6

Weit offen und unbewacht stehen unsere Pforten

Und hindurch strömt eine wilde, bunt gemischte Menge.

Menschen von der Wolga und den tatarischen Steppen.

Gesichtslose Gestalten vom Gelben Fluss, Malaien, Skythen, Teutonen, Kelten und Slawen.

Sie fliehen die Armut und die Verachtung der Alten Welt, Führen unbekannte Götter und Riten mit sich,

Raubtierhafte Leidenschaften wetzen ihre Krallen hier,

Welch seltsame Sprachen hört man in Straßen und Gassen,

Bedrohliche Zungenschläge drängen uns ans Ohr,

Stimmen, die einst der Turm von Babel vernahm.

– Thomas Bailey Aldrich,

›Die unbewachten Pforten‹, 1882


Eben noch war Shadow, sich an seinen adlerköpfigen Tiger klammernd, auf dem größten Karussell der Welt gefahren, da dehnten sich im nächsten Moment die roten und weißen Lichter des Karussells auseinander, zitterten und erloschen, und er fiel durch ein Sternenmeer, während der mechanische Walzer durch einen rhythmisch stampfenden und krachenden Wirbel verdrängt wurde, der wie vom Becken eines Schlagzeugs oder den Brechern an den Küsten eines fernen Ozeans klang.

Das Licht kam allein von den Sternen, aber es erleuchtete alles mit kalter Klarheit. Das Reittier unter ihm streckte sich und trottete voran, das warme Fell hielt er mit der linken Hand, die Federn mit der rechten.

»Das ist eine schöne Fahrt, wie?« Die Stimme kam von hinten, in seinem Gehör und in seinem Bewusstsein.

Shadow drehte sich langsam um, verströmte in der Bewegung Bilder seiner selbst, eingefrorene Momente, jedes »er« in einem Sekundenbruchteil eingefangen, jede kleinste Bewegung von unendlich langer Dauer. Die Bilder, die sein Bewusstsein erreichten, ergaben keinen Sinn: Es war, als würde er die Welt durch die vielfach facettierten. Augen einer Libelle sehen, nur dass jede Facette etwas völlig anderes sah. Er war nicht imstande, die Dinge, die er sah oder zu sehen glaubte, zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzusetzen.

Sein Blick ruhte auf Mr. Nancy, dem alten schwarzen Mann mit Menjoubärtchen, in seinem karierten Sportsakko und den zitronengelben Handschuhen hoch oben auf einem auf und nieder schwebenden Karusselllöwen reitend; und zur selben Zeit, an derselben Stelle, sah er eine juwelengeschmückte Spinne, groß wie ein Pferd, die ihn anstarrenden Augen ein smaragdgrüner Nebel; und gleichzeitig schaute er auf einen ungewöhnlich großen Mann mit teakfarbener Haut und drei Paar Armen, der einen fließenden Kopfschmuck aus Straußenfedern trug, das Gesicht mit roten Streifen bemalt hatte und einen gereizten goldenen Löwen ritt, an dessen Mähne er sich mit zweien seiner sechs Hände festhielt; und ebenfalls sah er einen schwarzen Jungen, in Lumpen gekleidet, der linke Fuß stark geschwollen und von Blattläusen übersät; und zuletzt, hinter all diesen Dingen, erblickte Shadow eine winzige braune Spinne, die sich unter einem verwelkten ockergelben Blatt verbarg.

Shadow sah all diese Dinge, und er wusste, dass sie alle dasselbe waren.

»Wenn Sie den Mund nicht zumachen«, sagten die vielen Dinge, die Mr. Nancy waren, »wird Ihnen da noch was reinfliegen.«

Shadow machte den Mund zu und schluckte schwer.

Da war eine Holzhalle auf einem Hügel, etwa eine Meile von ihnen entfernt. Sie trabten darauf zu, die Hufe und Pfoten ihrer Reittiere stapften lautlos im trockenen Sand am Rande der See.

Tschernibog kam auf seinem Zentauren herangetrabt. Er klopfte auf den menschlichen Arm des Reittiers. »Nichts von alldem geschieht wirklich«, sagte er zu Shadow. Er klang elend. »Es findet alles nur in Ihrem Kopf statt. Am besten gar nicht dran denken.«

Shadow sah einen grauhaarigen alten osteuropäischen Einwanderer mit schäbigem Regenmantel und einem eisenfarbenen Zahn, wohl wahr. Aber er sah auch ein untersetztes schwarzes Ding, dunkler noch als die Dunkelheit, die sie umgab, die Augen wie zwei glühende Kohlen; und er sah einen Prinzen mit langen, wallenden schwarzen Haaren und einem langen schwarzen Schnauzbart, Blut an den Händen und im Gesicht, der fast nackt, nur die Schultern mit einem Bärenfell bedeckt, auf einem Geschöpf ritt, das, halb Mensch, halb Tier, im Gesicht und am Rumpf mit blauen Wirbeln und Spiralen tätowiert war.

»Wer bist du?«, fragte Shadow. »Was bist du?«

Ihre Reittiere trabten die Küste entlang. Wellen brachen sich und schlugen unerbittlich an den nächtlichen Strand.

Wednesday lenkte seinen Wolf – inzwischen eine riesige und kohlengraue Bestie mit grünen Augen – an Shadows Seite. Shadows Reittier scheute und machte eine Wendung, und Shadow streichelte ihm den Hals und beruhigte es, es müsse keine Angst haben. Es schlug mit dem Tigerschwanz aggressiv aus. Shadow fiel auf, dass da noch ein anderer Wolf war, ein Zwilling dessen, den Wednesday ritt, der, gerade eben außerhalb seines Sichtfeldes, mit ihnen durch die Sanddünen lief.

»Kennst du mich, Shadow?«, sagte Wednesday. Er ritt seinen Wolf mit hoch erhobenem Kopf. Sein rechtes Auge funkelte und blitzte, das linke Auge war trüb. Er trug einen Umhang mit einer tiefen, mönchsartigen Kapuze, und sein Gesicht starrte aus den Schatten heraus. »Ich habe angekündigt, dass ich dir meine Namen sagen würde. Höre also, wie ich genannt werde. Man nennt mich den Kriegslüsternen, den Wütenden, den zu Ross Anstürmenden und den Dritten. Ich bin der Einäugige. Ich werde der Hohe genannt und Er, der richtig rät. Ich bin Grimnir der Verhüllte. Ich bin Allvater, und ich bin Göndlir der Zauberkundige. Ich habe so viele Namen, wie es Winde gibt, so viele Titel, wie es Arten zu sterben gibt. Meine Raben sind Hugin und Munin, Gedanke und Gedächtnis, meine Wölfe sind Freki und Geri, mein Pferd ist der Galgen.« Zwei geisterhaft graue Raben, wie durchsichtige Vogelhaut, landeten auf Wednesdays Schultern, stießen die Schnäbel seitlich in dessen Kopf, als wollten sie von seinem Geist schmecken, und flatterten dann wieder in die Welt hinaus.

Was soll ich glauben?, dachte Shadow, und die Stimme kehrte zu ihm zurück, ein tiefer grollender Bass, irgendwo aus den Tiefen der Welt: Glaube alles.

»Odin?«, sagte Shadow, und der Wind peitschte ihm das Wort von den Lippen.

»Odin«, flüsterte Wednesday, aber das Krachen der Brecher auf dem Strand der Schädel war nicht laut genug, dieses Flüstern zu übertönen. »Odin«, sagte Wednesday, als ließe er sich den Klang des Wortes auf der Zunge zergehen. »Odin«, sagte Wednesday, seine Stimme ein triumphaler Schrei, der von Horizont zu Horizont hallte. Sein Name schwoll an und wuchs und erfüllte die Welt wie das Pochen des Bluts in Shadows Ohren.

Und dann, wie im Traum, ritten sie nicht länger auf eine entfernte Halle zu. Sie waren bereits da, und ihre Reittiere standen angebunden in einem Unterstand neben der Halle.

Die Halle war riesig, aber primitiv gebaut. Das Dach war aus Stroh, die Wände aus Holz. In der Hallenmitte loderte ein Feuer, und der Rauch brannte Shadow in den Augen.

»Wir hätten das in meinem Kopf machen sollen, nicht in seinem«, brummelte Nancy in Shadows Richtung. »Da wäre es wenigstens wärmer gewesen.«

»Wir sind in seinem Kopf?«

»Mehr oder weniger. Das hier ist Walaskjalf. Seine alte Halle.«

Shadow stellte erleichtert fest, dass Nancy jetzt wieder ein alter Mann mit gelben Handschuhen war, wenngleich sein Schatten mit den Flammen des Feuers züngelte und zitterte und seine Gestalt veränderte, wobei die Formen, die er annahm, nicht durchwegs menschlich waren.

An den Wänden befanden sich Holzbänke, auf ihnen saßen und vor ihnen standen ungefähr zehn Personen. Sie hielten Abstand voneinander, eine sehr gemischte Gesellschaft, darunter eine dunkelhäutige, matronenhafte Frau in einem roten Sari, mehrere schäbig wirkende Geschäftsleute und andere, die zu dicht am Feuer standen, als dass Shadow Genaueres hätte erkennen können.

»Wo sind sie?«, flüsterte Wednesday grimmig, an Nancy gewandt. »Na? Wo sind sie? Es sollten Dutzende von uns hier sein. Massen!«

»Du warst fürs Einladen zuständig«, sagte Nancy. »Meines Erachtens grenzt es sowieso an ein Wunder, dass du überhaupt so viele zusammengekriegt hast. Meinst du, ich sollte eine Geschichte erzählen, um die Dinge ins Rollen zu bringen?«

Wednesday schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage.«

»Die sehen nicht sehr freundlich gestimmt aus«, sagte Nancy. »Eine Geschichte ist ein gutes Mittel, wenn man jemanden auf seine Seite bringen will. Und du hast ja keinen Barden dabei, der ihnen was vorsingen könnte.«

»Keine Geschichten«, sagte Wednesday. »Nicht jetzt. Später wird Zeit für Geschichten sein. Aber nicht jetzt.«

»Keine Geschichten. Na gut. Ich mache also nur den Anheizer.« Und Mr. Nancy schritt, ein entspanntes Lächeln auf den Lippen, in den Feuerschein hinein.

»Ich weiß, was ihr alle denkt«, sagte er. »Ihr denkt, was will der alte Compe Anansi, dass er hier vortritt und zu euch spricht, nachdem der Allvater euch alle hergerufen hat, genau wie er auch mich herbestellt hat? Tja, wisst ihr, manchmal braucht man einen Anstoß, muss an ein paar Dinge erinnert werden. Als ich hier reinkam, hab ich mich umgeguckt und gedacht, wo sind bloß all die anderen? Aber dann dachte ich, nur weil wir wenige sind und sie so viele, nur weil wir schwach sind und sie mächtig, sind wir trotzdem noch lange nicht verloren.«

»Also, einmal sah ich den Tiger unten am Wasserloch, er hatte die größten Hoden von allen Tieren und die schärfsten Klauen und zwei Vorderzähne, die so lang waren wie Messer und so scharf wie Klingen. Und ich sagte zu ihm: Bruder Tiger, geh du nur ruhig ein bisschen schwimmen, ich passe so lange auf deine Eier auf. Er war so stolz auf seine Eier. Also nimmt er ein Bad im Wasserloch, ich aber lege seine Eier an und lasse ihm meine eigenen kleinen Spinneneier da. Und wisst ihr, was ich dann gemacht hab? Ich bin weggerannt, so schnell meine Füße mich getragen haben.

Ich habe nicht aufgehört zu rennen, bis ich in der nächsten Stadt war. Und da treffe ich den alten Affen. Siehst ja mächtig gut aus, Anansi, sagt der alte Affe. Und ich sag zu ihm: Weißt du, was sie drüben in der Stadt alle singen? Was singen sie denn?, fragt er mich. Sie singen ein ganz furchtbar lustiges Lied, sage ich. Dann führ ich einen Tanz auf und ich singe:


Tigers Eier, juhe,

Tigers Eier, die hab ich gefressen.

Keiner macht mich jetzt mehr an,

Probiert er’s doch, dann ist er dran.

Tigers Klöten sind jetzt nämlich mein,

Tigers Eier schmecken fein.


Der alte Affe lacht sich fast kaputt, er hält sich die Seite und schüttelt sich und stampft mit den Füßen auf, und dann fängt er an zu singen: Tigers Eier, juhe, Tigers Eier, die hab ich gefressen, schnippt mit den Fingern, wirbelt auf seinen zwei Füßen herum. Das ist ein tolles Lied, sagt er, das werde ich allen meinen Freunden vorsingen. Tu das, sag ich zu ihm, und dann lauf ich zurück zum Wasserloch.

Da ist auch schon der Tiger. Er läuft am Wasserloch auf und ab und schlägt wild mit dem Schwanz, und seine Ohren und das Fell am Nacken stehen so weit hoch, wie es überhaupt nur geht, und er schnappt mit den riesigen alten Säbelzähnen nach jedem Insekt, das in seine Nähe kommt, und in seinen Augen züngelt orangefarbenes Feuer. Er sieht groß, gemein und Furcht erregend aus, aber zwischen seinen Beinen, da baumeln die kleinsten Eier in dem kleinsten schwarzen und verkrumpeltsten Eiersack, den man je gesehen hat.

He, Anansi, sagt er, als er mich sieht. Du solltest doch auf meine Eier aufpassen, während ich baden gehe. Aber als ich aus dem Schwimmloch rausgekommen bin, lag da am Ufer nichts weiter als diese kleinen schwarzen, eingeschrumpelten, nichtsnutzigen Spinneneier, die ich jetzt trage.

Ich hab mein Bestes getan, versichre ich ihm, aber das waren diese Affen, die sind gekommen und haben deine Eier aufgefressen, und als ich sie verjagen wollte, haben sie mir meine eigenen kleinen Eier abgerissen. Da hab ich mich so geschämt, dass ich weggelaufen bin.

Du bist ein Lügner, Anansi, sagt Tiger. Ich werde deine Leber verspeisen. Aber dann hört er die Affen, die aus der Stadt ans Wasserloch kommen. Ein Dutzend glücklicher Affen, hoppeln den Weg entlang, schnippen mit den Fingern und singen so laut sie können:


Tigers Eier, juhe,

Tigers Eier, die hab ich gefressen.

Keiner macht mich jetzt mehr an,

Probiert er’s doch, dann ist er dran.

Tigers Klöten sind jetzt nämlich mein,

Tigers Eier schmecken fein.


Und der Tiger fängt an zu fauchen, und dann brüllt er und stürmt los, hinter den Affen her, und die flüchten kreischend auf die höchsten Bäume. Und ich kratze mir die schönen neuen großen Eier, die zwischen meinen dürren Beinen hängen, was sich verdammt gut anfühlt, und dann geh ich nach Hause. Und bis zum heutigen Tage ist der Tiger hinter den Affen her. Denkt also alle dran: Auch wenn man klein ist, heißt das noch lange nicht, dass man keine Macht hätte.«

Mr. Nancy lächelte, neigte den Kopf und breitete die Arme aus, um Beifall und Gelächter wie ein Profi entgegenzunehmen, dann drehte er sich um und ging dorthin zurück, wo Shadow und Tschernibog standen.

»Ich dachte, ich hätte gesagt, keine Geschichten«, sagte Wednesday.

»Nennst du das eine Geschichte?«, meinte Nancy. »Ich hab mich kaum zu Ende geräuspert. Hab sie nur ein bisschen für dich angespitzt. Geh jetzt raus und mach sie fertig.«

Wednesday trat in den Schein des Feuers, ein stattlicher alter glasäugiger Mann, in braunem Anzug und einem alten Armani-Mantel. Er stand da und richtete den Blick auf die Leute auf den Holzbänken, und er schwieg länger, als ein Redner nach Shadows Gefühl schweigen durfte, ohne Unbehagen hervorzurufen. Aber dann fing er schließlich doch an zu sprechen.

»Ihr kennt mich«, sagte er. »Ihr alle kennt mich. Einige von euch haben zwar nicht gerade Grund, mich zu lieben, aber Liebe hin oder her, ihr kennt mich.«

Ein Rascheln, eine gewisse Unruhe erhob sich unter den Leuten auf den Bänken.

»Ich bin länger hier als die meisten von euch. Genau wie ihr habe ich geglaubt, dass wir mit dem, was wir hier haben, über die Runden kommen würden. Nicht genug, um damit glücklich zu werden, aber ausreichend, um irgendwie weiterzumachen.

Damit könnte es jetzt zu Ende sein. Ein Sturm zieht auf, und es ist ein Sturm, den nicht wir angefacht haben.«

Er hielt inne, trat ein paar Schritte vor und verschränkte die Arme über der Brust.

»Als die Menschen nach Amerika kamen, führten sie uns mit sich. Mich haben sie mitgebracht und Loki und Thor, Anansi und den Löwengott, Leprechauns und Cluracan und Banshees, Kubera und Frau Holle und Ashtaroth, und auch euch haben sie mitgebracht. In ihren Seelen und Gedanken sind wir mitgefahren und haben hier Wurzeln geschlagen. Wir sind mit den Siedlern zusammen in die neue Welt jenseits des Meeres gezogen.

Das Land ist riesig. Schon bald haben unsere Völker uns fallen lassen, sie gedachten unserer nur noch als Geschöpfe ihrer alten Welt, als Dinge, die mit ihrem neuen Leben nichts zu tun hatten. Unsere wahren Gläubigen starben oder fielen vom Glauben ab, und wir standen da, furchtsam, verlassen und enteignet, mussten uns mit dem bisschen Anbetung oder Glauben zufrieden geben, das wir noch kriegen konnten, um, so gut es ging, über die Runden zu kommen.

Das haben wir also getan, wir sind über die Runden gekommen, ganz an den Rändern des Geschehens, wo uns niemand so genau beobachtet hat.

Wir haben, gestehen wir es uns ruhig ein, wenig Einfluss. Wir stellen ihnen nach und plündern sie aus, kommen aber nur so eben zurecht; wir entblößen uns und wir huren und trinken zu viel; wir pumpen Benzin, wir stehlen und schummeln, wir existieren in den Spalten am Rande der Gesellschaft. Alte Götter, hier in diesem neuen, götterlosen Land.«

Wednesday machte eine Pause. Er blickte seine Zuhörer an, einen nach dem anderen, ernst und staatsmännisch. Sie starrten ausdruckslos zurück, die Gesichter maskenhaft und undurchschaubar. Wednesday räusperte sich und spuckte heftig ins Feuer. Die Flamme zischte und flackerte auf und erleuchtete das Halleninnere.

»Heute aber wachsen, wie ihr sicherlich alle schon Gelegenheit hattet festzustellen, neue Götter in Amerika heran und klammern sich an expandierende Bestände des Glaubens: Götter der Kreditkarten und Autobahnen, des Internets und des Telefons, des Radios, der Krankenhäuser und des Fernsehens, Plastikgötter, Mobilfunkgötter, Neongötter. Stolz sind sie, fette und närrische Geschöpfe, die sich mit ihrer Neuheit und ihrer Wichtigkeit spreizen.

Sie wissen um uns, sie fürchten und hassen uns«, sagte Odin. »Ihr haltet euch selbst zum Narren, wenn ihr das nicht erkennt. Sie werden uns vernichten, wenn sie können. Es ist Zeit, dass wir uns zusammenschließen. Es ist Zeit, dass wir etwas unternehmen.«

Die alte Frau im roten Sari trat in den Feuerschein. Auf ihrer Stirn befand sich ein kleiner dunkelblauer Edelstein. »Und für diesen Unsinn hast du uns zusammengerufen?«, sagte sie. Dann schnaubte sie, und in diesem Schnauben mischten sich Belustigung und Ärger.

Wednesday zog die Augenbrauen zusammen. »Ich habe euch zusammengerufen, ja. Aber hier geht es um Sinn, Mama-ji, nicht um Unsinn. Selbst ein Kind kann das erkennen.«

»Dann bin ich also ein Kind, ja?« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Ich war schon eine alte Frau im Kalighat, als von dir noch nicht mal jemand geträumt hat, du närrischer Mann. Ich bin ein Kind? Dann bin ich eben ein Kind – zu erkennen gibt es in deinem törichten Gerede nämlich nichts.«

Wieder ein Moment des Doppeltsehens: Shadow sah die alte Frau, das dunkle Gesicht von Alter und Missbilligung ausgehöhlt, aber hinter ihr sah er etwas Riesiges, eine nackte Frau mit einer Haut so schwarz wie eine neue Lederjacke, Lippen und Zunge so leuchtend rot wie arterielles Blut. Um ihren Hals hingen Schädel, und in ihren zahlreichen Händen hielt sie Messer und Schwerter und abgetrennte Köpfe.

»Ich habe dich nicht als Kind bezeichnet, Mama-ji«, sagte Wednesday friedfertig. »Aber es erscheint doch offenkundig …«

»Das Einzige, was hier offenkundig ist«, sagte die alte Frau und reckte einen Finger (und hinter ihr, durch sie hindurch, über ihr, erschien ein zweiter Finger, ebenso schwarz, ebenso scharfkrallig), »ist deine ureigene Sucht nach Ruhm. Seit langem leben wir in Frieden in diesem Land. Einigen von uns geht es besser als anderen, zugegeben. Mir geht es gut. Drüben in Indien gibt es zwar eine Inkarnation von mir, der es noch viel besser geht, aber ich bin nicht neidisch. Ich habe die Neuen aufsteigen sehen, und ich habe sie wieder fallen sehen.« Ihre Hand sank herab. Shadow sah, dass die anderen sie anblickten. Der Ausdruck in ihren Augen war gemischt: Respekt, Belustigung, Verlegenheit waren auszumachen. »Man hat die Eisenbahnen angebetet, einen Wimpernschlag erst ist es her. Aber jetzt sind diese Eisengötter ebenso vergessen wie die Smaragdjäger …«

»Worauf willst du hinaus, Mama-ji?«, sagte Wednesday.

»Worauf ich hinauswill?« Ihre Nasenlöcher weiteten sich. »Ich – aber ich bin natürlich nur ein Kind – sage, dass wir abwarten sollen. Wir unternehmen gar nichts. Es ist nicht erwiesen, dass sie uns Böses wollen.«

»Und wirst du auch dann noch zum Abwarten raten, wenn sie in der Nacht kommen, um dich zu töten oder dich wegzuschaffen?«

Ihr Gesicht verriet Abschätzigkeit und Belustigung: Es steckte alles in den Lippen und den Augenbrauen und in der Stellung der Nase. »Wenn sie so etwas versuchen«, sagte sie, »werden sie feststellen, dass ich schwer einzufangen bin und noch schwerer zu töten.«

Ein untersetzter junger Mann, der auf der Bank hinter ihr saß, machte laut räuspernd auf sich aufmerksam, dann sagte er mit dröhnender Stimme: »Allvater, mein Volk fühlt sich wohl. Wir machen das Beste aus dem, was wir haben. Wenn dieser Krieg, den du vorhast, sich gegen uns wendet, könnten wir alles verlieren.«

»Ihr habt bereits alles verloren«, sagte Wednesday. »Ich dagegen biete euch die Gelegenheit, euch etwas zurückzuholen.«

Das Feuer loderte hoch empor, während er sprach, und beleuchtete die Gesichter der Zuhörer.

Ich glaube im Grunde nicht, dachte Shadow. Nichts von dem hier glaube ich. Vielleicht bin ich immer noch fünfzehn, Mama ist noch am Leben, und Laura habe ich noch nicht einmal kennen gelernt. Alles was bisher passiert ist, war nur ein besonders lebhafter Traum. Und doch konnte er auch das nicht glauben. Alles was wir zum Glauben haben, sind unsere Sinne, die Werkzeuge, mit deren Hilfe wir die Welt wahrnehmen: Sehvermögen, Tastsinn, Gedächtnis. Wenn sie uns belügen, gibt es nichts mehr, dem wir trauen können. Und selbst wenn wir nicht glauben, können wir keinen anderen Weg beschreiten als den, den unsere Sinne uns vorgeben; und diesen Weg müssen wir bis ans Ende gehen.

Dann brannte das Feuer nieder, und es herrschte Dunkelheit in Walaskjalf, Odins Halle.

»Und jetzt?«, flüsterte Shadow.

»Jetzt gehen wir zurück zum Karussellsaal«, brummelte Mr. Nancy. »Und Old Einauge lädt uns alle zum Essen ein, schmiert ein paar Leute, küsst ein paar Babys, und niemand nimmt mehr das Wort mit G in den Mund.«

»Wort mit G?«

»Götter. Mal im Ernst jetzt, was haben Sie eigentlich an dem Tag gemacht, als die Gehirne verteilt wurden. Junge?«

»Da hat jemand eine Geschichte über einen Tiger erzählt, dem die Eier geklaut wurden, und ich musste erst mal herausfinden, wie sie ausging.«

Mr. Nancy kicherte.

»Aber es ist nichts geklärt worden. Niemand hat sich zu irgendwas verpflichtet.«

»Er bearbeitet sie gemächlich. Er wird sie einzeln rumkriegen, einen nach dem anderen. Sie werden schon sehen. Am Ende knicken sie alle ein.«

Shadow konnte fühlen, dass von irgendwoher ein Wind aufzog, der ihm die Haare aufwirbelte, ihm ins Gesicht strich, an ihm zerrte.

Sie standen im Saal mit dem größten Karussell der Welt und lauschten dem Kaiserwalzer.

Eine Gruppe von Leuten, der Erscheinung nach Touristen, sprach mit Wednesday am anderen Ende des Saals, ihre Zahl entsprach der der schattenhaften Gestalten, die sich zuvor in Wednesdays Halle aufgehalten hatten. »Hier hindurch«, dröhnte Wednesday und führte sie durch den einzigen Ausgang. Der Ausgang war wie das weit offene Maul eines riesigen Monsters gestaltet, mit scharfen Zähnen, die nur darauf zu warten schienen, sie alle zu zerfleischen. Wednesday bewegte sich in ihrer Mitte wie ein Politiker, eindringlich auf Leute einredend, Mut zusprechend, lächelnd, sanft widersprechend, besänftigend.

»War das jetzt Wirklichkeit?«, fragte Shadow.

»War was Wirklichkeit, Blödmann?«, fragte Mr. Nancy zurück.

»Die Halle. Das Feuer. Tigereier. Die Fahrt auf dem Karussell.«

»Verdammt, es ist verboten, auf dem Karussell zu fahren. Haben Sie die Schilder nicht gesehen? Jetzt aber still.«

Das Monstermaul führte ins Orgelzimmer, was Shadow einigermaßen verwirrend fand – waren sie da nicht schon durchgekommen? Das zweite Passieren war jetzt kein bisschen weniger seltsam. Wednesday führte sie eine Treppe hinauf an lebensgroßen, von der Decke hängenden Modellen der vier apokalyptischen Reiter vorbei, und schließlich folgten sie den Schildern zu einem Seitenausgang.

Shadow und Nancy bildeten die Nachhut. Gleich darauf hatten sie das House on the Rock verlassen und gingen am Souvenirladen vorbei auf den Parkplatz zu.

»Schade, dass wir vorzeitig wegmussten«, sagte Mr. Nancy. »Ich hatte ein bisschen gehofft, das größte künstliche Orchester der ganzen weiten Welt sehen zu können.«

»Ich hab’s gesehen«, sagte Tschernibog. »Du hast nicht viel verpasst.«


Das Restaurant befand sich zehn Minuten weiter die Straße hoch. Wednesday hatte allen Gästen verkündet, dass das heutige Abendessen auf seine Rechnung gehe, und hatte für all jene, die nicht mit dem Auto da waren, Fahrgelegenheiten organisiert.

Shadow fragte sich, wie die anderen denn überhaupt zum House on the Rock gekommen waren und wie sie hinterher wieder wegkommen würden, aber er sagte nichts. Es schien ihm das Klügste zu sein, was er tun konnte.

Shadow hatte eine Wagenladung voll mit Wednesdays Gästen zum Restaurant zu transportieren: Die Frau im roten Sari saß auf dem Beifahrersitz neben ihm. Auf der Rückbank hatten zwei Männer Platz genommen: der untersetzte, seltsam aussehende junge Mann, dessen Namen Shadow nicht richtig verstanden hatte – er hatte wie »Elvis« geklungen –, und ein anderer Mann in dunklem Anzug, an den Shadow sich nicht mehr erinnern konnte.

Er hatte neben dem Mann gestanden, als dieser eingestiegen war, hatte ihm die Tür aufgehalten und sie wieder zugemacht und war doch nicht in der Lage, sich irgendeinen Aspekt seiner Person vor Augen zu führen. Er drehte sich im Fahrersitz um und sah ihn an, vermerkte mit Sorgfalt seine Gesichtszüge, die Haare, die Kleidung, tat alles dafür, ihn im Bedarfsfall wieder erkennen zu können, drehte sich wieder um, um den Wagen anzulassen, und musste feststellen, dass der Mann sich erneut seiner Erinnerung entzogen hatte. Ein vager Eindruck von Reichtum blieb zurück, mehr nicht.

Ich bin müde, dachte Shadow. Er drehte den Kopf nach rechts und erhaschte einen Blick auf die indische Frau. Er registrierte die winzige Silberkette aus Schädeln, die ihr um den Hals hing, das Talisman-Armband aus Händen und Köpfen, die wie kleine Glocken klimperten, wenn sie sich bewegte, und den dunkelblauen Edelstein auf der Stirn. Sie roch nach Gewürzen, nach Kardamom und Muskat und nach Blüten. Ihr Haar war grau meliert. Sie lächelte, als sie bemerkte, dass er sie ansah.

»Nennen Sie mich ruhig Mama-ji«, sagte sie.

»Ich bin Shadow, Mama-ji«, sagte Shadow.

»Und? Was halten Sie von den Plänen Ihres Arbeitgebers, Mr. Shadow?«

Er bremste den Wagen ab, da sie gerade von einem großen schwarzen Laster überholt wurden, der den ganzen Schneematsch aufwirbelte. »Er verrät nichts, und ich frage nicht«, sagte er.

»Wenn Sie mich fragen, ist er auf ein letztes Gefecht aus. Er will, dass wir mit Glanz und Gloria untergehen. So stellt er sich das vor.

Und wir sind so alt, oder auch so dumm, dass einige von uns ihm nachgeben werden.«

»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Fragen zu stellen, Mama-ji«, sagte Shadow. Das Wageninnere wurde von ihrem klingenden Gelächter erfüllt.

Der Mann auf dem Rücksitz – nicht der seltsam aussehende junge, sondern der andere – sagte etwas, und Shadow antwortete ihm, aber schon einen Augenblick später wusste er ums Verrecken nicht mehr, worum es gegangen war.

Der seltsam aussehende junge Mann hatte sich bislang nicht geäußert, aber jetzt begann er vor sich hin zu summen, in einem tiefen, melodischen Bass, der das Innere des Wagens summend und brummend vibrieren ließ.

Der seltsam aussehende Mann war von durchschnittlicher Größe, aber merkwürdiger Gestalt. Shadow jedenfalls hatte noch nie jemanden mit solch breiter, gewölbter Brust gesehen: Der Mann besaß einen Brustkorb wie ein Fass, die Beine waren wie, ja, wie Baumstämme und die Hände wie, genau, Schweinshaxen. Er trug einen schwarzen Parka mit Kapuze, mehrere Pullover übereinander, dick gepolsterte Latzhosen und, angesichts des Winterwetters und der übrigen Ausstattung schwer nachzuvollziehen, weiße Tennisschuhe, die Größe und Gestalt eines Schuhkartons aufwiesen. Die Finger ähnelten Würsten, liefen aber in flachen, rechtwinkligen Spitzen aus.

»Sie können aber summen«, sagte Shadow nach hinten.

»Entschuldigung«, sagte der seltsame junge Mann verlegen mit äußerst tiefer Stimme. Er hörte auf zu summen.

»Nein, es hört sich gut an«, sagte Shadow. »Machen Sie ruhig weiter.«

Der seltsame junge Mann zögerte, fing dann aber wieder zu summen an, so tief und widerhallend wie zuvor. Diesmal war das Summen mit Worten durchsetzt. »Down down down«, sang er so tief, dass die Scheiben klapperten. »Down down down down down down down.«

Die Dachsgesimse der Häuser und Gebäude, an denen sie vorüberfuhren, waren mit Weihnachtslichtern geschmückt. Von diskreten goldenen Lämpchen, die tröpfelnd blinkten, bis hin zu riesigen Anordnungen von Schneemännern, Teddybären und bunten Sternen war alles vertreten.

Shadow fuhr vor dem Restaurant vor, einem großen, scheunenartigen Bau, ließ seine Passagiere vor der Eingangstür aussteigen und stellte den Wagen dann auf dem rückwärtigen Parkplatz ab. Den kurzen Fußweg durch die Kälte zurück wollte er dazu nutzen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Er hatte neben einem schwarzen Laster geparkt. Er fragte sich, ob das wohl derselbe war, der sie vorhin überholt hatte. Er schloss die Autotür ab, blieb kurz stehen und ließ seinen Atem dampfen.

Im Restaurant, stellte Shadow sich vor, würde Wednesday bereits dabei sein, seine Gäste um einen großen Tisch zu platzieren, wobei er ununterbrochen hin und her wieselte. Shadow überlegte, ob das wirklich Kali neben ihm auf dem Beifahrersitz gewesen war und wer oder was wohl auf dem Rücksitz mitgefahren war …

»He, Kumpel, hast du mal ’n Streichholz?«, sagte eine Stimme, die ihm irgendwie bekannt vorkam, und Shadow wandte sich um, um bedauernd mitzuteilen, dass er keine habe, da traf ihn der Gewehrlauf über dem linken Auge, und er sackte zusammen. Er streckte einen Arm aus, um das Gleichgewicht zu erlangen. Jemand stopfte ihm etwas Weiches in den Mund, was ihn am Schreien hindern sollte, und klebte ein Band darüber: fließende, geübte Handgriffe, wie bei einem Schlachter, der ein Huhn ausnimmt.

Shadow versuchte zu rufen, wollte Wednesday und die ganze Gesellschaft warnen, aber nichts als ein ersticktes Geräusch drang ihm aus dem Mund.

»Die Jagdbeute ist schon drinnen«, sagte die vage vertraute Stimme. »Alle Mann auf Position?« Shadow hörte eine Stimme aus einem Funkgerät knistern, die kaum zu verstehen war. »Also, gehen wir rein und schnappen sie uns.«

»Was ist mit dem Langen hier?«, sagte eine andere Stimme.

»Schnürt ihn zusammen und bringt ihn weg.«

Sie stülpten Shadow eine tütenartige Kapuze über den Kopf, fesselten ihm Hände und Füße mit Klebeband, warfen ihn auf die Ladefläche eines Lasters und fuhren los.

In dem winzigen Raum, in den man Shadow eingeschlossen hatte, waren keine Fenster vorhanden. Es gab einen Plastikstuhl, einen leichtgewichtigen Klapptisch und einen Eimer mit Deckel, der als Toilette diente. Auf dem Fußboden lag außerdem ein zwei Meter langer Streifen gelber Schaumstoff und darauf eine dünne Decke mit einem vor langer Zeit verkrusteten braunen Fleck in der Mitte: Blut oder Scheiße oder Essen, das war schwer zu entscheiden, und Shadow verspürte wenig Neigung, eingehendere Untersuchungen anzustellen. An der Zimmerdecke befand sich eine von einem Metallgitter geschützte Glühbirne, allerdings hatte Shadow keinen dazu passenden Lichtschalter finden können. Das Licht brannte ständig. Auf seiner Seite wies die Tür keine Klinke auf.

Er hatte Hunger.

Nachdem die unheimlichen Unbekannten ihn in das Zimmer gestoßen und ihm das Klebeband von Füßen, Händen und Mund gerissen hatten, um ihn dann allein zu lassen, war er zunächst einmal herumgegangen und hatte die Gegebenheiten eingehend untersucht. Er klopfte die Wände ab. Sie klangen dumpf metallen. Ganz oben an der Wand befand sich ein kleiner Belüftungsrost. Die Tür war solide verschlossen.

Ein dünnes Rinnsal Blut sickerte ihm aus der linken Augenbraue. Er hatte Kopfschmerzen.

Kein Teppich auf dem Fußboden. Er klopfte ihn ab. Das gleiche Material wie die Wände.

Er nahm den Deckel vom Eimer, pinkelte hinein und legte den Deckel dann wieder auf. Seiner Armbanduhr zufolge waren erst vier Stunden seit dem Überfall beim Restaurant vergangen.

Seine Brieftasche war weg, aber man hatte ihm die Münzen gelassen.

Er zog sich den Stuhl an den Kartentisch heran und setzte sich. Der Tisch war mit einem von Zigaretten versengten grünen Filz überzogen. Shadow übte den Trick, eine Reihe von Münzen scheinbar durch den Tisch zu drücken. Dann nahm er zwei Vierteldollarstücke und erfand einen »Sinnlosen Münzentrick«.

Er verbarg einen Quarter im rechten Handteller und zeigte den anderen Quarter offen zwischen Daumen und Zeigefinger in der linken Hand. Dann schien er den Quarter von der linken in die rechte Hand zu nehmen, ließ ihn aber in Wirklichkeit in die Linke zurückfallen. Er öffnete die rechte Hand, um den Quarter vorzuzeigen, der dort schon die ganze Zeit gewesen war.

Bei den Münzentricks ging es vor allem darum, dass sie Shadows ganzen Kopf forderten, oder besser: Er konnte sie nicht ausführen, wenn er wütend oder aufgeregt war; der Vollzug eines Zaubertricks also, selbst wenn er für sich genommen keinen denkbaren Nutzen hatte – er hatte nämlich kolossale Mühen und seine ganze Geschicklichkeit aufbieten müssen, um glauben zu machen, dass er einen Quarter von einer Hand in die andere befördert hatte, etwas, was unter normalen Umständen keinerlei Geschick erfordert –, beruhigte ihn und half ihm, das Durcheinander im Kopf zu beseitigen.

Er setzte zu einem noch sinnloseren Trick an: die einhändige Verwandlung eines halben Dollarstücks in einen Penny, aber mit zwei Vierteldollarstücken. Beide Münzen wurden im Verlauf der Durchführung abwechselnd verborgen und vorgezeigt: Es begann damit, dass der eine Quarter sichtbar, der andere verborgen war. Er hob die Hand zum Mund und pustete die sichtbare Münze an, während er sie in die klassische Palmage gleiten ließ und gleichzeitig mit den ersten beiden Fingern den versteckten Quarter hervorholte und vorzeigte. Der Effekt war der, dass er einen Quarter in der Hand vorzeigte, ihn zum Mund führte, dagegenpustete und ihn wieder runternahm, was so aussah, als wäre es immer derselbe.

Dann wiederholte er das Ganze, und dann noch einmal und noch einmal.

Er fragte sich, ob sie ihn töten würden, worauf ihm die Hand zitterte, nur ein bisschen zwar, aber sofort fiel einer der Quarter von der Fingerspitze hinunter auf den fleckigen grünen Tischbezug.

Er konnte einfach nicht mehr, steckte die Münzen also wieder ein, zog dafür den Dollar mit dem Liberty-Kopf hervor, den Sarja Polunotschnaja ihm geschenkt hatte, hielt ihn fest in der Hand und wartete.


Seiner Armbanduhr zufolge um drei Uhr morgens kehrten die kauzigen Typen zurück, um ihn zu verhören. Zwei dunkelhaarige Männer in dunklen Anzügen und schwarz glänzenden Schuhen. Der eine hatte ein eckiges Kinn, breite Schultern und eine ziemliche Mähne und sah aus, als hätte er Football an der Highschool gespielt; die Fingernägel waren böse abgekaut. Der andere hatte schütteres Haar, eine Brille mit rundem Silberrahmen und manikürte Nägel. Obwohl sie einander nicht im Geringsten ähnelten, konnte Shadow sich des Verdachts nicht erwehren, dass die beiden Männer auf irgendeiner, womöglich zellulären Ebene identisch waren. Sie hatten sich zu beiden Seiten des Kartentisches aufgebaut und blickten zu ihm hinunter.

»Seit wann arbeiten Sie für Cargo, Sir?«, fragte der eine.

»Wer oder was soll das sein?«, sagte Shadow.

»Er selbst nennt sich Wednesday. Grimm. Allvater. Der Alte, mit dem Sie gesehen worden sind, Sir.«

»Ich arbeite erst seit zwei Tagen für ihn.«

»Lügen Sie uns nicht an, Sir«, sagte der Kauz mit der Brille.

»Okay«, sagte Shadow. »Hab ich nicht vor. Aber es sind trotzdem erst zwei Tage.«

Der breitschultrige Kauz nahm Shadows Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger und verzwirbelte es. Gleichzeitig kniff er zu. Der Schmerz war beträchtlich. »Wie gesagt, Sie sollen uns nicht anlügen, Sir«, sagte er sanft und ließ dann wieder los.

Bei beiden schrägen Typen beulte sich das Jackett dort aus, wo offenbar eine Waffe saß. Shadow vermied es, so gut es ging, Widerstand zu leisten. Er tat so, als wäre er wieder im Gefängnis. Sitz einfach deine Zeit ab, dachte Shadow. Erzähl ihnen nichts, was sie nicht schon wissen. Stell keine Fragen.

»Das sind gefährliche Leute, mit denen Sie sich da rumtreiben, Sir«, sagte der Bebrillte. »Sie können Ihrem Land einen Dienst erweisen, indem Sie als Kronzeuge auftreten.« Er lächelte einfühlsam. Ich bin der gute Cop, sagte das Lächeln.

»Verstehe«, sagte Shadow.

»Und wenn Sie uns nicht helfen wollen«, sagte der Kauz mit dem eckigen Kinn, »werden Sie erfahren, was passiert, wenn wir unzufrieden sind.« Mit der flachen Hand versetzte er Shadow einen Schlag in die Magengrube, dass ihm die Luft wegblieb. Es war nicht Folter, dachte Shadow, nur ein Zeichensetzen: Ich bin der böse Cop. Er würgte.

»Ich würde Sie gern zufrieden stellen«, sagte Shadow, als er wieder sprechen konnte.

»Alles, worum wir bitten, ist Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Sir.«

»Darf ich fragen …«, keuchte Shadow (keine Fragen stellen, dachte er noch, aber es war schon zu spät, die Worte waren ausgesprochen), »darf ich fragen, mit wem ich zusammenarbeiten werde?«

»Wir sollen Ihnen unsere Namen verraten?«, sagte der Breitschultrige. »Sie haben wohl den Verstand verloren.«

»Ach was, er hat gar nicht so Unrecht«, sagte der Bebrillte. »Es könnte ihm den Umgang mit uns erleichtern.« Er sah Shadow an und lächelte wie jemand, der Reklame für Zahnpasta machte. »Hi, ich bin Mister Stone, Sir. Mein Kollege hier, das ist Mister Wood.«

»Eigentlich«, sagte Shadow, »wollte ich eher wissen, zu welcher Organisation Sie gehören. CIA? FBI?«

Stone schüttelte den Kopf. »Herrje. So einfach ist das nicht, Sir. Die Dinge liegen nicht mehr so simpel wie früher.«

»Der private Sektor«, sagte Wood, »der öffentliche Sektor. Ach ja. Heutzutage gibt es da eine Menge Überschneidungen.«

»Aber ich darf Ihnen versichern«, sagte Stone mit wiederum breitestem Lächeln, »wir sind die Guten. Haben Sie Hunger, Sir?« Er griff in eine Tasche seines Jacketts und zog einen Riegel Snickers hervor. »Hier. Nehmen Sie ruhig.«

»Danke«, sagte Shadow. Er wickelte das Snickers aus und biss hinein.

»Wahrscheinlich möchten Sie ja etwas dazu trinken. Kaffee? Bier?«

»Wasser, bitte«, sagte Shadow.

Stone ging zur Tür und klopfte. Er sagte etwas zum Wächter, der davor stand, dieser nickte und brachte wenig später einen mit kaltem Wasser gefüllten Plastikbecher herbei.

»CIA«, sagte Wood. Er schüttelte mitleidig den Kopf. »Diese Knalltüten. He, Stone. Ich hab da einen neuen CIA-Witz gehört. Okay, also: Warum können wir sicher sein, dass die CIA nichts mit der Kennedy-Ermordung zu tun hatte?«

»Ich weiß nicht«, sagte Stone. »Und warum können wir da sicher sein?«

»Na ja, er ist tot, oder?«

Sie lachten beide.

»Fühlen Sie sich jetzt besser, Sir?«, fragte Stone.

»Glaub schon.«

»Dann erzählen Sie uns doch mal, was heute Abend so passiert ist, Sir.«

»Wir haben ein paar touristische Unternehmungen gemacht. Waren beim House on the Rock. Wollten dann was essen. Den Rest kennen Sie ja.«

Stone seufzte heftig. Wood schüttelte den Kopf, als wäre er schwer enttäuscht, und trat Shadow gegen die Kniescheibe. Der Schmerz war unerträglich. Dann drückte Wood ihm langsam die Faust in die Seite, genau oberhalb der rechten Niere, und der Schmerz war noch schlimmer als der im Knie.

Ich bin kräftiger als beide zusammen, dachte er. Ich könnte sie mir vornehmen. Aber sie waren bewaffnet, und selbst wenn er sie beide tötete oder unschädlich machte, war er immer noch mit ihnen in der Zelle eingeschlossen. (Aber er hätte immerhin eine Waffe. Er hätte zwei Waffen.) (Nein.)

Wood ließ die Hände von Shadows Gesicht. Keine Spuren. Nichts Bleibendes. Nur Fäuste und Füße gegen Rumpf und Gliedmaßen. Es tat höllisch weh; Shadow hielt sich am Liberty-Dollar fest und wartete, dass es vorbeiging.

Und nach einiger Zeit, viel zu langer, hörten die Prügel auf.

»Wir sehen uns in zwei Stunden wieder, Sir«, sagte Stone. »Tja, Woody hat das wirklich mit großem Widerwillen getan. Wir sind verständige Leute. Wie gesagt, wir sind die Guten. Sie sind auf der falschen Seite. Versuchen Sie in der Zwischenzeit doch ein bisschen zu schlafen.«

»Sie sollten uns lieber ernst nehmen«, sagte Wood.

»Da hat Woody nicht ganz Unrecht, Sir«, sagte Stone. »Denken Sie mal drüber nach.«

Die Tür knallte hinter ihnen zu. Shadow fragte sich, ob sie das Licht ausmachen würden, was aber nicht der Fall war. Es strahlte weiterhin in den Raum wie ein kaltes Auge. Shadow kroch zur gelben Schaumgummimatte und legte sich darauf, zog die dünne Decke über und hielt sich mit geschlossenen Augen ans Nichts, hielt sich an Träumen fest.

Die Zeit zog vorüber.

Er war wieder fünfzehn, seine Mutter lag im Sterben und wollte ihm etwas sehr Wichtiges mitteilen, aber er konnte sie nicht verstehen. Er bewegte sich im Schlaf, ein stechender Schmerz warf ihn aus dem Halbschlaf in einen halben Wachzustand, und er zuckte zusammen.

Shadow zitterte unter der dünnen Decke. Mit dem rechten Arm bedeckte er die Augen, um das Licht der Glühbirne abzuwehren. Er fragte sich, ob Wednesday und die anderen noch in Freiheit, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Er hoffte es für sie.

Der Silberdollar lag weiterhin kalt in seiner Hand. Er konnte ihn fühlen, wie er ihn auch während der Schläge gefühlt hatte. Beiläufig wunderte er sich, warum die Münze sich nicht seiner Körpertemperatur annäherte. In seinem Zustand von Halbschlaf und Halbdelirium verschlangen sich die Münze, die Vorstellung von Liberty, der Mond und Sarja Polunotschnaja irgendwie in einem einzigen verflochtenen silbernen Lichtstrahl, der aus großer Tiefe hinauf zum Himmel stieg, und er ritt auf dem Silberstrahl nach oben, weg von all dem Schmerz, dem Herzeleid und der Furcht, weg vom Schmerz und, welch Seligkeit, zurück in die Träume …

Von fern vernahm er irgendeinen Lärm, aber es war zu spät, darüber nachzudenken, er gehörte bereits dem Schlaf an.

Nur dieser Ansatz eines Gedankens noch: Er hoffte, dass da keine Leute kämen, ihn aufzuwecken, ihn zu schlagen oder anzuschreien. Und dann war er, wie er mit Genugtuung bemerkte, wirklich eingeschlafen, und er fror nicht mehr.


Irgendwo war da jemand, der um Hilfe rief, sehr laut, in seinem Traum oder anderswo.

Shadow rollte im Schlaf auf dem Schaumgummi hin und her und stieß dabei immer wieder auf schmerzende Körperstellen.

Jemand schüttelte ihn an der Schulter.

Er wollte darum bitten, nicht geweckt zu werden, man möge ihn doch in Ruhe schlafen lassen, aber er brachte nur ein Grunzen zustande.

»Hündchen?«, sagte Laura. »Du musst aufwachen. Bitte, wach auf, Schatz!«

Und für einen Augenblick war da sanfte Erleichterung. Er hatte einen solch seltsamen Traum gehabt, von Gefängnis und Betrügern und heruntergekommenen Göttern, und nun weckte ihn Laura, um ihm zu sagen, dass er aufstehen und zur Arbeit gehen müsse, und vielleicht war davor noch etwas Zeit, sich einen Kaffee zu genehmigen und einen Kuss zu erhaschen, vielleicht sogar mehr als einen Kuss. Er streckte die Hand nach ihr aus.

Ihr Fleisch war eiskalt und klebrig.

Shadow schlug die Augen auf.

»Wo kommt all das Blut her?«, fragte er.

»Von den anderen«, sagte sie. »Nicht von mir. Ich bin voller Formaldehyd, vermischt mit Glyzerin und Lanolin.«

»Welchen anderen?«, fragte er.

»Den Wächtern«, sagte sie. »Ist schon okay. Ich hab sie umgebracht. Komm, beweg dich. Ich glaube zwar nicht, dass noch irgendwer Gelegenheit hatte, Alarm auszulösen, aber wer weiß. Nimm dir von da draußen einen Mantel mit, sonst frierst du dir den Hintern ab.«

»Du hast sie getötet?«

Sie zuckte die Achseln und setzte zu einem ungeschickten Lächeln an. Ihre Hände sahen aus, als hätte sie mit Fingerfarben an einem Bild gearbeitet, dessen Komposition ausschließlich Töne von Blutrot vorsah, und ihr Gesicht und ihre Kleidung (dasselbe blaue Kostüm, in dem sie beerdigt wurde) waren derart mit Spritzern übersät, dass Shadow an Jackson Pollock denken musste, weil es weniger problematisch war, an Jackson Pollock zu denken, als die Alternative zu akzeptieren.

»Es ist leichter, Leute umzubringen, wenn man selbst tot ist«, erklärte sie ihm. »Das heißt, es ist keine so große Sache. Man ist nicht mehr so voreingenommen.«

»Für mich ist es schon noch eine große Sache«, sagte Shadow.

»Willst du hierbleiben, bis die Wachablösung kommt?«, sagte sie. »Kannst du gern, wenn du möchtest. Ich dachte nur, du würdest lieber von hier verschwinden.«

»Die werden denken, dass ich es war«, sagte er etwas töricht.

»Schon möglich«, sagte sie. »Zieh einen Mantel über, Schatz. Ist kalt draußen.«

Er trat hinaus in den Flur. Am Ende des Flurs befand sich ein Wachzimmer. Dort lagen vier Tote: drei Wächter und der Mann, der sich Stone genannt hatte. Sein Kompagnon war nirgends zu sehen. Den blutfarbenen Schleuderspuren auf dem Fußboden nach zu urteilen, waren zwei der Toten in den Wachraum geschleift und dort abgelegt worden.

Sein eigener Mantel hing am Kleiderständer. Die Brieftasche steckte noch in der Innentasche, offenbar unberührt. Laura riss ein paar Pappkartons mit Süßwaren auf.

Die Wächter – erst jetzt bekam er sie richtig zu Gesicht – trugen dunkle Tarnuniformen, an denen aber keine Amtsschilder zu sehen waren, kein Hinweis darauf, für wen sie arbeiteten. Sie hätten auch Freizeitentenjäger sein können, ausstaffiert für die Pirsch.

Laura streckte ihre kalten Finger aus und drückte Shadow die Hand. Sie hatte die Goldmünze, die er ihr gegeben hatte, an einer goldenen Kette um den Hals hängen.

»Das sieht hübsch aus«, sagte er.

»Danke.« Sie lächelte liebreizend.

»Was ist mit den anderen?«, fragte er. »Wednesday und der ganze Rest? Wo sind die?« Laura gab ihm eine Hand voll Schoko-Nuss-Riegel, und er stopfte sich die Taschen damit voll.

»Außer dir war niemand hier. Jede Menge leere Zellen, bis auf die, in der du warst. Oh, und einer von den Männern war mit einem Pornoheft in eine der Zellen dahinten gegangen, um sich einen runterzuholen. Der hat vielleicht einen Schock gekriegt.«

»Du hast ihn getötet, während er sich einen abgewichst hat?«

Sie zuckte die Achseln. »Glaub schon«, sagte sie verlegen. »Ich hatte Angst, dass sie dir was antun würden. Jemand muss ja auf dich aufpassen, und ich hab dir doch versprochen, dass ich das tun würde, oder? Hier, nimm die.« Es waren chemische Hand- und Fußwärmer: dünne Polster – man knickte das Metallplättchen, dann heizten sie sich auf und wärmten stundenlang. Shadow steckte sie sich in die Tasche.

»Auf mich aufpassen? Ja«, sagte er, »das hast du gemacht.«

Sie streckte einen Finger aus und streichelte ihn über der linken Augenbraue. »Du bist verletzt«, sagte sie.

»Geht schon«, sagte er.

Er drückte die Klinke einer Metalltür, die sich in der Wand befand.

Sie schwang langsam auf. Dahinter ging es gut einen Meter nach unten. Er sprang hinunter auf einen Untergrund, der sich wie Kies anfühlte. Er fasste Laura an der Hüfte und schwenkte sie zu Boden, wie er sie immer geschwenkt hatte, ganz leicht, ohne nachzudenken …

Der Mond trat hinter einer dicken Wolke hervor. Er stand niedrig am Horizont, bald würde er untergehen, aber das Licht, das er auf den Schnee warf, reichte zum Sehen.

Sie waren, wie sich jetzt herausstellte, dem schwarz gestrichenen Metallwaggon eines langen Güterzuges entschlüpft, der auf einem Abstellgleis im Waldgebiet geparkt oder ausrangiert worden war. Die Reihe der Waggons erstreckte sich, so weit sein Auge reichte, bis in die Bäume und noch weiter. Er war also in einem Zug gewesen. Er hätte es eigentlich merken müssen.

»Wie zum Teufel hast du mich hier gefunden?«, fragte er seine tote Frau.

Sie schüttelte bedächtig den Kopf, als amüsierte sie sich. »Du leuchtest wie ein Signalfeuer in einer dunklen Welt«, sagte sie. »Es war nicht so schwer. Und jetzt geh los! Geh so weit du kannst und so schnell du kannst. Benutze deine Kreditkarten nicht, dann wirst du auch keine Probleme bekommen.«

»Wo soll ich denn hin?«

Sie schob eine Hand in ihr verfilztes Haar und wischte sich Strähnen aus den Augen. »Die Straße ist da«, sagte sie und zeigte in eine Richtung. »Tue, was du kannst. Stiehl ein Auto, wenn es nötig ist. Wende dich nach Süden.«

»Laura«, sagte er und zögerte dann kurz. »Weißt du, was hier vorgeht? Weißt du, wer diese Leute sind? Die, die du getötet hast?«

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, ich weiß es.«

»Ich stehe in deiner Schuld«, sagte Shadow. »Ich würde immer noch da drinnen stecken, wenn du nicht gewesen wärst. Ich glaube nicht, dass die irgendwas Erfreuliches mit mir vorhatten.«

»Nein«, sagte sie. »Das glaube ich auch nicht.«

Sie entfernten sich von den leeren Zugwaggons. Shadow machte sich Gedanken über die anderen Züge, die er gesehen hatte, kahle, fensterlose Metallwaggons, Meile um Meile einsam durch die Nacht tutend. Er schloss die Finger um den Liberty-Dollar in seiner Tasche und dachte an Sarja Polunotschnaja und wie sie ihn im Mondlicht angesehen hatte. Haben Sie sie gefragt, was sie wollte? Die Toten zu fragen, das ist das Klügste, was man machen kann. Manchmal geben sie Antwort.

»Laura … Was willst du?«, fragte er.

»Willst du das wirklich wissen?«

»Ja. Bitte.«

Laura sah ihn mit toten blauen Augen an. »Ich will wieder lebendig sein«, sagte sie. »Nicht mehr nur so halb. Ich will richtig lebendig sein. Ich möchte wieder fühlen, wie mein Herz in der Brust schlägt. Ich möchte fühlen, wie mir das Blut durch die Adern strömt – heiß und salzig und real. Es ist ganz komisch, man glaubt nicht, dass man es fühlen kann, das Blut, aber glaub mir, wenn es nicht mehr fließt, dann merkst du das.« Sie rieb sich die Augen und schmierte sich dabei mit der Sauerei an ihren Händen das Gesicht rot. »Ach ja, es ist schwer. Weißt du, warum die Toten nur nachts rauskommen, Hündchen? Weil es im Dunkeln leichter ist, für echt durchzugehen. Aber ich will nicht immer nur für etwas durchgehen müssen. Ich will leben.«

»Ich begreife nicht, was du dabei von mir erwartest.«

»Mach es möglich, Schatz! Du wirst schon wissen, wie. Da bin ich mir sicher.«

»Okay«, sagte er. »Ich werd’s versuchen. Aber wenn ich herausbekomme, wie es geht, wie finde ich dich dann?«

Sie war jedoch schon verschwunden, und es war im Wald nichts mehr zu sehen als ein sanftes Grau am Himmel, das ihm zeigte, wo Osten war, und nichts mehr zu hören als ein einsames Heulen im schneidenden Dezemberwind; es mochte der Schrei der letzten Nachteule sein oder aber der Ruf des ersten Vogels der Morgendämmerung.

Shadow wandte sich nach Süden und begann auszuschreiten.

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