wäre. »Also gut, meine Befehle lauten wie folgt: Es ergibt keinen Sinn, wenn wir gefangene Syndiks mitnehmen, die für uns keinen Wert haben und die wir nur durchfüttern und bewachen müssen. Ich glaube, Sie haben da einen sehr guten Vorschlag gemacht. Wir können diese Gefangenen tatsächlich für unsere Zwecke nutzen. Sorgen Sie dafür, dass auch die anderen Gefangenen erfahren, wer diese Flotte befehligt. Ich werde jeden persönlich aufsuchen, der Ihnen nicht glaubt. Dann verfrachten Sie sie zurück in ihre Rettungskapseln, damit sie auf einer der Welten in diesem System landen können.«

Der Lieutenant grinste. »Jawohl, Sir. Die werden völlig erstaunt sein.«

»Mir gefällt es, die Syndiks in Erstaunen zu versetzen«, meinte Geary ironisch. »Ihnen nicht auch?« Das Grinsen des Lieutenants wurde noch breiter. »Stellen Sie sicher, dass die Lebenserhaltungssysteme der Kapseln arbeiten und dass sie auch genug Treibstoff haben, um es bis zu einem der Planeten zu schaffen. Überprüfen Sie auch die anderen Systeme. Nicht, dass die Energie des Portals irgendetwas beschädigt hat.« Das waren Details, auf die man die Leute vom Geheimdienst hinweisen musste, weil sie von sich aus nicht darauf achteten. »Verstanden?«

»Ja, Sir.« Der Lieutenant zögerte. »Es könnte sein, dass das nicht funktioniert, Sir. Und dass sie nicht dankbar für ihre Freilassung sind. Möglicherweise werden wir irgendwann wieder gegen sie kämpfen.«

»Mag sein, muss aber nicht. Und ein paar Matrosen mehr oder weniger werden nicht über den Erfolg oder Misserfolg in diesem Krieg entscheiden.«

»Das ist wahr, Sir.«

»Da wäre noch etwas«, fügte Geary an. »Ich konnte Ihnen anmerken, dass Sie nicht so recht wussten, ob Sie mir diesen Vorschlag unterbreiten sollten oder nicht. Künftig möchte ich informiert werden, wenn die Geheimdienstabteilung irgendwelche Vorschläge hat. Wenn ich sie nicht aufgreifen möchte, kann ich das immer noch entscheiden, nachdem ich sie gehört habe.«

»Jawohl, Sir.«

»Und man kann nie wissen, Lieutenant. Es kann sein, dass diese Matrosen das Gerücht verbreiten, wir seien Dämonen. Aber wir haben sie gut behandelt, und wenn genug Syndiks erfahren, dass wir keine Dämonen sind, dann hilft das auch schon weiter.« Er verließ die Abteilung und dachte darüber nach, dass sie Sancere in wenigen Tagen verlassen konnten. Gut eine Milliarde Syndik-Bürger würden dann zu den Sternen sehen und erleichtert aufatmen. Aber sie würden auch besorgt sein, dass die Allianz-Flotte vielleicht eines Tages zurückkehren könnte. Ihre Führer würden ihnen natürlich versichern, das sei nicht möglich. Aber dann hätte es auch nicht möglich sein können, dass sie überhaupt hergekommen war. Auf die eine oder andere Art hatte diese Flotte den Syndiks einiges zu grübeln mit auf den Weg gegeben.

Natürlich war da draußen immer noch die Syndik-Streitmacht Alpha unterwegs, und Geary war sich sicher, dass sie früher oder später doch noch irgendetwas unternehmen würde. Sie konnte die Allianz-Flotte nicht ohne irgendeine Art von Attacke davonkommen lassen, falls der CEO nicht um einen Kopf kürzer gemacht werden wollte.

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