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Die Grenzen unseres Landes, Sir? Nun wohin Sir, im Norden grenzen wir an das Nordlicht, im Osten grenzen wir an die aufgehende Sonne, im Süden werden wir vom Vorrücken der Tagundnachtgleiche begrenzt und im Westen vom Tag des Jüngsten Gerichts.
The American Joe Miller’s Jest Book
Shadow hatte drei Jahre Gefängnis abgesessen. Sein Körperbau war so eindrucksvoll, und er hatte eine solche Komm-mir-nicht-dumm-Ausstrahlung, dass sein größtes Problem darin bestand, die Zeit allein totzuschlagen. Also hielt er sich fit, brachte sich Münzentricks bei und dachte viel darüber nach, wie sehr er doch seine Frau liebte.
Das Beste am Gefängnisdasein – Shadows Ansicht nach das vielleicht einzig Gute – war ein gewisses Gefühl der Erleichterung. Das Gefühl, dass er so tief gefallen war, wie es nur ging, und dass es jetzt nur noch aufwärtsgehen konnte. Er musste sich keine Sorgen machen, dass man ihn am Arsch kriegen würde, weil man ihn schon am Arsch hatte. Er hatte keine Angst vor dem, was die Zukunft bringen mochte, weil die Vergangenheit es ihm schon gebracht hatte.
Es spielte keine Rolle, fand Shadow, ob man das, wofür man verurteilt worden war, begangen hatte oder nicht. Jeder, den er im Gefängnis kennen gelernt hatte, fühlte sich irgendwie ungerecht behandelt: Da gab es immer irgendwas, was die Strafverfolger in den falschen Hals gekriegt hatten, Dinge, die sie einem zur Last legten, obwohl man sie gar nicht getan hatte – oder jedenfalls nicht so, wie sie behaupteten. Es kam ihnen nur darauf an, dass sie einen am Arsch hatten.
Er hatte es schon in den ersten Tagen bemerkt, als alles, vom Knastslang bis zum schlechten Essen, noch neu für ihn war. Trotz des ganzen Elends und der unter die Haut gehenden Grauenhaftigkeit des Eingekerkertseins konnte er erleichtert aufatmen.
Shadow bemühte sich, nicht allzu viel zu reden. Erst irgendwann Mitte des zweiten Jahres erwähnte er seine Ansicht gegenüber Low Key Lyesmith, seinem Zellengenossen.
Low Key, ein Betrüger aus Minnesota, legte sein verschrammtes Lächeln auf. »Yeah«, sagte er. »Das ist wahr. Es ist sogar noch besser, wenn du zum Tode verurteilt worden bist. Dann erinnerst du dich an die Witze über die Typen, die barfuß zum Galgen gehen, weil ihre Freunde ihnen immer gesagt haben, dass sie mal in ihren Stiefeln sterben würden.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Shadow.
»Aber hallo. Galgenhumor. Der beste, den ’s gibt.«
»Wann ist in diesem Staat das letzte Mal jemand gehenkt worden?«, fragte Shadow.
»Woher soll ich denn das wissen?« Lyesmith trug sein orangeblondes Haar immer ziemlich kurz geschnitten. Man konnte die Konturen des Schädels erkennen. »Kann dir aber eins sagen: Dieses Land geht in die Grütze, seit sie aufgehört haben, die Leute aufzuknüpfen. Keine Trommelwirbel mehr, und auch keine Rettung in letzter Minute.«
Shadow zuckte die Achseln. Er konnte nichts Romantisches an der Todesstrafe finden.
Sofern man nicht zum Tode verurteilt war, befand er, war das Gefängnis, wenn man es günstig traf, nur ein vorübergehender Lebensaufschub, und zwar aus zwei Gründen. Erstens schleicht sich das Leben allmählich zurück, selbst ins Gefängnis. Es gibt immer noch ein tieferes Tief, in das man sinken kann. Das Leben geht weiter. Und zweitens müssen sie einen, wenn man sich nicht unterkriegen lässt, irgendwann auch wieder rauslassen.
Am Anfang war es schwer für Shadow, dieses Irgendwann ins Auge zu fassen, weil es einfach zu weit in der Ferne lag. Langsam aber wurde daraus ein schwacher Hoffnungsstrahl, und er redete sich zusehends ein, dass »auch das vorbeigehen wird«, dass die Gefängnisscheiße hinter ihm zusammenschlagen würde, wie Gefängnisscheiße es nun mal zu tun pflegte. Eines Tages würde die magische Tür sich öffnen und er würde hindurchgehen. Also hakte er die Tage auf seinem »Singvögel in Nordamerika«-Kalender ab, dem einzigen Kalender, der im Gefängnisladen erhältlich war. Die Sonne ging unter, ohne dass er es sehen konnte, und dann ging die Sonne wieder auf, ohne dass er es sehen konnte. Er übte seine Münzentricks nach einem Buch, das er im Ödland der Gefängnisbibliothek gefunden hatte, er hielt sich weiterhin fit, und er erstellte im Kopf eine Liste der Dinge, die er tun würde, sobald er aus dem Gefängnis herauskam.
Shadows Liste wurde von Mal zu Mal kürzer. Nach zwei Jahren hatte er sie auf drei Punkte zusammengestrichen.
Erstens würde er ein Bad nehmen. Sich richtig lange und gründlich einweichen lassen, in einer Wanne mit viel Schaum. Vielleicht dabei Zeitung lesen, vielleicht auch nicht. Manchmal gingen seine Präferenzen in die eine Richtung, manchmal in die andere.
Zweitens würde er sich abtrocknen und danach einen Bademantel anziehen. Eventuell auch Pantoffeln. Der Gedanke an Pantoffeln war ihm angenehm. Wäre er Raucher, würde er sich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich eine Pfeife anzünden, aber er war Nichtraucher. Er würde seine Frau hochheben (»Hündchen«, würde sie scheinbar entsetzt, aber in Wahrheit voller Vergnügen kreischen, »was hast du vor?«). Er würde sie ins Schlafzimmer tragen und die Tür zumachen. Falls sie zwischendurch Hunger kriegten, würden sie sich eine Pizza kommen lassen.
Drittens würde er, nachdem er und Laura, ein paar Tage später vielleicht, das Schlafzimmer wieder verlassen hätten, sich schön bedeckt halten und für den Rest seines Lebens allem Ärger aus dem Weg gehen.
»Und dann wirst du glücklich sein?«, fragte Low Key Lyesmith. Sie arbeiteten an diesem Tag in der Gefängniswerkstatt, wo sie Vogelhäuser zusammensetzen mussten, was auch nicht viel interessanter war, als Nummernschilder auszustanzen.
»Heiße keinen Menschen glücklich«, sagte Shadow, »als bis er tot ist.«
»Herodot«, sagte Low Key. »He, du hast was gelernt.«
»Wer zum Teufel ist Herodot?«, fragte der Iceman, während er die Seiten von Vogelhäusern zusammenfügte, um sie dann an Shadow weiterzureichen, der sie schließlich fest zu verschrauben hatte.
»Toter Grieche«, sagte Shadow.
»Meine letzte Freundin war Griechin«, sagte der Iceman. »Ihre Familie, ey, was die für Scheiß gefressen haben, du glaubst es nicht. Reis, den die in Blätter gewickelt haben, und solche Scheiße.«
Der Iceman verfügte über die Größe und Gestalt eines Cola-Automaten, hatte blaue Augen und blondes, fast weißes Haar. Er hatte einen Mann zusammengeschlagen, der dummerweise in der Bar, wo der Iceman als Türsteher fungierte, dessen Freundin angetatscht hatte. Sie war dort als Tänzerin beschäftigt. Die Freunde des Typen hatten die Polizei gerufen, welche den Iceman festnahm, um ihn einer Personenüberprüfung zu unterziehen, wobei herauskam, dass der Iceman sich bereits seit achtzehn Monaten einer »Arbeit statt Strafe«-Maßnahme entzog.
»Was sollte ich denn tun?«, hatte der Iceman gekränkt gesagt, als er Shadow die ganze traurige Geschichte berichtete. »Ich hab ihm gesagt, dass sie meine Freundin ist. Hätte ich zulassen sollen, dass er mich so respektlos behandelt? Ja? Der hat sie doch überall angefasst!«
Shadow hatte daraufhin nur »Mann, Mann« gesagt und es dabei belassen. Eines hatte er früh gelernt: Im Gefängnis sitzt man nur die eigene Strafe ab. Man sitzt nicht die Strafe von anderen Leuten mit ab.
Immer schön bedeckt halten. Sitz deine – und nur deine – Strafe ab.
Lyesmith hatte Shadow ein paar Monate zuvor eine zerschlissene Taschenbuchausgabe von Herodots Historien geliehen. »Das ist kein bisschen langweilig. Echt cool«, sagte er, als Shadow einwandte, dass er keine Bücher lese. »Lies es erst mal, und dann sag mir, dass es cool ist.«
Shadow hatte das Gesicht verzogen, dann aber doch zu lesen angefangen und fand sich schließlich gegen seinen Willen gefesselt.
»Griechen«, sagte der Iceman jetzt angewidert. »Und es stimmt auch nicht, was die Leute erzählen. Ich hab versucht, es meiner Freundin im Arsch zu besorgen, da hat die mir fast die Augen ausgekratzt.«
Lyesmith wurde eines Tages ohne Vorankündigung verlegt. Er hinterließ Shadow seinen Herodot. Zwischen den Seiten war eine Fünfcentmünze versteckt. Münzen waren Schmuggelware: Man konnte die Kanten an einem Stein scharf schleifen und jemandem bei einem Kampf das Gesicht damit aufschlitzen. Shadow wollte aber keine Waffe; Shadow wollte nur seinen Händen etwas zu tun geben.
Shadow war nicht abergläubisch. Er glaubte an nichts, was er nicht sehen konnte. Und doch spürte er in diesen letzten Wochen, wie das Unheil über dem Gefängnis dräute, genau wie er es in den Tagen vor dem Raubüberfall gespürt hatte. Ein hohles Gefühl machte sich in der Magengrube bemerkbar, aber er sagte sich, dass das nur die Beklommenheit sei, wieder zurück in die Außenwelt zu müssen. Sicher konnte er sich da allerdings nicht sein. Er fühlte sich paranoider als gewöhnlich, wobei im Gefängnis die gewöhnliche Paranoia schon stark genug war, weil sie nichts anderes als die Fähigkeit zu überleben darstellte. Shadow wurde noch ruhiger, noch schattenhafter als zuvor. Unwillkürlich beobachtete er die Körpersprache der Wärter, die der Mithäftlinge, suchte nach einem Hinweis auf das Böse, das sich, wovon er überzeugt war, bald ereignen würde.
Einen Monat, bevor er entlassen werden sollte. Shadow saß in einem kalten Büro einem klein gewachsenen Mann gegenüber, der ein portweinfarbenes Muttermal auf der Stirn hatte. Zwischen den beiden ein Schreibtisch, auf dem Shadows Akte aufgeschlagen lag; der Mann hielt einen Kugelschreiber in der Hand, dessen Ende arg abgekaut war.
»Ist Ihnen kalt, Shadow?«
»Ja«, sagte Shadow. »Ein bisschen.«
Der Mann zuckte die Achseln. »Kann man nichts machen«, sagte er. »Die Heizung läuft nur von Dezember bis März. Ich hab die Regeln nicht gemacht.« Er fuhr mit dem Zeigefinger über einen Papierbogen, der an die linke Innenseite des Ordners geheftet war. »Sie sind zweiunddreißig Jahre alt?«
»Jawohl, Sir.«
»Sehen aber jünger aus.«
»Ich lebe gesund.«
»Es heißt hier, dass Sie ein Muster von einem Strafgefangenen sind.«
»Habe meine Lektion gelernt, Sir.«
»Tatsächlich?« Er sah Shadow aufmerksam an, wobei sich das Muttermal auf der Stirn senkte. Shadow dachte kurz daran, dem Mann ein bisschen was von seinen Ansichten übers Gefängnis zu erzählen, sagte dann aber doch nichts. Stattdessen nickte er und konzentrierte sich darauf, angemessen reumütig zu erscheinen.
»Ich lese hier, dass Sie eine Frau haben, Shadow.«
»Sie heißt Laura.«
»Wie steht’s mit Ihnen beiden?«
»Ziemlich gut. Sie hat mich besucht, so oft sie konnte – es ist für sie eine weite Anreise. Wir schreiben uns, und ich ruf sie an, wenn es sich einrichten lässt.«
»Was macht Ihre Frau beruflich?«
»Sie arbeitet in einem Reisebüro. Schickt die Leute durch die ganze Welt.«
»Wie haben Sie sich kennen gelernt?«
Shadow konnte sich keinen Reim darauf machen, warum der Mann das wissen wollte. Er war drauf und dran, ihm zu sagen, dass ihn das nichts angehe, sagte dann aber: »Sie war die beste Freundin von der Frau meines besten Freundes. Die beiden haben uns zu einem Blinddate zusammengebracht. Und da hat es gefunkt.«
»Und Sie haben eine Arbeitsstelle in Aussicht?«
»Jawohl. Robbie, meinem Kumpel, von dem ich grad erzählt habe, gehört das Fitnesscenter, wo ich früher immer trainiert habe. Er hat mir versprochen, dass mein alter Job da auf mich warten würde.«
Eine Augenbraue ging in die Höhe. »Tatsächlich?«
»Er rechnet fest damit, dass ich dann die große Attraktion bin. Um ein paar alte Wracks anzulocken, aber auch die taffe Kundschaft, die gern noch taffer wäre.«
Der Mann schien zufrieden zu sein. Er kaute an der Spitze seines Kugelschreibers und schlug dann eine Aktenseite um.
»Wie denken Sie über Ihre Straftat?«
Shadow zuckte die Achseln. »Ich war dumm«, sagte er und meinte es ernst.
Der Mann mit dem Muttermal seufzte. Er hakte ein paar Punkte auf einer Checkliste ab. Dann blätterte er zerstreut in Shadows Akte. »Wie kommen Sie von hier nach Hause?«, fragte er. »Greyhound?«
»Flugzeug. Zahlt sich aus, wenn man eine Frau hat, die im Reisebüro arbeitet.«
Der Mann runzelte die Stirn, wodurch das Muttermal Falten warf. »Sie hat Ihnen ein Ticket zugeschickt?«
»War nicht nötig. Sie hat mir nur eine Bestätigungsnummer mitgeteilt. Elektronisches Ticket sozusagen. Ich brauche weiter nichts zu tun, als in einem Monat am Flughafen zu erscheinen und denen meinen Ausweis zu zeigen, und schon bin ich weg.«
Der Mann nickte, kritzelte eine letzte Notiz, schlug dann die Akte zu und legte den Kugelschreiber aus der Hand. Wie zwei rosa Tiere ruhten die blassen Hände auf der grauen Schreibtischplatte. Er schob die Hände dicht zusammen, stellte die Zeigefinger zu einem Spitzturm auf und starrte Shadow aus wässrigen Haselnussaugen an.
»Sie können von Glück reden«, sagte er. »Sie haben jemanden, zu dem Sie zurückkehren können, und es wartet ein Job auf Sie. Sie können das Ganze hier hinter sich lassen. Sie haben eine zweite Chance. Machen Sie das Beste daraus.«
Der Mann bot Shadow zum Abschied nicht die Hand, aber das hatte Shadow auch nicht erwartet.
Die letzte Woche war die schlimmste. In mancher Hinsicht war sie schlimmer als die ganzen drei Jahre zusammengenommen. Shadow fragte sich, ob das wohl am Wetter lag: Es war drückend, ruhig und kalt. Es fühlte sich an, als würde bald ein Sturm heraufziehen, aber der Sturm kam nicht. Ihm wurde ganz anders, tief im Magen setzte sich das Gefühl fest, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Auf dem Gefängnishof pfiff der Wind. Shadow kam es vor, als könnte er Schnee riechen.
Er meldete ein R-Gepräch mit seiner Frau an. Shadow wusste, dass die Telefonfirmen eine Sondergebühr von drei Dollar auf jeden Anruf aufschlugen, der von einem Gefängnistelefon ausging. Für Shadow war das der Grund, warum die Leute in der Vermittlung immer so ausgesucht höflich zu einem waren, wenn man ein Gespräch aus dem Gefängnis anmeldete: Sie wussten, dass er ihre Gehälter bezahlte.
»Irgendwas fühlt sich komisch an«, erzählte er Laura. Das war allerdings nicht das Erste gewesen, was er zu ihr sagte. Das Erste war: »Ich liebe dich«, weil sich so was immer gut sagt, wenn man es ehrlich meint, und das war bei Shadow der Fall.
»Hallo«, sagte Laura. »Ich liebe dich auch. Was fühlt sich komisch an?«
»Ich weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht das Wetter. Es fühlt sich so an, als müsste es mal einen ordentlichen Sturm geben, damit alles wieder in Ordnung ist.«
»Hier ist es schön«, sagte sie. »Die Blätter sind noch nicht alle abgefallen. Falls nicht doch ein Sturm kommt, kannst du die letzten noch an den Bäumen hängen sehen, wenn du nach Hause kommst.«
»Fünf Tage«, sagte Shadow.
»Noch hundertzwanzig Stunden, dann bist du da«, sagte sie.
»Sonst alles in Ordnung bei euch? Nichts außer der Reihe?«
»Alles bestens. Ich treffe mich heute Abend mit Robbie. Wir planen eine Überraschungsparty für dich.«
»Überraschungsparty? «
»Klar. Aber du weißt nichts davon, okay?«
»Nicht das Geringste.«
»So kenn ich meinen Mann«, sagte sie. Shadow stellte fest, dass er lächelte. Drei Jahre hatte er gesessen, aber sie konnte ihn immer noch zum Lächeln bringen.
»Ich liebe dich, Kleines.«
»Ich liebe dich auch, Hündchen.«
Shadow legte den Hörer auf.
Anlässlich ihrer Hochzeit hatte Laura ihm gesagt, dass sie sich einen kleinen Hund wünschte, aber der Vermieter hatte auf Einhaltung des Mietvertrages gepocht, der die Haltung von Haustieren untersagte. »He«, hatte Shadow gemeint, »dann bin eben ich dein Hündchen. Was soll ich tun? Deine Pantoffeln durchkauen? Auf den Küchenboden pinkeln? Dir die Nase lecken? Zwischen deinen Beinen schnüffeln? Ich wette, alles, was so ein Hündchen kann, das kann ich auch!« Er hob sie hoch, als würde sie überhaupt nichts wiegen, und fing an, ihr über die Nase zu lecken, während sie kicherte und kreischte, und dann hatte er sie zum gemeinsamen Bett getragen.
Im Speisesaal kam Sam Fetisher auf Shadow zugeschlichen und lächelte, indem er die alten Zähne bloßlegte. Er setzte sich neben Shadow und machte sich über seine Käsemakkaroni her.
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Sam Fetisher.
Sam Fetisher war einer der schwärzesten Menschen, die Shadow je gesehen hatte. Er mochte etwa sechzig sein. Vielleicht auch achtzig. Andererseits hatte Shadow dreißigjährige Cracksüchtige erlebt, die älter aussahen als Sam Fetisher.
»Hm?«, sagte Shadow.
»Sturm zieht auf«, sagte Sam.
»Fühlt sich so an«, sagte Shadow. »Könnte bald Schnee geben.«
»Nicht so ein Sturm. Is ’n größerer Sturm, der da aufzieht. Ich verrat dir eins, mein Junge, hier drinnen bist du besser dran als draußen auf der Straße, wenn der große Sturm kommt.«
»Hab meine Zeit abgesessen«, sagte Shadow. »Freitag bin ich weg.«
Sam Fetisher starrte Shadow an. »Wo kommst du her?«, fragte er.
»Eagle Point. Indiana.«
»Spinn mich nicht voll«, sagte Sam Fetisher. »Ursprünglich, mein ich. Wo stammt deine Familie her?«
»Aus Chicago«, sagte Shadow. Seine Mutter hatte als Kind in Chicago gelebt und war dort auch gestorben, vor einer halben Ewigkeit.
»Wie gesagt. Mächtiger Sturm zieht auf. Bleib in Deckung, Shadow-Boy. Es ist wie … wie nennt man diese Dinger, auf denen die Kontinente sich bewegen? Irgendwelche Platten …«
»Tektonische Platten?«, sagte Shadow aufs Geratewohl.
»Genau. Tektonische Platten. Wenn die sich in Bewegung setzen, wenn Nordamerika in Südamerika reinrutscht, dann sollte man sich nicht in der Mitte aufhalten. Kapiert?«
»Kein Stück.«
Ein braunes Auge schloss sich zu einem langsamen Zwinkern. »Na, komm jedenfalls hinterher nicht an und sag, ich hätte dich nicht gewarnt«, sagte Sam Fetisher und löffelte sich einen zitternden Haufen Götterspeise in den Mund.
»Tu ich nicht.«
In der Nacht bekam Shadow kaum ein Auge zu, schreckte immer wieder aus dem Schlaf hoch und lauschte, wie sein neuer Zellengenosse auf der Pritsche unter ihm grunzte und schnarchte. Mehrere Zellen weiter war ein Mann, der wie ein Tier winselte und heulte und schluchzte, und von Zeit zu Zeit schrie jemand, er solle seine verdammte Schnauze halten. Shadow versuchte wegzuhören. Er ließ die leeren Minuten über sich hinwegspülen, einsam und träge.
Zwei Tage noch. Achtundvierzig Stunden, die mit Haferflocken und Gefängniskaffee begannen, und mit einem Wärter namens Wilson, der Shadow fester als nötig auf die Schulter schlug. »Shadow? Hier entlang.«
Shadow überprüfte sein Gewissen. Es war rein, was allerdings im Gefängnis, so seine Erfahrung, nicht bedeuten musste, dass er nicht tief in der Scheiße steckte. Die beiden Männer gingen mehr oder weniger Seite an Seite, ihre Schritte hallten von Metall und Beton wider.
Shadow schmeckte Furcht hinten in der Kehle, so bitter wie alter Kaffee. Jetzt also sollte das Unheil sich ereignen …
Da war eine innere Stimme, die ihm zuflüsterte, dass sie noch ein Jahr auf seine Strafe draufschlagen, ihn in Einzelhaft werfen, ihm die Hände, den Kopf abschneiden würden. Er sagte sich zwar, das sei alles Spinnerei, aber das Herz klopfte, als wollte es ihm aus der Brust springen.
»Ich versteh dich nicht, Shadow«, sagte Wilson, während sie so dahingingen.
»Was ist denn nicht zu verstehen, Sir?«
»Du. Du bist zu scheißruhig. Zu höflich. Du wartest wie ein Alter, bist aber was? Fünfundzwanzig? Achtundzwanzig?«
»Zweiunddreißig, Sir.«
»Und was bist du? ’n Spaghetti? Zigeuner?«
»Nicht dass ich wüsste, Sir. Vielleicht.«
»Vielleicht hast du ja Niggerblut in dir. Hast du etwa Niggerblut in dir, Shadow?«
»Könnte sein, Sir.«
Shadow hielt sich gerade, sah starr geradeaus und konzentrierte sich ganz darauf, sich von diesem Mann nicht provozieren zu lassen.
»Ja? Tja, also, ich kann jedenfalls nur sagen: Du bist mir verdammt unheimlich.« Wilson hatte rotblondes Haar, ein rotblondes Gesicht und ein rotblondes Lächeln. »Du wirst uns bald verlassen.«
»Das hoffe ich, Sir.«
Sie passierten eine Reihe von Kontrollpunkten, wo Wilson jedesmal seinen Ausweis vorzeigte. Ein paar Treppen hoch, und dann standen sie vor dem Büro des Gefängnisdirektors. Auf der Tür stand in schwarzen Buchstaben dessen Name – G. Patterson – und daneben befand sich eine Verkehrsampel in Miniaturformat.
Das oberste Licht leuchtete rot.
Wilson drückte auf einen Knopf unterhalb der Ampel.
Sie standen eine Weile schweigend da. Shadow versuchte sich einzureden, dass alles in Ordnung sei, dass er am Freitagmorgen im Flugzeug nach Eagle Point sitzen würde, aber er glaubte selbst nicht daran.
Das rote Licht ging aus und das grüne an, Wilson öffnete die Tür. Sie gingen hinein.
Den Direktor hatte Shadow während der drei Jahre nur wenige Male zu Gesicht bekommen. Einmal hatte jener einen Politiker herumgeführt. Ein anderes Mal waren sie in Gruppen zu je hundert Mann in einen Saal geschleust worden, wo der Direktor ihnen eine Ansprache hielt des Inhalts, dass das Gefängnis überfüllt sei und dass sie, da es auch weiterhin überfüllt bleiben werde, gut beraten seien, sich daran zu gewöhnen.
Von nahem sah Patterson noch schlimmer aus. Das Gesicht war länglich, das graue Haar militärisch kurz geschnitten. Er roch nach Old Spice. Hinter ihm stand ein Regal mit Büchern, die sämtlich das Wort Gefängnis im Titel führten; der Schreibtisch war peinlich sauber und, abgesehen von einem Telefon und einem Gaiy-Larson-Abreißkalender, völlig leer. Im rechten Ohr trug er ein Hörgerät.
»Setzen Sie sich bitte.«
Shadow setzte sich. Wilson blieb hinter ihm stehen.
Der Direktor öffnete eine Schreibtischschublade und entnahm ihr eine Akte, die er auf den Schreibtisch legte.
»Hier steht, dass Sie für tätlichen Angriff in einem besonders schweren Fall zu sechs Jahren verurteilt wurden. Sie haben drei Jahre Haft verbüßt. Am Freitag sollten Sie entlassen werden.«
Sollten? Shadow spürte, wie sich ihm der Magen verkrampfte. Er fragte sich, wie viel Zeit er würde zusätzlich absitzen müssen – ein Jahr? zwei Jahre? alle restlichen drei? Alles was er sagte, war: »Ja, Sir.«
Der Direktor leckte sich über die Lippen. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte: Ja, Sir.«
»Shadow, wir werden Sie bereits heute Nachmittag entlassen. Sie kommen also zwei Tage früher raus.« Shadow nickte und wartete auf das dicke Ende. Der Direktor sah auf das Schriftstück vor sich hinab. »Das hier hat uns aus dem Johnson Memorial Hospital in Eagle Point erreicht … Ihre Frau. Sie ist heute am frühen Morgen gestorben. Es war ein Autounfall. Mein Beileid.«
Shadow nickte noch einmal.
Wilson führte ihn wortlos zurück zur Zelle. Er schloss die Zellentür auf und ließ Shadow eintreten. Dann sagte er: »Das ist wie bei einem von diesen ›Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht‹ – Witzen, was? Die gute Nachricht ist, wir lassen dich vorzeitig frei, die schlechte Nachricht, deine Frau ist tot.« Er lachte, als wäre das alles überaus komisch.
Shadow sagte überhaupt nichts.
Wie betäubt packte er seine Habseligkeiten zusammen, das meiste verschenkte er. Er ließ Low Keys Herodot ebenso zurück wie das Buch über die Münzentricks und gab auch, was ihm einen kurzen Stich versetzte, die blanken Metallscheiben weg, die er aus der Werkstatt geschmuggelt und die ihm als Münzen gedient hatten. Er rasierte sich. Er zog zivile Kleidung an. Er ging durch eine Tür nach der anderen, wusste, dass er sie nie wieder durchqueren würde, und fühlte sich innerlich leer.
Der Regen fiel jetzt in Böen aus dem grauen Himmel, ein gefrierender Regen. Kleine Eiskugeln stachen Shadow ins Gesicht, und sein dünner Mantel wurde völlig durchnässt, während er mit den anderen auf den ausrangierten gelben Schulbus zuging, der sie in die nächste Stadt bringen sollte.
Als sie den Bus erreicht hatten, waren sie alle klatschnass. Es waren acht Mann, die freikamen. Fünfzehnhundert blieben zurück. Shadow saß im Bus und zitterte vor Kälte, bis endlich die Heizung lief, und er fragte sich, was er tun, wo er jetzt hingehen solle.
Geisterbilder schwirrten ihm durch den Kopf, ohne dass er sie aufgerufen hätte. In seiner Fantasie verließ er ein anderes Gefängnis, vor langer Zeit.
Er war lange, viel zu lange, in einem lichtlosen Raum eingesperrt gewesen: Sein Bart war wild und das Haar verfilzt. Die Wärter hatten ihn eine graue Steintreppe hinunter und dann hinaus auf einen Platz geführt, auf dem ein reges Treiben herrschte: viele Menschen und viele leuchtend bunte Dinge. Es war Markttag, und er war überwältigt von dem Lärm und den Farben, er blinzelte ins Sonnenlicht, das auf den Platz fiel, roch die salznasse Luft und all die guten Sachen an den Ständen, und zu seiner Linken glitzerte die Sonne vom Wasser …
Ruckend kam der Bus an einer roten Ampel zum Stehen.
Der Wind heulte über den Bus hinweg, die Wischer schoben sich ächzend über die Windschutzscheibe und verschmierten die Stadt draußen in eine rotgelbe Neonnässe. Es war früher Nachmittag, aber durchs Fenster wirkte es wie später Abend.
»Scheiße«, sagte der Mann auf dem Sitz hinter Shadow, indem er mit der Hand über das beschlagene Fenster wischte und einer nassen Gestalt nachstarrte, die den Bürgersteig entlangeilte. »Da draußen laufen die Mösen rum.«
Shadow schluckte. Ihm fiel auf, dass er nicht hatte weinen müssen – dass er noch nicht einmal etwas gefühlt hatte. Keine Tränen. Kein Leid. Nichts.
Plötzlich musste er an einen Burschen namens Johnnie Larch denken, mit dem er anfangs nach seiner Einweisung die Zelle geteilt hatte und der ihm erzählt hatte, wie er einmal nach fünf Jahren Haft wieder rausgekommen sei, in der Hand einhundert Dollar und ein Ticket nach Seattle, wo seine Schwester wohnte.
Am Flughafen angelangt, hatte Johnnie Larch der Dame am Schalter sein Ticket gezeigt, worauf diese seinen Führerschein zu sehen wünschte.
Er zeigte ihn ihr. Der Führerschein war seit ein paar Jahren abgelaufen. Sie erklärte ihm, dass es kein gültiger Identitätsausweis sei. Er erwiderte, dass es vielleicht kein gültiger Führerschein sei, aber doch weiß der Geier ein ausgezeichnetes Ausweispapier, und verdammt noch mal, wer solle er denn ihrer Ansicht nach sein, wenn nicht er selbst?
Sie sagte, sie wäre ihm verbunden, wenn er nicht so schreien würde.
Er verlangte, dass sie ihm endlich die Scheißbordkarte aushändigen möge, anderenfalls es ihr noch Leid tun werde, er lasse sich hier nicht derart respektlos behandeln. Im Gefängnis, so Johnnie Larch, lasse man sich ja auch um keinen Preis respektlos behandeln.
Dann drückte sie auf einen Knopf, und kurz darauf erschienen die Sicherheitsleute, die Johnnie Larch anhielten, das Flughafengelände ohne Aufhebens zu verlassen, aber er machte keine Anstalten, wieder zu gehen, und so kam es zu einer kleinen Auseinandersetzung.
Das Ergebnis von all dem war, dass Johnnie Larch nie in Seattle ankam. Die nächsten Tage verbrachte er in den Bars der Stadt, und als die hundert Dollar alle waren, überfiel er mit vorgehaltener Spielzeugpistole eine Tankstelle, um mit dem erbeuteten Geld weiter seine Zeche bezahlen zu können; die Polizei nahm ihn schließlich fest, weil er auf die Straße gepisst hatte. Bald saß er wieder im Bau, um seine Reststrafe zu verbüßen und dazu noch ein kleines Extra für die Tankstellensache.
Und die Moral von der Geschicht’, Johnnie Larch zufolge, lautete folgendermaßen: Leg dich nicht mit Leuten an, die in Flughäfen arbeiten.
»Bist du sicher, dass man nicht eher sagen könnte: ›Ein Verhaltensmuster, das in einem speziellen Umfeld wie dem Gefängnis funktioniert, kann wirkungslos oder sogar schädlich sein, wenn es außerhalb dieses Umfelds angewendet wird‹?«, fragte Shadow, nachdem Johnnie Larch ihm die Geschichte erzählt hatte.
»Nein, ehrlich, Alter, wie ich gesagt hab«, sagte Johnnie Larch. »Leg dich bloß nicht mit diesen Flughafentussis an.«
Die Erinnerung ließ den Anflug eines Lächelns auf Shadows Gesicht erscheinen. Sein Führerschein hatte noch einige Monate, bevor er ungültig wurde.
»Busbahnhof! Alle raus!«
Das Gebäude roch nach Pisse und saurem Bier. Shadow stieg in ein Taxi und wies den Fahrer an, ihn zum Flughafen zu bringen. Er informierte ihn, dass ein Sonderhonorar von fünf Dollar drin sei, wenn ihm das schweigend gelinge. Sie schafften es in zwanzig Minuten, und der Fahrer sagte die ganze Zeit kein einziges Wort.
Dann stolperte Shadow durch das hell erleuchtete Flughafenterminal. Er machte sich Sorgen wegen der ganzen e-Ticket-Geschichte. Es war ein Ticket für einen Flug am Freitag, und er wusste nicht, ob es auch für heute funktionieren würde. Alles Elektronische schien Shadow von grundlegend magischer Qualität zu sein und konnte sich jeden Augenblick in Luft auflösen.
Immerhin hatte er seine Brieftasche, die erstmals seit drei Jahren wieder in seinem Besitz war. Sie enthielt diverse abgelaufene Kreditkarten, aber auch eine Visa-Karte, die, wie er freudig überrascht feststellte, erst Ende Januar ihre Gültigkeit verlieren würde. Er hatte eine Reservierungsnummer. Und er besaß, das war ihm klar, die Gewissheit, dass alles irgendwie wieder in Ordnung kommen würde, sobald er zu Hause wäre. Laura würde wieder wohlauf sein. Vielleicht war das Ganze ja nur eine Art Finte gewesen, um ihn ein paar Tage eher nach Hause zu kriegen. Oder ganz einfach eine Verwechslung: Die Leiche von irgendeiner anderen Laura Moon war aus den Autotrümmern gezogen worden.
Draußen flackerten Blitze, wie man durch die Fensterwände verfolgen konnte. Shadow bemerkte, dass er den Atem anhielt, auf irgendetwas wartete. Fernes Donnergrollen. Er atmete aus.
Eine müde weiße Frau saß hinter dem Schalter und blickte ihm erwartungsvoll entgegen.
»Hallo«, sagte Shadow. Du bist die erste fremde Frau seit drei Jahren, mit der ich in natura spreche. »Ich habe eine e-Ticket-Nummer. Ich sollte eigentlich Freitag fliegen, aber ich muss schon heute weg. Es hat einen Todesfall in der Familie gegeben.«
»Hm. Tut mir Leid, das zu hören.« Sie tippte auf die Tastatur, starrte auf den Bildschirm, tippte erneut. »Kein Problem. Ich habe Sie auf den 15-Uhr-30-Flug gesetzt. Er könnte allerdings wegen des Sturms Verspätung haben, achten Sie also bitte auf die Anzeigen auf der Bildschirmtafel. Wollen Sie irgendwelches Gepäck aufgeben?«
Er hielt seine Umhängetasche hoch. »Die muss ich doch nicht aufgeben, oder?«
»Nein«, sagte sie. »Das ist so in Ordnung. Haben Sie einen Ausweis mit Bild?«
Shadow zeigte ihr seinen Führerschein.
Es war kein großer Flughafen, aber die Menge der Leute hier, Leute, die einfach umherschlenderten, erstaunte ihn. Er beobachtete Menschen, die lässig ihre Koffer abstellten, verfolgte, wie Portmonees in hintere Hosentaschen gestopft wurden, sah Handtaschen, die unbeobachtet unter Stühlen abgestellt waren. Erst jetzt begriff er richtig, dass er nicht mehr im Gefängnis war.
Dreißig Minuten Wartezeit, bis er an Bord gehen konnte. Shadow kaufte sich ein Stück Pizza und verbrannte sich die Lippen an dem heißen Käse. Er kratzte sein Kleingeld zusammen und ging zu den Telefonen. Er rief Robbie im Fitnesscenter an, aber es sprang nur der Anrufbeantworter an.
»He, Robbie«, sagte Shadow. »Sie haben mir erzählt, dass Laura tot ist. Sie lassen mich vorzeitig raus. Ich komme nach Hause.«
Dann, weil die Leute gerne Fehler machen, wie er wohl wusste, rief er zu Hause an und lauschte Lauras Stimme.
»Hi«, sagte sie. »Ich bin nicht da oder kann nicht ans Telefon kommen. Hinterlassen Sie bitte eine Nachricht, dann rufe ich zurück. Und einen schönen Tag noch.«
Shadow brachte es nicht über sich, eine Nachricht zu hinterlassen.
Er saß auf einem Plastikstuhl in der Nähe seines Flugsteigs und hielt die Tasche so fest umklammert, dass die Hände schmerzten.
Er dachte an das allererste Mal, als er Laura gesehen hatte. Damals kannte er nicht einmal ihren Namen. Sie war Audrey Burtons Freundin. Er hatte mit Robbie an einem Tisch im Chi-Chi’s gesessen, als Laura dicht hinter Audrey hereinspaziert kam, und Shadow hatte sich dabei ertappt, dass er sie anstarrte. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar und so blaue Augen, dass Shadow fälschlich glaubte, sie würde getönte Kontaktlinsen tragen. Sie hatte einen Erdbeer-Daiquiri bestellt und darauf bestanden, dass Shadow ihn probierte, und dann voller Freude gelacht, als Shadow ihrem Wunsch folgte.
Laura ließ andere gerne von dem kosten, was sie bestellt hatte.
Er hatte ihr an jenem Abend einen Gutenachtkuss gegeben, sie hatte nach Erdbeer-Daiquiri geschmeckt, und er hatte von da an nie wieder jemand anders küssen wollen.
Eine Frau verkündete, dass sein Flugzeug nunmehr zum Starten bereit sei, und Shadows Reihe war die erste, die aufgerufen wurde. Er saß ganz hinten, der Platz neben ihm blieb leer. Der Regen prasselte stetig gegen die Flugzeugwand: Er stellte sich kleine Kinder vor, die aus vollen Händen getrocknete Erbsen vom Himmel schmissen.
Als das Flugzeug abhob, schlief er ein.
Shadow befand sich an einem dunklen Ort, und das Wesen, das ihn anstarrte, trug einen Büffelkopf mit vielen zotteligen Haaren und riesigen nassen Augen. Der Körper war der eines Menschen, glatt und glänzend.
»Veränderungen stehen an«, sagte der Bison, ohne die Lippen zu bewegen. »Es gibt gewisse Entscheidungen, die getroffen werden müssen.«
Der Widerschein von Flammen flackerte von nassen Höhlenwänden.
»Wo bin ich?«, fragte Shadow.
»In der Erde und unter der Erde«, sagte der Büffelmensch. »Du bist da, wo die Vergessenen warten.« Die Augen waren flüssige schwarze Murmeln, und die Stimme kam wie ein Grollen von unterhalb der Welt. Er roch nach nasser Kuh. »Glaube«, sagte die grollende Stimme. »Wenn du überleben willst, musst du glauben.«
»Was glauben?«, fragte Shadow. »Was soll ich glauben?«
Er starrte Shadow an, der Büffelmann, und richtete sich zu riesenhafter Größe auf, Feuer begann in den Augen zu lodern. Er öffnete das mit Speichel besprenkelte Bisonmaul, und darin war es rot von den Flammen, die in seinem Innern brannten, unter der Erde.
»Alles«, donnerte der Büffelmensch.
Die Welt kippelte und kreiste, und Shadow war zurück im Flugzeug, das Kippeln aber hielt an. Im vorderen Teil des Flugzeugs schrie eine Frau halbherzig auf.
Blendende Blitze zuckten rings um das Flugzeug. Der Flugkapitän meldete sich über die Sprechanlage und teilte den Passagieren mit, dass er versuchen wolle, Höhe zu gewinnen, um dem Sturm aus dem Weg zu gehen.
Das Flugzeug schaukelte und zitterte, und Shadow fragte sich, nüchtern und fast teilnahmslos, ob er wohl sterben würde. Es schien möglich zu sein, befand er, war aber kaum wahrscheinlich. Er blickte stumm aus dem Fenster und beobachtete, wie das Gewitter den Horizont erleuchtete.
Dann döste er abermals ein und träumte, dass er wieder im Gefängnis sei, wo Low Key ihm in der Schlange vor der Essensausgabe zuflüsterte, dass jemand eine Belohnung auf sein Leben ausgesetzt habe, aber Shadow konnte nicht herausfinden, wer es war und aus welchem Grund; und als er wieder aufwachte, setzten sie gerade zur Landung an.
Er stolperte aus dem Flugzeug und musste sich mit Macht in den Wachzustand blinzeln.
Die Flughäfen, dachte er, sahen doch alle ziemlich gleich aus. Es kam eigentlich kaum darauf an, wo man war – man war halt in einem Flughafen: Fliesen und Gänge und Toiletten, Flugsteige und Zeitungskioske und Neonlichter. Der Flughafen hier sah aus wie ein Flughafen. Das Problem war nur, dass es nicht der Flughafen war, den er angesteuert hatte. Der Flughafen hier war groß, mit viel zu vielen Menschen und viel zu vielen Flugsteigen.
»Entschuldigen Sie, Ma’am?«
Die Frau sah ihn über das Klemmbrett hinweg an. »Ja?«
»Was für ein Flughafen ist das hier?«
Sie sah ihn verdutzt an und schien sich nicht recht sicher zu sein, ob er sich vielleicht einen Scherz mit ihr erlaubte, sagte dann aber: »St. Louis.«
»Ich dachte, das hier wäre die Maschine nach Eagle Point.«
»War es auch. Sie ist aber wegen des Sturms umgeleitet worden. Hat man das nicht durchgesagt?«
»Wahrscheinlich schon. Ich habe geschlafen.«
»Sie müssen sich an den Mann dort drüben wenden, den mit der roten Jacke.«
Der Mann war fast so groß wie Shadow und sah aus wie ein Vater aus einer Sitcom der Siebziger. Er tippte etwas in den Computer und teilte Shadow dann mit, er solle zu einem Flugsteig am anderen Ende des Terminals eilen, jawohl, eilen!
Shadow rannte durch den Flughafen, aber die Türen waren bereits geschlossen, als er zum Flugsteig kam. Durch das Panoramafenster sah er, wie das Flugzeug sich in Bewegung setzte und vom Flugsteig wegrollte.
Die Frau am Kundenschalter (klein und brünett, mit einem Leberfleck auf dem Nasenflügel) besprach sich mit einer anderen Frau und griff zum Telefon (»Nee, der fällt weg, den haben sie gerade gestrichen«), dann druckte sie eine neue Bordkarte aus. »Nehmen Sie die und laufen Sie«, sagte sie zu Shadow. »Wir rufen beim Flugsteig an und sagen Bescheid, dass Sie kommen.«
Shadow fühlte sich wie die Kugel beim Hütchenspiel beziehungsweise wie eine Spielkarte, die beim Mischen ständig den Platz wechselt. Wieder rannte er durch den Flughafen und landete am Ende nicht weit von der Stelle, wo er ursprünglich hergekommen war.
Ein kleiner Mann nahm am Flugsteig seine Bordkarte entgegen. »Wir haben auf Sie gewartet«, vertraute er ihm an, während er den Abschnitt der Karte abriss, auf dem der Shadow zugewiesene Platz – 17D – stand. Shadow eilte zum Flugzeug, und die Tür wurde hinter ihm geschlossen.
Er schritt durch die erste Klasse – es gab dort vier Sitze, von denen drei besetzt waren. Der bärtige Mann im hellen Anzug, der ganz vorn neben dem unbesetzten Sitz saß, grinste Shadow zu, hob dann das Handgelenk und tippte gegen seine Armbanduhr, als Shadow an ihm vorbeiging.
Ja, ja, ich halte euch auf, dachte Shadow. Lasst das nur eure geringste Sorge sein.
Das Flugzeug erschien ihm ziemlich voll, als er sich den Weg nach ganz hinten bahnte. Tatsächlich war es sogar vollständig besetzt, wie er feststellen musste, und auf dem Sessel 17D saß bereits eine Frau mittleren Alters. Shadow zeigte ihr seinen Bordkartenabriss, und sie zeigte ihm ihren: Sie waren identisch.
»Könnten Sie bitte Ihren Platz einnehmen?«, sagte die Stewardess.
»Nein«, sagte er, »ich fürchte, das kann ich nicht.«
Sie schnalzte mit der Zunge und überprüfte die Bordkarten, dann führte sie ihn zurück in den vorderen Teil des Flugzeugs und wies ihn auf den leeren Platz in der ersten Klasse. »Scheint Ihr Glückstag zu sein«, sagte sie. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Die Zeit reicht gerade noch, bevor wir abfliegen. Sie haben nach der ganzen Hetzerei jetzt bestimmt einen Drink nötig.«
»Ich hätte bitte gern ein Bier«, sagte Shadow. »Was immer Sie haben.«
Die Stewardess entfernte sich.
Der Mann im hellen Anzug neben Shadow tippte mit dem Fingernagel auf seine Armbanduhr. Es war eine schwarze Rolex. »Sie sind spät dran«, sagte der Mann und legte ein breites Grinsen auf, dem jegliche Wärme fehlte.
»Wie bitte?«
»Ich sagte, Sie sind spät dran.«
Die Stewardess reichte Shadow ein Glas Bier.
Einen Moment lang fragte er sich, ob der Mann wohl verrückt war, dann entschied er sich aber, dessen Feststellung auf das Flugzeug zu beziehen, das auf den einen letzten Passagier hatte warten müssen. »Tut mir Leid, wenn ich Sie aufgehalten habe«, sagte er höflich. »Sind Sie in Eile?«
Das Flugzeug rollte rückwärts vom Flugsteig weg. Die Stewardess kam und nahm Shadow das Bierglas wieder ab. Der Mann im hellen Anzug grinste ihr zu und sagte: »Keine Sorge, ich werd das hier ordentlich festhalten«, worauf sie ihm sein Glas Jack Daniels ließ, nachdem sie ihm halbherzig vorgehalten hatte, dass das ein Verstoß gegen die Flugbestimmungen sei. (»Das überlassen Sie mal meinem Dafürhalten, meine Liebe.«)
»Die Zeit spielt tatsächlich eine entscheidende Rolle«, sagte der Mann. »Trotzdem, nein. Ich hatte lediglich Sorge, dass Sie das Flugzeug nicht mehr erreichen.«
»Sehr nett von Ihnen.«
Das Flugzeug verharrte mit vibrierenden Motoren unruhig am Boden, wie voller Ungeduld, endlich aufzusteigen.
»Von wegen nett«, sagte der Mann im hellen Anzug. »Ich habe einen Job für Sie, Shadow.«
Die Motoren heulten auf. Das kleine Flugzeug zog ruckartig an, worauf Shadow in den Sitz zurückgedrückt wurde. Dann waren sie in der Luft, und die Lichter des Flughafens entschwanden langsam den Blicken. Shadow besah sich den Mann im Sitz neben ihm.
Die Haare waren rötlich grau; der Bart, nicht viel mehr als ein paar Stoppeln, gräulich-rot. Ein zerfurchtes rechteckiges Gesicht mit blassgrauen Augen. Der Anzug sah teuer aus und hatte die Farbe von zerschmolzenem Vanilleeis. Die Krawatte war aus dunkelgrauer Seide und die Krawattennadel ein in Silber gearbeiteter Baum: Stamm, Äste und lange Wurzeln.
Er hielt beim Abheben seinen Jack Daniel’s fest in der Hand und verschüttete nicht einen Tropfen.
»Wollen Sie mich gar nicht fragen, was für einen Job?«, fragte er.
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«
Der Mann kicherte. »Oh, zu wissen, wie die Leute sich nennen, das ist das Leichteste von der Welt. Ein bisschen Nachdenken, ein bisschen Glück, ein bisschen Gedächtnis. Fragen Sie mich, was für einen Job.«
»Nein«, sagte Shadow.
»Warum nicht?«
»Ich fliege nach Hause. Dort wartet schon ein Job auf mich. Ich will keinen anderen.«
An dem zerklüfteten Lächeln des Mannes änderte sich äußerlich nichts, aber jetzt schien er sich tatsächlich zu amüsieren. »Zu Hause wartet kein Job auf Sie«, sagte er. »Da wartet gar nichts auf Sie. Ich dagegen biete Ihnen eine vollkommen legale Arbeit an – gutes Gehalt, begrenzte Sicherheit, außergewöhnliche Zulagen. Ach Gottchen, wenn Sie lange genug am Leben bleiben, kann ich auch noch eine Rentenversicherung draufpacken. Meinen Sie, dass Sie so was vielleicht gebrauchen könnten?«
»Sie müssen meinen Namen von dem Anhänger an meiner Tasche abgelesen haben«, sagte Shadow.
Der Mann sagte nichts.
»Wer immer Sie sein mögen«, sagte Shadow, »Sie konnten nicht wissen, dass ich dieses Flugzeug besteigen würde. Ich wusste selber nicht, dass ich dieses Flugzeug besteigen würde, und wenn meine Maschine nicht nach St. Louis umgeleitet worden wäre, hätte ich das auch nicht getan. Ich vermute, dass Sie jemand sind, der andere gerne hochnimmt. Vielleicht treiben Sie irgendeinen Schwindel. Na ja, es wäre wohl angenehmer für uns beide, wenn wir die Unterhaltung hier beenden.«
Der Mann zuckte die Achseln.
Shadow griff zur Bordzeitschrift. Das kleine Flugzeug ruckte und holperte durch die Lüfte, was es schwer machte, sich auf die Lektüre zu konzentrieren. Die Worte schwebten ihm wie Seifenblasen durch den Kopf, gegenwärtig noch, während er sie las, doch einen Augenblick später schon verschwunden.
Der Mann saß still im Sitz neben ihm, nippte hin und wieder an seinem Jack Daniels. Die Augen hielt er geschlossen.
Shadow ging die Liste der Musikkanäle durch, die auf transatlantischen Flügen an Bord zur Verfügung standen, dann betrachtete er die Weltkarte mit den roten Linien darauf, die anzeigten, wo die Fluggesellschaft überall hinflog. Dann hatte er die Zeitschrift durchgeblättert, schlug sie widerwillig zu und steckte sie zurück ins Fach.
Der Mann öffnete die Augen. Es ist etwas Merkwürdiges an diesen Augen, dachte Shadow. Das eine war von einem dunkleren Grau als das andere. Er sah Shadow an. »Übrigens«, sagte er. »Hat mir sehr Leid getan, das mit Ihrer Frau zu hören, Shadow. Ein großer Verlust.«
Im ersten Moment hätte Shadow den Mann beinahe geschlagen. Stattdessen holte er tief Luft. (»Wie gesagt, leg dich nicht mit diesen Flughafentussis an«, hörte er Johnnie Larch irgendwo in seiner Erinnerung sagen, »sonst haben sie dich am Arsch, so schnell kannst du gar nicht gucken.«) Er zählte bis fünf.
»Finde ich auch«, sagte er.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Wenn’s doch bloß auf andere Weise passiert wäre«, sagte er und seufzte.
»Sie ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen«, sagte Shadow. »Es gibt schlimmere Arten zu sterben.«
Der Mann schüttelte bedächtig den Kopf. Für einen Moment schien es Shadow, als wäre der Mann irgendwie körperlos; als wäre das Flugzeug plötzlich realer, sein Nachbar aber weniger real geworden.
»Shadow«, sagte er. »Das hier ist kein Witz. Es ist auch kein Trick. Ich kann Ihnen mehr zahlen, als Sie in jedem anderen Job, den Sie vielleicht finden, bekommen würden. Sie sind ein Exsträfling. Die Leute werden nicht gerade Schlange stehen und sich gegenseitig aus dem Weg boxen, um Sie einstellen zu können.«
»Mister Wer-zum-Teufel-Sie-auch-sind«, sagte Shadow gerade laut genug, um den Lärm der Motoren zu übertönen, »so viel Geld gibt es auf der ganzen Welt nicht.«
Das Grinsen wurde noch breiter. Shadow erinnerte sich plötzlich an eine Sendung über Schimpansen, die er mal auf PBS, dem Kulturkanal, gesehen hatte. Dort hieß es, dass Menschenaffen nur lächeln, um ihre Zähne in einer Geste des Hasses, der Aggression oder des Schreckens zu entblößen. Wenn ein Schimpanse grinst, dann ist das eine Drohung.
»Arbeiten Sie für mich. Sicher, es ist nicht ganz risikolos, aber wenn Sie überleben, können Sie haben, was Ihr Herz begehrt. Sie könnten der nächste König von Amerika sein. Also«, sagte der Mann, »wer sonst kann Ihnen so viel bieten? Hm?«
»Wer sind Sie?«, fragte Shadow.
»Ah ja. Das Informationszeitalter – junge Frau, könnten Sie mir noch ein Glas Jack Daniel’s einschenken? Sparsam mit dem Eis, bitte –, nicht dass es je irgendein anderes Zeitalter gegeben hätte, versteht sich. Information und Wissen, zwei Währungen, die nie aus der Mode gekommen sind.«
»Ich sagte, wer sind Sie?«
»Gut, mal sehen. Na, angesichts der Tatsache, dass heute wirklich mein Tag ist – nennen Sie mich doch einfach Mister Wednesday. Obwohl, wenn man sich das Wetter so ansieht, könnte es genauso gut Donnerstag statt Mittwoch sein, wie?«
»Wie ist Ihr richtiger Name?«
»Arbeiten Sie lange genug und gut genug für mich«, sagte der Mann im hellen Anzug, »dann verrate ich’s Ihnen vielleicht sogar. Mein Stellenangebot gilt. Denken Sie drüber nach. Niemand erwartet, dass Sie sofort Ja sagen, zumal Sie nicht wissen können, ob Sie da nicht vielleicht in ein Piranhabecken oder eine Bärengrube springen. Lassen Sie sich Zeit.« Er schloss die Augen und ließ sich in den Sitz zurücksinken.
»Nicht nötig«, sagte Shadow. »Ich mag Sie nicht. Ich möchte nicht mit Ihnen arbeiten.«
»Wie gesagt«, sagte der Mann, ohne die Augen aufzumachen, »überstürzen Sie nichts. Lassen Sie sich Zeit.«
Das Flugzeug landete polternd, und einige Passagiere stiegen aus. Shadow sah aus dem Fenster; es war ein kleiner Flughafen irgendwo am Arsch der Welt, und bis Eagle Point waren noch zwei Zwischenstopps vorgesehen. Shadow schwenkte den Blick zu dem Mann im hellen Anzug – Mr. Wednesday? Er schien zu schlafen.
Einer Eingebung folgend, stand Shadow auf, schnappte sich seine Tasche und stieg aus dem Flugzeug, die Treppe hinunter auf die glatte, nasse Rollbahn, die er mit gleichmäßigem Schritt in Richtung auf die Lichter des Terminals überquerte. Leichter Regen sprühte ihm ins Gesicht.
Bevor er das Flughafengebäude betrat, blieb er stehen, drehte sich um und schaute zurück. Niemand sonst verließ das Flugzeug. Das Bodenpersonal rollte die Treppe weg, die Tür wurde geschlossen, dann setzte die Maschine sich wieder in Bewegung. Shadow ging nach drinnen und mietete ein Auto, welches sich, als er zum Parkplatz kam, als ein kleiner roter Toyota erwies.
Shadow faltete die Karte auseinander, die man ihm gegeben hatte. Er breitete sie auf dem Beifahrersitz aus. Eagle Point war ungefähr 250 Meilen entfernt.
Der Sturm hatte sich verzogen, falls er überhaupt so weit gekommen war. Die Luft war kalt und klar. Wolken jagten vor dem Mond vorbei, und für einen Augenblick war Shadow sich nicht ganz sicher, ob es die Wolken waren, die sich bewegten, oder der Mond.
Er fuhr anderthalb Stunden lang in Richtung Norden.
Es wurde spät. Er war hungrig, und als er merkte, wie groß der Hunger tatsächlich war, nahm er die nächste Ausfahrt und fuhr in den Ort Nottamun (Einw. 1301). Er tankte und fragte die gelangweilte Frau an der Tankstellenkasse, wo er hier in der Gegend etwas zu essen bekommen könne.
»Jack’s Crocodile Bar«, kam die Auskunft. »Nach Westen auf der Landstraße N.«
»Crocodile Bar?«
»Ja. Jack meint, die Viecher schaffen Atmosphäre.« Sie zeichnete ihm eine Wegkarte auf der Rückseite eines malvenfarbenen Handzettels, der für ein Benefiz-Grillfest zugunsten eines jungen Mädchens warb, das eine neue Niere benötigte. »Er hat ein paar Krokodile, eine Schlange und eins von diesen großen Echsendingern.«
»Einen Leguan?«
»Das isses.«
Durch die Stadt, über eine Brücke, ein paar Meilen geradeaus, dann hielt er an einem niedrigen rechteckigen Gebäude mit einem leuchtenden Bierreklameschild davor.
Der Parkplatz war halb leer.
Drinnen war die Luft rauchgeschwängert, und die Jukebox spielte »Walking After Midnight«. Shadow sah sich nach den Krokodilen um, konnte sie aber nirgends erblicken. Er fragte sich, ob die Frau an der Tanke ihn wohl auf den Arm genommen hatte.
»Was darf’s sein?«, fragte der Barkeeper.
»Bier des Hauses und einen Hamburger mit allem Drum und Dran. Und Fritten.«
»Schüssel Chili vorweg? Bestes Chili im ganzen Staat.«
»Klingt gut«, sagte Shadow. »Wo ist das Klo?«
Der Mann deutete auf eine Tür in der Ecke der Bar. Über dem Türrahmen hing ein ausgestopfter Alligatorkopf. Shadow ging durch die Tür.
Es war eine saubere, gut beleuchtete Toilette. Shadow blickte sich, Macht der Gewohnheit, erst einmal um. (»Denk dran, Shadow, du kannst nicht zurückschlagen, wenn du am Pissen bist«, hörte er Low Key sagen, gedämpft wie immer.) Er entschied sich für das Becken ganz links. Dann öffnete er den Reißverschluss und pinkelte eine Ewigkeit, genoss die Erleichterung. Er las die vergilbenden Zeitungsausschnitte, die gerahmt auf Augenhöhe hingen, Zeitungsausschnitte mit einem Foto von Jack und zwei Alligatoren.
Ein höfliches Grunzen erklang vom Urinal gleich neben ihm, obwohl er niemanden hatte hereinkommen hören.
Der Mann im hellen Anzug war im Stehen größer, als er im Flugzeug auf dem Sitz neben Shadow ausgesehen hatte. Er hatte beinahe Shadows Größe, und Shadow war ein ziemlicher Riese. Er starrte nach vorn. Er beendete sein Geschäft, schüttelte die letzten paar Tropfen ab und zog den Reißverschluss hoch.
Dann grinste er wie ein Fuchs, der Scheiße von einem Stacheldrahtzaun frisst. »Also«, sagte Mr. Wednesday, »Sie hatten Zeit nachzudenken, Shadow. Wollen Sie einen Job?«