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Von mythischen Geschöpfen im Geröll gar nicht zu reden …

– Wendy Cope, ›Des Polizisten Los‹


Als sie spät am Abend Illinois hinter sich ließen, richtete Shadow die erste Frage an Wednesday. Beim Anblick des Schildes WILLKOMMEN IN WISCONSIN sagte er: »Wer waren denn jetzt die Typen, die mich auf dem Parkplatz abgegriffen haben? Mister Wood und Mister Stone? Was waren das für Leute?«

Die Scheinwerfer beleuchteten die Winterlandschaft. Wednesday hatte kundgetan, dass sie nicht auf den Autobahnen fahren dürften, weil er nicht wisse, auf wessen Seite die Autobahnen stünden beziehungsweise lägen, und so hielt Shadow sich an die Landstraßen. Es machte ihm nichts aus. Er war sich nicht einmal sicher, ob Wednesday einen Hau hatte oder nicht.

Wednesday grunzte. »Irgendwelche Spukgestalten. Mitglieder der Opposition. Die Bösen. Die mit den schwarzen Hüten.«

»Ich glaube«, sagte Shadow, »die halten sich für die mit den weißen Hüten.«

»Selbstverständlich. Es hat noch keinen echten Krieg gegeben, in dem nicht beide beteiligten Seiten davon überzeugt gewesen sind, im Recht zu sein. Wirklich gefährliche Leute glauben immer, dass sie das, was sie tun, einzig und allein deshalb tun, weil es ohne Frage das Richtige und Gebotene ist. Und eben das ist es, was sie so gefährlich macht.«

»Und Sie?«, sagte Shadow. »Warum tun Sie das, was Sie tun?«

»Weil ich es will«, sagte Wednesday und grinste. »Das ist doch ein guter Grund.«

»Wie seid ihr denn alle entkommen? Beziehungsweise, seid ihr überhaupt alle entkommen?«, fragte Shadow.

»Ja, sind wir«, antwortete Wednesday. »Obwohl es knapp war. Wenn die sich nicht damit aufgehalten hätten, Sie zu schnappen, hätten sie uns vielleicht alle erwischt. Es hat wenigstens einige von denen, die sich gern raushalten wollten, davon überzeugt, dass ich vielleicht doch nicht völlig verrückt bin.«

»Und wie sind Sie da rausgekommen?«

Wednesday schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht dafür bezahlt, Fragen zu stellen«, sagte er. »Ich glaube, ich erwähnte das bereits.«

Shadow zuckte die Achseln.

Sie verbrachten die Nacht in einem Motel südlich von La Crosse.

Der erste Weihnachtsfeiertag sah sie unterwegs in Richtung Norden und Osten. Aus dem Farmland wurden Kiefernwälder. Die Abstände zwischen den Ortschaften schienen immer größer zu werden.

Ihren Weihnachtslunch nahmen sie nachmittags in einem mensaähnlichen Familienrestaurant im nördlichen Wisconsin ein. Shadow stocherte freudlos in seinem ziemlich trockenen Truthahn, dem roten, marmeladensüßen Klumpen Preiselbeersoße, den steinharten Bratkartoffeln und den gefährlich grünen Dosenerbsen herum. Wednesday dagegen schien, gemessen an dem Eifer, mit dem er zulangte, und dem dabei zu Gehör gebrachten Schmatzen, mit dem Essen ganz außerordentlich zufrieden zu sein. Er wurde, je weiter die Mahlzeit fortschritt, nachgerade zugänglich – redete frisch drauflos, machte Witze und flirtete mit der Kellnerin, wann immer sie in ihre Nähe kam, einem dünnen blonden Mädchen, das sogar kaum in dem Alter zu sein schien, in dem man vorzeitig von der Highschool abgegangen sein konnte.

»’tschuldigung, meine Liebe, aber dürfte ich Ihnen zumuten, mir noch einen Becher Ihrer köstlichen heißen Schokolade zu bringen? Ich hoffe doch, Sie finden mich nicht zu dreist, wenn ich Ihnen sage, was für ein reizendes und vorteilhaftes Kleid Sie da tragen. Festlich und doch schick.«

Die Kellnerin, an der ein leuchtend rotgrünes, mit glitzerndem Silberlametta gesäumtes Kleid hing, kicherte, errötete und lächelte glücklich, dann machte sie sich davon, um Wednesday einen weiteren Becher heißen Kakao zu besorgen.

»Reizend«, sagte Wednesday nachdenklich, während er ihr nachblickte. »Vorteilhaft.« Shadow hatte nicht den Eindruck, dass er von dem Kleid sprach. Wednesday schaufelte sich das letzte Stück Truthahn in den Mund, betupfte seinen Bart mit der Serviette und schob schließlich den Teller von sich. »Aaah. Gut.« Er sah sich in dem »Restaurant für die ganze Familie« um. Im Hintergrund lief ein Tonband mit Weihnachtsliedern: Der kleine Trommler hatte dem Christkind mal wieder keine Gaben zu bieten, parampapam pam, rampapam pam, rampapam pam.

»Manche Dinge mögen sich ändern«, sagte Wednesday plötzlich. »Die Menschen dagegen … Die Menschen bleiben sich immer gleich. Manche krumme Tour funktioniert ewig, andere werden bald von der Zeit und der Welt verschluckt. Mein absoluter Lieblingsbetrug lässt sich schon heute nicht mehr praktizieren. Dennoch, eine überraschend große Zahl von krummen Dingern hat sich als zeitlos erwiesen – der spanische Häftling, die Brieftasche auf der Straße, der Trick mit dem Ring (entsprechend der Brieftasche auf der Straße, nur mit einem Goldring), das Fiedelspiel …«

»Vom Fiedelspiel hab ich noch nie was gehört«, sagte Shadow. »Von den anderen schon, glaube ich. Mein alter Zellengenosse hat erzählt, wie er den spanischen Häftling tatsächlich durchgeführt hat. Er war ein Betrüger.«

»Ah«, sagte Wednesday, und sein linkes Auge funkelte. »Das Fiedelspiel war ein schöner und wunderbarer Trick. In seiner Reinform ein Zwei-Mann-Schwindel. Er schlägt, wie alle großen Betrugsmanöver, Vorteil aus der menschlichen Gier. Dass man einen ehrlichen Menschen nicht übers Ohr hauen könne, gilt nur im Kino, man kann es sehr wohl, es erfordert nur mehr Arbeit. Also. Wir befinden uns in einem Hotel oder einem Gasthaus oder einem guten Restaurant, und dort beim Essen sehen wir einen Mann – schäbig, aber elegant schäbig, nicht gerade heruntergekommen, aber er hat offensichtlich eine Pechsträhne gehabt. Wir wollen ihn Abraham nennen. Und als der Moment gekommen ist, die Rechnung zu begleichen – keine riesige Rechnung, bewahre, fünfzig, vielleicht fünfundsiebzig Dollar – eine peinliche Situation! Wo ist seine Brieftasche? Großer Gott, er muss sie bei einem Freund vergessen haben, gar nicht weit von hier. Er wird unverzüglich loseilen und sie wieder beschaffen. Aber hier, Herr Wirt, sagt Abraham, nehmen Sie diese meine Geige als Sicherheit. Sie ist alt, wie Sie sehen, aber ich verdiene mein Brot mit ihr.«

Wednesdays Lächeln wurde breit und beutegierig, als er die Kellnerin herankommen sah. »Ah, die heiße Schokolade! Von meinem Weihnachtsengel herbeigebracht! Sagen Sie, meine Liebe, könnte ich noch von Ihrem köstlichen Brot bekommen, wenn es nicht gar zu viele Umstände macht?«

Die Kellnerin – wie alt war sie, fragte sich Shadow, sechzehn, siebzehn? – blickte zu Boden und bekam purpurrote Wangen. Mit zitternden Händen stellte sie die Schokolade ab und zog sich an den Rand des Saals zu der sich langsam drehenden Kuchenauslage zurück, wo sie stehen blieb und Wednesday eine Weile anstarrte. Dann schlüpfte sie in die Küche, um ihm das Brot zu holen.

»Also. Die Violine – betagt, kein Zweifel, vielleicht sogar ein wenig ramponiert – wird in ihrem Kasten verstaut, und unser vorübergehend mittelloser Abraham bricht auf, seine Brieftasche zu suchen. Aber ein gut gekleideter Gentleman, der selbst eben erst seine Mahlzeit beendet hat, hat den ganzen Wortwechsel mitverfolgt und wendet sich nun an unseren Wirt. Ob er wohl unter Umständen einen Blick auf die Violine werfen könne, die jener ehrliche Abraham hinterlassen habe?

Selbstverständlich kann er das. Unser Wirt reicht sie ihm, und der gut gekleidete Mann – nennen wir ihn Barrington – sperrt den Mund ganz weit auf, dann, als er sich besinnt, wo er ist, macht er ihn wieder zu, untersucht die Violine mit Ehrfurcht, ganz wie ein Mann, dem Zutritt zu einer heiligen Stätte gewährt wurde, um die Knochen eines Propheten zu inspizieren. ›Aber!‹, sagt er. ›Das ist ja … sie muss es sein … nein, das kann nicht sein … aber doch, ja, sieh nur – mein Gott! Das ist ja unfassbar!‹ Und er deutet auf das Herstellerzeichen, das auf einem braun getönten Streifen Papier im Innern der Violine zu sehen ist – aber auch ohne das, sagt er, hätte er sie erkannt, an der Farbe der Lasur, an der Schnecke, an der Form.

Jetzt greift Barrington in die Tasche und zieht eine edle Visitenkarte hervor, die ihn als einen bedeutenden Händler seltener und antiker Musikinstrumente ausweist. ›Diese Violine ist also ein seltenes Stück?‹, fragt unser Wirt. ›Das kann man wohl sagen‹, sagt Barrington, der sie noch immer ehrfürchtig anstaunt, ›und sie ist mehr als hunderttausend Dollar wert, wenn ich mich nicht sehr täusche. Selbst als Händler würde ich fünfzig- – nein, fünfundsiebzigtausend Dollar für ein so erlesenes Stück zahlen. Ich habe jemanden an der Westküste, der es auf der Stelle, unbesehen, per Telegramm sozusagen, kaufen würde, und er würde zahlen, was immer ich verlange.‹ Dann blickt er auf seine Armbanduhr und macht ein langes Gesicht. ›Mein Zug …‹, sagt er. ›Ich muss mich beeilen, dass ich ihn noch erreiche! Werter Herr, wenn der Besitzer dieses unschätzbaren Instruments wieder auftauchen sollte, geben Sie ihm bitte meine Karte, ich muss nämlich, Gott sei’s geklagt, jetzt wirklich aufbrechen.‹ Und mit diesen Worten entfernt sich Barrington, ein Mann, der weiß, dass verpasste Gelegenheiten und verpasste Züge so schnell nicht wiederkehren.

Der Wirt betrachtet die Violine, Gier und Neugier mischen sich in seinen Adern, und in seinem Innern beginnt ein Plan Gestalt anzunehmen. Aber die Minuten verstreichen, und Abraham ist immer noch nicht aufgetaucht. Es wird spät, doch da kommt er schließlich durch die Tür, Abraham, unser Geiger, schäbig, aber stolz, und in der Hand hält er eine Brieftasche, auch sie hat bessere Tage gesehen, doch hat sie selbst zu ihren Glanzzeiten nie mehr als hundert Dollar enthalten, und aus dieser Brieftasche also nimmt er das Geld, um die Rechnung für sein Essen oder seine Übernachtung zu bezahlen, und bittet um die Rückgabe seiner Violine.

Der Herr Wirt legt die Geige in ihrem Kasten auf den Tresen, und Abraham nimmt sie daraufhin wie eine Mutter ihr Kind in den Arm. ›Sagen Sie‹, meint der Wirt (die edle Karte eines Mannes, der fünfzigtausend Dollar, gutes bares Geld, zu zahlen gewillt ist, brennt in seiner Innentasche), ›wie viel ist so eine Geige wert? Meine Nichte ist nämlich von dem Wunsch beseelt, das Geigenspiel zu erlernen, und ihr Geburtstag steht demnächst an.‹

›Diese Geige verkaufen?‹, sagt Abraham. ›Das könnte ich um mein Leben nicht. Ich habe sie seit zwanzig Jahren, o ja, und ich habe sie in jedem einzelnen Bundesstaat der Union gespielt. Und, um die Wahrheit zu sagen, sie hat mich seinerzeit gut fünfhundert Dollar gekostet.‹

Unser Herr Wirt unterdrückt das Lächeln, das sich ihm auf die Lippen legen will. ›Fünfhundert Dollar? Und wenn ich Ihnen tausend Dollar dafür bieten würde, bar auf die Hand?‹

Der Geiger scheint zunächst erfreut zu sein, dann jedoch niedergeschlagen, und er sagt: ›Aber mein Gott, ich bin Geiger, Sir, das ist der einzige Beruf, auf den ich mich verstehe. Diese Geige kennt und liebt mich, und meine Finger sind so vertraut mit ihr, dass ich Ihnen im Dunkeln auf ihr vorspielen könnte. Wo würde ich eine andere finden, die ebenso klingt? Tausend Dollar sind gutes Geld, aber hier gilt es meinen Lebensunterhalt. Nicht für tausend Dollar, und auch nicht für fünftausend.‹

Unser Herr Wirt sieht seinen Profit schrumpfen, aber so ist das Geschäftsleben nun mal, wer einen Gewinn erzielen will, muss investieren. ›Achttausend Dollar‹, sagt er. ›So viel ist sie zwar nicht wert, aber sie hat es mir nun einmal angetan, außerdem liebe ich meine Nichte und möchte sie verwöhnen.‹

Abraham stehen bei dem bloßen Gedanken, seine geliebte Geige wegzugeben, beinahe die Tränen in den Augen, aber wie könnte er zu diesem Angebot Nein sagen? Zumal jetzt unser Wirt zu seinem Wandsafe geht und nicht nur acht-, sondern sogar neuntausend Dollar herausholt, hübsche verschnürte Bündel, die nur darauf warten, die leeren Taschen des Geigers zu füllen. ›Sie sind ein guter Mensch‹, sagt er zu dem Wirt. ›Sie sind ein Heiliger! Aber Sie müssen mir versprechen, auf mein Mädchen gut Acht zu geben!‹ Und dann übergibt er dem Mann widerstrebend seine Violine.«

»Aber was passiert, wenn Ihr Herr Wirt einfach Barringtons Karte weitergibt und Abraham erzählt, dass diesem offenbar das Glück hold ist?«, fragte Shadow.

»Dann müssen wir die Kosten für zwei Abendessen abschreiben«, sagte Wednesday. Er wischte die Soßen- und sonstigen Reste auf seinem Teller mit einem Stück Brot auf, das er dann mit schmatzendem Genuss verzehrte.

»Mal sehen, ob ich alles richtig mitbekommen habe«, sagte Shadow. »Abraham geht also, neuntausend Dollar reicher, von dannen, und auf dem Bahnhofsvorplatz wartet Barrington schon auf ihn. Sie teilen das Geld, steigen in Barringtons klapprigen Ford und fahren zur nächsten Stadt. Und ich vermute mal, der Kofferraum dieses Wagens steckt voller Hundertdollargeigen.«

»Ich persönlich habe es mir zur Ehrensache gemacht, niemals mehr als fünf Dollar für die Dinger auszugeben«, sagte Wednesday. Dann wandte er sich der bereitstehenden Kellnerin zu. »So, meine Liebe, erfreuen Sie uns mit einer Beschreibung der üppigen Desserts, die uns an diesem, äh, dem Geburtstag unseres Herrn, zur Verfügung stehen.« Er begutachtete sie – es war schon ein beinahe anzüglicher Blick –, als könnte nichts von dem, was sie ihm anzubieten hatte, einen schmackhafteren Happen versprechen als sie selbst. Shadow fand die Situation äußerst unbehaglich: Es war, als würde man einen alten Wolf dabei beobachten, wie er sich an ein Reh heranmacht, das zu jung ist, um zu wissen, dass es, wenn es nicht davonläuft, und zwar auf der Stelle, auf einer entfernten Lichtung enden wird, wo die Knochen anschließend von den Raben abgenagt werden.

Das Mädchen errötete abermals und teilte ihnen mit, dass es zum Nachtisch erstens Apfeltorte nach Art des Hauses gäbe – »Das ist mit einer Kugel Vanilleeis dazu« –, ferner Weihnachtskuchen nach Art des Hauses oder einen rotgrünen Schaumpudding. Wednesday sah ihr in die Augen und erklärte, er würde gern den Weihnachtskuchen nach Art des Hauses probieren. Shadow musste passen.

»Ja, das Fiedelspiel ist ein ehrwürdiger Trick«, sagte Wednesday. »Es hat dreihundert Jahre oder mehr auf dem Buckel. Und wenn man es richtig anfängt, kann man es auch morgen noch spielen, egal, wo.«

»Ich dachte, Sie hätten gesagt, Ihr Lieblingsbetrug wäre nicht mehr praktikabel.«

»Das ist richtig. Aber das hier war ja auch nicht mein Lieblingsbetrug. Mein Lieblingsbetrug ist einer, den man als Bischofsspiel bezeichnet hat. Da war alles drin: Spannung, Täuschung, Beweglichkeit, Überraschung. Vielleicht, denke ich manchmal, mit ein paar kleinen Modifikationen vielleicht, könnte man ihn …« Er dachte eine Weile nach, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, seine Zeit ist vorbei. Wir sind, sagen wir mal, im Jahr 1920, in einer Stadt von mittlerer bis bedeutender Größe – Chicago vielleicht oder New York oder Philadelphia. Wir befinden uns in einem großen Juweliergeschäft. Ein Mann im Ornat eines Geistlichen – und zwar nicht irgendeines Geistlichen, sondern eines Bischofs, also in Purpur rot – betritt das Geschäft und sucht sich eine Halskette aus, eine herrliche und hinreißende Anfertigung aus Diamanten und Perlen, für die er ein Dutzend druckfrischer Hundertdollarscheine hinblättert.

Der zuoberst liegende Schein hat einen kleinen grünen Tintenfleck, und der Geschäftsinhaber schickt das Geldbündel, höflich, aber bestimmt, zur Bankfiliale an der Ecke, um es prüfen zu lassen. Schon bald kehrt der Angestellte mit dem Geld zurück. Nach Auskunft der Bank handele es sich bei keinem der Scheine um eine Fälschung. Der Juwelier entschuldigt sich noch einmal, aber der Bischof ist überaus liebenswürdig und zeigt vollstes Verständnis für das Problem: Es gebe heutzutage so viele gottlose und gesetzesbrecherische Menschen auf der Welt, so viel Unmoral und Lüsternheit rings um uns herum – und schamlose Frauenzimmer noch und noch, und jetzt, da die Unterwelt aus der Gosse gekrochen sei und auf den Leinwänden der Filmpaläste ihr Unwesen treiben dürfe, was solle man da anderes erwarten? Die Halskette wird also in ihre Schatulle gelegt, und der Juwelier gibt sich alle Mühe, der Frage, warum ein Bischof eine diamantene Halskette für zwölfhundert Dollar kauft und dafür mit gutem Bargeld bezahlt, möglichst nicht näher zu treten.

Der Bischof verabschiedet sich mit großer Herzlichkeit und geht hinaus auf die Straße, wo ihm allerdings sogleich eine schwere Hand auf die Schulter gelegt wird. ›Nanu, Soapy, alter Nichtsnutz, ziehste wieder deine alte Masche ab?‹ Und ein etwas vierschrötiger Streifenpolizist mit einem ehrlichen irischen Gesicht schleift den Bischof wieder in den Laden hinein.

›’tschuldigung, aber hat dieser Mann grade irgendwas bei Ihnen gekauft?‹, fragt der Cop. ›Gewiss nicht‹, sagt der Bischof. ›Sagen Sie ihm, dass es nicht so ist.‹ – ›Doch, in der Tat‹, sagt der Juwelier. ›Er hat soeben eine Halskette aus Perlen und Diamanten bei uns gekauft – und sie bar bezahlt.‹ – ›Hätten Sie die Scheine wohl griffbereit, Sir?‹, fragt der Cop.

Der Juwelier nimmt also die zwölf Hundertdollarscheine aus der Kasse und gibt sie dem Polizisten, der sie gegen das Licht hält und verwundert den Kopf schüttelt. ›Ach, Soapy, Soapy‹, sagt er, ›das sind die Besten, die du je gemacht hast! Du bist wirklich ein Künstler, alles was Recht ist!‹

Ein selbstzufriedenes Lächeln legt sich über das Gesicht des Bischofs. ›Sie können mir nichts beweisen‹, sagt der Bischof. ›Und die von der Bank behaupten auch, dass sie echt sind. Das sind keine Blüten.‹ – ›Klar sagen sie das‹, gibt der Polizist zu, ›aber ich möchte bezweifeln, dass die von der Bank gewusst haben, dass Soapy Sylvester in der Stadt ist, oder dass sie von der Qualität der Hundertdollarscheine erfahren haben, die er in Denver und St. Louis in Umlauf gebracht hat.‹ Und mit diesen Worten greift er dem Bischof in die Tasche und zieht die Halskette heraus. ›Diamanten und Perlen im Wert von zwölf hundert Dollar gegen Papier und Tinte im Wert von fünfzig Cent‹, sagt der Polizist, der offenbar im Grunde seines Herzens Philosoph ist. ›Und sich dann noch als Mann der Kirche ausgeben. Du solltest dich was schämen‹, sagt er, während er dem Bischof, der offensichtlich gar kein Bischof ist, die Handschellen anlegt, und dann führt er ihn ab, aber nicht ohne dem Juwelier zuvor noch eine Quittung über die Halskette und die zwölf gefälschten Hundertdollarscheine ausgestellt zu haben. Es handelt sich ja schließlich um Beweismaterial.«

»War es wirklich Falschgeld?«, fragte Shadow.

»Natürlich nicht! Druckfrische Banknoten, direkt von der Bank, nur ein paar davon mit einem Daumenabdruck und einem grünen Tintenfleck verziert, um sie etwas interessanter zu machen.«

Shadow nippte an seinem Kaffee. Er war schlechter als der, den er im Gefängnis bekommen hatte. »Der Cop war also offensichtlich kein Cop. Und die Halskette?«

»Ein Beweisstück«, sagte Wednesday. Er drehte den Deckel des Salzstreuers ab und schüttete einen kleinen Haufen Salz auf den Tisch. »Aber der Juwelier erhält eine Quittung und die Zusicherung, die Halskette zurückzubekommen, sobald Soapy vor Gericht gestellt wird. Er lässt sich zu seinem vorbildlichen Bürgersinn beglückwünschen und sieht – während er sich in Gedanken schon die Geschichte zurechtlegt, die er am morgigen Abend bei der Versammlung der Oddfellows zu erzählen haben wird – voller Stolz zu, wie der Polizist den Mann, der sich für einen Bischof ausgegeben hat, aus dem Laden abführt, zwölfhundert Dollar in der einen, ein Diamantenkollier im Wert von zwölfhundert Dollar in der anderen Tasche, auf dem Weg zu einer Polizeiwache, die keinen von beiden je zu Gesicht bekommen wird.«

Die Kellnerin war gekommen, um den Tisch abzuräumen. »Sagen Sie, meine Liebe«, sagte Wednesday. »Sind Sie verheiratet?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wirklich erstaunlich, dass sich noch niemand eine junge Dame von solchem Liebreiz unter den Nagel gerissen hat.« Er rührte mit der Fingerspitze in dem verschütteten Salz und malte darin gedrungene, klotzige, runenartige Umrisse. Die Kellnerin stand wie teilnahmslos neben ihm und erinnerte Shadow jetzt weniger an ein Reh als an ein Kaninchen, das von den Scheinwerfern eines großen Lastwagens erfasst wurde, erstarrt vor Angst und Unentschlossenheit.

Wednesday senkte die Stimme, sodass selbst Shadow, der nur auf der anderen Seite des Tisches saß, ihn kaum verstehen konnte. »Wann haben Sie Feierabend?«

»Um neun«, sagte sie und schluckte. »Spätestens halb zehn.«

»Und welches ist das beste Motel hier in der Gegend?«

»Es gibt ein Motel 6«, sagte sie. »Ist aber nichts Besonderes.«

Wednesday berührte mit seinen Fingerspitzen flüchtig den Handrücken, wobei er einige Krümel Salz hinterließ. Sie machte keine Anstalten, sie abzuwischen. »Für uns«, sagte er, seine Stimme ein fast unhörbares Murmeln, »wird es ein Palast der Freude sein.«

Die Kellnerin sah ihn an. Sie biss sich auf die dünnen Lippen, zögerte, dann nickte sie und flüchtete in die Küche.

»Also ehrlich«, sagte Shadow. »Die sieht ja kaum volljährig aus, das ist doch ungesetzlich.«

»Ich habe mir noch nie allzu viele Gedanken über Gesetzlichkeit gemacht«, erwiderte Wednesday. »Und ich habe sie nötig, nicht als Selbstzweck, sondern um mich ein bisschen aufzumöbeln. Schon König David wusste, dass es ein Patentrezept gibt, um warmes Blut durch einen alten Körper fließen zu lassen: Nimm dir eine Jungfrau, und du erhebst dich am nächsten Morgen in neuer Frische.«

Shadow fragte sich unwillkürlich, ob auch die Nachtportiersfrau neulich in dem Hotel in Eagle Point Jungfrau gewesen war. »Haben Sie keine Angst vor Krankheiten?«, fragte er, »Was ist, wenn Sie sie schwängern? Was, wenn sie einen Bruder hat?«

»Nein«, sagte Wednesday. »Ich habe keine Angst vor Krankheiten. Ich stecke mich nicht an. Und leider – zu großen Teilen leider – schießen Leute meines Schlages nur mit Platzpatronen, daher gibt es nicht sonderlich viele Kreuzungen. In den alten Zeiten war das anders. Heutzutage ist es zwar noch möglich, aber so unwahrscheinlich, dass man es fast ausschließen kann. Also insoweit kein Grund zur Besorgnis. Ja sicher, viele Mädchen haben Brüder – und übrigens auch Väter. Das ist aber kein großes Problem. In neunundneunzig von hundert Fällen bin ich schon aus der Stadt raus, bevor die hier aufkreuzen.«

»Wir übernachten also hier?«

Wednesday rieb sich das Kinn. »Ich werde im Motel 6 übernachten«, sagte er. Er steckte die Hand in die Manteltasche und zog einen bronzefarbenen Haustürschlüssel hervor, an dem ein Adressenschild befestigt war: Northridge Road 502, Apt. 3. »Auf Sie dagegen wartet eine Wohnung, in einer nicht allzu weit entfernten Stadt.« Wednesday schloss für einen Moment die Augen. Dann gingen sie, grau und funkelnd und nicht ganz zusammenpassend, wieder auf, und er sagte: »Der Greyhoundbus kommt in zwanzig Minuten hier durch den Ort. Er hält an der Tankstelle. Hier ist Ihre Fahrkarte.« Er zog einen gefalteten Busfahrschein hervor und reichte ihn über den Tisch. Shadow nahm ihn entgegen und warf einen Blick darauf.

»Wer ist Mike Ainsel?«, fragte er. Der Fahrschein war auf diesen Namen ausgestellt.

»Das sind Sie. Fröhliche Weihnachten.«

»Und wo ist Lakeside?«

»Ihr glückliches Zuhause für die kommenden Monate. Und nun, da aller guten Dinge drei sind …« Er zog ein kleines, in Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen aus der Tasche und schob es über den Tisch neben die Ketchupflasche, deren Deckel mit schwarz getrocknetem Ketchup verschmiert war. Shadow machte keine Anstalten, es an sich zu nehmen.

»Na, was ist?«

Zögernd riss Shadow das rote Geschenkpapier auf und brachte eine rehbraune, blank gescheuerte Kalbslederbrieftasche zum Vorschein. Es war ganz offensichtlich eine gebrauchte. In der Brieftasche befand sich ein Führerschein mit Shadows Foto, ausgestellt auf den Namen Mike Ainsel mit Wohnsitz in Milwaukee, ferner eine Mastercard für M. Ainsel und zwanzig druckfrische Fünfzigdollarscheine. Shadow klappte die Brieftasche zu und steckte sie in eine seiner Innentaschen.

»Danke«, sagte er.

»Betrachten Sie es als Weihnachtsvergütung. So, jetzt will ich Sie zum Greyhound begleiten. Ich werde Ihnen nachwinken, wenn Sie den grauen Hund nach Norden reiten.«

Sie traten vor das Restaurant. Shadow mochte kaum glauben, wie kalt es in den letzten paar Stunden geworden war. Zu kalt wahrscheinlich, als dass es schneien würde. Eine aggressive Kälte. Es würde wohl ein schlimmer Winter werden.

»He, Wednesday, diese beiden Betrügereien, von denen Sie mir erzählt haben, die mit der Violine und die mit dem Bischof, dem Bischof und dem Polizisten …« Er zögerte, wie um seine Gedanken richtig zu fassen zu bekommen.

»Was ist damit?«

Dann hatte er es. »Das waren doch beides Zwei-Mann-Schwindel. Je ein Mann auf jeder Seite. Hatten Sie früher etwa einen Partner?« Shadows Atem bildete Wolken in der Luft. Er gab sich das Versprechen, dass er, in Lakeside angekommen, von seinem Weihnachtsgeld den wärmsten und dicksten Wintermantel kaufen würde, den es im Angebot gab.

»Ja«, sagte Wednesday. »Ja. Ich hatte einen Partner. Einen Juniorpartner. Aber, leider Gottes, die Zeiten sind vorbei. Dort ist die Tankstelle, und dort, wenn mich meine Augen nicht sehr täuschen, ist der Bus.« Der Blinker kündigte bereits das Einbiegen auf den Parkplatz an. »Ihre Adresse steht ja auf dem Schlüsselanhänger«, sagte Wednesday. »Sollte jemand fragen, bin ich Ihr Onkel, und ich schmücke mich mit dem unwahrscheinlichen Namen Emerson Borson. Werden Sie in Lakeside heimisch, Neffe Ainsel. Ich komme im Laufe der nächsten Woche, um Sie abzuholen. Wir werden gemeinsam reisen. Die Leute aufsuchen, die ich aufzusuchen habe. Verhalten Sie sich inzwischen unauffällig und handeln Sie sich keinen Ärger ein.«

»Und mein Auto …?«, sagte Shadow.

»Ich werde gut darauf aufpassen. Viel Spaß in Lakeside«, sagte Wednesday. Er streckte die Hand aus, und Shadow schüttelte sie. Wednesdays Hand war kälter als die einer Leiche.

»Herrje«, sagte Shadow. »Sind Sie kalt.«

»Je eher ich also mit dem süßen Mädel aus dem Restaurant in ein verschwiegenes Motel-6-Zimmer verschwinde, um das Tier mit den zwei Rücken zu machen, desto besser.« Er streckte nun auch die andere Hand aus und drückte Shadow an der Schulter.

Shadow erlebte einen Schwindel erregenden Moment von Doppeltsehen: Vor sich sah er den grauhaarigen Mann, der ihm die Schulter drückte, aber er sah auch noch etwas anderes: viele, viele Winter, Hunderte und Aberhunderte von Wintern, und einen grauen Mann mit einem breitkrempigen Hut, der von Ansiedlung zu Ansiedlung wanderte und dort, auf seinen Stock gestützt, in die Fenster blickte, aufs Kaminfeuer und auf eine Fröhlichkeit und ein glühendes und blühendes Leben, das er niemals würde berühren oder auch nur nachempfinden können …

»Gehen Sie«, sagte Wednesday mit einer Stimme, die man als beruhigendes Brummen interpretieren konnte. »Es ist alles gut, heute, morgen und übermorgen.«

Shadow zeigte der Fahrerin seine Fahrkarte. »Was für ein Tag zum Reisen«, sagte sie und fügte dann, sozusagen mit grimmiger Befriedigung, hinzu: »Fröhliche Weihnachten.«

Der Bus war fast leer. »Wann werden wir in Lakeside ankommen?«, fragte Shadow.

»Wir brauchen zwei Stunden. Vielleicht ein bisschen länger«, sagte die Fahrerin. »In der Vorhersage war von einem Kälteeinbruch die Rede.« Sie legte einen Schalter um, worauf sich die Türen zischend und polternd schlossen.

Shadow wanderte den Mittelgang halb hinunter, stellte dort, wo er Platz nahm, die Rückenlehne so weit zurück, wie es nur ging, und dachte nach. Die Bewegung des Busses in Verbindung mit der hier herrschenden Wärme schläferte ihn ein, und bevor ihm noch so richtig bewusst wurde, dass er müde war, war er auch schon eingeschlafen.


In der Erde und unter der Erde. Die Zeichen an der Wand waren rot wie nasser Lehm: Hand- und Fingerabdrücke, hier und da auch grobe Darstellungen von Tieren und Menschen.

Das Feuer brannte noch, und der Büffelmann saß wieder auf der anderen Seite des Feuers und starrte Shadow mit riesigen Augen an, Augen wie dunkle Schlammlöcher. Die Bisonlippen, gesäumt von verfilzten braunen Haaren, bewegten sich nicht, als die Bisonstimme sprach: »Nun, Shadow? Glaubst du inzwischen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Shadow. Auch sein Mund hatte sich nicht bewegt, wie er bemerkte. Was an Worten zwischen den beiden hin und her wechselte, wurde nicht gesprochen, jedenfalls nicht auf eine Weise, wie sie Shadows Auffassung von Sprechen entsprach. »Bist du wirklich?«

»Glaube«, sagte der Büffelmann.

»Bist du …« Shadow hielt inne, dann stellte er die Frage doch: »Bist du auch ein Gott?«

Der Büffelmann streckte eine Hand in die Flammen des Feuers und zog ein brennendes Scheit heraus. Er hielt das Scheit in der Mitte umklammert. Blaue und gelbe Flammen züngelten ihm über die rote Hand, verbrannten ihn aber nicht.

»Das hier ist kein Land für Götter«, sagte der Büffelmann. Aber es war, wie Shadow in seinem Traum erkannte, nicht mehr der Büffelmann, der sprach. Es war das Feuer, es war das Knistern, das Brennen der Flamme selbst, das zu Shadow sprach, dort an dem dunklen Ort unter der Erde.

»Dieses Land wurde von einem Taucher aus den Tiefen des Meeres emporgetragen«, sagte das Feuer. »Von einer Spinne aus seinem eigenen Stoff gesponnen. Es wurde von einem Raben ausgeschissen. Es ist der Leib eines gefallenen Vaters, dessen Knochen Berge, dessen Augen Seen sind.

Dies ist das Land der Träume und des Feuers«, sagte die Flamme.

Der Büffelmann legte das Scheit zurück ins Feuer.

»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Shadow. »Ich bin nicht wichtig. Ich bin überhaupt nichts. Ich war ein ganz guter Fitnesstrainer, ein echt miserabler Schmalspurganove und ein womöglich nicht so guter Ehemann, wie ich dachte …« Er verstummte.

»Wie kann ich Laura helfen?«, fragte er den Büffelmann schließlich. »Sie möchte wieder lebendig sein. Ich hab gesagt, dass ich ihr helfen würde. Ich schulde ihr das.«

Der Büffelmann schwieg. Er zeigte hinauf zur Höhlendecke. Shadow folgte der Bewegung mit dem Blick. Ein dünnes, winterliches Licht drang weit oben durch eine winzige Öffnung.

»Da oben?«, fragte Shadow, der ganz gern mal eine Antwort auf eine seiner Fragen erhalten hätte. »Ich soll nach da oben gehen?«

Dann schwemmte ihn der Traum hinweg, die Vorstellung wurde zur Sache selbst, und Shadow rauschte in den Fels und in die Erde. Er war wie ein Maulwurf, der sich durch die Erde zu wühlen versuchte, wie ein Dachs, der durchs Erdreich kletterte, wie ein Murmeltier, das Erde aus dem Weg räumte, wie ein Bär, aber die Erde war zu hart, zu dicht, und so fing er an zu keuchen, bald kam er nicht mehr weiter, konnte nicht mehr weitergraben, nicht mehr klettern, und da wusste er, dass er dort, irgendwo in der Tiefe unterhalb der Welt, sterben würde.

Die eigene Kraft reichte nicht aus. Seine Anstrengungen wurden schwächer. Obwohl sein Körper in einem warmen Bus durch die kalten Wälder fuhr, würde er, das wusste er, sobald er hier, unterhalb der Welt, zu atmen aufhörte, auch dort aufhören zu atmen, schon jetzt kam der Atem nur mehr flach und keuchend.

Er zappelte und drückte, wurde dabei immer schwächer, brauchte mit jeder Bewegung kostbare Luft auf. Er war gefangen: kam nicht weiter, und konnte auch nicht dorthin zurück, von wo er gekommen war.

»Du musst jetzt handeln«, sagte eine Stimme im Kopf.

»Womit soll ich handeln?«, fragte Shadow. »Ich habe nichts.« Er konnte den Lehm, der dick und grobkörnig in seinem Mund steckte, jetzt schmecken.

Und dann sagte Shadow: »Außer mich selbst. Ich habe mich selbst, nicht wahr?«

Es schien, als würde alles den Atem anhalten.

»Ich biete mich selber an«, sagte er.

Die Antwort folgte auf der Stelle. Die Steine und die Erde, die ihn umgaben, begannen jetzt auf Shadow einzudringen, drückten ihn so fest, dass ihm das letzte bisschen Luft aus der Lunge gepresst wurde. Aus dem Druck wurde Schmerz, der ihn von allen Seiten bedrängte. Er langte auf dem Zenit des Schmerzes an und hing dort in dem Bewusstsein, dass er es nicht länger aushalten konnte, und da ließ der Krampf nach, und Shadow konnte wieder atmen. Das Licht über ihm war heller geworden.

Er wurde an die Oberfläche gedrückt. Als die nächste Zuckung der Erde einsetzte, versuchte Shadow sich von ihr tragen zu lassen. Diesmal fühlte er, wie es ihn nach oben schob.

Der Schmerz war unfassbar bei dieser letzten fürchterlichen Kontraktion, die ihn durch ein unnachgiebiges Felsloch drückte, quetschte und schob, die Knochen zersplitterten, das Fleisch wurde zu formloser Masse gepresst. Als sein Mund und der zerstörte Kopf das Loch passierten, schrie er vor lauter Schmerz und Angst.

Er fragte sich im Schreien, ob er auch in der Wachwelt schrie – ob er, im abgedunkelten Bus auf seinem Sitz liegend, im Schlaf schrie.

Und als diese letzte Zuckung endete, war Shadow oben angelangt und umklammerte mit den Fingern die rote Erde.

Er wälzte sich in Sitzposition, wischte sich mit der Hand die Erde aus dem Gesicht und blickte zum Himmel empor. Es dämmerte, ein lang gezogenes purpurrotes Zwielicht, die Sterne traten, einer nach dem anderen, hervor, Sterne, die so viel heller und lebhafter waren als alle Sterne, die er je gesehen oder sich vorgestellt hatte.

»Bald«, sagte die knisternde Stimme der Flamme hinter ihm, »werden sie herabfallen. Sie werden fallen, und dann wird das Sternenvolk dem Erdenvolk begegnen. Es werden Helden darunter sein und Männer, die Ungeheuer erschlagen und Wissen bringen, aber keiner von ihnen wird ein Gott sein. Dies hier ist ein armseliger Ort für Götter.«

Ein Windstoß, schockierend kalt, berührte sein Gesicht. Es war, als würde jemand einen mit Eiswasser übergießen. Er hörte die Stimme der Fahrerin, die gerade ansagte, sie seien in Pinewood, »für alle, die dringend eine rauchen müssen oder sich die Beine vertreten möchten: Wir haben zehn Minuten Aufenthalt, bevor es weitergeht.«

Shadow stolperte aus dem Bus. Sie standen wieder vor einer dieser ländlichen Tankstellen, fast identisch mit der, die sie vorhin verlassen hatten. Die Fahrerin half zwei Mädchen im Teenageralter in den Bus und verstaute ihre Koffer im Gepäckraum.

»He«, sagte die Fahrerin, als sie Shadow sah. »Sie steigen doch in Lakeside aus, stimmt’s?«

Shadow konnte das trotz seiner Müdigkeit bestätigen.

»Mann, das ist eine gute Stadt«, sagte die Busfahrerin. »Ich denke manchmal, wenn ich mal irgendwann in den Sack hauen sollte, dann würde ich nach Lakeside ziehen. Die hübscheste Stadt, die ich kenne. Leben Sie schon lange da?«

»Es ist mein erster Besuch dort.«

»Essen Sie bei Mabel’s eine Pastete für mich, hören Sie?«

Shadow beschloss, nicht um nähere Erläuterungen zu bitten. »Sagen Sie«, sagte er stattdessen, »habe ich im Schlaf geredet?«

»Ich hab nichts gehört.« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Wieder einsteigen, bitte. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn wir in Lakeside sind.«

Die beiden Mädchen, die in Pinewood zugestiegen waren – er schätzte sie kaum älter als vierzehn –, saßen jetzt in der Reihe vor ihm. Sie waren Freundinnen, nicht etwa Schwestern, entschied Shadow, der ihr Gespräch belauschte, ohne es zu wollen. Die eine der beiden wusste praktisch nichts über Sex, verstand aber eine Menge von Tieren, verbrachte viel Zeit in einer Art Obdach für Tiere beziehungsweise half dort aus; die andere dagegen war an Tieren nicht weiter interessiert, glaubte dafür aber, ausgerüstet mit allerlei aus dem Internet oder dem Nachmittagsfernsehen zusammengetragenen Informationen, eine ganze Menge über die Sexualität der Menschen zu wissen. Shadow lauschte mit entsetzter, aber auch belustigter Faszination, wie das Mädchen, das sich für weltläufig hielt, in allen Einzelheiten die Technik des Gebrauchs von Alka-Seltzer-Tabletten zum Zwecke der Optimierung von Oralsex beschrieb.

Dann aber blendete er sie allmählich aus, blendete alles außer dem Geräusch der Straße aus, und nur hin und wieder drangen noch einige Gesprächsfetzen bis in sein Bewusstsein.

Goldie ist irgendwie so ein guter Hund und außerdem ein reinrassiger Retriever, wenn nur mein Dad sein Okay geben würde, er wedelt mit dem Schwanz, sobald er mich sieht.

Es ist Weihnachten, da muss er mich das Schneemobil benutzen lassen.

Du kannst mit der Zunge deinen Namen auf die Seite von seinem Ding schreiben.

Ich vermisse Sandy.

Yeah, ich vermisse Sandy auch.

Fünfzehn Zentimeter heute Nacht, haben sie gesagt, aber das erfinden die einfach nur, die erfinden das Wetter, und niemand kommt je auf die Idee, sich zu beschweren …

Und dann zischten die Bremsen des Busses, die Fahrerin rief »Lakeside!«, und die Türen gingen polternd auf. Shadow folgte den Mädchen hinaus auf den hell erleuchteten Parkplatz einer Videothek und eines Sonnenstudios, der, so Shadows Vermutung, auch als Greyhound-Station von Lakeside diente. Es war furchtbar kalt, wenn auch erfrischend. Die Kälte machte ihn wach. Er blickte stumm auf die Lichter der Stadt, die sich im Süden und Westen erstreckte, und auf die blasse Oberfläche eines zugefrorenen Sees im Osten.

Die Mädchen standen auf dem Parkplatz, stampften mit den Füßen und bliesen sich theatralisch in die Hände. Eine der beiden, die etwas jüngere, schielte in Shadows Richtung und lächelte verlegen, als sie merkte, dass er sie bei ihrer Tätigkeit beobachtet hatte.

»Fröhliche Weihnachten«, sagte Shadow.

»Yeah«, sagte das andere, vielleicht ein Jahr ältere Mädchen. »Danke gleichfalls.« Sie hatte rotblondes Haar und eine von hunderttausend Sommersprossen bedeckte Stupsnase.

»Nettes Städtchen, das Sie hier haben«, sagte Shadow.

»Uns gefällt’s«, sagte die Jüngere, die Tierfreundin. Sie zeigte Shadow ein schüchternes Grinsen, das ein Paar blaue Gummibandspangen über den Vorderzähnen freilegte. »Sie haben Ähnlichkeit mit jemandem«, sagte sie. »Sind Sie der Bruder von jemandem oder der Sohn oder sonst was?«

»Du bist echt behindert, Alison«, sagte ihre Freundin. »Jeder ist der Sohn von jemandem oder der Bruder oder sonst was

»Das meinte ich doch nicht«, sagte Alison. Für einen strahlend hellen Augenblick wurden sie alle drei von Scheinwerfern erfasst. Hinter den Scheinwerfern kam ein Kombi zum Vorschein, in dem eine Mutter saß, und es dauerte nicht lange, da fuhr der Wagen die Mädchen mitsamt ihren Koffern weg, und Shadow blieb ganz allein auf dem Parkplatz zurück.

»Junger Mann, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« Der alte Mann schloss gerade die Videothek ab und steckte dann die Schlüssel in die Tasche. »Der Laden ist zu Weihnachten eigentlich gar nicht geöffnet«, teilte er Shadow fröhlich mit. »Aber ich bin vorbeigekommen, um den Bus abzupassen. Wollte sichergehen, dass alles in Ordnung ist. Könnte mir nicht verzeihen, sollte irgendeine arme Seele hier am Weihnachtstag stranden.« Er war jetzt nahe genug, dass Shadow sein Gesicht erkennen konnte: alt, aber zufrieden, das Gesicht eines Mannes, der den Essig des Lebens getrunken hatte und zu der Überzeugung gelangt war, dass es sich dabei, alles in allem, um Whiskey handelt, noch dazu um einen sehr guten.

»Tja, Sie könnten mir die Nummer des örtlichen Taxiunternehmens geben«, sagte Shadow.

»Das könnte ich«, sagte der Alte, legte aber einen skeptischen Gesichtsausdruck auf. »Nur wird Tom um diese Zeit längst im Bett liegen. Und selbst wenn Sie ihn wach kriegen, werden Sie damit nicht glücklicher werden – ich hab ihn schon früh am Abend in der Kneipe gesehen, und da war er bereits ziemlich fröhlich. Ausgesprochen fröhlich. Wo wollen Sie denn hin?«

Shadow zeigte ihm das Adressschild am Haustürschlüssel.

»Nun ja«, sagte er, »das ist ein Fußweg von zehn, vielleicht zwanzig Minuten über die Brücke und am See lang. Aber bei der Kälte macht es bestimmt keinen Spaß, und wenn man sich nicht auskennt, kommt es einem nur umso länger vor – ist Ihnen das auch schon mal aufgefallen? Beim ersten Mal scheint es ewig zu dauern, aber von da an ist man immer ruckzuck da.«

»Ja«, sagte Shadow. »So hab ich das zwar noch nie betrachtet, aber ich glaube, Sie haben Recht.«

Der alte Mann nickte. Sein Gesicht verrutschte zu einem Grinsen. »Ach, was soll’s, es ist Weihnachten. Wir nehmen Tessie, und ich fahr Sie eben rüber.«

Shadow folgte dem Alten zur Straße, wo ein riesiger alter Roadster stand. Der Wagen sah aus wie etwas, auf das die Gangster der Roaring Twenties sich etwas eingebildet haben würden, mit Trittbrett und allen Schikanen. Ob seine tiefdunkle Farbe aber eher ins Rote oder ins Grüne ausschlug, war unter den Natriumdampflampen nicht zu entscheiden. »Das ist Tessie«, sagte der Alte. »Ist sie nicht ein Prachtstück?« Voller Besitzerstolz tätschelte er den Wagen dort, wo die Motorhaube einen Aufwärtsbogen beschrieb und sich über das diesseitige Vorderrad schwang.

»Was für eine Marke ist das?«, fragte Shadow.

»Ein Wendt Phoenix. Wendt ist 1931 untergegangen. Der Name wurde dann von Chrysler gekauft, aber die haben keine Wendts mehr gebaut. Harvey Wendt, der Firmengründer, kam von hier. Ging nach Kalifornien, hat sich, na, 1941, 42 umgebracht. Große Tragödie.«

Das Auto roch nach Leder und altem Zigarettenrauch – kein frischer Geruch also, eher so, als hätten im Laufe der Jahre so viele Leute so viele Zigaretten und Zigarren geraucht, dass der Geruch von brennendem Tabak zum Materialbestandteil des Wagens geworden war. Der Alte drehte den Zündschlüssel im Schloss, worauf Tessie sofort ansprang.

»Morgen«, sagte er zu Shadow, »kommt sie in die Garage. Ich ziehe eine Staubdecke drüber, und dann bleibt sie da bis zum Frühling. Um die Wahrheit zu sagen, ich dürfte sie heute eigentlich gar nicht fahren, bei dem Schnee.«

»Fährt er nicht gut auf Schnee?«

»Fährt großartig. Es ist nur wegen dem Salz, das gestreut wird. Lässt diese alten Schönheiten schneller rosten, als Sie für möglich halten würden. Möchten Sie auf schnellstem Weg an Ihr Ziel, oder darf es die große Mondschein-Stadtbesichtigungstour sein?«

»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen …«

»Keineswegs. In meinem Alter ist man für jedes Mützchen voll Schlaf dankbar. Aber ich kann heutzutage von Glück sagen, wenn ich in der Nacht mal fünf Stunden am Stück abkriege – ich wach auf und wälze Gedanken noch und noch. Aber wo sind eigentlich meine Manieren? Ich heiße Hinzelmann. Eigentlich müsste ich sagen, nennen Sie mich Richie, aber hier sagen alle, die mich kennen, einfach immer nur Hinzelmann zu mir. Ich würde Ihnen jetzt auch die Hand geben, aber ich brauche beide Hände, um Tessie zu lenken. Sie merkt es sofort, wenn ich nicht ganz bei der Sache bin.«

»Mike Ainsel«, sagte Shadow. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Hinzelmann.«

»Also, fahren wir mal um den See. Die große Tour«, sagte Hinzelmann.

Die Main Street, auf der sie sich befanden, war eine hübsche Straße, sogar nachts; sie wirkte im besten Sinne altmodisch – als hätten die Menschen sich die letzten hundert Jahre über liebevoll um diese Straße gekümmert und es nicht eilig damit gehabt, irgendetwas aufzugeben, was ihnen ans Herz gewachsen war.

Hinzelmann wies, während sie daran vorbeifuhren, auf die zwei Restaurants der Stadt hin (ein deutsches und eines, das er als »teils griechisch, teils norwegisch, und bei jedem Gericht gibt’s noch Plundergebäck dazu« beschrieb), zeigte Shadow die Bäckerei und den Buchladen. (»Wie ich immer sage: Eine Stadt ist ohne Buchladen keine richtige Stadt. Sie mag sich als Stadt ausgeben, aber solange sie keinen Buchladen hat, weiß sie, dass kein Mensch darauf reinfällt.«) Er ging mit dem Tempo herunter, als sie an der Bibliothek vorbeikamen, damit Shadow alles genauestens begutachten konnte. Über dem Eingang flackerten altertümliche Gaslampen – worauf Hinzelmann Shadow voller Stolz aufmerksam machte. »In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts von John Henning erbaut, dem hiesigen Holzmagnaten. Er wollte, dass sie Henning Memorial Library heißt, aber nach seinem Tod hat man sie einfach nur noch Lakeside Library genannt, und ich schätze, so wird sie jetzt für alle Zeiten heißen. Ist es nicht ein Traum?« Er war so stolz, als hätte er sie selbst erbaut. Shadow bemerkte, das Gebäude erinnere ihn an ein Schloss. »Genau«, stimmte Hinzelmann zu. »Türme und alles. Henning wollte, dass es von außen so aussieht. Innen sind immer noch die originalen Kieferregale. Miriam Shultze möchte das ganze Interieur rausreißen und modernisieren, aber weil die Bibliothek auf irgendeiner Liste von denkmalgeschützten Gebäuden steht, kann sie nichts machen.«

Sie umfuhren die Südseite des Sees. Die Stadt zog sich ganz um den See herum, dessen Spiegel knapp zehn Meter unterhalb der Straße lag. Shadow konnte Flächen von weißem Eis ausmachen, die die Oberfläche des Sees eintrübten, während an anderen Stellen das glänzende Wasser die Lichter der Stadt reflektierte.

»Sieht so aus, als würde er zufrieren«, sagte er.

»Der ist schon seit einem Monat zugefroren«, sagte Hinzelmann. »Die trüben Stellen sind Schneeverwehungen, und die glänzenden Stellen sind Eis. Gleich nach Thanksgiving ist er in einer einzigen kalten Nacht zugefroren, glatt wie Glas. Beschäftigen Sie sich viel mit Eisfischen, Mr. Ainsel?«

»Überhaupt nicht bisher.«

»Gibt nichts Besseres. Es geht gar nicht mal um die Fische, die man fängt, es ist die innere Ruhe, der Seelenfrieden, den man am Ende des Tages mit nach Hause bringt.«

»Ich werd’s mir merken.« Shadow spähte durch die Scheibe hinaus auf den See. »Kann man wirklich schon darauf laufen?«

»Und wie! Fahren übrigens auch, aber das würde ich jetzt noch nicht wagen. Es ist bereits seit sechs Wochen kalt«, sagte Hinzelmann, »aber man muss auch berücksichtigen, dass es hier im nördlichen Wisconsin schneller und gründlicher gefriert als anderswo. Ich hab’s mal erlebt, als ich auf der Jagd war – Rotwild jagen, das muss so vor dreißig, vierzig Jahren gewesen sein, und ich schieß also auf einen kapitalen Hirsch, verfehle ihn, und er geht stiften, durch die Wälder – das war drüben auf der Nordseite des Sees, nicht weit von der Stelle, wo Sie wohnen, Mike. Es war der prächtigste Hirsch, den ich je gesehen hab, Zwanzigender, so groß wie ein kleines Pferd, ungelogen. Na, ich war damals noch jünger und kregeler als heute, und obwohl es in jenem Jahr noch vor Allerheiligen angefangen hatte zu schneien, und zu dem Zeitpunkt war immerhin schon Thanksgiving, lag da noch blitzsauberer Schnee, frisch wie nur irgendwas, und ich konnte die Spuren des Hirschs einwandfrei erkennen. Sah aus, als würde der Riesenbursche in Panik auf den See zulaufen.

Nun, man muss schon ein verdammter Narr sein, um einem Hirsch nachlaufen zu wollen, aber was soll’s, ich war ein verdammter Narr, ich wollte ihn aufspüren, und plötzlich steht er da, im See, vielleicht zwanzig, dreißig Zentimeter tief im Wasser, und er sieht mich nur an. Genau in dem Moment verschwindet die Sonne hinter einer Wolke, und der Frost setzt ein – die Temperatur muss innerhalb von zehn Minuten um fünfzehn Grad gefallen sein, ich schwör’s. Und der alte Hirsch, der will also weglaufen, kann aber nicht. Ist im Eis festgefroren.

Ich geh jetzt einfach auf ihn zu, ganz langsam. Man kann sehen, dass er weglaufen will, aber er steckt fest und kommt einfach nicht los. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass ich ein wehrloses Vieh abknalle, eins, das nicht weglaufen kann – was wäre ich für ein Mensch, wenn ich so was täte, Hä? Also nehm ich meine Büchse, und ich schieß eine Patrone steil in die Luft ab.

Nun ja, der Lärm und das Entsetzen, die reichen hin, um den Hirsch aus der Haut fahren zu lassen, und da er also merkt, dass seine Beine festgefroren sind, ist es wortwörtlich das, was er jetzt macht. Er lässt sein Fell samt Geweih im Eis zurück und rennt, rosig wie eine neugeborene Maus, zurück in den Wald, obwohl er vor Kälte fast zusammenklappt.

Jetzt tat mir der alte Hirsch natürlich mächtig Leid, deshalb hab ich mich an den Frauenstrickkreis von Lakeside gewandt und die Damen dazu überredet, ihm etwas Warmes zu stricken, das er den Winter über tragen könnte, und sie haben ihm dann auch einen Ganzkörperwollanzug gestrickt, einen Einteiler, damit er sich nicht zu Tode frieren musste. Natürlich haben wir uns den Witz erlaubt, ihm einen Anzug in Hellorange zu stricken, sodass kein Jäger je auf ihn geschossen hat. Jäger tragen hier während der Jagdsaison nämlich orange Westen«, fügte er erläuternd hinzu. »Und wenn Sie glauben, dass irgendwas an dieser Geschichte gelogen ist, dann kann ich Ihnen das Gegenteil beweisen. Das Geweih habe ich nämlich bis heute an der Wand meines Hobbyraums hängen.«

Shadow lachte, und der Alte zeigte das befriedigte Lächeln dessen, der sein Handwerk meisterlich beherrschte. Sie hielten vor einem Backsteingebäude mit großer, über eine Außentreppe zu erreichender Holzveranda, von dem goldene Festtagslichter herabhingen und einladend funkelten.

»Das ist fünf-null-zwo«, sagte Hinzelmann. »Apartment drei müsste im oberen Stockwerk sein, auf der anderen Seite, zum See hin. Ja, da wären wir, Mike.«

»Vielen Dank, Mr. Hinzelmann. Kann ich mich irgendwie an den Benzinkosten beteiligen?«

»Einfach nur Hinzelmann. Und Sie schulden mir keinen Pfennig. Wir wünschen Ihnen fröhliche Weihnachten, Tessie und ich.«

»Sind Sie sicher, dass Sie nichts von mir annehmen wollen?«

Der alte Mann kratzte sich am Kinn. »Ich will Ihnen was sagen«, sagte er. »Irgendwann nächste Woche oder so werde ich vorbeikommen und Ihnen ein paar Lose verkaufen. Für unsere Tombola. Wohltätigkeit. Aber jetzt, junger Mann, sehen Sie erst mal zu, dass Sie ins Bett kommen.«

Shadow lächelte. »Fröhliche Weihnachten, Hinzelmannn«, sagte er.

Die Hand, mit der der Alte Shadows Rechte ergriff und schüttelte, wies gerötete Fingerknöchel auf und fühlte sich hart und schwielig wie ein Eichenzweig an. »So, und achten Sie auf den Weg, wenn Sie da raufgehen, er wird ordentlich rutschig sein. Ich kann Ihre Tür von hier aus sehen, da an der Seite, sehen Sie? Ich warte hier unten im Auto, bis Sie heil in der Wohnung sind. Sie brauchen nur den Daumen hochzuhalten, wenn Sie gut angekommen sind, dann fahr ich los.«

Er ließ den Wendt im Leerlauf, bis Shadow die hölzerne Außentreppe an der Seite des Hauses unbeschadet erklommen und die Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Die Tür schwang auf. Shadow gab das verabredete Zeichen, und der alte Mann in dem Wendt – Tessie, dachte Shadow, und die Tatsache, dass das Auto einen Namen führte, brachte ihn einmal mehr zum Lächeln –, Hinzelmann und Tessie also wendeten und machten sich über die Brücke auf den Rückweg.

Shadow schloss die Haustür. Die Wohnung war eiskalt. Sie roch nach Menschen, die weit weg in ein anderes Leben gezogen waren, und nach allem, was sie je hier gegessen und geträumt hatten. Er spürte den Thermostat auf und drehte ihn auf zwanzig Grad hoch. Er ging in die winzige Küche und zog dort die Schubladen auf. Er öffnete den avocadofarbenen Kühlschrank, aber der war leer. Keine Überraschung soweit. Immerhin roch er innen sauber und nicht etwa muffig.

An die Küche anschließend gab es ein kleines Schlafzimmer mit einer blanken Matratze und daneben ein noch winzigeres Bad, das hauptsächlich aus einer Duschkabine bestand. Ein betagter Zigarettenstummel lag in der Toilettenschüssel und hatte das Wasser braun gefärbt. Shadow spülte ihn hinunter.

In einem Schrank fand er Laken und Decken und richtete sich damit das Bett her. Dann zog er Schuhe und Jacke aus, legte die Armbanduhr ab und kroch, sonst vollständig angezogen, unter die Decken. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er sich einigermaßen aufgewärmt hätte.

Alles Licht war ausgeschaltet, und es herrschte weit gehend Stille, nur das Summen des Kühlschranks war zu hören und irgendwo im Haus ein Radio. Er lag im Dunkeln und überlegte, ob er sich wohl schon im Greyhound ausgeschlafen hatte, ob der Hunger, die Kälte, das ungewohnte Bett und der Wahnsinn der letzten Wochen ihn in dieser Nacht mit vereinten Kräften wach halten würden.

In der Stille hörte er etwas knallen, wie ein Schuss. Ein Ast, dachte er, oder das Eis. Da draußen fror es.

Wie lange würde er wohl auf Wednesday warten müssen? Einen Tag? Eine Woche? Egal, wie lange, ihm war klar, dass er sich in der Zwischenzeit mit irgendetwas beschäftigen musste. Er wollte wieder anfangen, sich fit zu halten, beschloss er, und auch seine Fingerfertigkeit trainieren, Münzen palmieren und so weiter, bis alles wie geschmiert lief (Übe alle deine Tricks, flüsterte im Kopf jemand mit einer Stimme, die nicht seine eigene war, alle bis auf einen; nicht den Trick, den der arme tote Mad Sweeney dir gezeigt hat, welcher gestorben ist an Unterkühlung und am Vergessensein und am Nichtgebrauchtwerden, nicht diesen Trick. O nein, den nicht).

Aber das hier war wirklich eine gute Stadt. Er spürte es.

Er dachte an seinen Traum, falls es ein Traum gewesen war, den er in jener ersten Nacht in Cairo geträumt hatte. Er dachte an Sarja … Verdammt, wie hieß sie noch? Die Mitternachtsschwester jedenfalls.

Und dann dachte er an Laura …

Es war, als würde der Gedanke an sie in seinem Kopf ein Fenster öffnen. Er konnte sie sehen. Irgendwie konnte er sie sehen.

Sie war in Eagle Point, im Garten hinter dem großen Haus ihrer Mutter.

Sie stand in der Kälte, die sie nicht mehr fühlte oder aber die ganze Zeit fühlte, sie stand hinter dem Haus, das ihre Mutter 1989 mithilfe der Lebensversicherung erstanden hatte, nachdem Lauras Vater, Harvey McCabe, an einem Herzinfarkt gestorben war – er hatte sich auf dem Klo überanstrengt –, und sie starrte hinein, die kalten Hände gegen das Fenster gepresst, ohne dass ihr Atem die Scheibe beschlagen ließ, nein, kein bisschen, sie beobachtete ihre Mutter, ihre Schwester und deren Kinder und Ehemann aus Texas, die auf Weihnachtsbesuch waren. Draußen im Dunkeln, da war Laura, es war ihr nicht möglich, nicht zu gucken.

Tränen kribbelten Shadow in den Augen, und er wälzte sich in seinem Bett herum.

Er kam sich wie ein Voyeur vor, drängte die Gedanken in eine andere Richtung, wollte sie zwingen, zu ihm zurückzukommen: Er sah, wie der See sich unter ihm erstreckte, während der Wind von der Arktis herüberblies, unerbittlichen Frostfingern gleich, die hundertmal kälter waren als die Finger einer jeden Leiche.

Shadows Atem ging jetzt flacher. Er hörte, wie sich ein Wind erhob, ein bitteres Schreien rund ums Haus, und für einen Moment glaubte er, im Wind Worte zu vernehmen.

Wenn er sich schon irgendwo länger aufhalten musste, dann konnte es gut und gern auch hier sein, dachte er, und dann schlief er ein.

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