10

I’ll tell you all my secrets

But I lie about my past

So send me off to bed for evermore

– Tom Waits, ›Tango Till They’re Sore‹


Ein ganzes Leben in Dunkelheit, umgeben von Dreck, das war’s, was Shadow in seiner ersten Nacht in Lakeside träumte. Ein Kinderleben, vor langer Zeit und weit weg, in einem Land jenseits des Ozeans, dort, wo die Sonne aufging. Aber dieses Leben enthielt keine Sonnenaufgänge, nur Trübheit am Tage und Blindheit in der Nacht.

Niemand redete mit ihm. Er hörte menschliche Stimmen von draußen, aber er verstand die menschliche Sprache nicht besser als das Heulen der Eulen oder das Jaulen der Hunde.

Er erinnerte sich an eine Nacht, eine halbe Ewigkeit war’s her, als eine von den großen Menschen leise hereingekommen war und ihm nicht eine hinter die Ohren gegeben oder ihn gefüttert, sondern ihn hochgehoben und an die Brust gedrückt hatte. Sie roch gut. Heiße Wassertropfen waren aus ihrem Gesicht auf seines gefallen. Er hatte Angst gehabt und in seiner Furcht laut gejammert.

Sie legte ihn hastig wieder aufs Stroh und eilte, die Tür hinter sich verschließend, aus der Hütte.

Er erinnerte sich an diesen Augenblick und hielt ihn in Ehren, wie er auch die Erinnerung an die Süße eines Kohlstrunks bewahrte, den sauren Geschmack von Pflaumen, das Knacken eines Apfels, die fetttriefende Köstlichkeit von gebratenem Fisch.

Und jetzt sah er die Gesichter im Feuerschein, alle schauten zu ihm hin, während er aus der Hütte geführt wurde, es war das erste Mal und auch das einzige Mal. So also sahen die Menschen aus. In Dunkelheit aufgewachsen, hatte er niemals zuvor Gesichter gesehen. Alles war so neu. So seltsam. Das Licht der Freudenfeuer tat ihm in den Augen weh. Man zog an dem Seil, das man ihm um den Hals gebunden hatte, um ihn zu dem Platz zu führen, wo der Mann auf ihn wartete.

Und als die erste Klinge im Schein des Feuers blitzte, welch Jubel erhob sich da aus der Menge. Und das Kind aus der Dunkelheit begann mit ihnen zu lachen, freudig und frei.

Und dann fuhr die Klinge herab.

Shadow schlug die Augen auf und stellte fest, dass er sich hungrig und frierend in einer Wohnung befand, deren Fenster von innen mit einer Eisschicht bedeckt waren. Sein gefrorener Atem, dachte er. Er stieg aus dem Bett, erleichtert darüber, dass er sich nicht erst noch ankleiden musste. Mit einem Fingernagel kratzte er im Vorbeigehen am Fenster und fühlte dabei, wie sich das Eis unter dem Nagel sammelte, um dann zu Wasser zu zerschmelzen.

Er versuchte den Traum zu rekonstruieren, doch außer an Leid und Dunkelheit konnte er sich an nichts erinnern.

Er zog die Schuhe an. Am besten würde er wohl zu Fuß ins Stadtzentrum gehen, nämlich über die Brücke und dann am nördlichen Ende des Sees entlang, falls er die Geografie der Stadt richtig im Kopf hatte. Er streifte sich die dünne Jacke über, wobei er sich an den jüngst gefassten Vorsatz, einen warmen Wintermantel zu erwerben, erinnerte, öffnete die Wohnungstür und trat hinaus auf die Holzveranda. Die Kälte raubte ihm den Atem: Er holte Luft, und sofort war jedes einzelne Haar in den Nasenlöchern steif gefroren. Die Veranda im ersten Stock verschaffte ihm einen schönen Ausblick auf den See: unregelmäßige graue Flecken, umgeben von weißer Fläche.

Der Kälteeinbruch war da, so viel war sicher. Die Temperatur musste im zweistelligen Minusbereich liegen, weshalb es kein angenehmer Spaziergang werden würde, aber er war davon überzeugt, dass er es ohne große Probleme in die Stadt schaffen würde. Was hatte Hinzelmann gestern Nacht gesagt – ein Weg von zehn Minuten? Und Shadow war ja groß und kräftig. Er würde forsch ausschreiten und auf diese Weise warm bleiben.

Er marschierte los und wandte sich südlich in Richtung Brücke.

Bald schon, als die bitterkalte Luft tief in der Lunge ankam, begann er zu husten, ein trockener, dünner Husten. Nicht lange, und ihm taten die Ohren, das Gesicht und die Lippen weh und schließlich auch die Füße. Er stieß die unbehandschuhten Hände tief in die Jackentaschen und ballte die Finger auf der Suche nach etwas Wärme zusammen. Unwillkürlich erinnerte er sich an Low Key Lyesmiths unglaubwürdige Erzählungen über die Winter in Minnesota – insbesondere die eine über den Jäger, der bei strengem Frostwetter auf der Flucht vor einem Bären auf einen Baum geklettert war, nach einer Weile den Schwanz herausholte und seinen Urin in hohem Bogen nach unten schickte, welcher bereits gefroren war, bevor er den Boden erreichte, sodass der Jäger auf dem steinharten Pinkelpfahl vom Baum hinunter in die Freiheit gleiten konnte. Ein säuerliches Lächeln ob der Erinnerung und nochmaliges trockenes, schmerzhaftes Husten.

Ein Schritt nach dem anderen. Er blickte zurück. Das Apartmenthaus lag noch nicht so weit weg, wie er erwartet hatte.

Die ganze Wanderung, befand er, war ein Fehler. Aber er hatte sich bereits drei, vier Minuten weit von der Wohnung entfernt, und die Brücke über den See war in Sicht. Wo er schon mal so weit war, konnte er auch weitermachen, statt wieder umzukehren (Und dann was? Ein Taxi bestellen mit dem Telefon, das nicht ging? Auf den Frühling warten? Er hatte keinerlei Nahrungsmittel in der Wohnung, gab er sich zu bedenken).

Er ging weiter und korrigierte seine Schätzung der Temperatur mit jedem Schritt nach unten. Minus zwanzig? Minus dreißig? Minus vierzig vielleicht, jener seltsame Punkt auf dem Thermometer, wo Celsius und Fahrenheit dasselbe angeben. Na, so kalt wohl doch nicht. Andererseits gab es da ja noch den so genannten Windchili, und der Wind ließ sich auch nicht lumpen. Er blies, von der Arktis über Kanada herkommend, kräftig und stetig über den See.

Mit Wehmut dachte er an die chemischen Hand- und Fußwärmer zurück. Die hätte er jetzt gut gebrauchen können.

Nach seiner Schätzung zehn Minuten später, schien die Brücke noch immer nicht näher gerückt zu sein. Ihm war so kalt, dass er nicht mal mehr zittern konnte. Die Augen taten ihm weh. Das war schon keine Kälte mehr, das war Science-Fiction. Das hier war eine Geschichte, die auf der Rückseite des Merkurs spielte, damals, als man noch dachte, dass der Merkur eine Rückseite hätte. Diese Geschichte spielte draußen auf dem felsigen Pluto, wo die Sonne nur einer unter vielen Sternen war, einer, der in der Dunkelheit nur ein bisschen heller strahlte. Das hier, dachte Shadow, könnte gut und gern einer jener Orte sein, wo die Luft in Eimern lagerte und wie Bier strömte.

Die Autos, die gelegentlich an ihm vorbeifuhren, erschienen ihm unwirklich: Raumschiffe, kleine, gefriergetrocknete Päckchen aus Metall und Glas, von Lebewesen bewohnt, die wärmer angezogen waren als er. Ein altes Lied, das seine Mutter gemocht hatte, ging ihm durch den Kopf: »Walking in a Winter Wonderland«, und er summte es mit zusammengepressten Lippen vor sich hin, während er versuchte, beim Gehen nicht langsamer zu werden.

Er hatte jegliches Gefühl in den Füßen verloren. Er blickte auf seine schwarzen Lederschuhe, die dünnen Baumwollsocken hinunter und fing an, sich jetzt ernsthaft Sorgen über Erfrierungen zu machen.

Das war kein Witz mehr. Das ging jetzt auch übers rein Närrische hinaus, das hatte die Grenze zum 24-karätigen Super-Hyper-Tiptop-Wahnsinn überschritten. Er hätte genauso gut Spitze oder Netzkleidung tragen können: Der Wind blies einfach durch ihn hindurch, ließ die Knochen und das Mark darin gefrieren, die Augenlider und die warmen Nischen unter den Eiern, welch letztere sich wohlweislich in die Beckenhöhle zurückgezogen hatten.

Immer weitergehen, sagte er sich. Immer weitergehen. Ich kann auch auf dem Rückweg noch irgendwo auf einen Eimer Luft einkehren. Ein Beatles-Song begann in seinem Kopf zu spielen, und er passte seinen Schritt dem Rhythmus an. Erst als er zum Refrain kam, wurde ihm klar, dass es »Help« war, was er da summte.

Jetzt war er fast an der Brücke. Dann musste er sie überqueren, und danach hätte er immer noch zehn Minuten bis zu den Geschäften auf der Westseite zu gehen – wenn nicht länger …

Ein dunkles Auto fuhr an ihm vorbei, hielt, setzte dann in einer Nebelwolke von Auspuffgasen zurück und kam neben ihm zum Stehen. Ein Fenster glitt hinunter, und der Nebel und Dunst der Wagenluft vermischte sich mit dem Auspuffgas, um eine Art Drachenatem zu bilden, der sich rings um das Auto legte. »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, sagte der Polizist aus dem Wageninneren.

Shadows erster, automatischer Impuls war zu sagen: Jawoll, alles bestens, danke schön, Officer. Aber dafür war es zu spät, und so setzte er an zu sagen: »Ich bin ziemlich durchgefroren. Ich wollte nach Lakeside gehen, um mir was zu essen und anzuziehen zu kaufen, aber ich habe die Länge des Weges unterschätzt« – so weit hatte er jedenfalls seine Mitteilung in Gedanken formuliert, bis er merkte, dass aus seinem Mund nichts weiter kam als »f-f-froren« und ein zähneklapperndes Geräusch, also fügte er hinzu: »Sch-schuldigung. Kalt. Tu-mir-Leid.«

Der Polizist zog die Hintertür des Wagens auf und sagte: »Setzen Sie sich erst mal hier rein und wärmen Sie sich etwas auf, okay?« Shadow stieg dankbar ein. Auf dem Rücksitz rieb er die Hände aneinander und versuchte den Gedanken an erfrorene Zehen zu verdrängen. Der Polizist setzte sich wieder hinters Steuer. Shadow starrte durch das Metallgitter zu ihm nach vorn. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie er das letzte Mal auf der Rückbank eines Polizeiautos gesessen hatte, und auch keinen Gedanken daran zu verschwenden, dass die Türen keine Griffe hatten. Stattdessen wollte er sich darauf konzentrieren, wieder etwas Leben in die Hände zu reiben. Das Gesicht tat ihm weh, und die roten Finger ebenfalls, und jetzt, im Warmen, begannen auch die Zehen wieder zu schmerzen. Aber das war vermutlich ein gutes Zeichen.

Der Polizist legte den Gang ein und fuhr los. »Also wirklich«, sagte er, ohne sich zu Shadow umzudrehen, aber mit gehobener Stimme, »das war, wenn Sie gestatten, eine ziemliche Dummheit von Ihnen. Haben Sie denn keine Wetternachrichten gehört? Es herrschen minus fünfunddreißig Grad da draußen. Gott weiß, wo der Windchill liegt, minus fünfzig, minus sechzig, obwohl der Windchill wahrscheinlich noch die geringste Sorge ist, wenn man bei minus fünfunddreißig angekommen ist.«

»Danke«, sagte Shadow. »Danke, dass Sie angehalten haben. Bin sehr, sehr dankbar.«

»Eine Frau in Rhinelander ist heute Morgen in Morgenmantel und Pantoffeln nach draußen gegangen, um ihr Vogelhäuschen aufzufüllen, und daraufhin buchstäblich auf dem Bürgersteig festgefroren. Man hat sie in die Intensivstation einliefern müssen. Kam heute Morgen im Fernsehen. Sie sind neu in der Stadt.« Es war fast eine Frage, aber der Mann kannte die Antwort bereits.

»Bin letzte Nacht mit dem Greyhound angekommen. Dachte, ich könnte mir heute warme Kleidung, was zu essen und ein Auto besorgen. Hab nicht damit gerechnet, dass es so kalt wird.«

»Ja«, sagte der Polizist. »Hat mich auch überrascht. Offenbar habe ich mir in der Vergangenheit zu viele Gedanken über den Treibhauseffekt gemacht. Ich bin übrigens Chad Mulligan. Bin der Polizeichef hier in Lakeside.«

»Mike Ainsel.«

»Hi, Mike. Geht’s schon besser?«

»Ein bisschen, ja.«

»Wo soll ich Sie denn jetzt als Erstes hinbringen?«

Shadow hielt eine Hand so lange in den warmen Luftzug aus dem Gebläse, bis die Finger wehtaten, dann zog er sie wieder weg. Nicht ungeduldig sein, alles zu seiner Zeit. »Können Sie mich einfach irgendwo im Stadtzentrum absetzen?«

»Kommt nicht in Frage. Solange Sie mich nicht als Fluchtfahrer für Ihren Banküberfall brauchen, soll es mir ein Vergnügen sein, Sie dorthin zu bringen, wo Sie hinwollen. Betrachten Sie das hier als Begrüßungskutsche der Stadt.«

»Was würden Sie denn vorschlagen, wo wir anfangen sollten?«

»Sie sind also erst letzte Nacht angekommen.«

»Richtig.«

»Schon gefrühstückt?«

»Noch nicht.«

»Na, das wäre doch erst mal ein guter Ausgangspunkt«, sagte Mulligan.

Sie hatten die Brücke inzwischen überquert und fuhren von Nordwesten in die Stadt hinein. »Hier ist die Main Street«, sagte Mulligan, »und hier«, sagte er, indem er die Straße kreuzte und rechts abbog, »ist unser Rathausplatz.«

Selbst im Winter wirkte der Platz eindrucksvoll, aber Shadow war klar, dass man ihn eigentlich im Sommer sehen musste; dann würde hier eine Farbenorgie ausbrechen: Mohn und Lilien aller nur erdenklichen Art, und die Birkengruppe in der einen Ecke würde eine Sommerlaube in Grün und Silber darstellen. Im Moment war alles ohne Farben, nur das Skelett der Schönheit, der Musikpavillon leer, der Springbrunnen abgestellt, das braune Sandsteinrathaus von einer weißen Schneemütze bedeckt.

»… und das hier«, schloss Chad Mulligan den ersten Teil der Führung ab, indem er den Wagen vor einem hohen, mit einer Glasfassade ausgestatteten alten Gebäude auf der Westseite des Platzes zum Stehen brachte, »ist Mabel’s.«

Er stieg aus und öffnete Shadow die Tür. Mit vor dem Wind und der Kälte eingezogenem Kopf eilten die beiden Männer über den Bürgersteig hinein in die warme Stube, wo ihnen der Duft von frisch gebackenem Brot, Pastete, Suppe und Schinkenspeck entgegenschlug.

Das Lokal war annähernd leer. Mulligan setzte sich an einen der Tische, wo Shadow ihm gegenüber Platz nahm. Er vermutete, dass Mulligan das alles tat, um einen besseren Eindruck von dem Fremden in der Stadt zu bekommen. Womöglich war er aber auch einfach das, was er zu sein schien: ein freundlicher, hilfsbereiter, guter Mensch.

Eine Frau näherte sich geschäftig ihrem Tisch. Sie war nicht gerade fett, aber zumindest voluminös, eine stattliche Frau in den Sechzigern, deren Haarfarbe getrost als Flaschenbronzen bezeichnet werden konnte.

»Hallo, Chad«, sagte sie. »Du möchtest bestimmt eine heiße Schokolade, während du überlegst, was du wählen sollst.« Sie überreichte ihnen zwei mit Plastik beschichtete Speisekarten.

»Aber ohne Sahne, bitte«, antwortete er. »Mabel kennt mich ziemlich gut«, sagte er zu Shadow. »Und was darf’s für Sie sein, mein Freund?«

»Heiße Schokolade hört sich gut an«, sagte Shadow. »Aber bei mir darf’s ruhig mit Sahne sein.«

»Das gefällt mir«, sagte Mabel. »Lebe gefährlich, das ist auch mein Motto. Und? Willst du mich nicht vorstellen, Chad? Ist dieser junge Mann dein neuer Officer?«

»Noch nicht«, sagte Chad Mulligan und ließ die Zähne blitzen. »Das ist Mike Ainsel. Er ist letzte Nacht hier in Lakeside angekommen. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigt.« Er erhob sich und ging zur Rückseite des Gastraums, wo er durch eine Tür mit der Aufschrift STROLCH verschwand. Auf der Tür daneben stand SUSI.

»Sie sind der neue Mann in der Wohnung oben an der Northridge Road. Die alte Pilsen-Wohnung. Ah ja«, sagte sie froh. »Ich weiß genau, wer Sie sind. Hinzelmann ist heute Morgen hier gewesen, um seine Frühstückspastete zu essen, der hat mir alles erzählt. Wollt ihr beiden nur euren Kakao trinken oder auch auf die Frühstückskarte gucken?«

»Ich möchte frühstücken«, sagte Shadow. »Was würden Sie denn empfehlen?«

»Ich kann natürlich alles empfehlen«, sagte Mabel. »Ich koche es ja immerhin. Aber andererseits befinden wir uns hier am südlichsten und auch westlichsten Punkt, von Yoopie aus gesehen, wo man noch Pasteten bekommt, und die sind besonders gut. Machen warm und satt. Meine Spezialität.«

Shadow hatte keine Ahnung, was er sich unter einer Pastete vorzustellen hatte, erklärte sich aber dennoch mit dem Vorschlag einverstanden und sah Mabel wenig später mit einem Teller zurückkehren, auf dem sich so etwas wie ein gefalteter Kuchen befand. Die untere Hälfte war in eine Serviette gewickelt. Shadow nahm das Ganze an der Serviette in die Hand und biss hinein: Es war warm, mit einer Füllung aus Fleisch, Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln. »Die erste Pastete meines Lebens«, sagte er. »Schmeckt wirklich gut.«

»Ein typisches Yoopie-Gericht«, klärte sie ihn auf. »Normalerweise muss man mindestens bis rauf nach Ironwood fahren, um eine zu bekommen. Die Leute aus Cornwall, die einst rübergekommen sind, um in den Eisenminen zu arbeiten, haben sie mitgebracht.«

»Yoopie?«

»Upper Peninsula. U. P.-Yoopie. Das ist das kleine Stück Michigan im Nordosten.«

Der Polizeichef kehrte zurück. Er hob seinen Becher und schlürfte die heiße Schokolade. »Mabel«, sagte er, »nötigst du diesem netten jungen Mann etwa deine Pastete auf?«

»Sie schmeckt gut«, sagte Shadow, was auch der Wahrheit entsprach. Es war eine pikante, in heißen Teig eingewickelte Köstlichkeit.

»Die setzen sofort an«, sagte Chad Mulligan und strich sich über den Bauch. »Seien Sie gewarnt. Okay. Sie brauchen also ein Auto?« Ohne seinen Parka erwies Mulligan sich als ein schlaksiger Mann mit rundem Apfelbauch. Er wirkte überarbeitet, aber sachkundig, eher wie ein Mechaniker als ein Cop.

Shadow nickte mit vollem Mund.

»Gut. Ich habe ein bisschen rumtelefoniert. Justin Liebowitz will seinen Jeep verkaufen und verlangt dafür viertausend Dollar, wird sich aber auch mit dreitausend zufrieden geben. Die Gunthers bieten ihren Toyota-Geländewagen seit acht Monaten zum Verkauf an, ein hässliches Ding, aber inzwischen würden sie Ihnen wahrscheinlich was zuzahlen, wenn sie ihn nur endlich von ihrer Auffahrt wegkriegen. Wenn Sie also nichts gegen Hässlichkeit haben, wäre das eine verdammt günstige Gelegenheit. Ich hab über das Telefon im Herrenklo gleich bei Lakeside-Immobilien eine Nachricht für Missy Gunther hinterlassen, aber sie war noch nicht da, lässt sich wahrscheinlich gerade bei Sheila’s die Haare machen.«

Die Pastete war und blieb gut, während Shadow sich hindurcharbeitete. Eine erstaunlich sättigende Angelegenheit. »Hüftgold«, hätte seine Mutter gesagt. »Essen, das an den Rippen klebt.«

»Also«, sagte Polizeichef Chad Mulligan, indem er sich den Kakaoschaum von den Lippen wischte. »Ich würde sagen, wir gehen als Nächstes zu Hennings und besorgen Ihnen da vernünftige Winterklamotten, machen dann einen Abstecher zu Dave’s, damit Sie Ihre Speisekammer auffüllen können, und setzen Sie dann bei Lakeside-Immobilien ab. Wenn Sie für das Auto gleich einen Tausender auf den Tisch blättern können, machen Sie sie sofort glücklich, andernfalls dürften die Gunthers mit vier monatlichen Ratenzahlungen à fünfhundert zufrieden sein. Es ist zwar, wie ich gesagt habe, ein hässliches Auto, aber wenn der Junge es nicht lila angemalt hätte, wär’s eine Zehntausend-Dollar-Kutsche, noch dazu verlässlich, und so etwas brauchen Sie schon, um hier durch den Winter zu kommen, wenn Sie mich fragen.«

»Das ist alles äußerst nett von Ihnen«, sagte Shadow. »Aber müssten Sie nicht eigentlich irgendwo da draußen sein und Kriminelle einfangen, anstatt Neuankömmlingen unter die Arme zu greifen? Nicht, dass ich mich beschweren wollte, wohlgemerkt.«

Mabel kicherte. »Das sagen wir ihm auch andauernd«, sagte sie.

Mulligan zuckte die Achseln. »Das hier ist eine gute Stadt«, sagte er schlicht. »Kaum jemand macht Schwierigkeiten. Nur ab und zu jemand, der im Ort zu schnell fährt – was ich andererseits nur begrüßen kann, finanziert sich mein Gehalt doch auch durch Verkehrsvergehen. An Freitag- und Samstagabenden prügelt gern mal irgendein Besoffener auf seinen Lebenspartner ein – und das gilt gleichermaßen für Männlein wie Weiblein, glauben Sie mir. In beide Richtungen. Aber grundsätzlich ist es hier ruhig. Ich werde gerufen, wenn jemand seinen Schlüssel im Auto gelassen hat. Wenn ein Hund zu viel und zu laut bellt. Jedes Jahr werden ein paar Highschoolkids hinterm Sportplatz mit Gras erwischt. Den größten Polizeieinsatz in den letzten fünf Jahren hatten wir, als Dan Schwartz im Suff seinen Wohnanhänger zerlegt hat und dann auf seinem Rollstuhl die Main Street runter losgezogen ist. Er hat mit seinem blöden Gewehr rumgefuchtelt und gebrüllt, er würde jeden abknallen, der sich ihm in den Weg stellt, keiner würde ihn daran hindern, auf die Interstate zu gelangen. Ich glaube, er wollte nach Washington, um den Präsidenten zu erschießen. Ich muss immer noch lachen, wenn ich daran denke, wie Dan in seinem Rollstuhl die Interstate hinuntergefegt ist, und hinten drauf hatte er einen Aufkleber, da stand: ›Mein jugendlicher Straftäter vögelt deine habilitierte Tochter.‹ Weißt du noch, Mabel?«

Sie nickte mit geschürzten Lippen. Anscheinend fand sie die Angelegenheit nicht so lustig wie Mulligan.

»Was haben Sie unternommen?«, fragte Shadow.

»Mit ihm geredet. Er hat mir dann das Gewehr übergegeben und in der Zelle seinen Rausch ausgeschlafen. Dan ist kein schlechter Kerl, er war halt nur betrunken und erregt.«

Shadow bezahlte sein Frühstück und, ungeachtet Mulligans halbherzigen Protests, auch beide heißen Schokoladen.

Hennings Farm and Home Supplies befand sich im Süden der Stadt in einem Gebäude mit Lagerhausausmaßen, in dem von Traktoren bis zu Spielwaren (welche, ebenso wie der Weihnachtsschmuck, bereits herabgesetzt waren) alles zu kaufen war. Der Laden war mit Nachweihnachtskunden bevölkert. Shadow erkannte in der Menge das jüngere der beiden Mädchen, die im Bus vor ihm gesessen hatten. Sie schlich hinter ihren Eltern her. Er winkte ihr zu, und sie schenkte ihm ein zögerliches blaues Zahnspangenlächeln. Shadow fragte sich müßig, wie sie wohl in zehn Jahren aussehen würde.

Wahrscheinlich so schön wie das junge Mädchen am Kassenschalter, das Shadows Einkäufe mit einer schnatternden Handpistole abscannte, die zweifellos auch in der Lage war, einen Traktor zu bongen, falls jemand einen durch die Kasse fuhr.

»Zehn Paar lange Unterhosen?«, meinte das junge Mädchen. »Vorräte anlegen, hm?« Sie sah aus wie ein Filmstarlet.

Shadow fühlte sich wieder wie vierzehn, verdattert und albern. Er brachte kein Wort heraus, während sie die Thermostiefel, die Handschuhe, die Pullover und den mit Gänsedaunen gefütterten Mantel eingab.

Er verspürte keine Neigung, die Kreditkarte zu erproben, die Wednesday ihm gegeben hatte, jedenfalls nicht, solange Polizeichef Mulligan hilfsbereit neben ihm stand, also bezahlte er alles in bar. Anschließend verschwand er mitsamt den Einkaufstüten in der Herrentoilette, wo er wenig später, den Großteil seiner Einkäufe am Leibe tragend, wieder herauskam.

»Sieht gut aus. Langer«, sagte Mulligan.

»Wenigstens ist mir jetzt warm«, sagte Shadow. Draußen auf dem Parkplatz, wo sich ihm der Wind gleich wieder kalt ins Gesicht brannte, zeigte es sich, dass sein restlicher Körper tatsächlich recht wohlig eingepackt war. Auf Mulligans Einladung hin verstaute er die Einkaufstüten auf der Rückbank des Polizeiautos und fuhr vorn auf dem Beifahrersitz mit.

»Was treiben Sie denn so, Mister Ainsel?«, fragte ihn der Polizeichef. »So ein kräftiger Kerl wie Sie. Was sind Sie von Beruf, und werden Sie diesen Beruf auch in Lakeside ausüben?«

Shadow klopfte das Herz, aber seine Stimme kam ruhig. »Ich arbeite für meinen Onkel. Er kauft und verkauft alles mögliche Zeug im ganzen Land. Ich bin nur fürs Schleppen der schweren Sachen zuständig.«

»Bezahlt er gut?«

»Ich gehöre zur Familie. Er weiß, dass ich ihn nicht übers Ohr haue, und ich lerne dabei ein wenig was übers Geschäft. Bis ich herausgefunden habe, was ich wirklich machen möchte.« Die Worte strömten mit Überzeugung aus ihm heraus, glatt wie eine Schlange. Er wusste in diesem Moment alles über Mike Ainsel, und dieser Mike Ainsel gefiel ihm. Mike Ainsel besaß keines der Probleme, die Shadow plagten. Ainsel war nie verheiratet gewesen. Mike Ainsel war nie in einem Güterzug von Mr. Wood und Mr. Stone auseinander genommen worden. Mit Mike Ainsel redeten Fernsehapparate nicht (»Möchtest du Lucys Titten sehen?«, fragte ihn eine Stimme im Kopf). Mike Ainsel hatte keine bösen Träume und glaubte auch nicht, dass ein Sturm heraufziehen würde.

Bei Dave’s Finest Food packte er nur das Nötigste in den Einkaufskorb – Milch, Eier, Brot, Äpfel, Käse, Kekse. Irgendwas zu essen halt. Den richtigen Einkauf wollte er später erledigen. Während Shadow durch die Regalreihen schlenderte, begrüßte Chad Mulligan alle möglichen Leute und stellte sie Shadow vor. »Das ist Mike Ainsel, er hat die leere Wohnung im alten Pilsen-Haus genommen. Hinten im ersten Stock.« Shadow gab es bald auf, sich irgendwelche Namen merken zu wollen. Er schüttelte den Leuten einfach die Hand und lächelte. Er fühlte sich mit all seiner Isolierkleidung in dem überheizten Laden etwas unbehaglich und fing an zu schwitzen.

Danach fuhr Chad Mulligan Shadow über die Straße zu Lakeside-Immobilien. Missy Gunther, die Haare frisch gelegt und mit Haarspray gefestigt, benötigte keine Vorstellung – sie wusste genau, wer Mike Ainsel war. Ja, dieser nette Mr. Borson, sein Onkel Emerson, so ein netter Mann, der war hier vor, na, sechs, acht Wochen vorbeigekommen und hatte die Wohnung in dem alten Pilsen-Haus gemietet, und war die Aussicht da oben nicht zum Sterben schön? Na, mein Lieber, warten Sie mal bis zum Frühling, und wir haben ja so ein Glück, viele der Seen in diesem Teil der Welt werden im Sommer hellgrün von den Algen, da dreht sich einem der Magen um, aber unser See, tja, noch am Unabhängigkeitstag im Juli kann man praktisch daraus trinken, und Mr. Borson habe die Miete ja für ein ganzes Jahr im Voraus bezahlt, und was den Toyota-Geländewagen betreffe, fand sie es ja ganz unglaublich, dass Chad Mulligan sich daran noch erinnern konnte, und ja, sie wäre entzückt, ihn loszuwerden. Um die Wahrheit zu sagen, sie habe sich schon mehr oder weniger mit dem Gedanken abgefunden gehabt, ihn Hinzelmann als die diesjährige Rostlaube zur Verfügung zu stellen und sich mit der Steuerabschreibung zu begnügen, nicht, dass der Wagen eine Rostlaube wäre, Gott bewahre, nein, es sei der Wagen ihres Sohns gewesen, bevor er nach Green Bay aufs College ging, und, na ja, eines Tages hatte er ihn eben lila angemalt, und, haha, sie konnte nur hoffen, dass Mike Ainsel Lila mochte, mehr wollte sie dazu nicht sagen, und sie könne es ihm nicht verdenken, wenn er unter diesen Umständen nicht …

Polizeichef Mulligan hatte sich etwa in der Mitte dieser Litanei entschuldigt. »Sieht so aus, als würde man mich im Büro brauchen. War schön, Sie kennen zu lernen, Mike«, hatte er gesagt und dann Shadows Einkaufstüten zu Missy Gunthers Kombi getragen, wo er sie in den Kofferraum packte.

Missy fuhr mit Shadow zu ihrem Haus, auf dessen Auffahrt er einen älteren so genannten Off-Roader erblickte. Der windverwehte Schnee hatte die eine Hälfte in ein blendendes Weiß gebleicht, während die andere Hälfte in einem getröpfelten Lila lackiert war, das schön zu finden man nur dann in Erwägung ziehen konnte, wenn man sehr oft sehr stoned war.

Immerhin sprang der Wagen schon beim ersten Versuch an. Sogar die Heizung funktionierte, wenn es auch fast zehn Minuten dauerte, bis der Innenraum bei laufendem Motor und voll aufgedrehtem Gebläse nicht mehr unerträglich kalt, sondern nur noch kühl war. Unterdessen führte Missy Gunther Shadow in ihre Küche – entschuldigen Sie die Unordnung, aber die Kleinen lassen ihre Weihnachtsgeschenke immer überall rumliegen, aber sie habe einfach nicht das Herz, ob sie ihm wohl einen Rest Truthahn anbieten dürfe? Na gut, dann eben Kaffee, dauert keine Sekunde, eine frische Kanne aufzugießen – und Shadow nahm ein großes rotes Spielzeugauto von einem Fenstersitz und setzte sich, während Missy Gunther sich erkundigte, ob er seine Nachbarn schon kennen gelernt habe, worauf er gestehen musste, dass es dazu noch nicht gekommen sei.

Es gebe dort, so wurde er, während der Kaffee tröpfelte, unterrichtet, vier weitere Bewohner des Apartmenthauses – damals, als es noch das Pilsen-Haus war, lebten die Pilsens im Untergeschoss und vermieteten die zwei Wohnungen im ersten Stock, und ihre Wohnung also, die werde jetzt von zwei jungen Männern bewohnt, Mr. Holz und Mr. Neiman, die eigentlich ein Paar seien, und wenn sie Paar sage, Mr. Ainsel, Himmel, wir haben alle möglichen Leute hier, im Wald stehen eben verschiedene Baumsorten, obwohl diese Art Leute meistens doch eher in Madison oder den »Twin Cities«, Minneapolis und Saint Paul, lande, aber, ehrlich gesagt, darüber mache sich hier niemand weiter Gedanken. Sie sind den Winter über in Key West, kommen im April zurück, dann werde er sie schon kennen lernen. Was Lakeside betrifft, so ist es eine gute Stadt. So, und nebenan von Mr. Ainsel, da wohnen Marguerite Olsen und ihr kleiner Sohn, eine liebe Frau, eine wirklich liebe, liebe Frau, aber sie habe ein hartes Leben, trotzdem ganz, ganz lieb, und sie arbeite für die Lakeside News. Nicht gerade die aufregendste Zeitung der Welt, aber, um die Wahrheit zu sagen, sie, Missy Gunther, glaube, das sei genau das, was die meisten Leute in dieser Gegend von einer Zeitung erwarteten.

Ach, sagte sie und schenkte ihm Kaffee ein, sie wünsche nur, Mr. Ainsel könne die Stadt im Sommer sehen oder spät im Frühling, wenn der Flieder und die Äpfel- und die Kirschbäume blühten, ihrer Ansicht nach gebe es nichts Schöneres, und zwar nirgendwo auf der ganzen Welt.

Shadow leistete eine Anzahlung von fünfhundert Dollar, stieg dann ins Auto, legte den Rückwärtsgang ein und setzte aus ihrem Vorgarten heraus auf die eigentliche Auffahrt. Missy Gunther klopfte gegen die Windschutzscheibe. »Das hier ist für Sie«, sagte sie. »Hätte ich beinahe vergessen.« Sie gab ihm einen gelbbraunen Umschlag. »Ist nur so ein Gag. Wir haben sie vor einigen Jahren drucken lassen. Sie brauchen sich das jetzt aber nicht gleich anzusehen.«

Er bedankte sich und fuhr vorsichtig in die Stadt zurück. Er nahm die Straße, die um den See herumführte. Er fand es wirklich wünschenswert, ihn im Frühling sehen zu können, oder im Sommer, oder auch im Herbst: Er würde wunderschön sein, da hatte er keinen Zweifel.

In zehn Minuten war er zu Hause.

Er parkte das Auto unten an der Straße und stieg die Außentreppe zu seiner kalten Wohnung hinauf. Er packte die Einkäufe aus, stellte die Esswaren in die Regale und den Kühlschrank und öffnete anschließend den Umschlag, den Missy Gunther ihm gereicht hatte.

Er enthielt einen Pass. Eine blaue, biegsame Hülle und darin eine Erklärung, dass Michael Ainsel (sein Name in Missy Gunthers akkurater Handschrift geschrieben) ein Bürger Lakesides sei. Auf der nächsten Seite befand sich ein Stadtplan. Zudem war der Umschlag mit Rabattmarken der diversen örtlichen Geschäfte gefüllt.

»Ich glaube, es könnte mir hier gefallen«, sagte Shadow laut vor sich hin. Er blickte durch das vereiste Fenster auf den gefrorenen See. »Falls es je wärmer wird.«

Gegen zwei Uhr nachmittags klopfte es an der Wohnungstür. Shadow hatte den »Sucker-Vanish«-Trick mit einer Vierteldollarmünze geübt, wo es darauf ankam, das Geldstück unbemerkt von einer Hand in die andere zu werfen. Er hatte kalte Hände und war daher ungeschickt genug, dass er die Münze wiederholt auf die Tischplatte fallen ließ, und als es jetzt klopfte, entglitt sie ihm ein weiteres Mal.

Er ging zur Tür und öffnete.

Einen Moment lang bekam er es wahrhaftig mit der Angst zu tun: Der Mann vor der Tür trug eine schwarze Balaklavamütze, die die untere Hälfte des Gesichts bedeckte. Sie wirkte wie eine dieser Sturmhauben, wie sie im Fernsehen gern von Bankräubern getragen wurden oder auch von einem Serienmörder in einem billigen Film, der seine Opfer erschrecken wollte. Der Kopf des Mannes war auch oben ganz mit der schwarzen Wollstrickmütze bedeckt.

Allerdings war der Mann kleiner und schmaler als Shadow und schien unbewaffnet zu sein. Er trug zudem einen hell karierten Mantel, ein Kleidungsstück, das Serienmörder eher meiden würden.

»Ihins, hihelhan«, sagte der Besucher.

»Hä?«

Der Mann zog die Kinnpartie der Mütze nach unten, und es kam Hinzelmanns fröhliches Gesicht zum Vorschein. »Ich sagte: ›Ich bin’s, Hinzelmann‹. Tja, ich weiß gar nicht, was wir gemacht haben, bevor diese Schlupfmützen eingeführt wurden. Na ja, ich erinnere mich schon, was wir gemacht haben. Dicke Strickmützen, die man tief ins Gesicht gezogen hat, und Schals und Sachen, von denen Sie gar nichts wissen möchten. Ich finde, es ist wirklich ein Wunder, was die sich heutzutage alles ausdenken. Ich mag ein alter Mann sein, aber ich werde nicht gegen den Fortschritt anstänkern, ich nicht.«

Er beschloss diese Rede, indem er die Wohnung betrat und Shadow einen Korb in die Arme drückte, der bis oben hin mit offenbar einheimischen Produkten gefüllt war: Käse, Flaschen, Gläsern und mehreren kleinen Salamis, die sich als Hirschsommerwurst vorstellten. »Fröhlichen Nachweihnachtstag«, sagte er. Seine Nase, die Ohren und die Wangen waren, ungeachtet der Maske, himbeerrot. »Wie ich höre, haben Sie bereits eine ganze Pastete von Mabel verdrückt. Hab Ihnen ein paar Sachen mitgebracht.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Shadow.

»Ach was, freundlich. Nächste Woche werde ich Ihnen auf die Pelle rücken, wegen der Tombola. Wird von der Handelskammer veranstaltet, und ich bin zufällig Vorsitzender der Handelskammer. Letztes Jahr haben wir fast siebzehntausend Dollar für die Kinderstation im Lakeside-Krankenhaus gesammelt.«

»Na, dann reservieren Sie mir doch gleich ein Los.«

»Die Sache fängt erst an dem Tag an, wo die Rostlaube aufs Eis kommt«, sagte Hinzelmann. Er blickte aus dem Fenster auf den See hinaus. »Kalt da draußen. Temperaturen müssen letzte Nacht um fast dreißig Grad gefallen sein.«

»Es ist wirklich schnell gegangen«, sagte Shadow und nickte.

»Früher haben wir für so einen Frost gebetet«, sagte Hinzelmann. »Hat mir mein Daddy erzählt.«

»Sie haben sich solch ein Wetter gewünscht?«

»Nun ja, das war seinerzeit für die Siedler die einzige Überlebenschance. Gab nicht genug zu essen für alle, und man konnte nicht einfach zu Dave’s gehen und den Einkaufswagen vollfüllen. Da hat sich mein Großpapa also was überlegt, und wenn es dann so einen richtig kalten Tag gab wie heute, dann nahm er meine Großmama an die Hand und die Kinder, meinen Onkel und meine Tante und meinen Daddy – der war der Jüngste – und die Dienstmagd und den Knecht, und er ist mit ihnen runter zum Flussarm, hat ihnen einen kleinen Trunk aus Rum und Kräutern zu trinken gegeben, das war ein Rezept aus der alten Heimat, und dann hat er sie mit Flusswasser übergossen. Natürlich sind sie in Sekundenschnelle eingefroren, steif und blau wie Wassereis am Stiel. Dann hat er sie zu einem Graben gehievt, den sie vorher ausgehoben und mit Stroh ausgelegt haben, und da hat er sie reingelegt, einen nach dem andern, sie wie Klafterholz aufgereiht und überall Stroh rundherum gepackt, dann hat er den Graben mit Holzbalken abgedeckt, damit keine Viecher rankonnten – damals gab es noch Wölfe und Bären und alles Mögliche, was man heute nicht mehr in dieser Gegend zu sehen kriegt, allerdings keine Hodags, das ist nur so eine Sage, die man von den Hodags erzählt, und ich werde doch nicht meine Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, indem ich Ihnen solche Märchen erzähle, nein, nein, mein Herr –, er hat den Graben also mit Balken abgedeckt, und nach dem nächsten Schneefall war davon nichts mehr zu sehen, außer der Fahne, die er aufgepflanzt hatte, damit er den Graben wieder finden konnte.

Auf diese Weise ist mein Großpapa immer bequem durch den Winter gekommen und musste sich keine Sorgen machen, dass ihm das Essen oder der Brennstoff ausgehen könnte. Und wenn abzusehen war, dass der echte Frühling sich näherte, ist er zur Fahne gegangen und hat den Schnee weggeschaufelt, die Holzbalken zur Seite gerückt und die ganze Familie einen nach dem anderen ins Haus getragen, wo er sie vors Feuer gesetzt hat, damit sie wieder alle auftauen konnten. Es hat sich nie jemand beschwert, außer einmal einer von den Knechten, der hatte ein halbes Ohr an eine Mausfamilie verloren, die ihn ein bisschen angeknabbert hatte, weil mein Großpapa die Holzbalken nicht richtig fest aneinander geschoben hatte. Damals gab’s natürlich noch echte Winter. Da konnte man so was machen. Diese schlappen Winter, die wir heutzutage haben, da wird es doch gar nicht mehr richtig kalt.«

»Ach wirklich?«, fragte Shadow. Er spielte den Stichwortgeber und amüsierte sich köstlich dabei.

»Das letzte Mal war 1949, und Sie sind vermutlich zu jung, um sich daran zu erinnern. Da konnte man noch Winter dazu sagen. Wie ich sehe, haben Sie sich ein Fahrzeug zugelegt.«

»Jawoll. Was halten Sie davon?«

»Den Gunther-Jungen habe ich, ehrlich gesagt, nie besonders gemocht. Ich hatte mal einen Forellenbach draußen im Wald, hinter meinem Grundstück, ganz weit hinten, na gut, es war Gemeindeland, aber ich hatte Steine in den Bach gelegt, kleine Becken angelegt, wo die Forellen sich gern aufhalten, und so weiter. Hab auch ein paar schöne Exemplare gefangen – das eine muss gut und gern eine sechs-, siebenpfündige Bachforelle gewesen sein, und dieser kleine Gunther Soundso, der hat alle meine Becken kaputt gemacht und gedroht, mich beim Naturschutzamt anzuzeigen. Jetzt ist er in Green Bay, aber es wird nicht lange dauern, dann ist er wieder hier. Wenn es hier unten gerecht zugehen würde, dann wäre er als Winterausreißer in der großen weiten Welt verschwunden, aber nein, er bleibt hier kleben wie eine Klette an einer Wollweste.« Er begann den Inhalt von Shadows Begrüßungskorb auf der Arbeitsplatte auszubreiten. »Das ist Katherine Powdermakers Holzapfelmarmelade. Jedes Jahr zu Weihnachten schenkt sie mir einen Topf voll, das geht schon länger, als ich zurückdenken kann, und die traurige Wahrheit ist, dass ich noch nie einen aufgemacht habe. Die stehen bei mir im Keller, vierzig, fünfzig Pötte. Vielleicht mache ich irgendwann mal einen auf und stelle fest, dass mir das Zeug schmeckt. Aber erst mal kriegen Sie einen Topf. Vielleicht mögen Sie ja so was.«

»Was ist ein Winterausreißer?«

»Hm.« Der alte Mann schob die Wollmütze nach oben über die Ohren und rieb sich die Schläfe mit seinem rosa Zeigefinger. »Tja, das ist nicht auf Lakeside beschränkt – wir sind eine gute Stadt, besser als die meisten anderen, aber vollkommen sind wir auch nicht. Manchmal im Winter, na ja, da kriegt so ein Jugendlicher schon mal einen Rappel, wenn es so kalt wird, dass man nicht raus kann, und wenn der Schnee so trocken ist, dass man nicht mal einen Schneeball machen kann, ohne dass er einem in der Hand zerbröckelt …«

»Und dann laufen sie einfach weg?«

Der Alte nickte bedächtig. »Ich gebe da dem Fernsehen die Schuld. Weil es den Gören Dinge zeigt, die sie niemals besitzen werden – Dallas und Denver, all dieser Unfug. Seit Herbst 83 hab ich keinen Fernseher mehr, außer einem alten Schwarzweißgerät, das ich im Schrank stehen hab, falls ich Besuch aus der Stadt bekomm und ein wichtiges Spiel gezeigt wird.«

»Kann ich Ihnen irgendwas anbieten, Hinzelmann?«

»Keinen Kaffee, bitte. Krieg ich Sodbrennen von. Einfach Wasser.« Hinzelmann schüttelte den Kopf. »Das größte Problem in diesem Teil der Welt ist die Armut. Nicht die bittere Armut, die wir während der Wirtschaftskrise hatten, mehr so eine schleichende Verarmung, von den Rändern her. Die Holzfällerei ist tot, der Bergbau ist tot. Und von nördlich der Dells kommen auch keine Touristen mehr her, höchstens eine Hand voll Jäger und ein paar Jugendliche, die an den Seen kampieren – aber die lassen auch kein Geld in den Ortschaften.«

»Lakeside macht aber doch einen recht wohlhabenden Eindruck.«

Der Alte blinzelte mit den blauen Augen. »Glauben Sie mir nur, da steckt harte Arbeit dahinter«, sagte er. »Harte Arbeit. Aber das hier ist eine gute Stadt, und all die Arbeit, die die Leute hier reinstecken, die ist es wert. Nicht, dass meine Familie nicht arm gewesen wäre, als ich klein war. Fragen Sie mich mal, wie arm wir als Kinder waren.«

Shadow setzte sein Stichwortgebergesicht auf und sagte: »Wie arm waren Sie als Kinder, Mister Hinzelmann?«

»Nur Hinzelmann, Mike. Wir waren so arm, dass wir uns nicht mal ein Feuer leisten konnten. An Silvester pflegte mein Vater an einem Stück Pfefferminz zu saugen, und wir Kinder standen im Kreis um ihn herum, die Hände ausgestreckt, damit wir uns am Glühen erwärmen konnten.«

Shadow schnalzte laut mit der Zunge. Hinzelmann rückte die Balaklavamütze wieder zurecht, knöpfte den zu großen karierten Mantel zu, zog die Autoschlüssel aus der Tasche und streifte schließlich seine großen Handschuhe über. »Wenn’s Ihnen hier zu langweilig wird, kommen Sie einfach runter zum Laden und fragen dort nach mir. Ich zeig Ihnen dann meine Sammlung von handgeknüpften Angelfliegen. Das wird Sie allerdings so anöden, dass es eine Erleichterung sein wird, wieder hierher zurückzukommen.« Seine Stimme war gedämpft, aber zu verstehen.

»Mach ich«, sagte Shadow lächelnd. »Wie geht’s Tessie eigentlich?«

»Hält Winterschlaf. Im Frühling ist sie wieder da. Passen Sie auf sich auf, Mr. Ainsel.« Er ging hinaus und machte hinter sich die Tür zu.

Die Wohnung wurde noch kälter.

Shadow zog Mantel und Handschuhe an. Danach die Stiefel. Er konnte kaum noch durchs Fenster durchgucken; die Eisschicht auf der Innenseite der Scheibe verwandelte den Blick auf den See allmählich in ein abstraktes Bild.

Sein Atem dampfte in der Zimmerluft.

Er ging hinaus auf die Holzveranda und klopfte an die benachbarte Wohnungstür. Er hörte eine Frauenstimme, die jemandem zurief, er möge um Himmels willen die Klappe halten und den Fernseher leiser machen – ein Kind, dachte er, Erwachsene wurden von anderen Erwachsenen nicht auf diese Weise angeschrien. Die Tür wurde geöffnet, und eine müde wirkende Frau mit sehr langem und sehr schwarzem Haar beäugte ihn misstrauisch.

»Ja?«

»Guten Tag, Madam. Ich bin Mike Ainsel. Ihr neuer Nachbar.«

Ihr Gesichtsausdruck blieb völlig unbewegt. »Ja?«

»Ma’am. In meiner Wohnung ist es eiskalt. Es kommt zwar ein bisschen warme Luft aus dem Heizungsrost, aber das reicht nicht, um die Wohnung aufzuheizen, nicht mal annähernd.«

Sie musterte ihn von oben bis unten, dann bewegte der Anflug eines Lächelns ihre Mundwinkel, und sie sagte: »Dann kommen Sie erst mal herein. Sonst wird es hier auch bald ganz ausgekühlt sein.«

Er trat in die Wohnung. Über den ganzen Fußboden war buntes Plastikspielzeug verstreut. An einer Wand lagen kleine Haufen Geschenkpapier mit Weihnachtsmotiven. Ein kleiner Junge saß wenige Zentimeter vor dem Fernseher, auf dem das Hercules-Video von Disney lief – gerade stampfte und brüllte ein Zeichentricksatyr quer über den Bildschirm. Shadow wandte dem Apparat den Rücken zu.

»Okay«, sagte sie. »Machen Sie Folgendes. Zuerst dichten Sie die Fenster ab – das nötige Zeug dazu können Sie bei Hennings kaufen. Es ist wie Klarsichtfolie, aber für Fenster. Kleben Sie das vor die Fenster, und wenn Sie sich die Mühe machen wollen, können Sie auch noch mit dem Föhn dagegenblasen, dann hält es den ganzen Winter. Damit verhindern Sie, dass die Wärme durch die Fenster entweicht. Dann kaufen Sie sich ein oder zwei Heizgeräte. Die Heizungsanlage im Haus ist alt, mit richtiger Kälte wird die nicht fertig. Wir hatten zuletzt ein paar milde Winter, vermutlich sollten wir dankbar sein.« Dann streckte sie die Hand aus. »Marguerite Olsen.«

»Freut mich«, sagte Shadow. Er streifte den rechten Handschuh ab, damit er ihr die Hand schütteln konnte. »Wissen Sie, Ma’am, ich hatte Olsens eigentlich immer für blonder eingeschätzt.«

»Mein Exmann war blond wie sonstwas. Blond und rotgesichtig. Wäre auch bei vorgehaltenem Gewehr nicht braun geworden.«

»Missy Gunther hat mir erzählt, dass Sie für die Lokalzeitung schreiben.«

»Missy Gunther erzählt gern allen alles. Ich weiß gar nicht, wozu es unsere Lokalzeitung braucht, wo wir doch Missy Gunther haben.« Sie nickte. »Ja. Hier und da mal eine Reportage, aber unser Chefredakteur schreibt die meisten Nachrichtenartikel. Ich betreue die Naturkolumne, die Gartenkolumne, die sonntägliche Meinungskolumne und die Spalte ›Neues aus der Gemeinde‹, die in geisttötender Ausführlichkeit darüber berichtet, wer im Umkreis von fünfzehn Meilen mit wem und warum essen gegangen ist, immer das Gleiche halt. Oder heißt es dasselbe?«

»Das Gleiche«, sagte Shadow, bevor er sich Einhalt gebieten konnte. »Es handelt sich um eine Identität der Art, nicht der einzelnen Sache.«

Sie sah ihn mit ihren schwarzen Augen an, und Shadow hatte ein klassisches Déjà-vu-Erlebnis. Ich war hier schon mal, dachte er.

Nein, sie erinnert mich an jemanden.

»Na jedenfalls, so kriegen Sie Ihre Wohnung warm«, sagte sie.

»Besten Dank«, sagte Shadow. »Wenn es dann warm ist, müssen Sie und Ihr Kleiner mal vorbeikommen.«

»Er heißt Leon«, sagte sie. »War schön, Sie kennen zu lernen, Mister … äh, Entschuldigung …«

»Ainsel«, sagte Shadow. »Mike Ainsel.«

»Und was ist das für ein Name: Ainsel?«

Shadow hatte keine Ahnung. »Meiner halt«, sagte er. »Ich hab mich leider nie besonders für unsere Familiengeschichte interessiert.«

»Norwegisch vielleicht?«, sagte sie.

»Wir haben uns nie sehr nahe gestanden«, sagte er. Dann erinnerte er sich, dass er ja einen Onkel Emerson Borson hatte, und fügte deshalb hinzu: »Auf dieser Linie jedenfalls.«


Bis Wednesday eintraf, hatte Shadow längst klare Plastikfolie über alle Fenster geklebt und je ein Heizgerät im Wohnzimmer und hinten im Schlafzimmer laufen. Es war jetzt beinahe kuschelig in der Wohnung.

»Was ist denn das für eine verdammte lila Schrottkiste, die Sie da fahren?«, sagte Wednesday zur Begrüßung.

»Tja«, antwortete Shadow, »mit meiner weißen Schrottkiste sind ja Sie davongefahren. Wo ist sie übrigens?«

»Ich hab sie in Duluth in Zahlung gegeben«, sagte Wednesday. »Man kann nicht vorsichtig genug sein. Keine Sorge – Sie kriegen Ihren Anteil, wenn das hier alles vorbei ist.«

»Was mache ich hier eigentlich?«, fragte Shadow. »In Lakeside, meine ich. Nicht auf der Welt im Allgemeinen.«

Wednesday zeigte sein spezielles Lächeln, in das Shadow jedesmal nur zu gern hineingeschlagen hätte. »Sie wohnen hier, weil dies der letzte Ort ist, an dem sie nach Ihnen suchen würden. Hier kann ich Sie gut versteckt halten.«

»Mit ›sie‹ sind wohl die mit den schwarzen Hüten gemeint.«

»Genau. Das House on the Rock muss jetzt leider als Sperrgebiet betrachtet werden. Das schafft zwar ein paar Probleme, aber wir werden schon damit fertig. Jetzt heißt es, die Fahne hochzuhalten und etwas auf der Stelle zu treten, bis es losgeht – wenn auch später, als wir alle erwartet haben. Ich bin überzeugt, dass sie bis zum Frühling stillhalten werden. Bis dahin kann eigentlich nichts Großes passieren.«

»Wieso?«

»Weil sie – auch wenn sie sich mit Mikromillisekunden und virtuellen Welten und Paradigmenwechseln und was nicht noch alles immer großtun – immer noch auf diesem Planeten wohnen und an dessen Jahreszyklus gebunden sind. Jetzt herrschen die toten Monate. Ein Sieg während dieser Zeit wäre ein toter Sieg.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Shadow, was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach. Er hatte eine vage Vorstellung, hoffte aber, dass er sich da täuschte.

»Es wird einen schlimmen Winter geben, aber Sie und ich, wir wollen die Zeit so klug nutzen, wie wir nur können. Wir werden unsere Truppen sammeln und das Schlachtfeld bestimmen.«

»Okay«, sagte Shadow. Er wusste, dass Wednesday ihm, zumindest teilweise, die Wahrheit sagte. Ein Krieg stand an. Nein, das war es nicht: Der Krieg hatte bereits begonnen. Die Schlacht stand an. »Mad Sweeney hat behauptet, er hätte in Ihrem Auftrag gehandelt, als wir ihm an jenem ersten Abend begegnet sind. Bevor er gestorben ist, hat er mir das noch verraten.«

»Hätte ich denn jemanden einstellen wollen, der bei einer Wirtshausschlägerei nicht mal mit so einer traurigen Figur fertig wird? Aber seien Sie getrost, Sie haben mein Vertrauen in Sie bereits dutzendfach gelohnt. Waren Sie schon mal in Las Vegas?«

»Las Vegas, Nevada?«

»Genau das.«

»Nein.«

»Wir werden am späten Abend von Madison aus dort hinfliegen, mit einem Langstreckennachtflug für Herren, einem Charterflug für Leute, die ein bisschen mit Geld um sich werfen wollen. Ich habe sie davon überzeugt, dass wir mit von der Partie sein sollten.«

»Verlieren Sie denn nie die Lust am Lügen?«, fragte Shadow. Es war eine zurückhaltende, neugierige Frage.

»Nicht im Geringsten. Außerdem ist es wahr. Wir spielen um den höchsten Einsatz überhaupt. Wir dürften nicht länger als ein paar Stunden bis nach Madison brauchen, die Straßen sind frei. Schließen Sie also die Tür ab, aber schalten Sie vorher noch die Heizgeräte aus. Es wäre doch schrecklich, wenn Sie in Ihrer Abwesenheit das Haus niederbrennen würden.«

»Wen werden wir in Las Vegas treffen?«

Wednesday sagte es ihm.

Shadow schaltete die Heizgeräte aus und packte ein paar Sachen in eine Reisetasche, dann drehte er sich zu Wednesday um und sagte: »Also, ich komme mir irgendwie ein bisschen blöd vor. Sie haben mir zwar gerade eben gesagt, wen wir treffen werden, aber ich weiß es schon nicht mehr. Irgendwie muss es bei mir ausgesetzt haben. Es ist völlig weg. Wer war es jetzt gleich wieder?«

Wednesday sagte es ihm noch einmal.

Diesmal hätte Shadow es fast gehabt. Der Name lag ihm praktisch auf den Gehirnlappen. Er hätte, dachte er, noch besser aufpassen sollen, als Wednesday es ihm gesagt hatte. Er ließ die Sache auf sich beruhen.

»Wer fährt?«, fragte er Wednesday.

»Sie«, sagte Wednesday. Sie verließen das Haus, stiegen die Holztreppe hinab und gingen über den vereisten Weg zu einer am Straßenrand geparkten schwarzen Lincoln-Limousine.

Shadow setzte sich ans Steuer und fuhr los.


Wenn man das Kasino betritt, wird man von allen Seiten mit Einladungen bedrängt – Einladungen solcher Art, dass es schon eines Menschen aus Stein bedürfte, eines Menschen ohne Herz, ohne Rücksicht und seltsam unberührt von Habsucht, sie auszuschlagen. Hör nur: ein Maschinengewehrprasseln von Silbermünzen, die in die Auffangschale eines Spielautomaten purzeln und spritzen und überquellend auf monogrammierte Teppiche fallen, wird sogleich übertönt vom sirenenartigen Klirren der Automaten, dem klingelnd knackenden Chor, der aber seinerseits von dem riesigen Saal verschluckt wird und, wenn man an den Kartentisch tritt, zu einem beruhigenden Hintergrundklappern gedämpft ist, gerade laut genug, den Adrenalinfluss in den Adern des Spielers aufrecht zu erhalten.

Die Kasinos besitzen ein Geheimnis, ein Geheimnis, das sie hüten und in Ehren halten, das heiligste ihrer Mysterien. Die meisten Leute spielen nämlich letzten Endes nicht, um Geld zu gewinnen, obwohl es das ist, was man ihnen verkauft, was die Werbung und auch ihre Träume behaupten. Und doch ist dies nur die bequeme Lüge, die sie durch die riesigen, stets offenen, einladenden Türen schleust.

Das Geheimnis ist dieses: Die Leute spielen, um zu verlieren. Sie kommen ins Kasino, um den Augenblick zu erleben, in dem sie sich lebendig fühlen, um auf dem sich drehenden Rad mitzuwirbeln und mit den Karten gewendet zu werden und sich mit den Münzen in den Automaten zu verlieren. Sie mögen von den Nächten prahlen, in denen sie gewannen, von dem Geld, das sie aus dem Kasino trugen, aber in Ehren halten sie, und sei es heimlich, die Gelegenheiten, da sie ihr Geld verloren. Es ist eine Art Opfer.

Das Geld fließt in einem ununterbrochenen grünen und silbernen Strom durch das Kasino, fließt von Hand zu Hand, vom Spieler zum Croupier zum Kassierer zur Geschäftsführung zum Sicherheitsdienst, und landet schließlich im Allerheiligsten, im Zählzimmer. Und hier, im Zählzimmer dieses Kasinos, geschieht es, dass man zur Ruhe kommt, hier, wo die Scheinchen sortiert, gestapelt, registriert werden, hier in einem Raum, der allmählich überflüssig wird, da das Geld, das durchs Kasino fließt, zusehends imaginär ist – eine elektrische Abfolge von An- und Aus-Zuständen, durch Telefonkabel fließende Sequenzen.

Im Zählzimmer sieht man drei Männer, die unter dem glasigen Starren der Kameras, die sie sehen können, und dem insektenhaften Blick der Minikameras, die sie nicht sehen können, das Geld zählen. Im Laufe einer Schicht geht jedem dieser Männer mehr Geld durch die Hände, als er in sämtlichen Lohntüten seines Lebens zu sehen bekommen wird. Jeder dieser Männer träumt, wenn er schläft, vom Geldzählen, träumt von Bündeln und Banderolen und Zahlen, die unaufhaltsam steigen, die sortiert werden und wieder weg sind. Jeder der drei Männer hat, mindestens einmal die Woche, ein paar Gedanken daran verschwendet, wie es wohl anzustellen wäre, das Sicherheitssystem des Kasinos zu umgehen, um mit so viel Geld abzuhauen, wie man nur tragen kann; und jeder der Männer hat bei näherer Untersuchung dieses Traums eingesehen, wenn auch widerwillig, dass es nicht zu machen ist, hat sich mit dem regelmäßigen Gehaltsscheck zufrieden gegeben und das doppelte Schreckgespenst des Gefängnisses und des namenlosen Grabes gebannt.

Und hier, im Allerheiligsten, sind also die drei Männer, die das Geld zählen, sind ferner die Wächter, die auf alles aufpassen und das Geld bringen und wegtragen, und ist schließlich noch eine weitere Person. Der kohlengraue Anzug sieht makellos aus, das Haar ist dunkel, er ist glatt rasiert, und Gesicht wie Auftreten wirken in jeder Hinsicht unauffällig, leicht zu vergessen. Keinem der anderen Männer ist seine Anwesenheit je aufgefallen, und selbst wenn sie sie bemerken, ist sie ihnen sogleich wieder entfallen.

Wenn die Schicht zu Ende ist, werden die Türen geöffnet, der Mann im grauen Anzug verlässt den Raum und geht, die Wächter an seiner Seite, durch die Flure, wobei ihre Füße lautlos über die monogrammierten Teppiche huschen. Das Geld wird in Kassetten zu einem Binnenladeplatz gerollt, wo man es in gepanzerte Wagen lädt. Während die Türen der Rampe aufschwingen, um den gepanzerten Wagen in die frühmorgendlichen Straßen von Las Vegas zu entlassen, geht der Mann im grauen Anzug unbemerkt durch die Tür und schlendert über die Rampe auf den Bürgersteig hinaus. Die Imitation von New York zu seiner Linken würdigt er mit keinem Blick.

Las Vegas ist zu einem Bilderbuchtraum einer Stadt geworden – hier ein Märchenschloss, dort eine von Sphinxen flankierte schwarze Pyramide, die weißes Licht in die Dunkelheit hinausstrahlt – als Landestrahl für Ufos – und allüberall verheißen Neonorakel und riesige Drehbildschirme Glück im Leben sowie Glück im Spiel, kündigen Sänger und Komiker und Zauberer an, zu einmaligen oder längeren Gastspielen, und die Lichter blitzen ständig, rufen und werben. Einmal die Stunde bricht ein Vulkan aus Licht und Flammen aus. Einmal die Stunde wird ein Kriegsschiff von einem Piratenschiff versenkt.

Der Mann im grauen Anzug schlendert gemütlich den Bürgersteig entlang und spürt dabei das Fließen des Geldes in der Stadt. Im Sommer dampfen die Straßen, und aus jedem Ladeneingang bläst winterkalt klimatisierte Luft in die brütende Hitze hinein und kühlt den Schweiß auf seinem Gesicht. Jetzt, im Wüstenwinter, herrscht eine trockene Kälte, die ihm weitaus angenehmer ist. In seiner Vorstellung bildet die Bewegung des Geldes ein wunderbares Gitterwerk, ein dreidimensionales Fadenspiel aus Licht und Bewegung. Was er attraktiv an dieser Wüstenstadt findet, ist die Geschwindigkeit der Bewegung, die Art, wie das Geld von Ort zu Ort, von Hand zu Hand wechselt: Er empfindet es wie einen Kick, wie einen Rausch, und es treibt ihn wie einen Süchtigen auf die Straße.

Ein Taxi folgt ihm langsam, es hält Abstand. Er bemerkt es nicht; es liegt ihm völlig fern, es zu bemerken: Er wird seinerseits so selten bemerkt, dass er die Vorstellung, er könnte verfolgt werden, für ziemlich abwegig halten muss.

Es ist vier Uhr morgens, und er sieht sich von einem Hotel mit Kasino angezogen, das seit dreißig Jahren nicht mehr dem Stil der Zeit entspricht und das es nur noch auf Abruf gibt, weil man es bald, morgen oder in sechs Monaten, sprengen wird, um an seine Stelle einen Vergnügungspalast zu setzen und es für immer zu vergessen. Niemand kennt ihn, niemand erinnert sich an ihn. Die schäbige Bar in der Eingangshalle liegt ruhig da, die Luft ist von altem Zigarettenrauch blau geschwängert. In einem Privatzimmer weiter oben steht gerade jemand im Begriff, einige Millionen Dollar bei einem Pokerspiel zu verlieren. Der Mann im grauen Anzug lässt sich mehrere Stockwerke unterhalb der Pokerrunde in der Bar nieder, wird aber von der anwesenden Kellnerin ignoriert. Eine Muzakversion von »Why Can’t He Be You?« ertönt an der Wahrnehmungsgrenze. Fünf Elvis-Presley-Imitatoren, jeder in einem andersfarbigen Jumpsuit, sehen sich die Wiederholung eines Footballspiels auf dem Bar-Fernseher an.

Ein großer Mann im hellgrauen Anzug setzt sich an den Tisch des Mannes im kohlengrauen Anzug, und sobald die Kellnerin ihn, wenn auch nicht den Mann im kohlengrauen Anzug, bemerkt, kommt sie, die viel zu dünn ist, um als hübsch zu gelten, zu offensichtlich magersüchtig, um im Luxor oder im Tropicana zu arbeiten, und die die Minuten bis zu ihrem Feierabend zählt, herbeigeeilt und lächelt. Er grinst breit zurück. »Sie sehen heute Abend verführerisch aus, meine Liebe, ein erfreulicher Anblick für diese armen alten Augen«, sagt er, und sie quittiert dies, da sie ein üppiges Trinkgeld wittert, mit einem strahlenden Lächeln. Der Mann im hellgrauen Anzug bestellt für sich einen Jack Daniels und für den neben ihm sitzenden Mann im kohlengrauen Anzug einen Laphroaig mit Wasser.

»Tja«, sagt der Mann im hellgrauen Anzug, nachdem sein Drink eingetroffen ist, »das schönste Stück Poesie in der Geschichte dieses ganzen verdammten Landes wurde von Canada Bill im Jahre 1853 in Baton Rouge ausgesprochen, während er bei einem betrügerischen Faro-Spiel bis aufs Hemd ausgenommen wurde. George DevoJ, der, ebenso wie Canada Bill, keineswegs abgeneigt war, hin und wieder irgendeinem Tölpel das Fell über die Ohren zu ziehen, zog Bill beiseite und fragte ihn, ob er denn nicht bemerkt habe, dass dieses Spiel der reine Beschiss sei. Und Canada Bill seufzte achselzuckend und antwortete: ›Ich weiß. Aber es ist das einzige Spiel in der Stadt.‹ Und ging zurück an den Spieltisch.«

Dunkle Augen starren den Mann im hellgrauen Anzug misstrauisch an. Der Mann im kohlengrauen Anzug gibt eine Antwort. Der Mann im hellgrauen Anzug, der einen rötlichen Bart mit grauen Strähnen trägt, schüttelt den Kopf.

»Also«, sagte er, »was da in Wisconsin passiert ist, tut mir Leid. Aber ich habe euch alle heil da rausgeholt, oder nicht? Niemand ist verletzt worden.«

Der Mann im dunklen Anzug nippt an seinem Laphroaig mit Wasser, genießt den sumpfigen Geschmack, die torfig-körperreiche Qualität des Whiskys. Er stellt eine Frage.

»Ich weiß nicht. Alles entwickelt sich schneller, als ich dachte. Alle sind sie ganz scharf auf den Jungen, den ich als Laufburschen engagiert habe – ich hab ihn übrigens mitgebracht, er wartet draußen im Taxi. Bist du noch dabei?«

Der Mann im dunklen Anzug antwortet.

Der Bärtige schüttelt den Kopf. »Sie ist seit zweihundert Jahren nicht gesehen worden. Entweder ist sie tot, oder sie hat sich aus allem rausgezogen.«

Noch etwas wird gesagt.

»Pass auf«, sagt der Bärtige, indem er seinen Jack Daniels hinunterkippt. »Mach einfach mit, sei da, wenn wir dich brauchen, und ich kümmere mich um dich. Was möchtest du haben? Soma? Ich kann dir eine Flasche Soma besorgen. Echtes.«

Der Mann im dunklen Anzug starrt vor sich hin. Dann nickt er zögernd und macht eine Anmerkung.

»Klar bin ich das.« Der Bärtige lächelt wie ein Klappmesser. »Was erwartest du? Aber sieh es doch mal so: Es ist das einzige Spiel in der ganzen Stadt.« Er streckt seine Hand, eher eine Pranke, aus und schüttelt die tadellos manikürte Hand des anderen Mannes. Dann entfernt er sich.

Die dünne Kellnerin kommt herbei und ist verwirrt: Da sitzt nur noch ein Mann am Ecktisch, ein exquisit gekleideter Mann in einem kohlengrauen Anzug. »Alles in Ordnung?«, fragt sie ihn. »Kommt Ihr Bekannter noch mal wieder?«

Der Mann mit den dunklen Haaren seufzt und erklärt, dass sein Bekannter nicht mehr wiederkommen werde und sie somit weder für ihre Zeit noch für ihre Mühen belohnt werden würde. Aber dann sieht er die Kränkung in ihren Augen und bekommt Mitleid mit ihr und nimmt deshalb die goldenen Fäden in seinem Kopf unter die Lupe, beobachtet das Gewebe, folgt dem Geld, bis er einen Knotenpunkt entdeckt, und sagt ihr schließlich, dass sie, wenn sie sich um Punkt sechs Uhr früh, dreißig Minuten nach Ende ihrer Schicht, vor dem Treasure Island einfinde, dort einen Onkologen aus Denver kennen lernen könne, der gerade vierzigtausend Dollar beim Würfeln gewonnen habe und einen Berater benötigen werde, einen Partner, oder besser: eine Partnerin, die ihm dabei helfe, das ganze Geld in den achtundvierzig Stunden, bevor er das Flugzeug nach Hause besteige, wieder unter die Leute zu bringen.

Die Worte verlieren sich im Kopf der Kellnerin, aber sie machen sie glücklich. Seufzend nimmt sie zur Kenntnis, dass die Typen in der Ecke sich verdrückt und ihr nicht mal ein Trinkgeld hinterlassen haben, und sie fasst den Plan ins Auge, nach Feierabend nicht direkt nach Hause zu fahren, sondern noch einen Abstecher rüber zum Treasure Island zu machen, aber sie wäre, wenn man sie fragen würde, völlig außerstande zu erklären, wie sie darauf gekommen ist.


»Wer war jetzt der Typ noch mal, mit dem Sie sich getroffen haben?«, fragte Shadow, als sie wieder durch die Flughafenhalle von Las Vegas gingen. Auch im Flughafen befanden sich Spielautomaten. Und schon zu dieser frühen Stunde standen Leute davor und fütterten sie mit Geldstücken. Shadow fragte sich, ob es wohl Reisende gab, die nie aus dem Flughafen herauskamen, die aus dem Flugzeug stiegen und im Flughafengebäude hängen blieben, angezogen und eingefangen von den wirbelnden Bildern und den blitzenden Lichtern, und die dann, wenn sie ihren letzten Quarter in den Automaten gesteckt und nichts mehr übrig hatten, einfach kehrtmachten und wieder nach Hause flogen.

Und dann merkte er, dass er genau in dem Moment, als Wednesday ihm erklärte, wer der Mann im dunklen Anzug war, den sie im Taxi verfolgt hatten, kurz abgeschaltet und deshalb nichts mitgekriegt hatte.

»Er ist also dabei«, sagte Wednesday. »Was mich allerdings eine Flasche Soma kosten wird.«

»Was ist denn Soma schon wieder?«

»Ein Getränk.« Sie bestiegen das Charterflugzeug, in dem sich außer ihnen nur noch ein Trio von spendablen Spitzenmanagern befand, die zu Beginn des folgenden Arbeitstages wieder in Chicago sein mussten.

Wednesday machte es sich gemütlich und bestellte sich einen Jack Daniel’s. »Meine Sorte Leute trifft auf ihre Sorte Leute …« Er stockte. »Es ist wie mit den Bienen und dem Honig. Jede Biene macht nur einen ganz winzigen Tropfen Honig. Es braucht Tausende, vielleicht Millionen davon, aber alle zusammen bekommen sie den Honigtopf voll, den Sie dann auf dem Frühstückstisch stehen haben. Stellen Sie sich jetzt vor, dass Sie nichts zu sich nehmen könnten außer Honig. So ist das für meine Sorte Leute … Wir leben vom Glauben, von Gebeten, von Liebe.«

»Und Soma ist …«

»Soma ist, um die Analogie fortzuspinnen, eine Art Honigwein. Wie Met.« Er kicherte. »Es ist ein Getränk. Konzentriertes Beten und Glauben, zu einer starken Spirituose destilliert.«

Sie waren irgendwo über Nebraska und nahmen gerade ein unspektakuläres Frühstück ein, als Shadow sagte: »Meine Frau.«

»Die tote.«

»Laura. Sie möchte nicht tot sein. Hat sie mir gesagt. Nachdem sie mich von den Typen aus dem Zug weggeholt hat.«

»Die Tat einer guten Ehefrau. Den Gatten aus der Haft erlöst und jene getötet, die ihm ein Leids antun wollten. Ihr solltet sie in Ehren halten, Neffe Ainsel.«

»Sie möchte wieder richtig lebendig sein. Können wir das zuwege bringen? Ist das möglich?«

Wednesday schwieg so lange, dass Shadow sich schon zu fragen begann, ob er die Frage überhaupt gehört hatte oder ob er womöglich mit offenen Augen eingeschlafen war. Dann sagte Wednesday, indem er beim Reden starr geradeaus blickte: »Ich kenne einen Zauber, der Schmerz und Krankheit heilen kann und der die Trauer aus den Herzen der Trauernden nimmt.

Ich kenne einen Zauber, der durch Berühren heilt.

Ich kenne einen Zauber, der die Waffen eines Feindes ablenkt.

Ich kenne einen Zauber, mich aus allen Fesseln und Ketten zu befreien.

Ein fünfter Zauber: Ich kann einen Pfeil im Fluge auffangen, ohne Schaden zu nehmen.«

Seine Worte kamen ruhig, aber eindringlich. Verschwunden war der überhebliche Ton, verschwunden war das Grinsen. Wednesday sprach, als würde er die Worte eines religiösen Rituals rezitieren oder eine dunkle und schmerzhafte Erinnerung beschwören.

»Ein sechster: Flüche, die ausgeschickt werden, mir zu schaden, schaden nur dem Absender.

Ein siebter Zauber, den ich kenne: Ich kann ein Feuer löschen, indem ich es nur ansehe.

Ein achter: Wer mich hasst, dessen Freundschaft kann ich gewinnen.

Ein neunter: Ich kann den Wind in den Schlaf singen und einen Sturm lange genug beruhigen. dass ein Schiff sicher an Land kommt.

Das waren die ersten neun Zauber, die ich lernte. Neun Nächte hindurch hing ich nackt am Baum, meine Seite von einer Speerspitze durchbohrt. Hin und her schwankte und schnaufte ich in den kalten wie in den heißen Winden, ohne Nahrung, ohne Wasser, ein Opfer meiner selbst an mich selbst, und die Welten öffneten sich mir.

Für einen zehnten Zauber lernte ich, Hexen zu vertreiben, sie im Himmel herumzuwirbeln, sodass sie nie mehr den Weg zur eigenen Tür zurückfinden.

Ein elfter: Wenn ich ihn singe, während eine Schlacht tobt, bringt er bestimmte Krieger unversehrt durch den Tumult und führt sie zurück an ihren heimatlichen Herd.

Ein zwölfter Zauber, den ich kenne: Wenn ich einen erhenkten Mann sehe, kann ich ihn vom Galgen nehmen, auf dass er uns alles zuflüstert, dessen er sich erinnert.

Ein dreizehnter: Wenn ich Wasser auf den Kopf eines Kindes sprenge, wird dieses Kind nicht auf dem Schlachtfeld fallen.

Ein vierzehnter: Ich kenne die Namen aller Götter. Jeden einzelnen vermaledeiten Namen.

Ein fünfzehnter: Ich besitze einen Traum von Macht, von Ruhm und von Weisheit, und ich kann wirken, dass Menschen an meine Träume glauben.«

Seine Stimme war jetzt so leise, dass Shadow sich anstrengen musste, sie durch das Geräusch der Flugzeugmotoren zu verstehen.

»Ein sechzehnter Zauber, den ich kenne: Brauche ich Liebe, so kann ich Verstand und Herz einer jeden Frau wenden.

Ein siebzehnter bewirkt, dass keine Frau, die ich haben will, jemals einen anderen begehrt.

Und ich kenne einen achtzehnten Zauber, und dieser Zauber ist der großartigste von allen, aber ich darf diesen Zauber keinem Menschen enthüllen: Ein Geheimnis, das niemand außer einem selbst kennt, ist nämlich das machtvollste Geheimnis, das es jemals geben kann.«

Er seufzte, und dann schwieg er.

Shadow spürte, wie ihn eine Gänsehaut überlief. Es kam ihm vor, als wäre ihm soeben ein Fenster nach einem Anderswo geöffnet worden, um einen Blick in weit entfernte Welten freizugeben, wo an jeder Wegkreuzung aufgehängte Männer im Wind schaukelten und Hexen bei Nacht von oben herabkreischten.

»Laura«, war alles, was er sagte.

Wednesday wandte den Kopf und blickte Shadow tief in die blassgrauen Augen. »Ich kann sie nicht wieder lebendig machen«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, warum sie nicht so tot ist, wie sie sein sollte.«

»Das liegt wahrscheinlich an mir«, sagte Shadow. »Es war meine Schuld.«

Wednesday zog eine Augenbraue nach oben.

»Mad Sweeney hat mir damals, nachdem er mir den einen Trick gezeigt hat, die Goldmünze gegeben. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, war es die falsche Münze. Was ich von ihm bekommen habe, war sehr viel mächtiger, als er gedacht hatte. Und ich habe sie an Laura weitergegeben.«

Wednesday grunzte, senkte das Kinn auf die Brust und runzelte die Stirn. Dann lehnte er sich zurück. »Davon könnte es kommen«, sagte er. »Nein, nein, ich kann Ihnen da nicht helfen. Was Sie allerdings in Ihrer Freizeit so unternehmen, ist selbstverständlich Ihre Sache.«

»Wie bitte«, sagte Shadow, »was soll das denn heißen?«

»Das heißt, dass ich Sie nicht daran hindern kann, nach Adlersteinen und Donnervögeln zu jagen. Aber ich würde es unendlich viel lieber sehen, wenn Sie Ihre Tage in Lakeside in Ruhe und Abgeschiedenheit verbringen und niemandem unter die Augen oder, wie zu hoffen steht, in den Sinn kommen. Wenn es haarig wird, sollten wir alle Hände am Steuer haben.«

Er sah jetzt, als er das sagte, sehr alt aus, zerbrechlich auch; seine Haut schien beinahe durchsichtig zu sein, und das Fleisch darunter war grau.

Shadow hatte den Wunsch, den sehr starken Wunsch, die Hand auszustrecken, um sie auf Wednesdays graue Hand zu legen. Er wollte ihm damit sagen, dass alles gut werden würde – was er zwar durchaus nicht glaubte, was aber dennoch, das hatte Shadow im Gefühl, jetzt gesagt werden musste. Da draußen waren Männer in schwarzen Zügen. Da war ein dicker Jüngling in einer Stretchlimousine, und da waren Leute im Fernsehen, die es nicht gut mit ihnen meinten.

Er berührte Wednesday nicht. Er sagte nichts.

Später fragte er sich, ob diese Geste irgendetwas zum Besseren hätte wenden, etwas von dem Unheil hätte verhindern können, das sich ereignen sollte. Er sagte sich, dass das nicht der Fall war. Er wusste, dass es nicht so war. Dennoch wünschte er sich hinterher, dass er auf jenem langsamen Rückflug nach Hause Wednesdays Hand berührt hätte, und sei es nur für einen kurzen Moment.


Das Wintertageslicht war bereits wieder am Schwinden, als Wednesday Shadow vor dessen Wohnung absetzte. Als Shadow die Wagentür öffnete, fühlte sich die Frosttemperatur, verglichen mit Las Vegas, noch abenteuerlicher an als zuvor.

»Handeln Sie sich keinen Ärger ein«, sagte Wednesday. »Bleiben Sie in Deckung. Schlagen Sie keine Wellen.«

»Alles gleichzeitig?«

»Riskieren Sie nur keine kesse Lippe, mein Junge. In Lakeside können Sie sich bestens versteckt halten. Ich habe eine große Gefälligkeit in Anspruch genommen, um Sie hier unterbringen zu können, wo Sie in Sicherheit sind. In einer größeren Stadt hätte man innerhalb von Minuten Ihre Witterung aufgenommen.«

»Ich werde mich ruhig verhalten und jeden Ärger meiden.« Shadow war es ernst mit dem, was er sagte. Er hatte mehr als genug Ärger in seinem Leben gehabt und war nur allzu bereit, das alles für immer hinter sich zu lassen. »Wann kommen Sie wieder?«, fragte er.

»Bald«, sagte Wednesday. Er startete den Motor des Lincolns, ließ das Fenster hochgleiten und fuhr hinaus in die eisige Nacht.


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