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… daß die Toten Seelen hätten. Doch als ich ihn dann fragte, wieso das möglich sei, ich hätt gemeint, die Toten, das wären Seelen, brach er meine Trance ab.

Da kommt es einem doch wohl, daß Verstorbne etwas für sich behalten. Meinen Sie nicht?

– Robert Frost, ›Die Hexe von Coös‹


Die Woche vor Weihnachten sei für Bestattungsunternehmer häufig eine ruhige Zeit, erfuhr Shadow beim Abendessen. Sie saßen in einem kleinen Restaurant, zwei Straßen vom Bestattungsinstitut »Ibis & Jacquel« entfernt. Shadows Mahl bestand aus dem hier ganztägig servierten großen Frühstück – inklusive deftigen Maismehlkrapfen –, während Mr. Ibis ein kleines Stückchen trockenen Kuchen in seine Einzelteile zerlegte. Ibis erläuterte ihm die Sachlage. »Da sind einmal die Verweilenden, die noch durchhalten, weil sie ein letztes Mal Weihnachten oder sogar Neujahr erleben wollen, während die anderen, für die sich die allgemeine Fröhlichkeit und die Feiern als zu schmerzlich erweisen werden, noch nicht reif sind für den letzten Schritt, bevor nicht Ist das Leben nicht schön? wieder im Fernsehen gelaufen ist – der letzte Tropfen, oder sollte ich sagen: der Becher Adventspunsch, der das Fass, oder vielmehr die Schüssel, zum Überlaufen bringt.« Er machte beim Reden ständig kleine Geräusche, halb Schnauben, halb Glucksen, was die Vermutung nahe legte, dass er mit der ausgefeilten Formulierung, die er da vortrug, äußerst zufrieden war.

Ibis & Jacquel sei ein kleines Familienunternehmen, eines der letzten wirklich unabhängigen Bestattungsinstitute in der Region, wie Mr. Ibis darlegte. »In den meisten Bereichen des Warenverkehrs vertrauen die Menschen auf landesweit bekannte Markenidentitäten«, sagte er. Mr. Ibis sprach im Gestus der Erläuterung: Es war ein sanftes, aber leidenschaftliches Belehren, das Shadow an einen College-Professor erinnerte, der seinerzeit im Fitnesscenter trainiert hatte, einer, der nicht normal reden konnte, sondern immer nur erklärte, ausführte, darlegte. Shadow hatte bereits in den ersten Minuten seiner Bekanntschaft mit Mr. Ibis herausgefunden, dass die ihm zugedachte Rolle bei jeglicher Unterhaltung mit dem Bestattungsunternehmer darin bestand, so wenig wie möglich zu sagen. »Das ist, wie ich glaube, der Tatsache geschuldet, dass die Leute gern von vornherein wissen wollen, was sie bekommen. Daher McDonald’s, Wal-Mart, Woolworth (seligen Angedenkens): konfektionierte Marken, im ganzen Land verbreitet und äußerst präsent. Wo immer man hingeht, überall wird man, mit geringen regionalen Abwandlungen, das Gleiche bekommen.

Im Bereich der Bestattungen freilich liegen die Dinge notgedrungen etwas anders. Da braucht man das Gefühl, einen persönlichen – gleichsam nachbarschaftlichen – Service zu bekommen, und zwar von jemandem, der eine Berufung für diesen Beruf verspürt. In Zeiten, da man einen großen Verlust erlitten hat, erwartet man persönliche Betreuung für sich und seine Lieben. Man legt Wert darauf, dass die Trauer nicht auf landesweiter, sondern auf lokaler Ebene stattfindet. Dennoch ist es in allen Industriezweigen so – und der Tod ist eine Industrie, mein junger Freund, geben Sie sich darüber keiner Täuschung hin –, dass man sein Geld damit verdient, großflächig zu operieren, in großen Mengen einzukaufen, seinen Betrieb zu zentralisieren. Es ist nicht schön, aber wahr. Das Problem ist nur: Niemand möchte wissen, dass seine Lieben in einem Kühlwagen zu einem großen, alten ehemaligen Lagerhaus transportiert werden, wo man vielleicht mit zwanzig, fünfzig, einhundert Leichen gleichzeitig hantiert. Nein, mein Herr. Die guten Leutchen möchten gern glauben, dass sie sich einem Familienunternehmen anvertrauen, wo sie von jemandem mit Respekt behandelt werden, der seinen Hut lüftet, wenn er einem auf der Straße begegnet.«

Mr. Ibis trug einen Hut. Es war ein nüchterner brauner Hut, der zu seinem nüchternen braunen Anzug und seinem nüchternen braunen Gesicht passte. Die kleine Goldrandbrille saß auf der Nase. In Shadows Erinnerung war Mr. Ibis ein kleiner Mann, wann immer er aber neben ihm stand, musste Shadow zur Kenntnis nehmen, dass jener gut und gern eins neunzig maß, wenn auch in kranichartiger gebeugter Haltung. Im Augenblick aber, wo er ihm an dem glänzend roten Tisch gegenübersaß, ertappte Shadow sich dabei, dass er dem Mann ins Gesicht starrte.

»Wenn also die großen Konzerne einsteigen, kaufen sie den Namen der Firma, sie bezahlen den Bestattungsunternehmer, damit er weitermacht und sie dadurch den Eindruck von Vielfalt herstellen können. Aber das ist nur die Spitze des Grabsteines. In Wirklichkeit sind sie lokal so verwurzelt wie Burger King. Wir aber sind, wofür wir unsere guten Gründe haben, wirklich unabhängig. Wir erledigen das Einbalsamieren selbst, und es ist das beste seiner Art im ganzen Land, obwohl das niemandem außer uns selbst bekannt ist. Wir bieten allerdings keine Einäscherungen an. Wir könnten zwar einen größeren Umsatz erzielen, wenn wir ein eigenes Krematorium besäßen, aber das würde nicht dem entsprechen, was wir können. Wie mein Geschäftspartner so schön sagt: Wenn der Herr dir ein Talent oder eine besondere Fähigkeit verliehen hat, dann bist du dazu verpflichtet, das so gut zu nutzen, wie du kannst. Würden Sie dem nicht auch beipflichten?«

»Klingt vernünftig«, sagte Shadow.

»Der Herr gab meinem Geschäftspartner Macht über die Toten, genau wie er mir Macht über die Worte verliehen hat. Worte, eine feine Sache. Ich schreibe nämlich Geschichtenbücher. Nichts Literarisches. Nur etwas zur eigenen Unterhaltung. Lebensberichte.« Er machte eine Pause. Bis Shadow begriffen hatte, dass er hätte fragen sollen, ob er einmal etwas davon lesen dürfe, war der Moment verstrichen. »Einerlei, was wir hier bereitstellen, ist Kontinuität: Seit fast zweihundert Jahren gibt es das Unternehmen Ibis und Jacquel. Die Bezeichnung Bestattungsinstitut ist allerdings noch nicht so alt. Vorher hieß es Leichenbestatter, und davor Totengräber.«

»Und davor?«

»Nun ja«, sagte Mr. Ibis und lächelte ein klein bisschen selbstgefällig, »wir reichen wirklich lange zurück. Natürlich geschah es nicht vor Ende des Bürgerkriegs, dass wir hier unsere kleine Nische fanden. Damals wurden wir die Bestatter für die Farbigen in dieser Gegend. Vorher hatte uns niemand als farbig angesehen – als fremd vielleicht, exotisch und dunkel, aber nicht als farbig. Als dann schließlich der Krieg zu Ende war, konnte sich jedoch schon bald niemand mehr daran erinnern, dass es mal Zeiten gegeben hatte, als wir nicht für schwarz angesehen wurden. Mein Geschäftspartner, der hatte schon immer eine dunklere Haut als ich. Es war ein leichter Übergang. Meistenteils ist man doch das, für was einen die anderen halten. Es ist nur seltsam, wenn immer von Afroamerikanern gesprochen wird. Da muss ich an die Leute aus Punt, Ophir, Nubien denken. Wir haben uns nie als Afrikaner begriffen – wir waren das Volk vom Nil.«

»Sie waren also Ägypter«, sagte Shadow.

Mr. Ibis schob die Unterlippe nach oben und ließ dann den Kopf, als würde dieser auf einer Sprungfeder sitzen, von einer Seite zur anderen schaukeln, wägte das Für und Wider ab, betrachtete die Dinge von allen Seiten. »Nun, ja und nein. ›Ägypter‹, da denke ich an die Leute, die heutzutage dort leben. Die ihre Städte über unseren Gräbern und Palästen errichtet haben. Sehen die etwa aus wie ich?«

Shadow zuckte die Achseln. Er hatte Schwarze gesehen, die wie Mr. Ibis aussahen. Er hatte auch schon braun gebrannte Weiße gesehen, die wie Mr. Ibis aussahen.

»Wie schmeckt Ihnen der Kuchen?«, fragte die Kellnerin, die ihnen gerade Kaffee nachschenkte.

»Der beste, den ich je hatte«, sagte Mr. Ibis. »Richten Sie Ihrer Mama meine besten Grüße aus.«

»Mache ich«, sagte sie und wieselte wieder davon.

»Als Bestattungsunternehmer erkundigt man sich grundsätzlich nicht danach, wie es den Leuten geht. Die denken sonst, man sei scharf auf Kundschaft«, sagte Mr. Ibis in gedämpftem Ton. »Wollen wir mal nachsehen, ob Ihr Zimmer bereit ist?«

Ihr Atem dampfte in der Abendluft. Die Weihnachtsbeleuchtung funkelte in den Schaufenstern, an denen sie vorbeikamen. »Sehr nett von Ihnen, dass Sie mich beherbergen wollen«, sagte Shadow. »Ich weiß es zu schätzen.«

»Wir schulden Ihrem Arbeitgeber mehr als einen Gefallen. Und wir haben weiß Gott Platz genug. Es ist ein großes altes Haus. Früher waren wir mehr Leute, wohl wahr. Jetzt sind wir aber nur noch zu dritt. Sie werden niemandem im Weg sein.«

»Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich bei Ihnen bleiben soll?«

Mr. Ibis schüttelte den Kopf. »Das hat er nicht gesagt. Aber wir sind glücklich, Sie bei uns zu haben, und wir finden auch Arbeit für Sie. Sofern Sie nicht allzu zart besaitet sind. Und sofern Sie die Toten mit Respekt behandeln.«

»Und was hat Sie ausgerechnet hierher nach Cairo geführt?«, fragte Shadow. »Lag es nur an dem Namen oder so?«

»Nein. Überhaupt nicht. Eigentlich ist es sogar so, dass die Gegend ihren Namen von uns hat, was den Leuten allerdings kaum bekannt ist. Früher, in der alten Zeit, war hier ein Handelsposten.«

»In den alten Grenzlandzeiten?«

»So könnte man es nennen«, sagte Mr. Ibis, »’n Abend, Miz Simmons! Auch Ihnen fröhliche Weihnachten! Die Leute, die mich mit hergebracht haben, sind vor langer Zeit den Mississippi hochgekommen.«

Shadow blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und sah ihn erstaunt an. »Wollen Sie mir etwa erzählen, dass die alten Ägypter schon vor fünftausend Jahren hier waren und Handel getrieben haben?«

Mr. Ibis antwortete nicht darauf, aber er schmunzelte vernehmlich. Dann sagte er: »Dreitausendfünfhundertdreißig Jahre, plus/minus.«

»Okay«, sagte Shadow. »Ich kauf’s Ihnen wahrscheinlich sogar ab. Und womit wurde gehandelt?«

»Nicht viel. Felle. Ein paar Nahrungsmittel. Kupfer aus den Minen auf der oberen Halbinsel im heutigen Michigan. Das Ganze war eher eine Enttäuschung. Hat den Aufwand nicht gelohnt. Sie blieben lange genug, um den Glauben an uns zu pflegen, uns Opfer darzubringen, und immerhin auch lange genug, dass einige der Händler am Fieber starben und hier begraben wurden, so dass wir mit ihnen zurückblieben.« Er blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich, die Arme ausgestreckt, langsam um. »Dieses Land ist seit zehntausend oder mehr Jahren ein großer Bahnhof. Jetzt werden Sie natürlich fragen, was mit Kolumbus ist, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Shadow artig. »Was ist mit ihm?«

»Kolumbus tat, was man seit Tausenden von Jahren getan hatte. Es ist nichts Ungewöhnliches, nach Amerika zu kommen. Ich habe gelegentlich Geschichten darüber geschrieben.«

Sie gingen weiter.

»Wahre Geschichten?«

»Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Ich kann Ihnen mal ein, zwei zu lesen geben, wenn Sie möchten. Für den, der Augen hat zu sehen, liegt alles offen zu Tage. Mir persönlich – und ich spreche hier als Abonnent des Scientific American – tun die Forscher immer sehr Leid, wenn sie wieder mal einen Schädel finden, der sie in Verwirrung stürzt, irgendwas, was zum falschen Volksstamm gehört, oder wenn sie auf Statuen oder Artefakte stoßen, die sie nicht einordnen können – sie sprechen zwar über das Rätselhafte, aber sie würden nie über das Unmögliche sprechen, und da tun sie mir eben Leid, sobald nämlich etwas als unmöglich gilt, wird es nicht mehr in Betracht gezogen, gleichgültig, ob es wahr ist oder nicht. Ich mein, da gibt es mal einen Schädel, der zeigt, dass die Ainu, der japanische Ureinwohnerstamm, vor neuntausend Jahren in Amerika waren. Und dann einen, der zeigt, dass es knapp zweitausend Jahre später Polynesier in Kalifornien gab. Und all die Wissenschaftler zerbrechen sich den Kopf darüber, wer von wem abstammt, und haben den Witz der Sache überhaupt nicht kapiert. Weiß der Himmel, was passiert, wenn sie tatsächlich irgendwann auf die Ankunftstunnel der Hopi stoßen. Das wird einige Erschütterungen geben, warten Sie’s ab.

Sind die Iren etwa schon im frühen Mittelalter nach Amerika gekommen, werden Sie mich fragen? Natürlich sind sie das, genau wie die Waliser und die Wikinger, während die Afrikaner der Westküste – das, was man später die Sklavenküste oder Elfenbeinküste genannt hat – Handel mit Südamerika trieben und die Chinesen mehrmals Oregon besucht haben – Fu Sang nannten sie es. Die Basken richteten vor zwölfhundert Jahren ihre geheimen heiligen Fischgründe vor der Küste von Neufundland ein. Sie werden jetzt vermutlich sagen: Aber Mister Ibis, diese Leute waren doch Primitive, die haben weder über Funkfernsteuerung noch Vitaminpillen, noch Düsenflugzeuge verfügt.«

Shadow hatte zwar nichts gesagt und eigentlich auch nicht die Absicht gehabt, sich zu äußern, nun aber sah er sich in die Pflicht genommen und sagte daher: »Na ja, ist es nicht so?« Reste des abgestorbenen Herbstlaubs, in der winterlichen Kälte gefroren, knackten unter ihren Sohlen.

»Der Irrtum liegt darin begründet, dass man davon ausgeht, die Menschen hätten vor Kolumbus nicht solche großen Strecken zurücklegen können. Dennoch sind Neuseeland und Tahiti und zahllose pazifische Inseln von Menschen mittels Booten besiedelt worden, Menschen, deren Navigationskünste einen Kolumbus vor Neid hätten erblassen lassen. Der Reichtum Afrikas ist allerdings hauptsächlich dem Handel in östlicher Richtung entsprungen, also Richtung Indien und China. Mein Volk, das Volk vom Nil, wir haben schon früh entdeckt, dass ein Schilfboot einen um die ganze Welt trägt, sofern man nur genügend Geduld hat und genügend Gefäße mit Süßwasser mit sich führt. Nun ja, das größte Problem, was die Fahrt nach Amerika betraf, war damals die Tatsache, dass es hier nicht allzu viel gab, was das Handeln lohnte, und dass es dann doch viel zu weit weg war.«

Sie waren bei einem großen Haus angekommen, das im so genannten Queen-Anne-Stil erbaut war. Shadow fragte sich, wer diese Queen Anne wohl gewesen war und warum sie ausgerechnet Häuser im Addams-Family-Stil so gern gehabt hatte. Es war das einzige Gebäude in der ganzen Straße, das nicht mit Brettern vernagelt und verriegelt war. Sie gingen durchs Tor und wanderten um den hinteren Teil des Hauses herum.

Durch einige große Flügeltüren hindurch, die Mr. Ibis mit einem Schlüssel, den er am Bund trug, öffnete, gelangten sie zu einem großen, ungeheizten Raum, in dem sich gerade zwei Personen aufhielten. Es handelte sich um einen sehr großen, dunkelhäutigen Mann, der ein mächtiges Skalpell in der Hand hielt, und ein totes Mädchen von knapp zwanzig, das auf einem langen Porzellantisch lag, der einer Totenbank und gleichermaßen einer Küchenspüle ähnelte.

An einer Korkpinnwand über der Leiche waren zahlreiche Fotos der toten Frau befestigt. Auf einem davon lächelte sie, es war eine Porträtaufnahme fürs Highschool-Jahrbuch. Auf einem anderen stand sie in einer Reihe mit drei anderen Mädchen – alle trugen sie lange Kleider, vermutlich für den Abschlussball –, und ihr schwarzes Haar war zu einem komplizierten Knoten nach oben auf dem Kopf gewunden.

Jetzt trug sie das Haar offen, locker lag es auf dem kalten Porzellan um die Schulter herum, von getrocknetem Blut verfilzt.

»Mein Partner Mister Jacquel«, sagte Ibis.

»Wir haben uns schon kennen gelernt«, sagte Jacquel. »Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht die Hand schüttle.«

Shadow betrachtete die Frau auf dem Tisch. »Was ist mit ihr passiert?«, fragte er.

»Schlechter Männergeschmack«, sagte Jacquel.

»So was ist zwar nicht immer tödlich«, sagte Mr. Ibis seufzend, »diesmal war es aber der Fall. Er war betrunken und trug ein Messer bei sich, und sie hat ihm erzählt, dass sie glaubt, sie sei schwanger. Er wiederum wollte nicht glauben, dass es von ihm war.«

»Die Zahl der Einstiche …«, sagte Mr. Jacquel und begann zu zählen. Mit einem Klicken trat er auf einen Fußschalter, um das kleine Diktiergerät, das auf einem Tisch in der Nähe lag, in Gang zu setzen. »… beträgt fünf. Drei Stichwunden befinden sich in der vorderen Brustwand. Die erste zwischen dem vierten und fünften Zwischenrippenmuskel am medialen Rand der linken Brust, zwei Komma zwei Zentimeter lang; die zweite und dritte gehen durch den unteren Abschnitt der linken Mittelbrust mit Einstich im sechsten Zwischenraum, jeweils drei Zentimeter lang und überlappend. Eine Wunde von zwei Zentimeter Länge befindet sich in der oberen, vorderen Brust links im zweiten Zwischenraum, eine weitere von fünf Zentimeter Länge und maximal eins Komma sechs Zentimeter Tiefe im anteromedialen linken Deltamuskel, eine Schnittwunde. Alle Brustverletzungen sind tief eindringende Wunden. Es sind keine weiteren äußeren Verletzungen sichtbar.« Er nahm den Fuß vom Schalter. Shadow bemerkte ein kleines Mikrofon, das an einer Schnur über dem Balsamiertisch baumelte.

»Sie sind also auch Gerichtsmediziner?«, fragte Shadow.

»Der Gerichtsmediziner ist in dieser Gegend ein politisches Amt. Seine Aufgabe ist es, der Leiche einen Tritt zu geben. Wenn sie nicht zurücktritt, unterschreibt er die Todesurkunde. Jacquel ist ein so genannter Prosektor. Er arbeitet für den Bezirksleichenbeschauer. Er nimmt Autopsien vor und entnimmt Gewebeproben für die Analyse. Ihre Wunden hat er außerdem bereits fotografiert.«

Jacquel kümmerte sich nicht um sie. Er nahm ein großes Skalpell und machte zwei Einschnitte in Form eines großen V, die von den beiden Enden des Schlüsselbeins ausgehend am unteren Ende des Brustbeins zusammentrafen, dann machte er aus dem V ein Y, ein weiterer tiefer Einschnitt, der vom Brustbein zum Schambein führte. Er nahm ein Gerät zur Hand, das wie ein kleiner schwerer Chromdrillbohrer aussah und mit einem medaillongroßen runden Sägeblatt am vorderen Ende versehen war. Er stellte es an und schnitt zu beiden Seiten des Brustbeins durch die Rippen.

Die junge Frau klappte auf wie eine Brieftasche.

Shadow bemerkte plötzlich einen zwar nicht übermäßig starken, aber unangenehm eindringlichen, beißenden, fleischigen Geruch.

»Ich hätte mir den Geruch schlimmer vorgestellt«, sagte Shadow.

»Sie ist noch ziemlich frisch«, sagte Jacquel. »Außerdem sind die Gedärme nicht durchbohrt, also riecht es nicht nach Scheiße.«

Shadow blickte unwillkürlich in eine andere Richtung, nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, aus Ekel, sondern aus einem seltsamen Bedürfnis heraus, der Frau so etwas wie eine Privatsphäre zu lassen. Man konnte sich kaum etwas Nackteres vorstellen als dieses geöffnete Ding.

Jacquel band die Gedärme ab, die schlangengleich in der Bauchhöhle schimmerten, unterhalb des Magens und tief im Beckenraum. Er ließ sie durch die Finger gleiten, eine Hand voll nach der anderen, und beschrieb sie, ins Mikrofon sprechend, als »normal«, bevor er sie in einen auf dem Fußboden wartenden Eimer warf. Mit einer Vakuumpumpe saugte er alles Blut aus dem Brustkasten und maß dann die Menge. Anschließend inspizierte er den Brustinnenraum. Wieder sprach er ins Mikrofon: »Es gibt drei Risswunden im Herzbeutel, der mit geronnenem und sich verflüssigendem Blut gefüllt ist.«

Jacquel packte das Herz, schnitt es am oberen Ende ab, wendete es in der Hand und untersuchte es. Er trat wieder auf den Schalter und sagte: »Zwei Risswunden des Herzmuskels, eine eins Komma fünf Zentimeter lange Wunde in der rechten Herzkammer und eine eins Komma acht Zentimeter lange Wunde in der linken.«

Jacquel entfernte beide Lungenflügel. Der linke war durchstochen und halb kollabiert. Er wog die Lunge sowie das Herz und fotografierte die Wunden. Von jedem Lungenflügel schnitt er ein kleines Stück Gewebe ab und legte beide dann in ein Gefäß.

»Formaldehyd«, flüsterte Mr. Ibis hilfsbereit.

Jacquel sprach weiter ins Mikrofon, beschrieb, was er tat und was er sah, während er Leber, Magen, Milz, Bauchspeicheldrüse, beide Nieren, Gebärmutter und Eierstöcke der Frau entfernte.

Er wog alle Organe einzeln und meldete ihren Zustand als normal und unverletzt. Dann entnahm er jedem Organ ein kleines Gewebestück und tat es in ein Glas mit Formaldehyd.

Vom Herzen, der Leber und einer der Nieren schnitt er noch ein zusätzliches Stück ab. Diese Stücke schob er sich in den Mund und kaute sie, während er weiterarbeitete, ganz langsam, sodass sie lange hielten.

Irgendwie kam Shadow dieses Vorgehen angemessen vor: respektvoll, nicht obszön.

»Sie wollen also für eine Weile bei uns bleiben?«, fragte Jacquel, während er das Herzstück zerkaute.

»Wenn Sie mich aufnehmen«, sagte Shadow.

»Selbstverständlich tun wir das«, sagte Mr. Ibis. »Es spricht nichts dagegen, eher eine Menge dafür. Sie stehen, solange Sie hier sind, unter unserem Schutz.«

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, mit den Toten unter einem Dach zu schlafen«, sagte Jacquel.

Shadow dachte daran, wie Laura ihn mit den Lippen berührt hatte, ganz bitter und kalt. »Nein«, sagte er. »Jedenfalls nicht, solange sie tot bleiben.«

Jacquel drehte sich um und sah ihn mit dunkelbraunen Augen an, die so spöttisch und kalt wirkten wie die eines Wüstenhundes. »Hier bei uns bleiben sie tot«, war alles, was er dazu sagte.

»Mir scheint«, sagte Shadow, »also, es kommt mir so vor, als würden die Toten ziemlich leicht zurückkehren.«

»Überhaupt nicht«, sagte Ibis. »Selbst Zombies werden nämlich aus den Lebenden gemacht. Ein bisschen Pulver, ein bisschen Gesang, ein bisschen Anstoßen, und schon hat man einen Zombie. Sie leben, obwohl sie glauben, dass sie tot sind. Um aber die Toten wirklich ins Leben zurückzubringen, in ihren Körper: Das erfordert Macht.« Kurzes Zögern. »In der alten Heimat, in den alten Zeiten, da war es leichter.«

»Man konnte das Ka eines Menschen für fünftausend Jahre an seinen Körper binden«, sagte Jacquel. »Binden oder lösen. Aber das ist lange her.« Er nahm alle Organe, die er entfernt hatte, und legte sie respektvoll wieder an ihren Platz in der Körperhöhle zurück. Er brachte die Gedärme und das Brustbein wieder an die richtige Stelle und zog dann die Hautränder zusammen. Zu guter Letzt nahm er eine dicke Nadel und einen Faden und nähte mit energischen, schnellen Stichen alles wieder zusammen, als würde er einen Baseball vernähen. Die Leiche war nicht länger bloßes Fleisch, sondern verwandelte sich in eine Frau zurück.

»Ich brauche jetzt ein Bier«, sagte Jacquel. Er streifte die Gummihandschuhe ab und ließ sie in einen Abfalleimer fallen. Seinen dunkelbraunen Overall warf er in einen Deckelkorb. Dann nahm er das Papptablett, auf dem die Gläser mit den roten und braunen und violetten Organfitzeln standen. »Kommt ihr?«

Sie stiegen die Hintertreppe hinauf zur Küche. Sie war in Braun und Weiß gehalten, ein nüchterner, aber respektabler Raum, der, wenn Shadows Eindruck nicht täuschte, etwa um 1920 zuletzt renoviert worden war. An einer der Wände stand ein riesiger Kelvinator-Kühlschrank und rumpelte vor sich hin. Jacquel öffnete die Tür und stellte die Plastikbehälter mit Milz, Niere, Leber und Herz hinein. Dafür holte er drei braune Flaschen heraus. Ibis öffnete die Glastür eines Schranks, dem er drei große Gläser entnahm. Dann winkte er Shadow, sich an den Küchentisch zu setzen.

Ibis goss das Bier ein und reichte ein Glas an Shadow und eines an Jacquel weiter. Es war ein ausgezeichnetes Bier, dunkel und herb.

»Gutes Bier«, sagte Shadow.

»Wir brauen es selbst«, sagte Ibis. »In den alten Zeiten wurde das Brauen noch von den Frauen besorgt. Sie waren einfach die besseren Brauer. Aber jetzt sind nur noch wir drei da. Ich, er und sie.« Er deutete auf die kleine braune Katze, die tief schlafend in einem Katzenkorb in der Ecke der Küche lag. »Zu Anfang waren wir mehr. Aber Seth ist auf Entdeckungsreise gegangen vor, was, zweihundert Jahren? Ich glaube, so lange ist es inzwischen her. Wir haben eine Postkarte aus San Francisco von ihm bekommen, das war 1905, 1906. Dann nichts mehr. Während der arme Horus …« Er verstummte seufzend und schüttelte den Kopf.

»Ich sehe ihn gelegentlich noch«, sagte Jacquel. »Unterwegs, wenn ich jemanden abhole.« Er schlürfte sein Bier.

»Ich werde für meinen Unterhalt arbeiten«, sagte Shadow. »Während ich hier bin. Sie sagen mir, was zu tun ist, und ich tue es.«

»Wir werden Arbeit für Sie finden«, sagte Jacquel und nickte.

Die kleine braune Katze öffnete die Augen, streckte und erhob sich. Sie stapfte über den Küchenfußboden und stieß mit dem Kopf gegen Shadows Stiefel. Er langte hinunter und kratzte ihr mit der linken Hand die Stirn, die Rückseite der Ohren und die Genickpartie. Verzückt machte sie einen Buckel, sprang ihm dann auf den Schoß, drängte sich an seine Brust und hielt ihre kalte Nase an seine. Dann rollte sie sich in seinem Schoß zusammen und schlief wieder ein. Er fuhr fort, sie zu streicheln; ihr Fell war weich, sie lag warm und angenehm in seinem Schoß, der ihr der sicherste Ort der Welt zu sein schien, und Shadow fühlte sich behaglich.

Das Bier erzeugte ein angenehmes Summen im Kopf.

»Ihr Zimmer ist die Treppe rauf, neben dem Badezimmer«, sagte Jacquel. »Ihre Arbeitskleidung hängt im Schrank – Sie werden sehen. Vermutlich wollen Sie sich erst einmal waschen und rasieren.«

Das wollte Shadow in der Tat. Er duschte erst aufrecht in der gusseisernen Wanne und rasierte sich dann, unter erheblicher nervlicher Anspannung, mit einem schlanken Rasiermesser, das Jacquel ihm überlassen hatte. Es war geradezu obszön scharf und besaß einen Griff aus Perlmutt. Shadow vermutete, dass es normalerweise dann Verwendung fand, wenn es galt, toten Männern die letzte Rasur zu verabreichen. Er hatte nie zuvor ein solches Rasiermesser benutzt, aber es gelang ihm dennoch, sich nicht zu schneiden. Er wusch den Rasierschaum ab und betrachtete sich nackt im fliegenfleckigen Badezimmerspiegel. Er sah recht mitgenommen aus: Frische blaue Flecke auf Brust und Armen legten sich über die verblassenden alten, jene, die Mad Sweeney ihm zugefügt hatte. Seine Augen blickten ihn misstrauisch aus dem Spiegel an.

Und dann hob er, als würde jemand anders seine Hand führen, das Rasiermesser und hielt es sich mit offener Klinge an die Kehle.

Es wäre ein Ausweg, dachte er. Ein sehr bequemer noch dazu. Wenn es jemanden gab, der damit ohne weiteres fertig werden, der einfach die Sauerei beseitigen und dann weitermachen würde wie bisher, dann waren es die beiden Männer, die unten am Küchentisch saßen und Bier tranken. Keine Sorgen mehr. Keine Laura mehr. Keine Geheimnisse und Verschwörungen mehr. Keine bösen Träume mehr. Nur noch Ruhe und Frieden in Ewigkeit. Ein sauberer Schnitt, von Ohr zu Ohr. Mehr brauchte es nicht.

Er stand da, das Rasiermesser an der Kehle. Ein winziger Blutfleck trat an der Stelle hervor, wo die Klinge die Haut berührte. Er hatte den Schnitt nicht einmal bemerkt. Na bitte, sagte er sich, und fast schien es, als würde ihm jemand die Worte ins Ohr flüstern. Es geht ganz ohne Schmerzen. Zu scharf, um wehzutun. Ich bin hinüber, bevor ich es mitbekomme.

Auf einmal ging die Badezimmertür auf, nur wenige Zentimeter, gerade so viel, dass die kleine braune Katze den Kopf um den Türrahmen recken und neugierig zu ihm hinaufmaunzen konnte: »Mrr?«

»He«, sagte Shadow zur Katze. »Ich dachte, ich hätte die Tür zugesperrt.«

Er ließ das Rasiermesser zusammenschnappen und legte es auf dem Waschbeckenrand ab. Mit Toilettenpapier tupfte er die winzige Schnittwunde ab. Dann schlang er sich ein Handtuch um die Hüfte und ging nach nebenan.

Sein Zimmer schien wie die Küche irgendwann in den Zwanzigerjahren ausgestattet worden zu sein: Es gab einen Waschtisch und eine Wasserkanne, die neben der Kommode und dem Spiegel standen. Jemand hatte ihm auf dem Bett schon etwas zum Anziehen ausgelegt: einen schwarzen Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, weißes Unterhemd und weiße Unterhose, schwarze Socken. Auf dem abgewetzten Perserteppich neben dem Bett standen schwarze Schuhe.

Er zog sich an. Die Sachen waren von guter Qualität, wenn auch keineswegs neu. Er fragte sich, wem sie wohl gehört haben mochten. Trug er die Socken eines Toten? War er im Begriff, in die Schuhe eines Verstorbenen zu schlüpfen? Er band sich vor dem Spiegel die Krawatte, und jetzt kam es ihm vor, als würde sein Spiegelbild ihm höhnisch zulächeln.

Schon schien es ihm unbegreiflich, dass er je auch nur daran gedacht hatte, sich die Kehle durchzuschneiden. Während er sich mit der Krawatte abmühte, fuhr sein Spiegelbild fort zu lächeln.

»He«, sagte er zu ihm. »Weißt du etwas, was ich nicht weiß?« Und sofort kam er sich töricht vor.

Die Tür ging knarrend auf, die Katze schlüpfte zwischen Türpfosten und Tür hindurch, tappte durchs Zimmer und hüpfte dann hinauf auf die Fensterbank. »He«, sagte er zur Katze. »Die Tür war geschlossen. Ich weiß genau, dass ich diese Tür zugemacht habe.« Sie sah ihn interessiert an. Ihre Augen waren dunkelgelb, bernsteinfarben. Sie sprang vom Fensterbrett hinunter aufs Bett, wo sie sich zu einem Knäuel Fell zusammenrollte, um sich wieder zur Ruhe zu begeben, ein rundes Häuflein Katze auf einer alten Tagesdecke.

Shadow ließ die Zimmertür offen, damit die Katze wieder hinauskonnte und das Zimmer gleichzeitig etwas frische Luft abbekam, und ging nach unten. Die Treppe knarrte und ächzte, während er die Stufen hinunterschritt, klagte gewissermaßen über die Zumutung seines Gewichts, als wollte sie einfach nur in Ruhe gelassen werden.

»Verdammt, sehen Sie gut aus«, sagte Jacquel. Er wartete am Fuß der Treppe und trug inzwischen selbst einen schwarzen Anzug von ähnlicher Art wie der Shadows. »Haben Sie schon mal einen Leichenwagen gefahren?«

»Nein.«

»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte Jacquel. »Er steht draußen vor dem Haus.«


Eine alte Frau war gestorben. Ihr Name war Lila Goodchild. Nach Mr. Jacquels Anweisung trug Shadow die zusammengeklappte Aluminiumbahre die schmale Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und faltete sie neben dem Bett auseinander. Er holte einen undurchsichtigen blauen Plastikleichensack hervor, legte ihn neben der toten Frau aufs Bett und zog den Reißverschluss auf. Sie trug ein rosa Nachthemd und darüber einen gesteppten Morgenrock. Shadow hob sie hoch, wickelte ihren zerbrechlichen und fast gewichtslosen Körper in eine Decke und legte sie auf den Sack. Nachdem er diesen zugezogen hatte, packte er das Bündel auf die Bahre. Währenddessen unterhielt sich Jacquel mit dem ziemlich alten Mann, der zu Lila Goodchilds Lebzeiten mit ihr verheiratet gewesen war. Genauer gesagt: Jacquel hörte zu, und der alte Mann redete. Während Shadow mit der Entfernung der Gattin beschäftigt war, ließ der Alte sich darüber aus, was für undankbare Kinder er habe, und die Enkelkinder seien genauso, aber denen könne man gar keine Vorwürfe machen, Schuld hätten allein deren Eltern, der Apfel falle eben nicht weit vom Stamm, und er würde doch meinen, dass er die Bande zu was Besserem erzogen hätte.

Shadow und Jacquel rollten die beladene Bahre bis zum Absatz der schmalen Treppe. Der alte Mann folgte ihnen und redete unablässig, hauptsächlich über Geld und Gier und Undankbarkeit. Er trug Hauspantoffeln. Shadow trug das schwerere untere Ende der Bahre die Treppe hinunter und weiter nach draußen, wo er sie dann über den gefrorenen Bürgersteig zum Leichenwagen rollte. Jacquel öffnete die Hecktür. Als Shadow zögerte, sagte er: »Schieben Sie sie einfach rein. Die Stützen klappen sich dann von selbst zusammen.« Shadow schob die Bahre an, die Radstützen schnappten hoch, die Räder rotierten, und schließlich rollte die Bahre auf dem Boden des Leichenwagens entlang. Jacquel zeigte ihm, wie man sie sicher festschnallte, und dann schloss Shadow die Tür ab, während Jacquel weiter dem Mann zuhörte, der mit Lila Goodchild verheiratet gewesen war, ein alter Mann in Pantoffeln und Bademantel auf einem winterlichen Gehweg, der, von der Kälte unbeirrt, Jacquel klarzumachen versuchte, dass seine Kinder Aasgeier seien, jawohl, nichts Besseres als Aasgeier, die nur darauf lauerten, sich das Wenige zu schnappen, was Lila und er zusammengespart hätten, und sie beide seien erst nach St. Louis geflohen, dann nach Memphis, nach Miami, und schließlich seien sie in Cairo gelandet, und wie erleichtert er doch sei, dass Lila nicht in einem Pflegeheim gestorben sei, aber ihm graue davor, dass genau das ihm nun bevorstehen mochte.

Sie begleiteten den alten Mann zurück ins Haus und brachten ihn nach oben in sein Zimmer. Ein kleiner Fernsehapparat leierte aus einer Ecke des Schlafzimmers heraus. Als Shadow daran vorbeikam, bemerkte er, dass der Nachrichtensprecher grinste und ihm zuzwinkerte. Sobald er sich sicher war, dass niemand in seine Richtung sah, zeigte er dem Apparat den Stinkefinger.

»Die haben kein Geld«, sagte Jacquel, als sie wieder im Wagen saßen. »Morgen kommt er, um sich mit Ibis zu besprechen. Er wird das billigste Begräbnis nehmen wollen. Die Freundinnen der Verstorbenen, schätze ich, werden ihn aber dazu überreden, sie schicklich zu behandeln, um ihr einen würdigen Abschied zu verschaffen. Da wird er murren. Hat einfach kein Geld. Niemand hat heutzutage Geld in dieser Gegend. Na ja, in sechs Monaten wird er selbst tot sein. Spätestens in einem Jahr.«

Schneeflocken trieben durchs Scheinwerferlicht. Der Schnee war inzwischen nach Süden vorgedrungen.

»Ist er krank?«, sagte Shadow.

»Daran liegt’s nicht. Die Frauen überleben ihre Männer meist lange Zeit. Aber Männer – Männer wie er –, die leben nicht mehr lange, wenn ihre Frauen gestorben sind. Warten Sie’s ab – er wird sich nicht mehr zurechtfinden, all die vertrauten Dinge werden mit ihr verschwunden sein. Er wird müde und welkt dahin, und dann gibt er auf und ist weg. Vielleicht erwischt ihn die Grippe, vielleicht wird es auch der Krebs sein, oder sein Herz bleibt stehen. Man ist alt, der ganze Kampfgeist ist erloschen. Dann stirbt man.«

Shadow dachte nach. »Äh, Jacquel?«

»Ja.«

»Glauben Sie an die Seele?« Es war nicht ganz die Frage, die er hatte stellen wollen, und es überraschte ihn selbst, sie aus seinem Munde zu hören. Er hatte sich weniger direkt ausdrücken wollen, aber offenbar war ihm nichts weniger Direktes eingefallen.

»Kommt drauf an. Zu meiner Zeit war alles genau eingerichtet. Wenn du tot warst, musstest du antreten und über deine guten und bösen Taten Rechenschaft ablegen, und wenn die bösen Taten schwerer wogen als eine Feder, dann haben wir deine Seele und dein Herz an Ammit verfüttert, die Verschlingerin der Seelen.«

»Die muss dann ja eine Menge Leute gefressen haben.«

»Nicht so viele, wie man annehmen sollte. Es war eine wirklich schwere Feder. Spezialanfertigung. Man musste schon verdammt böse gewesen sein, um mehr auf die Waage zu bringen als dieses Teil. Halten Sie hier, da an der Tankstelle. Wir müssen ein bisschen nachtanken.«

Die Straßen waren ruhig, so ruhig, wie sie es nur waren, wenn der erste Schnee fiel. »Es wird eine weiße Weihnacht geben«, sagte Shadow, während er das Benzin einlaufen ließ.

»Jau. Scheiße. Dieser Junge war ein verdammtes Glückskind.«

»Jesus?«

»Mehr Glück als Verstand. Der konnte in die Jauchegrube fallen und hat trotzdem nach Rosen geduftet. Mensch, das ist noch nicht mal sein richtiger Geburtstag, wussten Sie das? Er hat ihn von Mithras geklaut. Sind Sie Mithras mal über den Weg gelaufen? Rote Mütze. Netter Junge.«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Tja … Ich habe Mithras auch noch nie in dieser Gegend gesehen. Er war ein Militärbalg. Vielleicht ist er zurück in den Nahen Osten und lässt es dort langsam angehen, aber ich schätze, er ist inzwischen ganz weg. So was kommt vor. Eben noch muss jeder Soldat im Blut deines Opferstieres baden, und im nächsten Moment erinnert sich schon keiner mehr an deinen Geburtstag.«

Wusch machten die Scheibenwischer, schoben den Schnee zur Seite und häuften die Flocken zu spiralförmigen, klaren Eisklumpen zusammen.

Die Ampel vor ihnen sprang plötzlich von Gelb auf Rot um, und Shadow stieg auf die Bremse. Der Leichenwagen schlitterte und schlingerte über die leere Straße, bevor er zum Stehen kam.

Die Ampel wechselte wieder auf Grün. Shadow beschleunigte den Leichenwagen auf knapp zwanzig Stundenkilometer, was angesichts der glatten Straßen ausreichend zu sein schien. Der Wagen war völlig zufrieden damit, im zweiten Gang dahingondeln zu dürfen: Vermutlich war er an diese Geschwindigkeit, mit der sich der Verkehr sehr gut aufhalten ließ, gewöhnt.

»So ist es gut«, sagte Jacquel. »Ja, also, Jesus kommt hierzulande ganz gut zurecht. Ich hab aber mal jemanden gesprochen, der hat gemeint, er hätte ihn in Afghanistan am Straßenrand stehen und den Daumen raushalten sehen, aber kein Auto hätte angehalten, um ihn mitzunehmen. Verstehen Sie? Es kommt alles drauf an, wo man ist.«

»Ich glaube, dass da ein echter Sturm aufzieht«, sagte Shadow. Er sprach vom Wetter.

Als Jacquel nach einer ganzen Weile zu einer Antwort ansetzte, sprach er ganz und gar nicht vom Wetter. »Sehen Sie mich und Ibis an«, sagte er. »In ein paar Jahren werden wir nicht mehr im Geschäft sein. Wir haben Geld für die mageren Jahre beiseite gelegt, aber die mageren Jahre dauern jetzt schon ziemlich lange an, und jedes Jahr werden sie noch ein bisschen magerer. Horus ist verrückt geworden, richtig reif für die Klapsmühle, verbringt seine ganze Zeit als Falke und ernährt sich von überfahrenen Tieren. Ich mein, was für ein Leben ist das denn? Bastet haben Sie ja gesehen. Aber uns geht es noch vergleichsweise gut. Wir haben wenigstens noch ein bisschen Glauben, der uns am Laufen hält. Die meisten von den Trotteln da draußen haben ja praktisch nicht mal das. Es ist wie im Bestattungsgeschäft – die Großen kaufen dich eines Tages auf, ob es dir gefällt oder nicht, weil sie halt größer und leistungsfähiger sind, und weil sie funktionieren. Kämpfen ändert daran keinen Furz, weil wir diese spezielle Schlacht nämlich schon verloren haben, als wir in dieses grüne Land gekommen sind, vor hundert Jahren oder tausend oder zehntausend. Wir kamen hier an, und Amerika hat sich einfach nicht dafür interessiert, dass wir da waren. Wir werden aufgekauft, oder wir bleiben am Ball, oder wir machen uns auf die Socken. Ja, in der Tat. Sie haben Recht. Der Sturm zieht auf.«

Shadow bog in die Straße, in der, mit einer Ausnahme, sämtlich verriegelte und verrammelte Häuser standen. »Nehmen Sie die Seitengasse«, sagte Jacquel.

Er fuhr den Leichenwagen rückwärts bis fast an die Flügeltüren auf der Hinterseite des Hauses heran. Ibis öffnete die Haustür und die Hecktür des Wagens; Shadow schnallte die Bahre los und zog sie nach draußen. Die Radstützen rotierten und klappten nach unten, nachdem sie die Stoßstange passiert hatten. Er rollte die Bahre zum Balsamiertisch. Er hob Lila Goodchild hoch, wiegte sie in ihrem undurchsichtigen Sack wie ein schlafendes Kind und legte sie vorsichtig auf den Tisch der kalten Leichenhalle, als müsste er befürchten, sie aufzuwecken.

»Ach, ich hätte eigentlich eine Schwinglade zum Hieven«, sagte Jacquel. »Sie brauchen sie nicht zu tragen.«

»Das ist doch ein Klacks«, sagte Shadow. Er klang allmählich schon fast wie Jacquel. »Groß und stark, wie ich bin, macht mir das nichts.«

Als Kind war Shadow für sein Alter eher klein gewesen, hatte nur aus Ellbogen und Knien bestanden. Das einzige Kindheitsfoto von ihm, das Laura für würdig befunden hatte, zu rahmen, zeigte einen ernsten Jungen mit dunklen Augen und widerspenstigem Haar, der neben einem mit Kuchen und Keksen beladenen Tisch steht. Das Bild mochte anlässlich einer Botschaftsweihnachtsfeier aufgenommen worden sein; er war jedenfalls in sein bestes Zeug gesteckt worden und trug eine Fliege.

Sie waren unablässig umgezogen, Shadow und seine Mutter, erst durch Europa von Botschaft zu Botschaft, wo seine Mutter als Telegrafistin im Auswärtigen Dienst gearbeitet hatte, geheime Telegramme transkribierte und durch die Welt schickte, und dann, als er acht Jahre alt war, zurück in die USA, wo seine Mutter, inzwischen zu kränklich, um sich in einer festen Position zu halten, ruhelos von einer Stadt in die nächste gezogen war, hier ein Jahr und dort ein Jahr, und sie beide, sofern es ihr gut genug ging, mit Zeitarbeitsjobs über Wasser gehalten hatte. Sie blieben niemals lange genug an einem Ort, dass Shadow Freunde finden, sich zu Hause fühlen oder seine Befangenheit abstreifen konnte. Und Shadow war, wie gesagt, ein eher schmächtiges Kind …

Er war dann unheimlich schnell gewachsen. Im Frühling seines dreizehnten Lebensjahres hatten es seine Schulkameraden noch auf ihn abgesehen, provozierten ihn zu Prügeleien, weil sie wussten, dass sie ihm überlegen waren, und danach rannte Shadow, wütend und oft auch weinend, immer auf die Jungentoilette, um sich den Dreck oder das Blut aus dem Gesicht zu waschen, bevor es jemand mitbekam. Schließlich kam der Sommer, ein langer, magischer dreizehnter Sommer, den er damit verbrachte, den größeren Jungen aus dem Weg zu gehen, im örtlichen Schwimmbad zu baden und am Beckenrand Bücher aus der Leihbücherei zu lesen. Zu Beginn des Sommers konnte er kaum schwimmen. Ende August zog er locker kraulend seine Bahnen, sprang vom hohen Turm und war unter dem Einfluss von Sonne und Wasser zu einem tief gebräunten Jüngling herangereift. Im September, als die Schule wieder anfing, entdeckte er, dass die Jungen, die ihm zuvor das Leben schwer gemacht hatten, kleine, weichliche Wesen waren, unfähig, ihn aus der Fassung zu bringen. Die beiden, die es dennoch abermals versuchten, bekamen bessere Manieren beigebracht, kurz und schmerzhaft, und Shadow stellte fest, dass er sich neu zu positionieren hatte: Er konnte nicht länger der stille Junge sein, der sich immer hübsch im Hintergrund hielt. Dafür war er jetzt zu groß, zu auffällig. Am Ende des Jahres war er Mitglied der Schulmannschaften im Schwimmen und Gewichtheben, und auch der Trainer der Triathleten wollte ihn für sein Team werben. Es gefiel ihm, groß und stark zu sein. Es verlieh ihm eine Identität. Er war ein stiller, schüchterner Bücherwurm gewesen, was für einen Jungen mit einigem Ungemach verbunden war; jetzt aber war er ein großer, tumber Brocken, und niemand erwartete etwas anderes von ihm, als dass er in der Lage war, ohne fremde Hilfe ein Sofa von einem Zimmer ins andere zu schleppen. Jedenfalls bis Laura in sein Leben trat.


Mr. Ibis hatte das Abendessen bereitet: Reis und gekochtes Grüngemüse für sich und Mr. Jacquel. »Ich bin kein Fleischesser«, erklärte er. »Und Jacquel bekommt alles Fleisch, das er braucht, im Zuge seiner Arbeit.« Neben Shadows Platz lag ein Karton mit Hühnchenstücken, die man bei einem KFC besorgt hatte, und eine Flasche Bier.

Es war mehr Huhn da, als Shadow bewältigen konnte, und so ließ er auch der Katze etwas zukommen, entfernte die Haut und die knusprige Panade und zerkleinerte dann das Fleisch mit den Fingern in mundgerechte Happen.

»Im Gefängnis kannte ich einen Typen namens Jackson«, sagte Shadow, während er aß, »der hat in der Gefängnisbibliothek gearbeitet. Er hat mir erzählt, dass sie den Namen von Kentucky Fried Chicken in KFC geändert haben, weil sie kein echtes Hühnerfleisch mehr verwenden. Die nehmen stattdessen jetzt dieses genetisch veränderte Mutantending, so etwas wie ein riesiger Tausendfüßler ohne Kopf, der nur aus Keulen, Brust und Flügeln besteht. Ernährt wird er über Nährstoffkanülen. Der Typ da also meinte, der Staat würde denen nicht erlauben, das Wort Chicken weiter zu verwenden.«

Mr. Ibis lüpfte die Augenbrauen. »Glauben Sie, dass da was dran ist?«

»Nee. Mein alter Zellengenosse Low Key dagegen hat gemeint, die hätten den Namen geändert, weil das Wort fried ein böses Wort geworden sei. Vielleicht wollen sie die Leute ja glauben machen, dass die Hühner sich irgendwie selber braten.«

Nach dem Essen entschuldigte sich Jacquel und ging nach unten in die Leichenhalle. Ibis zog sich zum Schreiben in sein Arbeitszimmer zurück. Shadow blieb noch kurz in der Küche sitzen, fütterte die kleine braune Katze mit Hühnchenfetzen und schlürfte sein Bier. Nachdem das Bier und die Hühnchenteile alle waren, wusch er Teller und Besteck ab, ließ alles auf der Geschirrablage zum Trocknen liegen und ging dann nach oben.

Als er sein Zimmer erreichte, lag die kleine braune Katze bereits wieder schlafend, zu einem pelzigen Halbmond zusammengerollt, am Fußende des Bettes. In der mittleren Schublade der Frisierkommode fand er mehrere gestreifte Baumwollpyjamas. Sie sahen aus, als wären sie siebzig Jahre alt, rochen aber frisch, und als er versuchsweise einen davon überstreifte, passte er genau wie der schwarze Anzug, als wäre auch er speziell für ihn geschneidert worden.

Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett lag ein schmaler Stapel von Reader’s-Digest-Heften, keines davon später als März 1960 erschienen. Jackson, der Typ in der Bücherei – derselbe, der sich für die Wahrheit der Kentucky-Fried-Mutant-Chicken-Creature-Story verbürgt und der ihm auch die Geschichte von den schwarzen Güterzügen erzählt hatte, die im Schutze der Nacht durchs Land fuhren, vom Staat eingesetzt, um politische Gefangene in geheime Konzentrationslager in Nordkalifornien zu verfrachten –, Jackson also hatte ihm ferner berichtet, dass die CIA Readers Digest nur als Tarnung für ihre Zweigstellen in aller Welt benutze. Ihm zufolge war jedes Reader’s-Digest-Büro, egal, in welchem Land, in Wirklichkeit nichts als die CIA.

»Ein Witz«, sagte der verstorbene Mr. Wood in Shadows Erinnerung. »Warum können wir sicher sein, dass die CIA nichts mit der Kennedy-Ermordung zu tun hatte?«

Shadow drückte das Fenster einen Spaltbreit auf – gerade weit genug, dass etwas Luft hereinströmte, und gerade genug, dass die Katze nach draußen auf den Balkon gelangen konnte.

Er schaltete die Nachttischlampe ein, stieg ins Bett, und in der Hoffnung, abschalten zu können, die Ereignisse der letzten Tage aus dem Kopf zu bekommen, las er noch ein bisschen, suchte sich die uninteressantesten Artikel in den uninteressantesten Digest-Heften aus. Er merkte, wie er mitten in der Lektüre von »Ich bin Joes Bauchspeicheldrüse« im Begriff war einzuschlafen. Er schaffte es gerade noch, die Nachttischlampe auszuknipsen und den Kopf aufs Kissen zu betten, bevor ihm die Augen zufielen.


Später sollte es ihm nie mehr gelingen, den Verlauf und die Einzelheiten jenes Traums zu rekonstruieren: Alle Versuche, die Erinnerung wachzurufen, brachten nicht mehr hervor als ein Gewirr von dunklen Bildern. Da war zunächst eine junge Frau. Er hatte sie irgendwo kennen gelernt, und jetzt spazierten sie über eine Brücke. Diese spannte sich mitten in einem Stadtgebiet über einen kleinen See. Der Wind kräuselte die Oberfläche des Sees und verzierte die Wellen mit kleinen weißen Schaumkronen, die Shadow wie winzige, nach ihm greifende Händchen scheinen wollten.

Da unten, sagte die Frau. Sie trug einen Rock mit Leopardenmuster, der im Winde flatterte, das Fleisch zwischen dem Rand ihrer Strümpfe und ihrem Rock war weich und cremefarben, und in seinem Traum, dort auf der Brücke, vor Gott und der Welt, ging Shadow vor ihr auf die Knie, begrub den Kopf in ihrem Schoß, saugte ihren berauschend wilden weiblichen Duft ein. Im Traum wurde er auch seiner Erektion im wirklichen Leben gewahr, ein hartes, pochendes, monströses Ding, ebenso schmerzhaft in seiner Starrheit wie die Erektionen, die er als Junge gehabt hatte, als er in die Pubertät gestürzt war.

Er riss sich los und blickte nach oben, aber immer noch nicht konnte er ihr Gesicht erkennen. Aber sein Mund suchte ihren Mund, und ihre Lippen fühlten sich weich an. Er legte die Hände um ihre Brüste, und dann strich er über die samtene Weichheit ihrer Haut, drängte hinein in das Pelzwerk, das ihre Mitte verbarg, und teilte es, glitt in ihre wundervolle Spalte, die sich für ihn erwärmte, befeuchtete und teilte, sich seiner Hand wie eine Blume öffnete.

Die Frau, eng an ihn gepresst, schnurrte verzückt, ihre Hand glitt hinunter, dorthin, wo er hart war, und drückte ihn. Er stieß die Decken beiseite und rollte sich auf sie, spreizte mit der Hand ihre Schenkel, ihre Hand wiederum geleitete ihn zwischen ihre Beine, wo mit einem Stoß, einem magischen Hineindrängen …

Jetzt lag er mit ihr in seiner alten Gefängniszelle, und er küsste sie inniglich. Sie schlang die Arme um ihn, schloss die Beine fest um seine Schenkel, sodass er nicht herauskonnte, selbst wenn er gewollt hätte.

Nie zuvor hatte er solch weiche Lippen geküsst. Er hatte nicht geahnt, dass es auf der Welt solch weiche Lippen gab. Ihre Zunge allerdings war rau wie Schmirgelpapier, als sie gegen seine glitt.

Wer bist du?, fragte er.

Sie gab keine Antwort, sondern schob ihn so, dass er auf den Rücken zu liegen kam, bestieg ihn in einer einzigen geschmeidigen Bewegung und fing an, ihn zu reiten. Nein, nicht zu reiten: sich ihm anzuschmeicheln in einer Serie von seidenweichen Wellen, eine mächtiger als die andere, mit Streichen und Stößen und Rhythmen, die gegen Geist und Körper brandeten wie vom Wind gepeitschte Wellen ans Seeufer. Ihre Nägel waren scharf und spitz wie Nadeln und bohrten sich ihm in die Seite, harkten durch seine Haut, er aber fühlte keinen Schmerz, nur Vergnügen, irgendeiner Alchemie gleich, die bewirkte, dass alles in Momente äußersten Wohlgefallens umgewandelt wurde.

Er mühte sich, nicht verloren zu gehen, mühte sich zu reden, den Kopf jetzt voller Sanddünen und Wüstenwinde.

Wer bist du?, fragte er wieder und rang dabei um jedes einzelne Wort.

Sie starrte ihn aus dunklen Bernsteinaugen an, dann senkte sie den Mund auf seinen und küsste ihn mit einer Leidenschaft, küsste ihn so umfassend und inniglich, dass er dort, auf der Brücke über dem See, in seiner Gefängniszelle, im Bett des Bestattungsinstituts von Cairo, beinahe gekommen wäre. Er ritt auf dem Gefühl, wie ein Drachen auf einem Wirbelsturm reitet, wollte es seinem Willen unterwerfen, damit es nicht überschäumte, nicht explodierte, damit es niemals endete. Er zwang es unter Kontrolle. Er musste sie warnen.

Meine Frau, Laura. Sie wird dich umbringen.

Aber nein, mich doch nicht, sagte sie.

Ein Fetzen Unsinn stieg aus irgendwelchen Tiefen seiner Gedanken herauf: Im Mittelalter glaubte man, dass eine Frau, die beim Koitus oben lag oder saß, einen Bischof empfangen würde. »Sich um einen Bischof bemühen« nannte man es damals.

Er wollte ihren Namen wissen, aber er wagte es nicht, sie ein drittes Mal zu fragen; sie presste die Brust gegen seine, er konnte ihre harten Nippel spüren, und sie drückte ihn, irgendwie drückte sie ihn da unten, tief in sich drin, und diesmal konnte er nicht darauf reiten oder surfen, diesmal packte es ihn, wirbelte es ihn herum und davon, und er bäumte sich auf, drückte sich so tief in sie hinein, wie es nur vorstellbar war, als wären sie auf gewisse Weise beide Teil ein und desselben Wesens, schmeckend, trinkend, haltend, begehrend …

Lass es los, sagte sie, ihre Stimme ein kehliges, katzenhaftes Knurren. Gib es mir. Lass es los.

Und dann kam er, krampfartig, sich auflösend, sein Geist selbst schien sich zu verflüssigen und dann langsam von einem Zustand zum nächsten überzugehen.

Und irgendwann, als es zu Ende ging, holte er Luft, atmete klare, frische Luft ein, die er bis in die tiefsten Tiefen der Lunge spürte, und da wusste er, dass er die Luft schon sehr lange angehalten hatte. Drei Jahre mindestens. Vielleicht noch länger.

Jetzt ruhe dich aus, sagte sie und küsste seine Lider mit ihren weichen Lippen. Lass es abfallen. Lass alles von dir abfallen.

Der Schlaf danach war tief und traumlos und wohlig. Shadow tauchte tief hinab und hielt ihn fest.


Das Licht war seltsam. Es war, wie er seiner Armbanduhr entnahm, sechs Uhr fünfundvierzig und draußen noch dunkel, das Zimmer jedoch lag in blassblauem Halbdunkel. Er stieg aus dem Bett. Er wusste mit Sicherheit, dass er, als er am Vorabend zu Bett gegangen war, einen Pyjama getragen hatte, jetzt aber war er nackt, und es zog kalt auf seiner Haut. Er ging zum Fenster und machte es zu.

In der Nacht hatte es einen Schneesturm gegeben: Fünfzehn Zentimeter Schnee waren gefallen, vielleicht noch mehr. Der Teil der Stadt, den Shadow von seinem Fenster aus sehen konnte, zuvor eine schmutzige, heruntergekommene Ecke, war in etwas ganz anderes, Sauberes, verwandelt worden: Die Häuser waren nicht mehr verlassen und vergessen, sondern in Eleganz erstarrt. Die Straßen waren überhaupt nicht mehr zu sehen, verschwunden unter einer weißen Schneedecke.

Da war eine Idee, ein Gedanke, der am Rande seiner Wahrnehmung lauerte. Irgendwas im Zusammenhang mit Flüchtigkeit. Es flackerte kurz auf und war dann wieder verschwunden.

Er konnte alles so gut erkennen, als wäre es heller Tag.

Im Spiegel bemerkte Shadow etwas Seltsames. Er trat näher und besah sich verwirrt. Alle seine blauen Flecken waren verschwunden. Er fasste sich an die Seite, drückte mit den Fingerspitzen fest hinein, tastete nach den schmerzhaften Druckstellen, die eigentlich von seinem Zusammentreffen mit den Herren Stone und Wood zeugen sollten, forschte nach den sich grünlich verfärbenden Körperveilchen, die er Mad Sweeney zu verdanken hatte – fand aber nicht das Geringste. Sein Gesicht zeigte keinerlei Spuren. An beiden Seiten jedoch und auch auf dem Rücken (er drehte sich herum, um die Angelegenheit zu untersuchen) waren Kratzer, die wie Krallenspuren aussahen.

Er hatte also nicht geträumt. Jedenfalls nicht alles.

Shadow zog die Schubladen auf und fand, was er suchte: eine alte blaue Levis, ein Hemd, einen dicken blauen Pullover und schließlich noch einen schwarzen Leichenbestattermantel, der im Kleiderschrank in der hinteren Zimmerecke hing.

Er schlüpfte in seine eigenen alten Schuhe.

Das Haus lag noch im Schlaf. Er schlich vorwärts, zwang die Bodendielen per Willenskraft, jegliches Knarren zu unterlassen, und dann war er aus dem Haus heraus und lief durch den Schnee, wobei er auf dem Gehsteig tiefe Fußspuren hinterließ. Es war heller draußen, als es von drinnen den Anschein gehabt hatte, der Schnee reflektierte das Licht, das vom Himmel kam.

Eine Viertelstunde später kam Shadow zu einer Brücke, neben der ihn ein großes Schild darauf hinwies, dass er im Begriff sei, die Altstadt von Cairo zu verlassen. Ein Mann stand unter der Brücke, groß und schlaksig, saugte an einer Zigarette und zitterte vor sich hin. Shadow glaubte, den Mann zu kennen.

Und dann, unter der Brücke, war er trotz der winterlichen Dunkelheit nahe genug herangekommen, um die violett verwischten blauen Flecken rund um die Augen des Mannes zu erkennen, und er sagte: »Guten Morgen, Mad Sweeney.«

Die Welt war so ruhig. Die eingeschneite Stille wurde nicht einmal durch Autos gestört.

»He, Alter«, sagte Mad Sweeney. Er blickte nicht auf. Bei der Zigarette handelte es sich um eine selbst gedrehte.

»Wenn du es dir zur Gewohnheit machst, dich unter Brücken herumzutreiben, Mad Sweeney«, sagte Shadow, »werden die Leute noch denken, dass du ein Troll bist.«

Jetzt blickte Mad Sweeney doch auf. Shadow konnte sogar das Weiße in den Augen rund um die Iris sehen. Der Mann wirkte verängstigt. »Ich hab nach dir gesucht«, sagte er. »Du musst mir helfen, Mann. Ich stecke voll in der Scheiße.« Er saugte an seiner selbst gedrehten Zigarette und zog sie dann aus dem Mund. Das Zigarettenpapier blieb an der Unterlippe hängen, und die Zigarette fiel auseinander, verstreute ihren Inhalt über den rotblonden Bart und auf das dreckige T-Shirt. Mad Sweeney bürstete die Krümel mit schwarz gefärbten Händen ab, so hektisch, als handelte es sich um gefährliche Insekten.

»Meine Mittel sind ziemlich erschöpft, Mad Sweeney«, sagte Shadow. »Aber erzähl doch erst einmal, was genau du brauchst. Soll ich dir einen Kaffee holen?«

Mad Sweeney schüttelte den Kopf. Er zog einen Tabakbeutel und Blättchen aus der Tasche seiner Jeansjacke und begann sich eine neue Zigarette zu drehen. Der Bart wogte und der Mund bewegte sich während dieser Beschäftigung, obwohl kein Wort zu hören war. Er leckte an der gummierten Seite des Zigarettenpapiers und drehte es zwischen seinen Fingern. Das Resultat ähnelte nur sehr entfernt einer Zigarette. Schließlich sagte er: »Ich bin kein Troll. Scheiße. Diese Saukerle sind echt fies

»Ich weiß, dass du kein Troll bist, Sweeney«, sagte Shadow sanft. »Also, wie kann ich dir helfen?«

Mad Sweeney ließ ein Messingfeuerzeug aufflammen, ein Fingerbreit der Zigarette glühte auf und wurde zu Asche. »Weißt du noch, dass ich dir gezeigt habe, wie man sich eine Münze nimmt? Erinnerst du dich daran?«

»Ja«, sagte Shadow. Er sah die Goldmünze vor seinem inneren Auge, sah sie in Lauras Sarg purzeln, sah sie an ihrem Hals glitzern. »Ich erinnere mich.«

»Du hast die falsche Münze genommen, Alter.«

Ein Auto näherte sich der Düsternis unter der Brücke und blendete sie mit den Scheinwerfern. Es wurde langsamer, während es an ihnen vorbeifuhr, hielt schließlich, und ein Fenster glitt nach unten. »Alles in Ordnung bei Ihnen, meine Herren?«

»Alles prima, danke, Officer«, sagte Shadow. »Wir machen nur einen kleinen Morgenspaziergang.«

»Dann ist es ja gut«, sagte der Polizist. Er sah nicht aus, als würde er glauben, dass alles in Ordnung war. Er wartete. Shadow legte Mad Sweeney eine Hand auf die Schulter und schob ihn vorwärts, aus der Stadt raus, weg von dem Streifenwagen. Er hörte, wie das Fenster sich summend schloss, aber der Wagen blieb, wo er war.

Shadow lief weiter. Mad Sweeney lief neben ihm her, manchmal schwankte er dabei.

Der Streifenwagen gondelte langsam an ihnen vorbei, wendete und fuhr, während er auf der eingeschneiten Straße beschleunigte, zurück in die Stadt.

»So, jetzt erzähl mir mal, was dich bedrückt«, sagte Shadow.

»Ich hab’s so gemacht, wie er es wollte, aber ich hab dir die falsche Münze gegeben. Es sollte nicht diese Münze sein. Die ist nur für Königliche. Verstehst du? Normalerweise dürfte ich gar nicht imstande sein, sie zu nehmen. Es ist die Münze, die man dem König von Amerika höchstselbst geben würde. Nicht irgendeinem unbedeutenden Scheißer wie dir oder mir. Und jetzt bin ich ganz groß in Schwulitäten. Gib mir einfach die Münze wieder, Alter. Du siehst mich danach nie wieder, das schwör ich dir. Ich schwör’s bei all den Jahren, die ich in den Scheißbäumen verbracht habe.«

»Du hast es gemacht, wie wer es wollte, Sweeney?«

»Grimnir. Der Typ, den du Wednesday nennst. Weißt du eigentlich, wer das ist? Wer das in Wirklichkeit ist?«

»Ja. Ich glaube schon.«

Ein Ausdruck von Panik lag in den wahnsinnigen blauen Augen des Iren. »Es war nichts Böses. Nichts, das du – nichts Böses jedenfalls. Er hat mir nur gesagt, ich soll da in die Bar kommen und eine Schlägerei mit dir anzetteln. Er wollte einfach sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist.«

»Hat er sonst noch was von dir verlangt?«

Sweeney zitterte und zuckte; Shadow dachte zunächst, dass das auf die Kälte zurückzuführen war, dann aber fiel ihm ein, woher er diese Art von Schauderzittern kannte: aus dem Gefängnis. Es war das Zittern der Junkies. Sweeney war auf Entzug, und Shadow hätte wetten mögen, dass es sich um Heroinentzug handelte. Ein Junkie-Leprechaun? Mad Sweeney zwickte die brennende Spitze der Zigarette ab, ließ sie zu Boden fallen und steckte den ungerauchten, vergilbenden Rest in die Tasche. Er rieb die vor Dreck starrenden Finger aneinander und hauchte dagegen, um sie zu wärmen. Seine Stimme kam jetzt jämmerlich: »Hör zu, gib mir einfach die Scheißmünze, Alter. Ich geb dir eine andere dafür, die ist genauso gut. Scheiße noch mal, ich geb dir einen ganzen Haufen von den Kackdingern.«

Er nahm seine schmierige Baseballmütze ab, streichelte mit der rechten Hand die Luft und brachte eine große Goldmünze zum Vorschein. Er ließ sie in die Mütze fallen. Dann holte er eine weitere aus dem Dampf seines Atems, und noch eine und noch eine, er fing und klaubte sie aus der unbewegten Morgenluft, bis die Baseballmütze randvoll war und er sie mit beiden Händen festhalten musste.

Er streckte Shadow die mit Gold gefüllte Baseballmütze entgegen. »Hier«, sagte er. »Nimm sie, Mann. Gib mir nur die Münze wieder, die ich dir gegeben hab.« Shadow betrachtete die Mütze und fragte sich, wie viel ihr Inhalt wohl wert sein mochte.

»Was soll ich denn mit den ganzen Münzen anfangen, Mad Sweeney?«, fragte Shadow. »Gibt es überhaupt Stellen, wo man sein Gold gegen Bargeld tauschen kann?«

Kurzzeitig hatte er den Eindruck, der Ire würde ihn schlagen wollen, aber dieser Augenblick verging, und Mad Sweeney stand einfach nur da, und bot wie Oliver Twist die mit Gold gefüllte Mütze mit beiden Händen dar. Auf einmal traten ihm Tränen in die blauen Augen und rannen ihm über die Wangen. Er nahm die Mütze – die jetzt, abgesehen vom schmierigen Schweißband, völlig leer war – und setzte sie wieder auf seinen sich lichtenden Kopf. »Du musst einfach, Alter«, sagte er. »Hab ich dir nicht gezeigt, wie man es macht? Ich hab dir gezeigt, wie man Münzen aus dem Hort nimmt. Ich hab dir gezeigt, wo der Hort ist. Aber gib mir die Münze von neulich zurück. Die gehörte mir nicht.«

»Ich habe sie nicht mehr.«

Mad Sweeneys Tränenfluss versiegte, und auf seinen Wangen erschienen Farbflecke. »Du, du Scheiß …«, sagte er, aber dann fehlten ihm die Worte, er öffnete und schloss nur stumm den Mund.

»Das ist die Wahrheit«, sagte Shadow. »Tut mir Leid. Wenn ich sie hätte, würde ich sie dir ja geben. Aber ich habe sie verschenkt.«

Sweeney klammerte sich mit den dreckigen Händen an Shadows Schultern und starrte ihm mit den blassblauen Augen ins Gesicht. Die Tränen hatten Streifen in die Schmutzschicht von Mad Sweeneys Gesicht gezeichnet. »Scheiße«, sagte er. Shadow roch Tabak, abgestandenes Bier und Whiskeyschweiß. »Du sagst offenbar die Wahrheit, du Scheißer. Hast sie weggegeben, einfach so, aus freiem Willen. Verdammt seien deine dunklen Augen, du hast sie weggeschenkt.«

»Tut mir Leid.« Shadow erinnerte sich an das flüsternde Poltern, mit dem die Münze auf Lauras Sarg gelandet war.

»Ob es dir Leid tut oder nicht, ich bin jetzt am Arsch, verloren und verflucht.« Er wischte sich Nase und Augen mit den Jackenärmeln ab, wobei er seltsame Muster über sein Gesicht schmierte.

Shadow drückte Mad Sweeney in einer verlegenen Männergeste am Oberarm.

»Besser wär’s, ich wäre nie empfangen worden«, sagte Mad Sweeney schließlich. Dann sah er auf. »Der Knabe, dem du sie gegeben hast. Meinst du, der würde sie mir zurückgeben?«

»Es handelt sich um eine Frau. Ich weiß aber nicht, wo sie derzeit ist. Außerdem glaub ich auch nicht, dass sie sie herausrücken würde.«

Sweeney seufzte klagend. »Als ich noch ein ganz junger Hund war«, sagte er, »da habe ich eine Frau kennen gelernt, unter den Sternen, die hat mich mit ihren Möpsen spielen lassen und mir mein Schicksal vorhergesagt. Sie sagte, ich würde westlich des Sonnenuntergangs im Stich gelassen und zugrunde gerichtet werden, und es wäre der Flitter einer toten Frau, der mein Schicksal besiegeln würde. Ich hab aber nur gelacht und mir weiter Gerstenwein eingegossen und noch ein bisschen mit ihren Möpsen gespielt, und geküsst hab ich sie direkt auf ihre hübschen Lippen. Das waren die guten alten Zeiten – die ersten grauen Mönche waren noch nicht in unser Land gekommen, geschweige denn übers grüne Meer nach Westen gefahren. Und nun …« Er brach mitten im Satz ab. Er drehte den Kopf und fasste Shadow ins Auge. »Du solltest ihm nicht trauen«, sagte er vorwurfsvoll.

»Wem?«

»Wednesday. Du darfst ihm nicht trauen.«

»Ich muss ihm nicht trauen. Ich arbeite für ihn.«

»Weißt du noch, wie man es macht?«

»Was denn?« Shadow hatte das Gefühl, er würde sich mit einem halben Dutzend verschiedener Personen unterhalten. Der selbst ernannte Kobold sprudelte und sprang von einer Rolle zur anderen, von einem Gegenstand zum nächsten, als würden die ihm noch verbliebenen Gehirnzellen sich entzünden, entflammen, um dann endgültig zu erlöschen.

»Die Münzen, Mann. Die Münzen. Ich hab dir’s gezeigt, weißt du nicht mehr?« Er hob zwei Finger zum Gesicht, starrte sie an und zog sich dann eine Goldmünze aus dem Mund. Er warf sie Shadow zu, der auch brav die Hand zum Fangen ausstreckte, aber es kam keine Münze bei ihm an.

»Ich war betrunken«, sagte Shadow. »Ich kann mich nicht erinnern.«

Sweeney stolperte über die Straße. Es war jetzt hell, und die Welt lag weiß und grau da. Shadow folgte ihm. Sweeney ging mit langen, sprunghaften Schritten, als wäre er ständig im Begriff zu fallen. Seine Beine fingen ihn jedesmal auf, aber nur, um ihn in den nächsten Stolperschritt zu treiben. Als sie die Brücke erreicht hatten, hielt er sich mit einer Hand an den Backsteinen fest, drehte sich um und sagte: »Hast du ein bisschen Kohle? Ich brauch nicht viel. Nur so viel, dass es für ein Ticket weg von hier reicht. Zwanzig Dollar würden mir voll genügen. Nur einen lausigen Zwanziger, ja?«

»Wo willst du denn mit einem Busticket für zwanzig Dollar hinkommen?«, fragte Shadow.

»Hauptsache, weg von hier«, sagte Sweeney. »Um mich davonzumachen, bevor der Sturm losbricht. Fort aus einer Welt, in der Opiate zur Religion des Volkes geworden sind. Fort von …« Er brach ab und wischte sich die Nase mit der Hand ab, um diese anschließend am Ärmel abzustreifen.

Shadow griff in seine Jeans, zog einen Zwanziger hervor und reichte ihn Sweeney. »Hier.«

Sweeney zerknüllte den Schein und stopfte ihn tief in die Brusttasche seiner ölbefleckten Jeansjacke, die Brusttasche unter dem aufgenähten Flicken, auf dem zwei Geier auf einem abgestorbenen Ast zu sehen waren und darunter die Aufschrift GEDULD? AM ARSCH! ICH GEH JETZT IRGENDWAS UMBRINGEN! Er nickte. »Damit komme ich dahin, wo ich hinmuss«, sagte er.

Er lehnte sich gegen die Mauer und stöberte in seinen Taschen, bis er den Zigarettenstummel fand, den er zuvor nicht zu Ende geraucht hatte. Er zündete ihn vorsichtig an, darauf bedacht, sich weder die Finger zu verbrennen noch den Bart anzuzünden. »Ich will dir eins sagen«, sagte er, als hätte er den ganzen Tag noch gar nichts gesagt. »Du wandelst auf Galgengrund. Du hast einen Strick um den Hals und auf jeder Schulter einen Raben sitzen, der auf deine Augen wartet, und der Galgenbaum hat tiefe Wurzeln, er reicht nämlich vom Himmel bis zur Hölle. Unsere Welt ist dabei nur der Ast, an dem der Strick baumelt.« Er hielt inne. »Ich ruh mich hier ein bisschen aus«, sagte er dann, indem er sich hinkauerte und den Rücken gegen das schwarze Mauerwerk lehnte.

»Viel Glück«, sagte Shadow.

»Scheiß rein, ich bin geliefert«, sagte Mad Sweeney. »Egal, danke jedenfalls.«

Shadow ging zurück in Richtung Stadt. Es war jetzt acht Uhr morgens und Cairo erwachte zum Leben. Er warf einen Blick zurück zur Brücke und sah dort Sweeneys blasses, von Tränen und Dreck gemustertes Gesicht, das ihm nachblickte.

Es war das letzte Mal, dass Shadow Mad Sweeney lebend sehen sollte.


Die kurzen Wintertage vor Weihnachten waren wie Augenblicke des Lichts inmitten der Düsternis des Winters, und im Haus der Toten vergingen sie wie im Fluge.

Es war der 23. Dezember, der Tag, an dem die Firma Jacquel & Ibis eine Totenwache für Lila Goodchild veranstaltete. Geschäftig hin und her eilende Damen belagerten die Küche mit Kübeln und Kochtöpfen, mit Bratpfannen und Tupperware. Die Verstorbene war, umgeben von Treibhausblumen, im Vorderzimmer des Bestattungsinstituts in ihrem Sarg aufgebahrt. Auf der anderen Seite des Raums stand ein Tisch, auf dem sich Krautsalat, Bohnen, Maismehlkrapfen, Hähnchen und Rippchen und Schwarzaugenbohnen stapelten. Am Nachmittag war das Haus voll, die Leute weinten und lachten und schüttelten dem Pastor die Hand, alles unter der diskreten Leitung und Aufsicht der in nüchterne Anzüge gewandeten Herren Jacquel und Ibis. Die Beerdigung war für den folgenden Morgen angesetzt.

Als das Telefon im Flur klingelte (es war aus schwarzem Bakelit und noch mit einer echten Drehscheibe ausgestattet), nahm Mr. Ibis den Anruf entgegen. Anschließend zog er Shadow beiseite. »Das war die Polizei«, sagte er. »Können Sie eine Bergung übernehmen?«

»Klar.«

»Seien Sie diskret. Hier.« Er schrieb die Adresse auf einen Zettel, gab ihn Shadow, der die in gestochener Handschrift notierte Adresse kurz begutachtete und den Zettel zusammenfaltete und in die Tasche steckte. »Da wartet schon ein Streifenwagen«, fügte Ibis noch hinzu.

Shadow ging zur Hintertür hinaus und holte den Leichenwagen. Sowohl Mr. Jacquel als auch Mr. Ibis hatten, jeder für sich, Wert darauf gelegt, ihm auseinander zu setzen, dass der Leichenwagen eigentlich nur für Beerdigungen Verwendung finden sollte. Sie hätten zwar einen Transporter, um Leichen aufzunehmen, aber der sei in Reparatur, seit drei Wochen schon – und ob er bitte äußerst vorsichtig mit dem Leichenwagen umgehen könne? Shadow fuhr also vorsichtig. Die Schneepflüge hatten die Straßen inzwischen geräumt, aber die niedrige Geschwindigkeit war ihm trotzdem sehr recht. Es erschien angemessen, in einem Leichenwagen langsam zu fahren; allerdings konnte er sich kaum erinnern, wann er das letzte Mal einen Leichenwagen auf der Straße gesehen hatte. Der Tod ist von den Straßen Amerikas verschwunden, dachte Shadow, er findet heute hauptsächlich in Krankenhauszimmern und Unfallwagen statt. Wir dürfen die Lebenden nicht erschrecken, dachte Shadow. Mr. Ibis hatte ihm erzählt, dass man die Toten in manchen Krankenhäusern auf der unteren Ebene einer scheinbar leeren, aber abgedeckten Bahre transportierte, womit die Verstorbenen also ihre eigenen verborgenen Wege gingen.

Ein dunkelblauer Streifenwagen parkte in einer Nebenstraße, und Shadow stellte den Leichenwagen dahinter ab. Im Streifenwagen saßen zwei Polizisten und tranken ihren Kaffee aus Thermosflaschendeckeln. Sie hatten den Motor laufen lassen, um im Warmen zu sitzen. Shadow klopfte ans Seitenfenster.

»Ja?«

»Ich komme vom Bestattungsinstitut«, sagte Shadow.

»Wir warten auf den ärztlichen Leichenbeschauer«, sagte der Polizist. Shadow fragte sich, ob es wohl derselbe Polizist war, der ihn unter der Brücke angesprochen hatte. Der Polizist, ein Schwarzer, stieg jetzt ohne seinen Kollegen aus dem Wagen und führte Shadow zu einem Müllcontainer. Mad Sweeney saß neben dem Container im Schnee. Eine leere grüne Flasche lag in seinem Schoß, das Gesicht, die Baseballmütze und die Schultern waren von einer Schnee- und Eisschicht überzogen. Er rührte sich nicht.

»Toter Säufer«, sagte der Polizist.

»Sieht so aus«, sagte Shadow.

»Fassen Sie noch nichts an«, sagte der Polizist. »Der Leichenbeschauer müsste jeden Moment hier sein. Wenn Sie mich fragen, hat der Bursche getrunken, bis er nichts mehr gemerkt hat, und ist dann erfroren.«

»Ja«, sagte Shadow und nickte. »Den Eindruck muss man haben.«

Er ging in die Hocke und betrachtete die Flasche in Mad Sweeneys Schoß. Jameson Irish Whiskey, ein Zwanzigdollarticket weg von hier. Ein kleiner grüner Nissan fuhr heran, ein geplagter Mann mittleren Alters, mit rotblondem Haar und einem rotblonden Schnäuzer, entstieg ihm und kam auf sie zu. Er berührte den Hals der Leiche. Er gibt der Leiche einen Tritt, dachte Shadow, und wenn sie nicht zurücktritt …

»Er ist tot«, sagte der Leichenbeschauer. »Irgendwelche Papiere?«

»Ein Mister Niemand«, sagte der Polizist.

Der Leichenbeschauer sah Shadow an. »Sie arbeiten für Jacquel und Ibis?«, fragte er.

»Ja«, sagte Shadow.

»Sagen Sie Jacquel, er soll für die Identifikation Zahn- und Fingerabdrücke machen und Fotos schießen. Obduktion brauchen wir nicht. Er soll nur Blut für die Toxikologie abnehmen. Haben Sie das? Soll ich’s Ihnen aufschreiben?«

»Nein, schon gut«, sagte Shadow. »Das kann ich behalten.«

Der Mann verzog flüchtig das Gesicht, fischte dann eine Geschäftskarte aus seiner Brieftasche, kritzelte etwas darauf und gab sie Shadow mit den Worten: »Geben Sie das Jacquel.« Dann wünschte der ärztliche Leichenbeschauer allen eine fröhliche Weihnacht und machte sich wieder davon. Die Polizisten nahmen die leere Flasche an sich.

Shadow quittierte den Mister Niemand und legte ihn auf die Bahre. Die Leiche war ziemlich steif, sodass Shadow sie nicht aus der Sitzhaltung herauskriegen konnte. Beim Hantieren mit der Bahre fand er aber heraus, dass man das eine Ende hochklappen konnte. Er schnallte den sitzenden Mister Niemand an der Bahre fest und schob ihn mit dem Gesicht nach vorn hinten in den Leichenwagen. Sollte er doch wenigstens noch eine schöne Fahrt haben. Er zog die Vorhänge am Heckfenster zu. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Bestattungsinstitut.

Shadow hielt den Leichenwagen gerade an einer Ampel an, als er eine Stimme krächzen hörte: »Ich möchte gefälligst einen anständigen Leichenschmaus, von allem nur das Beste, und schöne Frauen, die Tränen vergießen und sich vor Kummer die Kleider zerreißen, und tapfere Männer, die Klage führen und von mir wunderbare Geschichten aus meiner großen Zeit erzählen.«

»Du bist tot, Mad Sweeney«, sagte Shadow. »Man nimmt das, was man kriegt, wenn man tot ist.«

»Aye, das werd ich wohl«, seufzte der tote Mann, der im Heck des Leichenwagens saß. Das Junkie-Gejammer war jetzt aus seiner Stimme verschwunden und wurde durch eine resignierte Eintönigkeit ersetzt; es klang, als würden seine Worte aus sehr großer Entfernung übertragen, tote Worte, gesendet auf einer toten Frequenz.

Die Ampel sprang auf Grün, und Shadow drückte sanft aufs Gas.

»Aber bereite mir trotzdem einen Leichenschmaus«, sagte Mad Sweeney. »Deck mir einen Platz bei Tisch, und bereite mir heut Abend einen sturzbesoffenen Leichenschmaus. Du hast mich umgebracht, Shadow. So viel schuldest du mir wenigstens.«

»Ich hab dich nicht umgebracht, Mad Sweeney«, sagte Shadow. Zwanzig Dollar, dachte er, für ein Ticket weg von hier. »Die Trinkerei und die Kälte waren es, die dich umgebracht haben, nicht ich.«

Es kam keine Antwort, und für den Rest der Fahrt herrschte Schweigen. Nachdem er auf der Rückseite des Hauses geparkt hatte, zog Shadow die Bahre aus dem Wagen und rollte sie ins Leichenschauhaus. Er hievte Mad Sweeney auf den Balsamiertisch, als würde er eine Rinderhälfte bewegen.

Er deckte ein Laken über den Mister Niemand und ließ ihn, mitsamt dem ihn betreffenden Papierkram, dort liegen. Als er die Hintertreppe hinaufstieg, meinte er eine Stimme zu hören, leise und gedämpft, wie ein Radio, das in einem entfernten Zimmer lief, und sie sagte: »Und wie sollten Trinkerei und Kälte mich wohl totkriegen, mich, einen Kobold von edlem Geblüt? Nein, dass du die kleine goldene Sonne verloren hast, Shadow, das hat mich umgebracht, das hat mich mausetot gemacht, so wahr das Wasser nass ist, die Tage lang und ein Freund dich am Ende immer enttäuschen wird.«

Shadow wollte Mad Sweeney darauf hinweisen, dass das aber eine recht sauertöpfische Weltanschauung sei, doch dann überlegte er sich, dass es vermutlich das Totsein war, das einen so sauertöpfisch machte.

Er ging nach oben ins Haupthaus, wo gerade eine Reihe von Frauen mittleren Alters damit beschäftigt war, Frischhaltefolie über Auflaufformen zu spannen und Tupperwaredeckel auf Plastiktöpfe mit abkühlenden Bratkartoffeln oder Käsemakkaroni zu zwängen.

Mr. Goodchild, der Ehemann der Verstorbenen, hatte Mr. Ibis in einer Zimmerecke gestellt und machte ihm eben klar, dass er es von Anfang an gewusst habe, dass keines seiner Kinder kommen werde, um ihrer Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagte er jedem, der es hören wollte. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.


Am Abend deckte Shadow einen zusätzlichen Platz am Tisch. Er stellte an jeden Platz ein Glas und in die Mitte des Tisches eine Flasche Jameson Gold. Es war der teuerste irische Whiskey, der im örtlichen Spirituosenladen erhältlich war. Nachdem sie gegessen hatten (eine große Platte mit Resten, die die Damen ihnen hinterlassen hatten), schenkte Shadow freigebig alle Gläser voll – seines, Ibis’, Jacquels und Mad Sweeneys.

»Und wenn er auch auf einer Bahre im Keller sitzen muss«, sagte Shadow, während er einschenkte, »auf seinem Weg ins Armengrab, heute Abend trinken wir ihm zu und bereiten ihm den Leichenschmaus, den er sich gewünscht hat.«

Shadow erhob sein Glas auf den leeren Sitz am Tisch. »Ich habe Mad Sweeney nur zweimal lebend gesehen«, sagte er. »Das erste Mal dachte ich, er wäre der größte Schwachkopf der Welt und hätte den Teufel im Leib. Das zweite Mal dachte ich, er wäre ein kompletter Versager, und habe ihm das Geld gegeben, mit dem er sich umgebracht hat. Er hat mir einen Münzentrick gezeigt, an den ich mich nicht erinnern kann, mir ein paar blaue Flecken verpasst und behauptet, er sei ein Kobold. Ruhe in Frieden, Mad Sweeney.« Er nahm einen Schluck Whiskey und ließ den rauchigen Geschmack im Mund verdunsten. Auch die andern beiden tranken dem leeren Stuhl zu.

Mr. Ibis griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Notizbuch hervor, blätterte darin, bis er die richtige Seite gefunden hatte, und verlas dann einen zusammengefassten Abriss von Mad Sweeneys Leben.

Mr. Ibis zufolge hatte Mad Sweeney seine Existenz vor über dreitausend Jahren als Wächter eines heiligen Felsens auf einer kleinen irischen Lichtung begonnen. Mr. Ibis berichtete von Mad Sweeneys Liebesaffären, seinen Feindschaften, von der Verrücktheit, die ihm seine Macht verlieh (»eine spätere Version der Geschichte wird noch immer erzählt, obwohl der religiöse Charakter, wie auch die Altertümlichkeit, die die Verse weit gehend haben, längst nicht mehr im Bewusstsein verankert sind«), von der Anbetung und Verehrung in seinem Land, die sich langsam in zurückhaltenden Respekt und schließlich in Belustigung verwandelten; er erzählte ihnen die Geschichte des Mädchens aus Bantry, das in die Neue Welt kam und ihren Glauben an Mad Sweeney, den Kobold, mitbrachte, denn hatte sie ihn nicht eines Nachts mit eigenen Augen erblickt, unten am Tümpel, und hatte er ihr nicht zugelächelt und sie bei ihrem richtigen Namen genannt? Sie war als Flüchtling im Laderaum eines Schiffes gefahren, mit lauter Menschen, die hatten mitansehen müssen, wie ihre Kartoffeln sich auf dem Feld in schwarzen Matsch verwandelten, die hatten mitansehen müssen, wie ihre Freunde und Geliebten verhungerten, und die von einem Land der vollen Mägen träumten. Das Mädchen aus der Bantry Bay träumte besonders von einer Stadt, in der eine junge Frau imstande wäre, so viel Geld zu verdienen, dass sie ihre Familie in die Neue Welt würde nachholen können. Viele der in Amerika eintreffenden Iren hielten sich für Katholiken, selbst wenn sie keine Ahnung vom Katechismus hatten, selbst wenn ihre einzigen religiösen Kenntnisse die Bean Sidhe betrafen, die Banshee, die vor den Mauern der Häuser, in die alsbald der Tod treten würde, zu heulen und zu klagen pflegte, oder auch die heilige Brigitte, die einst Brighid mit den zwei Schwestern war (alle drei waren sie Brigitten, und alle drei waren dieselbe Frau); oder sie kannten die Erzählungen von Finn, von Oisín, von Conan dem Kahlen – sogar von dem kleinen Volk der Leprechauns (und war nicht das der größte Witz der Iren überhaupt, weil die Kobolde zu ihrer Zeit nämlich die Größten unter den Hügelvölkern waren) …

All dies und noch ein bisschen mehr wusste Mr. Ibis an jenem Abend in der Küche zu berichten. Sein Schatten an der Wand war lang gestreckt und ähnelte einem Vogel, und als der Whiskey weiter floss, sah Shadow darin den Kopf eines riesigen Wasservogels mit langem, gebogenem Schnabel, und da geschah es, sie waren gerade beim zweiten Glas, dass Mad Sweeney sich in Mr. Ibis’ Erzählung einschaltete und allerlei Details und Belanglosigkeiten zum Besten gab (»… was ein Mädchen, die Brüste cremefarben und mit Sommersprossen übergossen; die Spitzen von einem satten rötlichen Rosa wie der Sonnenaufgang an einem Tag, wo es vormittags wie aus Kübeln gießt, aber bis zum Abendbrot wieder strahlend schön ist …«), und dann versuchte Sweeney mit Händen und Füßen die Geschichte der Götter in Irland zu erklären, die in zahlreichen Wellen aus Gallien und Spanien und überall hergekommen seien, jede neue Welle habe die Götter der vorigen Welle in Trolle und Feen und was nicht noch für Geschöpfe verwandelt, bis die Heilige Mutter Kirche selbst eingetroffen sei, und da habe sich jeder irische Gott als Fee oder Heiliger oder toter König wiedergefunden, einfach so, mir nichts, dir nichts …

Mr. Ibis putzte seine Goldrandbrille und erklärte unter nachdrücklichem Einsatz seines Zeigefingers – noch deutlicher artikulierend als sonst, woran Shadow erkannte, dass er betrunken war (seine Worte sowie der Schweiß, der sich trotz der Kälte im Haus auf seiner Stirn bildete, waren die einzigen Hinweise darauf) –, dass er ein Künstler sei und seine Erzählungen nicht als literarische Konstrukte anzusehen seien, sondern als fantasievolle Neuschöpfungen, wahrer als die Wirklichkeit, und Mad Sweeney sagte: »Ich zeig dir eine fantasievolle Neuschöpfung, als Erstes wird dir mal meine Faust die Fresse fantasievoll neu gestalten«, worauf Mr. Jacquel die Zähne fletschte und Sweeney anknurrte, ein Knurren wie von einem großen Hund, der nicht unbedingt nach Streit suchte, aber jeden Streit beenden konnte, indem er einem die Kehle zerfleischte, und Sweeney verstand die Botschaft sofort, setzte sich wieder hin und schenkte sich Whiskey nach.

»Hast du behalten, wie ich meinen Münzentrick mache?«, fragte er Shadow grinsend.

»Nein, hab ich nicht.«

»Versuch’s zu raten«, sagte Mad Sweeney, die Lippen purpurrot, die Augen bewölkt. »Ich sag Bescheid, wenn es warm wird.«

»Es hat nichts mit Palmieren zu tun, oder?«, sagte Shadow.

»Hat es nicht.«

»Ist es irgendeine Vorrichtung? Etwas, was du im Ärmel oder sonstwo hast und was dir die Münzen in die Hand schleudert?«

»Auch das ist es nicht. Noch irgendjemand Whiskey?«

»Ich hab in einem Buch gelesen, dass man den ›Traum des Geizhalses‹ bewerkstelligen kann, indem man die Handfläche mit Latex bedeckt, in dem sich ein hautfarbenes Täschchen befindet, wo man die Münzen versteckt.«

»Was für ein trauriger Leichenschmaus für den Großen Sweeney, der wie ein Vogel über ganz Irland geflogen ist und in seinem Wahnsinn Wasserkresse gefressen hat: tot zu sein und nicht betrauert zu werden, außer von einem Vogel, einem Hund und einem Idioten. Nein, es ist kein Täschchen.«

»Tja, das wär’s dann so ziemlich, was mir dazu einfällt«, sagte Shadow. »Ich vermute, du nimmst sie einfach irgendwie aus dem Nichts.« Das war eigentlich ironisch gemeint, aber dann sah er den Ausdruck in Sweeneys Gesicht. »Das ist es also«, sagte er. »Du nimmst sie tatsächlich aus dem Nichts.«

»Na ja, nicht gerade aus dem Nichts«, sagte Mad Sweeney. »Aber du bist jetzt endlich auf der richtigen Fährte. Man nimmt sie aus dem Hort.«

»Dem Hort«, sagte Shadow, und die Erinnerung kehrte langsam wieder. »Genau.«

»Du musst ihn einfach in deinen Gedanken festhalten, und schon steht er dir zur Verfügung. Der Schatz der Sonne. Er ist in den Augenblicken da, wenn die Welt einen Regenbogen schafft. Er ist im Moment der Eklipse und in Zeiten des Sturms da.«

Daraufhin zeigte er Shadow, wie man es anstellte.

Diesmal begriff Shadow es.


Shadow hatte fürchterliches Kopfweh, seine Zunge schmeckte wie Fliegenpapier und fühlte sich auch so an. Er musste wegen des grellen Tageslichts die Augen zukneifen. Er war mit dem Kopf auf der Tischplatte in der Küche eingeschlafen. Abgesehen davon, dass er irgendwann die schwarze Krawatte abgenommen hatte, war er vollständig angekleidet.

Er ging nach unten in die Leichenhalle und stellte mit Erleichterung, wenn auch ohne Überraschung, fest, dass Mister Niemand sich nach wie vor auf dem Balsamiertisch befand. Shadow rang der Leiche die leere Flasche Jameson Gold aus den todesstarren Fingern und warf sie weg. Er hörte, wie oben im Haus jemand hin und her lief.

Als Shadow nach oben kam, saß Mr. Wednesday am Küchentisch. Er hatte einen Plastiklöffel in der Hand und aß Kartoffelsalatreste aus einem Tupperwarebehälter. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine tiefgraue Krawatte – die Morgensonne funkelte auf dem silbernen Baum, als der die Krawattennadel geformt war. Er lächelte, als er Shadow sah.

»Ah, Shadow, mein Junge, schön, dass Sie auf sind. Ich dachte schon, Sie würden ewig schlafen.«

»Mad Sweeney ist tot«, sagte Shadow.

»Das habe ich gehört«, sagte Wednesday. »Sehr bedauerlich. Natürlich steht uns allen das irgendwann bevor.« Er zog ungefähr auf Höhe seines Ohrs an einem imaginären Strick, riss dann den Kopf schräg zur Seite und ließ die Zunge heraushängen und die Augen vortreten. Für eine improvisierte Pantomime wirkte es ausgesprochen unheimlich. Dann ließ er den Strick wieder los und legte sein vertrautes Grinsen auf. »Möchten Sie Kartoffelsalat?«

»Ganz bestimmt nicht.« Shadow ließ den Blick durch die Küche und hinaus in den Flur schweifen. »Wissen Sie, wo Ibis und Jacquel sind?«

»Allerdings. Sie bringen gerade Mrs. Lila Goodchild unter die Erde – eine Tätigkeit, bei der sie sich sicherlich gern von Ihnen hätten helfen lassen, aber ich habe sie gebeten, Sie nicht zu wecken. Sie haben noch eine lange Fahrt vor sich.«

»Heißt das, wir gehen von hier weg?«

»Noch ehe eine Stunde um ist.«

»Ich sollte mich verabschieden.«

»Ach, das Abschiednehmen wird allgemein sowieso überschätzt. Sie werden sie zweifellos wieder sehen, bevor die ganze Angelegenheit vorüber ist.«

Zum ersten Mal seit jener ersten Nacht, stellte Shadow fest, lag die kleine braune Katze zusammengerollt in ihrem Korb. Sie öffnete ihre uninteressierten Bernsteinaugen und blickte ihm hinterher.

Shadow verließ also das Haus der Toten. Die winterschwarzen Büsche und Bäume waren von Eis ummantelt, als sollten sie isoliert, zu Träumen gemacht werden. Der Weg war rutschig.

Wednesday ging zu Shadows weißem Chevy Nova voran, der draußen am Straßenrand stand. Er war kürzlich gesäubert worden, die Wisconsin-Nummernschilder hatte man entfernt und durch Minnesota-Schilder ersetzt. Wednesdays Gepäck lag bereits auf dem Rücksitz. Wednesday schloss den Wagen mit Schlüsseln auf, die offenbar Duplikate derer waren, die Shadow in der Tasche hatte.

»Ich fahre«, sagte Wednesday. »Es dauert noch mindestens eine Stunde, bevor Sie zu irgendwas zu gebrauchen sind.«

Sie fuhren nach Norden, zur Linken den Mississippi, einen breiten silbernen Strom unter einem grauen Himmel. Auf einem kahlen Baum neben der Straße sah Shadow einen riesigen braunweißen Falken sitzen, der aus wahnsinnigen Augen zu ihnen herunterstarrte, als sie auf ihn zufuhren, dann die Flügel ausbreitete und sich in langsamen und mächtigen Kreisen in die Lüfte schwang.

Shadow begriff, dass sein Aufenthalt im Haus der Toten nur eine vorübergehende Atempause gewesen war, und schon begann sich das Ganze anzufühlen wie etwas, was jemand anders erlebt hatte, vor langer, langer Zeit.

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