12
Amerika hat sowohl seine Religion als auch seine Moral in solide, Rendite garantierende Aktien investiert. Es hat die unerschütterliche Haltung einer Nation eingenommen, die gesegnet ist, weil sie den Segen verdient hat; und seine Söhne schließen sich, unabhängig von ihrer sonstigen theologischen Orientierung, diesem Glaubensbekenntnis vorbehaltlos an.
– Agnes Repplier
Shadow fuhr in westliche Richtung, durch Wisconsin und Minnesota nach North Dakota, wo die schneebedeckten Hügel wie riesige schlafende Bisons aussahen. Er und Wednesday bekamen über viele Meilen nichts als nichts zu sehen, davon aber reichlich. Sie wandten sich nach Süden, erreichten South Dakota und näherten sich dem Reservatsland.
Wednesday hatte die Lincoln-Limousine, mit der Shadow gern gefahren war, gegen einen schwerfälligen uralten Winnebago getauscht, der durchdringend und unverkennbar nach rolligem Kater roch und sich überhaupt nicht gut fahren ließ.
Als sie das erste Hinweisschild auf den entfernten Mount Rushmore passierten, grunzte Wednesday. »Was ein heiliger Ort«, sagte er.
Shadow hatte gedacht, dass Wednesday eingeschlafen wäre. »Ich weiß, dass er früher den Indianern heilig war«, sagte er.
»Ein heiliger Ort also«, sagte Wednesday. »Das ist mal wieder typisch für die Amerikaner – sie müssen sich immer einen Vorwand schaffen, um irgendwo hinzufahren und zu huldigen. Heutzutage kann man nicht einfach hergehen und sich einen Berg angucken. Daher Mister Gutzon Borglums gewaltige Präsidentengesichter. Sobald sie fertig gemeißelt waren, wurde die Erlaubnis erteilt, und jetzt kommen die Leute in Massen herausgefahren, um etwas in natura zu besichtigen, was sie schon auf tausend Postkarten gesehen haben.«
»Es gab da mal jemanden, der im Fitnesscenter Gewichte gestemmt hat, ist schon etliche Jahre her. Der hat erzählt, dass die Dakota-Indianer, also die jungen Männer, den Berg rauf klettern und dann an den Köpfen hinunter todesverachtende menschliche Ketten bilden, nur damit derjenige, der das Ende der Kette bildet, dem Präsidenten auf die Nase pissen kann.«
Wednesday lachte brüllend. »Oh, großartig! Ganz ausgezeichnet! Und richtet sich ihr Zorn auf einen ganz bestimmten Präsidenten?«
Shadow zuckte die Achseln. »Davon hat er nichts erzählt.«
Die Meilen entschwanden unter den Rädern des Winnebago. Shadow stellte sich vor, er würde bewegungslos verharren, während die amerikanische Landschaft mit gleich bleibender Geschwindigkeit, fünf Stundenkilometer über dem Tempolimit, an ihnen vorbeizog. Winterlicher Dunst ließ alles von den Rändern her beschlagen.
Es war gegen Mittag des zweiten Tages ihrer Reise, und sie waren schon fast am Ziel. Shadow, der in Gedanken versunken gewesen war, sagte auf einmal: »Letzte Woche ist ein Mädchen aus Lakeside verschwunden. Als wir in San Francisco waren.«
»Hm?« Wednesday klang nicht übermäßig interessiert.
»Eine Jugendliche namens Alison McGovern. Sie soll nicht die Erste sein, die dort verschwunden ist. Sind schon andere vor ihr weg. Immer im Winter.«
Wednesday legte die Stirn in Falten. »Ist das nicht eine Tragödie? Diese ganzen Vermisstenanzeigen, die man immer auf den Milchtüten sieht – obwohl ich mich gar nicht erinnern kann, wann ich zuletzt eines dieser kleinen Gesichter auf einer Milchtüte gesehen habe – und an den Wänden der Autobahnraststätten. ›Hast du mich gesehen?‹, fragen sie einen. Eine normalerweise höchst existenzielle Frage. ›Hast du mich gesehen?‹ Nehmen Sie die nächste Ausfahrt.«
Shadow glaubte einen Hubschrauber von oben zu hören, aber die Wolken hingen zu tief, als dass man etwas hätte erkennen können.
»Warum haben Sie Lakeside ausgewählt?«, fragte Shadow.
»Hab ich doch schon gesagt. Es ist ein schönes ruhiges Plätzchen, um Sie zu verstecken. Da sind Sie aus der Schusslinie, unterhalb des Radars.«
»Warum?«
»Weil es eben so ist. So, da geht’s links lang«, sagte Wednesday.
Shadow bog links ab.
»Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte Wednesday. »Scheiße. Gottverfickte Hundescheiße. Fahren Sie langsamer, aber nicht anhalten.«
»Darf ich um Erläuterung bitten?«
»Es gibt Ärger. Kennen Sie irgendwelche Schleichwege?«
»Kann ich nicht behaupten. Ich bin das erste Mal in South Dakota«, sagte Shadow. »Außerdem weiß ich gar nicht, wo wir hinwollen.«
Auf der anderen Seite des Hügels, durch den Dunst verwischt, flackerte es rötlich auf.
»Straßensperre«, sagte Wednesday. Er grub mit der Hand erst in einer, dann in einer zweiten Tasche seines Anzugs, wo er offenbar irgendetwas suchte.
»Ich kann anhalten und wenden.«
»Wir können nicht umdrehen. Hinter uns sind sie auch«, sagte Wednesday. »Verlangsamen Sie auf fünfzehn, zwanzig Stundenkilometer.«
Shadow warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihnen waren, weniger als eine Meile entfernt, Scheinwerfer zu sehen. »Sind Sie sich da auch ganz sicher?«, fragte er.
Wednesday schnaubte. »So sicher wie das Amen in der Kirche«, sagte er. »Ah, Triumph!« Aus den Tiefen einer Tasche zauberte er ein kleines Stück weißer Kreide hervor.
Er begann damit auf die Windschutzscheibe des Campingbusses zu kritzeln, indem er Zeichen malte, als wollte er eine verzwickte algebraische Aufgabe lösen; vielleicht auch, dachte Shadow, wie ein Landstreicher, der mit Gaunerzinken lange Botschaften für andere kritzelte – bösartiger Hund hier, gefährliche Stadt, nette Frau, gemütliches Gefängnis zum Übernachten …
»Okay«, sagte Wednesday. »Beschleunigen Sie jetzt auf knapp fünfzig. Und dann nicht wieder langsamer werden.«
Einer der Wagen hinter ihnen schaltete Blaulicht und Sirene ein, beschleunigte und kam näher. »Nicht langsamer werden«, wiederholte Wednesday. »Die wollen nur, dass wir abbremsen, bevor wir zur Straßensperre kommen.« Kritzel, kritzel, kritzel.
Sie erreichten den Kamm des Hügels. Die Straßensperre lag keine vierhundert Meter vor ihnen. Zwölf Autos waren quer über die Straße und den Seitenrand verteilt, Polizeiautos und mehrere große schwarze Off-Roaders.
»Da«, sagte Wednesday und steckte die Kreide wieder weg. Die Windschutzscheibe war mittlerweile mit runenartigen Kritzeleien bedeckt.
Der Wagen mit der Sirene war jetzt unmittelbar hinter ihnen. Er hatte auf ihre Geschwindigkeit abgebremst, und eine verstärkte Stimme rief: »Fahren Sie Ihren Wagen an die Seite!« Shadow sah Wednesday an.
»Biegen Sie rechts ab«, sagte Wednesday. »Einfach von der Straße runter.«
»Ich kann mit diesem Ding nicht ins Gelände fahren. Da kippen wir um.«
»Wird schon gutgehen. Fahren Sie rechts runter. Sofort!«
Shadow riss mit der rechten Hand das Steuer herum, worauf der Winnebago ins Schlingern und Holpern kam. Für einen Moment glaubte er, wie Recht er doch gehabt hätte und dass der Campingbus umstürzen würde, aber dann löste sich die Welt vor der Windschutzscheibe schimmernd auf wie das Spiegelbild auf einer klaren Wasseroberfläche, über die der Wind strich.
Die Wolken und der Dunst und der Schnee und der Tag waren verschwunden.
Jetzt leuchteten über ihnen die Sterne und hingen herab wie gefrorene Lichtspeere, die den Nachthimmel durchbohrten.
»Halten Sie hier«, sagte Wednesday. »Den Rest erledigen wir zu Fuß.«
Shadow stellte den Motor ab. Er stieg in den hinteren Teil des Winnebago, wo er sich Mantel, Stiefel und Handschuhe anzog. Dann kletterte er aus dem Fahrzeug und sagte: »Okay. Gehen wir.«
Wednesday sah ihn mit Belustigung, aber auch noch einem anderen Ausdruck an – Ärger vielleicht. Oder Stolz. »Warum protestieren Sie nicht?«, fragte er. »Warum verkünden Sie nicht großspurig, dass das alles ganz unmöglich ist? Warum zum Teufel tun Sie einfach, was ich sage, und bleiben dabei so verdammt ruhig?«
»Weil Sie mich nicht dafür bezahlen, Fragen zu stellen«, erwiderte Shadow. Dann sagte er, und die ganze Wahrheit, die darin lag, überfiel ihn erst, als ihm die Worte aus dem Mund kamen: »Außerdem kann mich seit der Sache mit Laura sowieso nichts mehr überraschen.«
»Seit sie von den Toten zurückgekehrt ist?«
»Seit ich erfahren habe, dass sie mit Robbie gevögelt hat. Das hat richtig wehgetan. Alles andere kratzt nur ein bisschen an der Oberfläche. Wo wollen wir jetzt hin?«
Wednesday deutete mit dem Finger nach vorn, und sie marschierten los. Bei dem Boden, auf dem sie gingen, handelte es sich um irgendeine Art Gestein, glatt und vulkanisch, hin und wieder auch glasig. Die Luft war frisch, aber nicht winterkalt. Mit unbeholfenen Seitenschritten stiegen sie den Hügel hinunter. Sie stießen auf einen unebenen Pfad und folgten ihm. Shadow blickte hinunter zum Fuß des Hügels.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte er, aber Wednesday legte nur einen Finger an die Lippen und schüttelte schroff den Kopf. Stille.
Es sah aus wie eine mechanische Spinne aus blauem Metall und mit glitzernden LED-Lampen, besaß aber die Größe eines Traktors. Das Ding hockte am Fuß des Hügels. Hinter ihm lag eine Reihe von Knochen, daneben jeweils eine flackernde Flamme, kaum größer als ein Kerzenlicht.
Wednesday bedeutete Shadow, sich von diesen Gegenständen fern zu halten. Shadow machte einen Schritt zur Seite, was sich auf diesem glatten Untergrund als Fehler erwies, denn er verdrehte sich dabei den Knöchel und stürzte holterdiepolter, rollend und rutschend, den Hang hinab. Im Vorbeirauschen griff er nach einem Felsstück, worauf der gezackte Obsidian ihm den Lederhandschuh aufriss, als wäre er aus Papier.
Shadow landete unten am Hügel zwischen der mechanischen Spinne und den Knochen.
Er stützte sich auf, um auf die Füße zu kommen, hatte dadurch unversehens ein Stück Knochen in der Hand, offenbar einen Schenkelknochen, und …
… stand auf einmal im Tageslicht, rauchte eine Zigarette und sah auf seine Armbanduhr. Um ihn herum standen Autos, einige leer, andere nicht. Er wünschte, er hätte auf den letzten Becher Kaffee verzichtet. Er musste ganz dringend pinkeln, und langsam wurde es wirklich kritisch.
Einer von den örtlichen Polizeikräften kam auf ihn zu, ein bulliger Typ mit angegrautem Seehundschnäuzer. Den Namen des Mannes hat er schon wieder vergessen.
»Ich weiß nicht, wie Sie uns entgehen konnten«, sagt Mr. Örtliche Polizeikraft entschuldigend und gleichzeitig verwirrt.
»Es war eine optische Täuschung«, antwortete er. »Das kommt bei ungewöhnlichem Wetter schon mal vor. Der Dunst. Vermutlich eine Luftspiegelung. Sie sind auf einer anderen Straße gefahren. Wir dachten, es wäre diese.«
Mr. Örtliche Polizeikraft wirkt enttäuscht. »Aha. Ich dachte schon, es wäre vielleicht so eine Geschichte wie bei Akte X«, sagt er.
»So was Aufregendes ist es leider nicht.« Er leidet gelegentlich unter Hämorrhoiden, und sein Arsch hat gerade auf eine Weise zu jucken angefangen, die einen neuerlichen Anfall ankündigt. Er wünscht sich auf den Beltway in Washington zurück. Er wünschte, es wäre ein Baum in der Nähe, hinter den er sich stellen könnte: Der Harndrang wird immer schlimmer. Er wirft die Zigarette zu Boden und tritt drauf.
Mr. Örtliche Polizeikraft geht zu einem der Streifenwagen und bespricht etwas mit dem Fahrer. Beide schütteln den Kopf.
Er zieht sein Telefon hervor, ruft das Menü auf, blättert und geht zum Eintrag »Wäscherei«, der ihn so amüsiert hat, als er ihn eintippte – eine Anspielung auf die Fernsehserie Solo für O.N.C.E.L. und plötzlich fällt ihm auf, dass das ja gar nicht stimmt, da war es doch eine Schneiderei gewesen; was er meinte, war die Serie Mini Max oder die unglaublichen Abenteuer des Maxwell Smart, und er bekommt wieder dieses seltsame Gefühl, immer noch, nach all den Jahren, ist es ihm etwas peinlich, dass ihm als Kind nicht aufgegangen war, dass es sich da um eine Comedy-Serie handelte, und er hatte sich doch so sehr ein Schuhtelefon gewünscht …
Eine Frauenstimme am Telefon. »Ja?«
»Hier ist Mister Town, ich möchte Mister World sprechen.«
»Einen Moment, bitte. Ich sehe nach, ob er verfügbar ist.«
Es folgt Stille. Town stellt die Beine über Kreuz, zieht seinen Gürtel – muss unbedingt diese letzten zehn Pfund noch abnehmen – etwas höher, weg von der Blase. Dann sagt eine weltmännische Stimme: »Hallo, Mister Town.«
»Sie sind uns entwischt«, sagt Town. Er fühlt, wie die Enttäuschung in seinem Bauch rumort: Das waren die Scheißkerle, die verdammten Hundesöhne, die Woody und Stone umgelegt haben, um Gottes willen. Gute Männer. Gute Männer. Er würde liebend gern Mrs. Wood vögeln, weiß aber, dass es noch zu früh ist, die Initiative zu ergreifen, so kurz nach Woodys Tod. Also führt er sie alle zwei Wochen zum Essen aus, eine Investition in die Zukunft, sie ist einfach dankbar für die Zuwendung …
»Wie kommt’s?«
»Ich weiß nicht. Wir haben eine Straßensperre errichtet. Es hätte da eigentlich keinen Ausweg geben dürfen, aber sie haben trotzdem einen gefunden.«
»Eins der vielen kleinen Rätsel des Lebens. Keine Sorge. Haben Sie die Örtlichen beruhigt?«
»Hab ihnen erzählt, dass es eine optische Täuschung war.«
»Haben sie’s geschluckt?«
»Glaube schon.«
Mr. Worlds Stimme hatte etwas sehr Vertrautes – ein merkwürdiger Gedanke, arbeitete er jetzt doch schon seit zwei Jahren für ihn persönlich, sprach jeden Tag mit ihm, selbstverständlich hatte seine Stimme etwas Vertrautes.
»Die werden inzwischen weit weg sein.«
»Sollen wir Leute zum Reservat schicken, um sie abzufangen?«
»Lohnt den Aufstand nicht. Da gibt’s komplizierte Zuständigkeiten, und ich schaffe es nicht, an einem Vormittag alle Beziehungen spielen zu lassen, die dafür nötig wären. Wir haben viel Zeit. Kommen Sie einfach hierher zurück. Ich habe im Moment alle Hände voll zu tun, die Programmkonferenz zu organisieren.«
»Gibt’s Probleme?«
»Es ist ein einziger Tanz. Ich habe vorgeschlagen, dass wir es hier draußen machen. Die Techies wollen es in Austin haben, gegebenenfalls auch in San Jose, die Spieler wollen Hollywood, die Immateriellen wollen’s in der Wall Street. Niemand will seine Höhle verlassen. Keiner will nachgeben.«
»Brauchen Sie meine Hilfe?«
»Noch nicht. Ich werde ein paar von denen anfauchen, andere wiederum streicheln. Sie wissen ja, wie das geht.«
»Ja, Sir.«
»Machen Sie weiter, Town.«
Die Verbindung bricht ab.
Town denkt, er hätte eine Elitetruppe haben sollen, um diesen verdammten Winnebago hopszunehmen, oder Landminen auf der Straße oder irgendeine Scheißnuklearwaffe, dann hätten diese Scheißer gesehen, dass sie es ernst meinen. Genau so, wie Mr. World mal zu ihm gesagt hat: Wir schreiben die Zukunft in brennenden Lettern. Auf einmal denkt Mr. Town wieder, mein Gott, wenn er jetzt nicht gleich pinkeln kann, dann verliert er eine Niere, die platzt einfach, es war schon so, wie sein Papa auf langen Reisen immer zu sagen pflegte, als Town noch ein Kind war – wenn sie auf der Autobahn waren, dann sagte sein Papa immer: »Meine Backenzähne schwimmen schon«, und Mr. Town kann diese Stimme immer noch hören, diesen schrillen Yankeeakzent: »Ich muss bald mal pinkeln gehen. Meine Backenzähne schwimmen schon …«
… und in diesem Moment fühlte Shadow, wie ihm die Hand geöffnet wurde, eine fremde Hand löste einen Finger nach dem anderen von dem Schenkelknochen, den er umklammert hielt. Er musste nicht mehr urinieren – das war jemand anders gewesen. Er stand unter den Sternen auf einer glasglatten Felsebene.
Wednesday gab wieder das Zeichen zu schweigen. Dann ging er weiter, und Shadow folgte ihm.
Von der mechanischen Spinne ertönte ein Quietschen, und Wednesday erstarrte. Shadow blieb stehen und verharrte mit ihm. Grüne Lichter flackerten und schwärmten an den Seiten der Spinne auf und nieder. Shadow strengte sich an, nicht zu laut zu atmen.
Er dachte über das nach, was gerade geschehen war. Es war, als hätte er durch ein Fenster ins Innere eines anderen Menschen geschaut. Und dann dachte er: Mr. World. Ich war es, dem die Stimme bekannt vorkam. Das war mein Gedanke, nicht der von Town. Deshalb erschien die Sache so seltsam. Er versuchte die Stimme in seinem Kopf zu bestimmen, sie in die Kategorie einzuordnen, der sie zugehörte, aber sie entzog sich ihm.
Ich komm noch drauf, dachte Shadow. Früher oder später wird es mir wieder einfallen.
Die grünen Lichter wechselten zu Blau, dann Rot, schließlich wurde das Rot immer blasser, und die Spinne ließ sich auf ihr metallenes Hinterteil nieder. Wednesday begann wieder auszuschreiten, eine einsame Gestalt unter den Sternen, mit breitkrempigem Hut, sein ausgefranster dunkler Umhang bauschte sich regellos im von nirgendwoher wehenden Wind und sein Stock klopfte auf den glasigen Felsboden.
Als die metallische Spinne nur mehr ein fernes Schimmern im Sternenlicht war, weit auf der Ebene hinter ihnen entfernt, sagte Wednesday: »Jetzt dürfte es ungefährlich sein zu reden.«
»Wo sind wir?«
»Hinter den Kulissen«, sagte Wednesday.
»Wie bitte?«
»Stellen Sie es sich so vor, dass Sie sich hinter den Kulissen befinden. Wie in einem Theater oder so. Ich habe uns gerade aus dem Publikum herausgezogen, und jetzt laufen wir hinter der Bühne rum. Backstage. Sozusagen eine Abkürzung.«
»Als ich diesen Knochen berührt habe, da bin ich in einen Typen namens Town hineingeschlüpft. Er gehört zu den kauzigen Typen. Er hasst uns.«
»Ja.«
»Er hat einen Boss namens Mister World. Der erinnert mich an jemanden, ich weiß nur nicht, an wen. Ich konnte in Towns Kopf hineinsehen – vielleicht war ich ja auch in seinem Kopf. Ich bin mir da nicht ganz sicher.«
»Wissen die, wo wir hinwollen?«
»Ich glaube, sie blasen die Jagd gerade ab. Sie wollten uns nicht zum Reservat folgen. Wollen wir denn zu einem Reservat?«
»Vielleicht.« Wednesday stützte sich kurz auf seinen Stock, dann ging er weiter.
»Dieses Spinnending, was war das?«
»Ein materialisiertes Muster. Eine Suchmaschine.«
»Sind die gefährlich?«
»Mein Alter erreicht man nur, wenn man immer das Schlimmste annimmt.«
Shadow lächelte. »Und wie alt wäre das?«
»So alt wie meine Zunge«, sagte Wednesday. »Und ein paar Monate älter als meine Zähne.«
»Sie spielen Ihre Karten so dicht vor der Brust«, sagte Shadow, »dass ich nicht mal sicher bin, ob es überhaupt Karten sind.«
Wednesday grunzte nur.
Jeder neue Hügel, über den sie mussten, war schwerer zu erklimmen als der vorige.
Shadow verspürte einen Anflug von Kopfschmerzen. Das Sternenlicht hatte etwas Pochendes, etwas, was mit dem Pulsschlag in den Schläfen und der Brust in Resonanz trat und ihn verstärkte. Am Fuß des nächsten Hügels stolperte er, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, musste sich aber, ohne Vorwarnung, übergeben.
Wednesday griff in eine Innentasche und zog einen kleinen Flachmann hervor. »Nehmen Sie ein Schlückchen hiervon«, sagte er. »Aber nur einen kleinen Schluck.«
Die Flüssigkeit war scharf und verdunstete im Mund wie guter Brandy, obwohl sie nicht nach Alkohol schmeckte. Wednesday nahm die Flasche wieder an sich und steckte sie weg. »Es ist nicht gut für jemanden aus dem Publikum, wenn er plötzlich hinter der Bühne herumläuft. Deswegen ist Ihnen übel. Wir müssen uns beeilen, damit Sie hier rauskommen.«
Sie gingen jetzt schneller. Wednesday schritt fest aus, während Shadow hin und wieder stolperte, aber er fühlte sich nach dem Getränk, das im Mund einen Geschmack von Orangenschale, Rosmarinöl, Pfefferminz und Klee hinterlassen hatte, schon wieder besser.
Wednesday packte ihn am Arm. »Da«, sagte er und deutete auf zwei identische kleine Hügel aus gefrorenem Felsglas zu ihrer Linken. »Gehen Sie zwischen diesen beiden Hügeln hindurch. Bleiben Sie dabei aber dicht neben mir.«
Sie gingen los – und die kalte Luft und das helle Tageslicht schlugen Shadow gleichzeitig ins Gesicht.
Sie standen nun auf halber Höhe eines sanft ansteigenden Hügels. Der Dunst war verschwunden, es war ein sonniger, kalter Tag, und der Himmel zeigte sich in strahlendem Blau. Am Fuß des Hügels befand sich ein Kiesweg, auf dem ein roter Kombi wie ein Spielzeugauto entlanghoppelte. Aus einem nahe gelegenen Gebäude strömte in Schwaden Holzrauch heraus. Es sah aus, als hätte jemand vor dreißig Jahren einen Wohnwagen hochgehoben und auf den Hang fallen lassen. Das Gebäude war vielfach ausgebessert, geflickt und an einigen Stellen erweitert worden.
Als sie zur Tür kamen, öffnete sich diese, und ein Mann mittleren Alters mit scharfen Augen und einem Mund, der wie ein Messerschnitt wirkte, sah zu ihnen hinunter und sagte: »Eyah, ich hab gehört, dass zwei Weiße auf dem Weg sind, die mich besuchen wollen. Zwei Weiße in einem Winnebago. Und ich hab gehört, dass sie sich verirrt haben, wie die Weißen sich ja immer verirren, wenn sie nicht überall ihre Schilder aufstellen. Und jetzt guckt euch diese zwei elenden Gestalten vor meiner Tür an. Ihr wisst, dass ihr euch auf Lakota-Land befindet?« Sein Haar war grau und lang.
»Seit wann bist du ein Lakota, du alter Schwindler?«, sagte Wednesday. Er trug einen Mantel und eine Mütze mit Ohrenklappen, und schon kam es Shadow ganz unwahrscheinlich vor, dass er noch vor wenigen Minuten, unter den Sternen, einen breitkrempigen Hut und einen zerschlissenen Umhang getragen haben sollte. »Also, Whiskey Jack. Ich bin am Verhungern, und meinem Freund hier ist gerade das Frühstück hochgekommen. Willst du uns nicht hereinbitten?«
Whiskey Jack kratzte sich in der Achselhöhle. Er trug Bluejeans und ein Unterhemd, das so grau wie seine Haare war. An den Füßen trug er Mokassins, schien aber die Kälte gar nicht zu bemerken. Er sagte: »Mir gefällt es hier draußen. Aber kommt rein, weiße Männer, die ihr den Winnebago verloren habt.«
Im Innern des Wohnwagens hing ebenfalls Holzrauch in der Luft, außerdem saß da auch noch ein Mann am Tisch. Der Mann trug eine fleckige Lederhose und war barfuß. Seine Haut hatte die Farbe von Gerberlohe.
Wednesday schien hocherfreut zu sein. »Na«, sagte er, »wie es scheint, war unsere Verspätung ein glücklicher Zufall. Whiskey Jack und Apple Johnny. Ach du dickes Ei!«
Der Mann am Tisch, Apple Johnny, starrte Wednesday an, dann griff er sich mit einer Hand an den Sack und sagte: »Stimmt nur zur Hälfte. Hab grad nachgeprüft, bei mir sind es zwei dicke.« Er sah Shadow an und hob mit der Innenfläche nach außen die Hand. »Ich bin John Chapman. Achten Sie nicht auf das, was Ihr Chef über mich sagt. Er ist ein Arschloch. War immer schon ein Arschloch. Wird immer ein Arschloch bleiben. Manche Leute sind eben Arschlöcher, da kann man nichts machen.«
»Mike Ainsel«, sagte Shadow.
Chapman rieb sich das stoppelige Kinn. »Ainsel«, sagte er. »Das ist kein Name. Aber zur Not mag’s angehen. Wie nennt man Sie?«
»Shadow.«
»Dann sag ich Shadow zu Ihnen. He, Whiskey Jack« – aber es war, bemerkte Shadow, nicht wirklich Whiskey Jack, was er sagte. Zu viele Silben. »Was macht das Essen?«
Whiskey Jack nahm einen Holzlöffel und hob den Deckel eines schwarzen Eisentopfes, der auf dem mit Brennholz beheizten Herd vor sich hinblubberte. »Es ist fertig«, sagte er.
Er schöpfte den Inhalt des Topfes in vier Plastikschüsseln und stellte diese auf den Tisch. Dann öffnete er die Tür, ging hinaus und zog eine Drei-Liter-Plastikkanne aus einer Schneewehe. Er goss daraus eine trübe gelbbraune Flüssigkeit in vier große Gläser, die er dann jeweils neben eine der Schüsseln stellte. Schließlich brachte er noch vier Löffel. Dann setzte er sich zu den anderen Männern an den Tisch.
Wednesday hob misstrauisch sein Glas. »Sieht aus wie Pisse«, sagte er.
»Trinkt ihr die immer noch?«, sagte Whiskey Jack. »Ihr Weißen seid ganz schön verrückt. Nein, das Gesöff hier ist viel besser.« Und an Shadow gewandt: »Der Eintopf besteht größtenteils aus wildem Truthahn. Den Apfelschnaps hat John gemacht.«
»Das ist nur ein leichter Apfelmost«, sagte John Chapman. »Ich halte nichts von hochprozentigen Sachen. Macht die Leute wahnsinnig.«
Der Eintopf schmeckte köstlich, und der Apfelwein war auch sehr gut. Shadow zwang sich, langsam zu essen und jeden Bissen gründlich zu kauen, statt ihn hinunterzuschlingen, aber er war hungriger, als er es für möglich gehalten hätte. Er nahm sich eine zweite Schüssel Eintopf und auch ein zweites Glas Apfelwein.
»Frau Gerücht behauptet, du wärst unterwegs gewesen und hättest mit allen möglichen Leuten geredet, hättest ihnen alle möglichen Angebote gemacht. Sie meint, du wolltest die alten Herrschaften auf den Kriegspfad führen«, sagte John Chapman. Shadow und Whiskey Jack erledigten den Abwasch, die Eintopfreste füllten sie in Tupperware-Schüsseln. Danach vergrub Whiskey Jack die Schüsseln in den Schneewehen vor seiner Haustür und stellte eine Milchkiste obendrauf, um sie später wieder zu finden.
»Das scheint mir eine durchaus angemessene Zusammenfassung der Ereignisse zu sein«, sagte Wednesday.
»Die andern werden gewinnen«, sagte Whiskey Jack offen heraus. »Sie haben schon gewonnen. Und du hast verloren. Es ist wie bei den Weißen und meinem Volk. Meistens haben die Weißen gewonnen. Und wenn sie verloren haben, machten sie Verträge. Dann brachen sie die Verträge. So gewannen sie zu guter Letzt doch wieder. Ich kämpfe nicht noch einmal für eine aussichtslose Sache.«
»Und mich brauchst du gar nicht erst anzugucken«, sagte John Chapman. »Selbst wenn ich für dich kämpfen würde – was ich nicht tun werde –, könntest du mich nämlich gar nicht gebrauchen. Die räudigen, rattenschwänzigen Bastarde haben mich abgemurkst und glatt vergessen.« Er hielt inne. Dann sagte er: »Paul Bunyan.« Er schüttelte bedächtig den Kopf und dann sagte er es noch einmal: »Paul Bunyan.« Nie zuvor hatten zwei so harmlose Wörter derart verdammenswürdig in Shadows Ohren geklungen.
»Paul Bunyan aus den Legenden?«, sagte Shadow. »Was hat der denn damit zu tun?«
»Er hat sich in den Köpfen breit gemacht«, sagte Whiskey Jack. Er schnorrte eine Zigarette von Wednesday, und die beiden Männer rauchten zusammen.
»Es ist wie bei den Idioten, die immer glauben, dass Kolibris sich Sorgen über Gewicht oder Zahnverfall machen würden, oder was weiß ich, vielleicht wollen sie die Vögel auch einfach vor dem bösen Zucker bewahren«, erklärte Wednesday. »Jedenfalls füllen sie irgendeinen Scheißsüßstoff in den Wassernapf. Die Vögel kommen ins Vogelhaus und trinken das Zeug. Dann sterben sie, weil ihre Nahrung keinerlei Kalorien enthalten hat, obwohl ihre kleinen Mägen voll sind. Das ist es, worum es bei Paul Bunyan geht. Niemand hat je Geschichten über Paul Bunyan erzählt. Niemand hat je an Paul Bunyan geglaubt. Er kam im Jahre 1910 aus einer New Yorker Werbeagentur getorkelt und hat den Mythenmagen der Nation mit leeren Kalorien gefüllt.«
»Ich mag Paul Bunyan«, sagte Whiskey Jack. »Ich bin vor ein paar Jahren mal mit seiner Achterbahn gefahren, in der Mall of America. Man sieht den riesigen alten Paul Bunyan, wenn man ganz oben ist, bevor es dann runtergeht. Platsch! Ich hab nichts gegen ihn. Ist mir egal, dass er nie existiert hat, das bedeutet immerhin, dass er auch keine Bäume gefällt hat. Ist allerdings nicht so gut, wie Bäume zu pflanzen. Das ist noch besser.«
»Da sprichst du was an«, sagte Johnny Chapman.
Wednesday blies einen Rauchring. Der Ring hing in der Luft, zerfaserte langsam und löste sich auf. »Verdammt noch mal, Whiskey Jack, das ist hier nicht der Punkt, und das weißt du genau.«
»Ich werde dir nicht helfen«, sagte Whiskey Jack. »Wenn du deine Abreibung gekriegt hast, kannst du hierher zurückkommen, und wenn ich dann noch da bin, gebe ich dir wieder was zu essen. Du kriegst das beste Essen der ganzen Welt.«
»Die Alternativen, die es gibt«, sagte Wednesday, »sind alle schlechter.«
»Du hast keine Ahnung, was für Alternativen es gibt«, sagte Whiskey Jack. Er sah Shadow an. »Sie sind also auf der Jagd.« Seine Stimme war vom Rauch des Feuers und der Zigaretten rau.
»Ich mache nur meine Arbeit«, sagte Shadow.
Whiskey Jack schüttelte den Kopf. »Auch Sie jagen irgendeiner Sache hinterher«, sagte er. »Es gibt da eine Schuld, die Sie begleichen möchten.«
Shadow dachte an Lauras blaue Lippen und das Blut an ihren Händen, und er nickte.
»Also gut. Der Fuchs war zuerst da, und sein Bruder war der Wolf. Fuchs sagte, alle werden ewig leben. Wenn sie sterben, dann nicht für lange. Wolf sagte, nein, sie werden sterben, sie müssen sterben; alles was lebt, muss sterben, sonst breitet es sich über die ganze Welt aus und frisst all den Lachs und den Karibu und den Bison, isst all den Kürbis und all den Mais. Nun war eines Tages der Wolf gestorben, und er sagte zu dem Fuchs, schnell, mach mich wieder lebendig. Und Fuchs sagte, nein, die Toten müssen tot bleiben. Du hast mich überzeugt. Er weinte, als er das sagte. Aber er sagte es, und es war endgültig. Jetzt herrscht Wolf über die Welt der Toten, und Fuchs lebt für ewig unter der Sonne und dem Mond, aber er trauert immer noch um seinen Bruder.«
»Wenn ihr nicht wollt, dann wollt ihr eben nicht«, sagte Wednesday. »Wir ziehen dann mal weiter.«
Whiskey Jack hatte ein ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt. »Ich rede mit diesem jungen Mann hier«, sagte er. »Dir kann man nicht helfen. Ihm schon.« Er wandte sich wieder Shadow zu. »Erzählen Sie mir Ihren Traum«, sagte Whiskey Jack.
»Ich bin einen Turm von Schädeln hochgestiegen«, sagte Shadow. »Riesige Vögel sind um ihn herumgeflogen. Sie hatten Blitze in ihren Flügeln. Sie sind auf mich losgegangen. Und der Turm ist eingestürzt.«
»Jeder träumt irgendwas«, sagte Wednesday. »Können wir aufbrechen?«
»Aber nicht jeder träumt vom Wakinyau, dem Donnervogel«, sagte Whiskey Jack. »Wir haben das Echo bis hierher gespürt.«
»Na, hab ich Ihnen das nicht gesagt, Shadow«, sagte Wednesday. »Meine Güte.«
»Es gibt ein Gelege von Donnervögeln in West Virginia«, sagte Chapman müßig. »Ein paar Hennen und einen alten Hahn mindestens. Außerdem gibt es noch ein vermehrungsfähiges Paar in dem Land, das man früher State of Franklin genannt hat – aber der alte Ben hat seinen Staat ja nie bekommen –, oben zwischen Kentucky und Tennessee. Na ja, es stimmt wohl, sehr viele von ihnen hat es nie gegeben, selbst in den besten Zeiten nicht.«
Whiskey Jack streckte seine Hand aus – sie hatte die Farbe von rotem Lehm – und berührte damit sanft Shadows Gesicht. »Eyah«, sagte er. »Es ist wahr. Wenn Sie den Donnervogel jagen, könnten Sie Ihre Frau zurückholen. Aber sie gehört dem Wolf, gehört an den Ort der Toten, soll nicht auf Erden wandeln.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Shadow.
Whiskey Jacks Lippen bewegten sich nicht. »Was hat der Bison zu Ihnen gesagt?«
»Ich soll glauben.«
»Guter Rat. Werden Sie ihn befolgen?«
»Mehr oder weniger. Ja, ich glaube.« Sie redeten ohne Worte, ohne Mund, ohne Laut. Shadow fragte sich, ob sie, für die anderen beiden Männer im Zimmer, einen Herzschlag oder den Bruchteil eines Herzschlages lang in der Bewegung eingefroren waren.
»Wenn Sie Ihren Stamm finden, kommen Sie noch mal zu mir«, sagte Whiskey Jack. »Ich kann helfen.«
»Mach ich.«
Whiskey Jack ließ die Hand sinken. Dann wandte er sich an Wednesday. »Gehst du zurück zu deinem Ho Chunk?«
»Meinem was?«
»Ho Chunk. So nennen die Winnebago sich selbst.«
Wednesday schüttelte den Kopf. »Das ist zu riskant. Es könnte problematisch sein, ihn weiter zu benutzen. Sie werden danach Ausschau halten.«
»Ist er gestohlen?«
Wednesday schien gekränkt zu sein. »Kein bisschen. Die Papiere liegen im Handschuhfach.«
»Und die Schlüssel?«
»Die habe ich«, sagte Shadow.
»Mein Neffe, Harry Bluejay, hat einen 81er Buick. Gebt mir doch die Schlüssel von eurem Campingbus. Ihr könnt sein Auto nehmen.«
Wednesday war aufgebracht. »Was ist denn das für ein Tausch?«
Whiskey Jack zuckte die Achseln. »Hast du eine Vorstellung, wie schwer es sein wird, euren Camper von da zurückzuholen, wo ihr ihn habt stehen lassen? Ich tue euch nur einen Gefallen. Nehmt ihn an, oder lasst es bleiben. Mir ist es egal.« Und damit schloss sich sein Messerwundenmund.
Wednesday sah wütend aus, doch dann verwandelte sich die Wut in Reue, und er sagte: »Shadow, geben Sie dem Mann die Schlüssel von dem Winnebago.« Shadow reichte Whiskey Jack die Autoschlüssel.
»Johnny«, sagte Whiskey Jack, »kannst du diese Männer mitnehmen und Harry Bluejay aufsuchen? Sag ihm, ich möchte, dass er ihnen sein Auto gibt.«
»Ist mir ein Vergnügen«, sagte John Chapman.
Er stand auf und ging zur Tür, hob einen kleinen Beutel aus Sackleinen auf, der dort lag, öffnete die Tür und trat nach draußen. Shadow und Wednesday folgten ihm. Whiskey Jack blieb im Eingang stehen. »He«, sagte er zu Wednesday. »Du brauchst allerdings nicht wieder zu kommen. Du bist nicht willkommen.«
Wednesday streckte einen Finger himmelwärts. »Dreh dich doch auf dem hier«, sagte er freundlich.
Sie gingen durch den Schnee hügelabwärts und mussten sich dabei ihren Weg durch die Verwehungen bahnen. Chapman schritt voran, seine bloßen Füße leuchteten rot im verharschten Schnee. »Ist Ihnen nicht kalt?«, fragte Shadow.
»Meine Frau war eine Choctaw«, sagte Chapman.
»Und die hat Ihnen mystische Methoden beigebracht, wie man die Kälte von sich fern hält?«
»Nee. Sie fand, dass ich verrückt bin«, sagte Chapman. »Hat immer gesagt: ›Johnny, warum ziehst du dir die Stiefel nicht an?‹« Das Gefälle wurde stärker, weshalb sie gezwungen waren, die Unterhaltung einzustellen. Die drei Männer rutschten und stolperten durch den Schnee, hielten sich zwischendurch an Birkenstämmen fest, um sich neu auszurichten und dann den nächsten Baum anzusteuern. Als der Boden etwas ebener wurde, sagte Chapman: »Sie ist jetzt natürlich tot. Als sie gestorben ist, bin ich vielleicht tatsächlich ein bisschen verrückt geworden. Könnte jedem passieren. Kann auch Ihnen passieren.« Er klopfte Shadow auf den Arm. »Bei Jesus und Josaphat, Sie sind vielleicht groß.«
»Scheint so«, sagte Shadow.
Etwa eine halbe Stunde lang trotteten die drei Männer den Hügel hinunter, bis sie auf eine Schotterstraße stießen, die sich um dessen Fuß herumwand; sie folgten der Straße und hielten dabei auf eine Gruppe von Gebäuden zu, die sie bereits von ganz oben ausgemacht hatten.
Ein Auto bremste neben ihnen und hielt an. Die Fahrerin kurbelte das Beifahrerfenster herunter und sagte: »He, ihr Typen, soll ich euch mitnehmen?«
»Sehr liebenswürdig von Ihnen, Madam«, sagte Wednesday. »Wir sind auf der Suche nach einem Mister Harry Bluejay.«
»Der müsste unten im Freizeitzentrum sein«, sagte die Frau. Sie war in den Vierzigern, schätzte Shadow. »Steigt ein.«
Sie stiegen ein. Wednesday nahm den Beifahrersitz, John Chapman und Shadow kletterten auf die Rückbank. Shadows Beine waren zu lang, als dass er bequem hätte sitzen können, aber er richtete sich ein, so gut es ging. Das Auto rumpelte vorwärts die Schotterstraße entlang.
»Wo kommt ihr drei denn her?«, fragte die Fahrerin.
»Wir haben einen Freund besucht«, sagte Wednesday.
»Lebt auf dem Hügel dahinten«, sagte Shadow.
»Was für ein Hügel?«, fragte sie.
Shadow blickte durch das staubverschmutzte Heckfenster zurück auf den Hügel. Aber da war kein Hügel hinter ihnen, schon gar kein hoher: nichts als tief liegende Wolken.
»Whiskey Jack«, sagte er vor sich hin.
»Ach«, sagte die Frau. »Hier nennen wir ihn Inktomi. Ich glaube, das ist derselbe. Mein Großvater hat früher einige ziemlich gute Geschichten über ihn erzählt. Die meisten waren natürlich ein bisschen unanständig.« Der Wagen krachte durch ein Schlagloch, worauf die Frau fluchte. »Alles in Ordnung da hinten?«
»Ja, Ma’am«, sagte Johnny Chapman. Er hielt sich mit beiden Händen am Sitz fest.
»Reservatsstraßen«, sagte sie. »Man gewöhnt sich dran.«
»Sind die alle so?«, fragte Shadow.
»So ziemlich«, sagte die Frau. »In dieser Gegend jedenfalls. Aber fragen Sie nicht, was denn mit dem ganzen Geld aus den Kasinos ist, weil wer würde wohl, falls er noch ganz richtig im Kopf ist, bis ganz hier rauskommen, um in ein Kasino zu gehen? Wir hier draußen sehen von diesem Geld überhaupt nichts.«
»Das tut mir Leid.«
»Braucht es nicht.« Unter Krachen und Ächzen legte sie einen anderen Gang ein. »Wussten Sie, dass die weiße Bevölkerung in der ganzen Gegend hier immer weniger wird? Wenn Sie da rausfahren, finden Sie lauter Geisterstädte. Wie will man die Leute auch auf ihren Farmen halten, wenn sie die große weite Welt auf ihren Fernsehschirmen gesehen haben? Es lohnt sich sowieso nicht, in den Badlands Landwirtschaft zu betreiben. Die Weißen haben uns unser Land genommen, haben sich hier niedergelassen, und jetzt hauen sie wieder ab. Gehen nach Süden. Gehen nach Westen. Wenn wir warten, bis genug von ihnen nach New York und Miami und L. A. gezogen sind, können wir uns vielleicht die gesamte Mitte zurückholen, ganz ohne Kampf.«
»Viel Glück«, sagte Shadow.
Sie fanden Harry Bluejay tatsächlich im Freizeitzentrum, wo er am Billardtisch Kunststöße ausführte, um einer Gruppe von jungen Mädchen zu imponieren. Er hatte einen tätowierten Blauhäher auf dem Rücken der rechten Hand und jede Menge Piercings im rechten Ohr.
»Ho hoka, Harry Bluejay«, sagte John Chapman.
»Scheiße, hau bloß ab, du verrückter weißer Geist ohne Schuhe«, sagte Harry Bluejay leutselig. »Ich krieg das kalte Grausen, wenn ich dich sehe.«
Am anderen Ende des Raums saß eine Reihe älterer Männer, einige spielten Karten, andere unterhielten sich. Auch jüngere Männer waren anwesend, Männer in Harry Bluejays Alter, die offenbar darauf warteten, den Billardtisch benutzen zu können. Es handelte sich um einen großen Pooltisch mit einem Riss im grünen Fries, den man mit silbergrauem Klebeband geflickt hatte.
»Ich hab eine Nachricht von deinem Onkel«, sagte Chapman unbeirrt. »Er sagt, du sollst den beiden hier dein Auto geben.«
Es waren bestimmt dreißig, vielleicht gar vierzig Leute in dem Saal, und alle blickten jetzt angestrengt in ihre Karten, auf ihre Füße oder ihre Fingernägel, und versuchten nach besten Kräften den Eindruck zu erwecken, sie würden nicht zuhören.
»Er ist nicht mein Onkel.«
Der Mief von Zigarettenrauch hing in der Luft. Chapman lächelte breit und zeigte dabei das katastrophalste Gebiss vor, das Shadow je in einem Menschenmund gesehen hatte. »Willst du deinem Onkel das persönlich mitteilen? Er meint immer, dass du der einzige Grund bist, warum er überhaupt noch bei den Lakota bleibt.«
»Whiskey Jack sagt viel, wenn der Tag lang ist«, entgegnete Harry Bluejay bockig. Aber auch er sagte in Wirklichkeit nicht Whiskey Jack. Zwar klang es für Shadows Gehör fast genauso, aber eben nicht ganz: Wisakedjak, dachte er. Das ist es, was sie sagen. Gar nicht Whiskey Jack.
»Yeah«, sagte Shadow. »Und unter anderem hat er gesagt, dass wir unseren Winnebago Shadow gegen Ihren Buick eintauschen sollen.«
»Ich sehe keinen Winnebago.«
»Er bringt dir den Winnebago«, sagte John Chapman. »Du weißt, dass du dich darauf verlassen kannst.«
Harry Bluejay versuchte sich wieder an einem Kunststoß, traf aber daneben. Seine Hand war zu unruhig. »Ich bin nicht dem alten Fuchs sein Neffe«, sagte Harry Bluejay. »Wenn er das bloß nicht überall rumerzählen würde.«
»Besser ein lebendiger Fuchs als ein toter Wolf«, sagte Wednesday mit einer so tiefen Stimme, dass es schon beinahe ein Knurren war. »Also, verkaufst du uns den Wagen oder nicht?«
Harry Bluejay fing heftig und deutlich sichtbar zu zittern an. »Klar«, sagte er. »Hab nur Spaß gemacht. Ich mach gern mal ’nen Spaß, ehrlich.« Er legte das Queue auf den Pooltisch und griff nach einer dicken Jacke, die er unter einem ganzen Haufen von ähnlichen an Kleiderhaken neben der Tür hängenden Jacken herausziehen musste. »Ich will nur noch schnell meinen Scheiß aus dem Wagen räumen«, sagte er.
Immer wieder warf er Wednesday Blicke zu, als befürchte er, der ältere Mann könne jeden Augenblick explodieren.
Harry Bluejays Wagen stand hundert Meter weiter. Auf dem Weg dorthin kamen sie an einer kleinen, weiß getünchten katholischen Kirche vorbei, in deren Tür ein Mann mit Priesterkragen stand und sie anguckte, während sie an ihm vorbeigingen. Er saugte an einer Zigarette, als würde ihm das Rauchen nicht das geringste Vergnügen bereiten.
»Einen schönen Tag auch, Herr Pfarrer!«, rief Johnny Chapman, aber der Mann mit dem Kragen gab keine Antwort; er trat die Zigarette mit dem Schuhabsatz aus, hob den Stummel auf, warf ihn in den Abfallkorb neben der Tür und ging dann nach innen.
An Harry Bluejays Auto fehlten die Seitenspiegel, und die Reifen waren die blanksten, die Shadow je zu Gesicht bekommen hatte: vollkommen glattes schwarzes Gummi. Harry Bluejay teilte mit, dass der Wagen viel Öl saufe, aber solange man immer welches nachgieße, würde er ewig weiterlaufen. Es sei denn, er bleibe stehen.
Harry Bluejay hatte einen schwarzen Müllsack dabei, in den er den Scheiß aus seinem Auto packte (besagter Scheiß umfasste mehrere nicht ausgetrunkene Billigbierflaschen mit Drehverschluss, ein kleines Päckchen Cannabisharz, in Silberfolie eingewickelt und im Aschenbecher des Autos versteckt, wo es sofort ins Auge stach, ein Stinktierschwanz, zwei Dutzend Country-and-Western-Kassetten und ein angestoßenes, vergilbendes Exemplar von Robert A. Heinleins Fremder in einem fremden Land). »Tut mir Leid, falls ich Sie vorhin auf die Palme gebracht hab«, sagte Harry Bluejay zu Wednesday, als er ihm die Autoschlüssel übergab. »Wissen Sie, wann ich den Winnebago kriege?«
»Fragen Sie Ihren Onkel. Er ist der verdammte Gebrauchtwagenhändler«, brummte Wednesday.
»Wisakedjak ist nicht mein Onkel«, sagte Harry Bluejay. Er nahm seinen schwarzen Müllsack, ging ins nächste Haus und zog die Tür hinter sich zu.
Sie setzten Johnny Chapman in Sioux Falls vor einem Naturkostladen ab.
Während der Fahrt schwieg Wednesday. Er war schon die ganze Zeit, seit sie von Whiskey Jacks Haus aufgebrochen waren, in finsterer Stimmung.
In einem Familienrestaurant kurz vor St. Paul nahm Shadow eine Zeitung an sich, die jemand hatte liegen lassen. Er warf einen Blick auf die Titelseite, schaute noch einmal hin, dann zeigte er sie Wednesday.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Shadow.
Seufzend warf Wednesday einen Blick in die Zeitung. »Ich bin hocherfreut«, sagte er, »zu erfahren, dass der Tarifstreit der Fluglotsen beigelegt werden konnte, ohne dass es zu Arbeitskampfmaßnahmen gekommen ist.«
»Das doch nicht«, sagte Shadow. »Sehen Sie nur, hier steht, dass wir den 14. Februar haben.«
»Alles Gute zum Valentinstag.«
»Wir sind doch aufgebrochen, wann war das, am 20. 21. Januar. Ich hab nicht so genau aufs Datum geachtet, aber es war die dritte Januarwoche. Wir waren drei Tage unterwegs, alles in allem. Wie kann da jetzt der 14. Februar sein?«
»Weil wir fast einen Monat gewandert sind«, sagte Wednesday. »In den Badlands. Hinter der Bühne.«
»Tolle Abkürzung«, sagte Shadow.
Wednesday schob die Zeitung von sich. »Dieser blöde Johnny Appleseed, jammert ständig wegen Paul Bunyan rum. Im wirklichen Leben hat Chapman vierzehn Apfelgärten besessen. Er hat tausende von Morgen bewirtschaftet. Ja, er ist immer weiter mit in den Westen gezogen, aber keine von den Geschichten, die um ihn kursieren, enthält auch nur ein Fünkchen Wahrheit, außer dass er einmal ein bisschen ausgeklinkt ist. Aber das spielt keine Rolle. Wie man früher bei der Zeitung immer zu sagen pflegte: Wenn die Wahrheit nicht groß genug ist, drucke die Legende. Dieses Land braucht seine Legenden. Aber selbst die Legenden glauben nicht mehr daran.«
»Aber Sie haben es erkannt.«
»Ich bin abgehalftert. Wer gibt denn einen Scheiß auf mich?«
»Sie sind ein Gott«, sagte Shadow sanft.
Wednesday sah ihn scharf an. Er schien im Begriff, etwas zu sagen, doch dann ließ er sich in seinen Sitz zurücksinken, blickte auf die Speisekarte und sagte: »Ja, und?«
»Es ist eine gute Sache, ein Gott zu sein.«
»Ach ja?«, sagte Wednesday, und diesmal war es Shadow, der den Blick abwandte.
An einer Tankstelle fünfundzwanzig Meilen vor Lakeside, an der Wand neben den Toiletten, sah Shadow einen selbst gemachten, fotokopierten Anschlag: ein Schwarzweißfoto von Alison McGovern und darüber die per Hand geschriebene Frage: Haben Sie mich gesehen? Dasselbe Jahrbuchfoto: das selbstbewusste Lächeln, ein Mädchen mit Gummibandspange auf der oberen Zahnreihe, das mit Tieren arbeiten wollte, wenn es erwachsen war.
Haben Sie mich gesehen?
Shadow kaufte sich ein Snickers, eine Flasche Mineralwasser und eine Lakeside News. Der Aufmacher, verfasst von Marguerite Olsen, »unserer Reporterin vor Ort«, zeigte die Fotografie eines Jungen und eines älteren Mannes auf dem gefrorenen See. Sie standen neben einer plumpskloartigen Eisfischerhütte und hielten gemeinsam einen großen Fisch in den Armen. Sie lächelten in die Kamera. Vater und Sohn fangen Kanadahecht in Rekordgröße. Lesen Sie Seite …
Wednesday saß am Steuer. »Lesen Sie mir irgendwas Interessantes aus der Zeitung vor, falls Sie was finden«, sagte er.
Shadow suchte sorgfältig und schlug langsam alle Seiten um, konnte aber nichts finden.
Wednesday setzte Shadow an der Einfahrt vor seiner Wohnung ab. Eine rauchfarbene Katze saß dort und stierte ihn an, ergriff aber sofort die Flucht, als er sich bückte, um sie zu kraulen.
Shadow blieb auf der Holzveranda vor seiner Wohnung stehen und blickte hinaus auf den See, auf dem sich hier und da grüne und braune Eisfischerhütten abzeichneten. Neben den meisten waren Autos abgestellt. Näher zur Brücke hin stand die alte grüne Rostlaube auf dem Eis, genau wie er’s in der Zeitung gesehen hatte. »23. März«, sagte Shadow anfeuernd. »Morgens gegen neun Uhr fünfzehn. Du kannst es schaffen.«
»Aussichtslos«, sagte eine Frauenstimme. »3. April. Sechs Uhr abends. Da wird das Eis tagsüber warm.« Shadow lächelte. Marguerite Olsen trug einen Skianzug. Sie befand sich am anderen Ende der Veranda und füllte gerade die Vorräte im Vogelhaus auf.
»Ich habe in der Lakeside News Ihren Artikel über den Stadtrekordkanadahecht gelesen.«
»Aufregend, was?«
»Na ja, sagen wir, lehrreich.«
»Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr zu uns zurückkommen«, sagte sie. »Sie waren ziemlich lange weg, was?«
»Mein Onkel hat mich gebraucht«, sagte Shadow. »Irgendwie ist uns die Zeit zwischen den Fingern zerronnen.«
Sie legte den letzten Talgklotz in den dafür vorgesehenen Korb und stopfte anschließend Distelsamen aus einer Plastikmilchkanne in einen Netzbeutel. Mehrere Distelfinken, in ihrem Winterkleid olivfarben, schimpften ungeduldig von einer nahen Tanne herüber.
»Ich habe gar nichts über Alison McGovern in der Zeitung gesehen.«
»Da gibt es nichts zu berichten. Sie wird immer noch vermisst. Es gab ein kurzes Gerücht, dass sie in Detroit gesehen worden sein soll, aber das hat sich als falscher Alarm erwiesen.«
»Armes Mädchen.«
Marguerite Olson schraubte den Verschluss wieder auf die Dreiliterkanne. »Ich hoffe, dass sie tot ist«, sagte sie nüchtern.
Shadow war entsetzt. »Warum?«
»Weil die Alternativen noch schlimmer sind.«
Die Distelfinken in der Tanne hüpften aufgeregt von Ast zu Ast und konnten es kaum noch erwarten, dass die Menschen endlich verschwanden.
Du denkst gar nicht an Alison, dachte Shadow. Du denkst an deinen Sohn. Du denkst an Sandy.
In seiner Erinnerung hörte er jemanden Ich vermisse Sandy sagen. Wer war das gewesen?
»Na ja, war nett, sich mal wieder zu sehen«, sagte er.
»Yeah«, sagte sie. »Stimmt.«
Der Februar brachte eine Serie von kurzen, grauen Tagen. An manchen Tagen schneite es, an den meisten aber nicht. Es wurde wärmer, und an guten Tagen kletterten die Temperaturen über den Gefrierpunkt. Shadow blieb in seiner Wohnung, bis er das Gefühl bekam, in einer Gefängniszelle zu sitzen, und da begann er, sofern Wednesday ihn nicht als Reisebegleitung benötigte, auf Wanderschaft zu gehen.
Er wanderte fast den ganzen Tag lang und unternahm ausgedehnte Touren hinaus aus der Stadt. Er wanderte ganz für sich bis zu den unter Naturschutz stehenden Wäldern im Norden und Westen oder den Maisfeldern und Kuhweiden im Süden. Er beschritt den Lumber County Wilderness Trail, er wanderte an den alten Eisenbahngleisen entlang und erkundete dort die Seitenwege. Ein paarmal ging er sogar von Norden nach Süden an dem gefrorenen See entlang. Manchmal traf er auf Einheimische oder Winterurlauber oder Jogger, dann winkte er und grüßte sie. Meistens aber sah er niemanden, nur Krähen und Finken, einige wenige Male entdeckte er auch einen Falken, der sich an überfahrenen Waschbären oder Opossums gütlich tat. Bei einer denkwürdigen Gelegenheit beobachtete er, wie ein Adler sich einen silberglänzenden Fisch direkt aus den Wellen des White Pine River schnappte, der an den Rändern gefroren war, in der Mitte aber dennoch eine beträchtliche Strömung besaß. Der Fisch glitzerte in der Mittagssonne und zappelte und wand sich in den Klauen des Adlers; Shadow stellte sich vor, wie der Fisch sich befreite und über den Himmel davonschwamm, und lächelte dabei grimmig.
Solange er wanderte, so stellte er fest, musste er nicht nachdenken, und genau das sagte ihm zu, wenn er nämlich nachdachte, wanderten seine Gedanken in Gefilde, die er nicht beherrschen konnte, die ihm Unbehagen bereiteten. Die Erschöpfung war das Beste an der ganzen Sache. Wenn er erschöpft war, irrten seine Gedanken nicht zu Laura ab, verloren sich nicht in seltsamen Träumen oder in Dingen, die es nicht gab und nicht geben konnte. Er kam vom Wandern nach Hause und konnte schlafen, ohne Probleme und ohne zu träumen.
Im Friseursalon Georges am Rathausplatz lief er Polizeichef Chad Mulligan über den Weg. Immer wieder setzte Shadow große Hoffnungen auf Friseurbesuche, aber was dabei herauskam, entsprach nie so recht seinen Erwartungen. Nach jedem Haareschneiden sah er mehr oder weniger genauso aus wie zuvor, nur dass die Haare eben kürzer waren. Chad, der im Frisierstuhl neben ihm saß, schien überraschend besorgt um seine eigene Erscheinung zu sein. Als sein Schnitt fertig war, starrte er grimmig auf sein Spiegelbild, als hätte er nicht übel Lust, diesem einen Strafzettel zu verpassen.
»Sieht gut aus«, versicherte ihm Shadow.
»Würden Sie es gut finden, wenn Sie eine Frau wären?«
»Glaub schon.«
Sie gingen gemeinsam über den Platz zu Mabel’s und bestellten sich dort heiße Schokolade. »He, Mike«, sagte Chad. »Haben Sie je eine Karriere als Gesetzeshüter ins Auge gefasst?«
Shadow zuckte die Achseln. »Kann ich nicht behaupten«, sagte er. »Da gibt es bestimmt eine ganze Menge, was man erst lernen müsste.«
Chad schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was das Wichtigste bei der Polizeiarbeit ist, in einer Gegend wie dieser? Ruhig Blut zu bewahren. Wenn irgendwas passiert, wenn jemand Sie anschreit, Zeter und Mordio schreit, dann müssen Sie einfach in der Lage sein zu versichern, das sei alles nur ein Irrtum und es ließe sich alles klären, wenn die Betreffenden jetzt mal ganz ruhig mit Ihnen nach draußen treten würden. Und Sie müssen in der Lage sein, das ernst zu meinen.«
»Und dann schlichtet man alles?«
»Meistens legt man den Leuten dann Handschellen an. Aber es stimmt schon, wenn es möglich ist, schlichtet man die Sache. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie einen Job möchten. Wir stellen jederzeit Leute ein. Und Sie sind einer, den wir brauchen können.«
»Ich behalte es im Auge, falls die Sache mit meinem Onkel ins Wasser fällt.«
Sie schlürften ihre heiße Schokolade. »Sagen Sie, Mike, was würden Sie tun, wenn Sie eine Cousine hätten«, sagte Mulligan. »Also, zum Beispiel eine Witwe. Und sie anfangen würde, sich bei Ihnen zu melden?«
»Wie melden?«
»Telefon. Ferngespräch. Sie wohnt in einem anderen Staat.« Seine Wangen färbten sich rot. »Ich habe sie letztes Jahr bei einer Hochzeit in der Familie gesehen. Damals war sie allerdings verheiratet, ich meine, ihr Mann lebte noch, und sie ist eine Verwandte. Keine Cousine ersten Grades. Ziemlich entfernt.«
»Sind Sie in sie verschossen?«
Noch tieferes Erröten. »Ich weiß nicht so recht.«
»Na gut, sagen wir andersrum: Ist sie in Sie verschossen?«
»Na ja, sie hat so gewisse Dinge gesagt, als wir telefoniert haben. Sie ist zudem eine sehr gut aussehende Frau.«
»Tja … Was gedenken Sie zu tun?«
»Ich könnte sie einladen, mal hier rauszukommen. Das könnte ich doch, oder? Sie hat sozusagen durchblicken lassen, dass sie gern mal kommen würde.«
»Sie sind beide erwachsen. Ich würde sagen, tun Sie’s einfach.«
Chad nickte, errötete noch ein bisschen mehr und nickte erneut.
Das Telefon in Shadows Wohnung war immer noch still und tot. Er dachte daran, es anschließen zu lassen, aber es fiel ihm niemand ein, den er hätte anrufen wollen. Einmal, es war später Abend, nahm er den Hörer ab und lauschte, und er war ganz sicher, dass er Wind hörte und eine ferne Unterhaltung zwischen mehreren Leuten, die aber zu leise redeten, als dass sie zu verstehen gewesen wären. Er sagte »Hallo?« und »Wer ist da?«, aber es kam keine Antwort, nur plötzliche Stille folgte und dann der weit entfernte Klang von Gelächter, aber so schwach, dass er sich nicht sicher war, ob er es sich nicht nur einbildete.
In den folgenden Wochen unternahm Shadow weitere Reisen als Wednesdays Begleiter.
Einmal saß er wartend in der Küche eines Ferienhäuschens in Rhode Island und hörte zu, wie Wednesday im verdunkelten Schlafzimmer nebenan mit einer Frau debattierte, die nicht aus dem Bett kommen und sich weder von Wednesday noch von Shadow ins Gesicht blicken lassen wollte. Im Kühlschrank lagen zwei Plastiktüten, die eine war mit Grillen, die andere mit den Leichen von Jungmäusen gefüllt.
In einem Rockclub in Seattle beobachtete Shadow, wie Wednesday, gegen den Lärm der Band anbrüllend, eine junge Frau mit kurzem rotem Haar und blauen, spiraligen Tätowierungen begrüßte. Das Gespräch musste gut verlaufen sein, weil Wednesday vergnügt grinste, als sie den Club wieder verließen.
Fünf Tage später wartete Shadow im Mietwagen und sah Wednesday mit mürrischem Gesicht aus der Eingangshalle eines Bürogebäudes in Dallas treten. Wednesday knallte die Wagentür zu, nachdem er eingestiegen war, sagte: »Fahren Sie los« und saß dann schweigend mit vor Wut hochrotem Gesicht da. Schließlich sagte er: »Scheißalbaner. Als ob sich irgendjemand für dieses Pack interessieren würde.«
Drei Tage danach flogen sie nach Boulder, wo sie mit fünf jungen japanischen Frauen sehr angenehm zu Mittag aßen. Es war ein von Höflichkeit und artigen Scherzen bestimmtes Beisammensein, und Shadow war sich anschließend nicht sicher, ob irgendwelche Vereinbarungen oder Entscheidungen getroffen worden waren. Wednesday allerdings schien durchaus zufrieden zu sein.
Allmählich freute Shadow sich darauf, nach Lakeside zurückzukehren. Dort gab es Frieden und ein Gefühl von Willkommensein, was ihm beides sehr zusagte.
Wenn er nicht auf Reisen war, fuhr er jeden Morgen über die Brücke ins Stadtzentrum. Bei Mabel’s kaufte er sich zwei Pasteten. Die eine verdrückte er an Ort und Stelle und trank einen Kaffee dazu. Falls jemand eine Zeitung hatte liegen lassen, las er darin; so weit allerdings, dass er sich selbst eine Zeitung gekauft hätte, reichte sein Interesse am Weltgeschehen nicht.
Die zweite Pastete ließ er in eine Papiertüte stecken und aß sie später zum Lunch.
Eines Morgens las er gerade in der USA Today, als Mabel sagte: »He Mike. Wo soll’s denn heute hingehen?«
Der Himmel zeigte sich blassblau. Der Morgennebel hatte die Bäume mit Raureif umhüllt. »Ich weiß nicht«, sagte Shadow. »Vielleicht nehme ich mal wieder den Wilderness Trail.«
Sie schenkte ihm Kaffee nach. »Sind Sie schon mal die Landstraße in Richtung Osten gegangen? Es ist ziemlich schön da draußen. Das ist die kleine Straße, die gegenüber vom Teppichladen in der Twentieth Avenue losgeht.«
»Nein, da bin ich noch nicht gewesen.«
»Na ja«, sagte sie. »Es ist jedenfalls ganz hübsch dort.«
Es war sogar ganz außerordentlich hübsch dort. Shadow parkte seinen Wagen am Stadtrand und wanderte die Straße entlang, eine kurvenreiche Landstraße, die sich östlich der Stadt an die Hügel schmiegte. Die Hügel waren alle mit laublosen Ahornbäumen, knochenweißen Birken, dunklen Tannen und Kiefern bedeckt.
Zwischenzeitlich gesellte sich eine kleine, dunkle Katze zu ihm und hielt neben der Straße Schritt. Ihr Fell war schmutzfarben, die Vorderpfoten aber waren weiß. Er ging auf sie zu. Sie lief nicht weg.
»Hallo, Katze«, sagte Shadow unbefangen.
Die Katze legte den Kopf zur Seite und sah ihn mit Smaragdaugen an. Dann fauchte sie – was aber nicht ihm galt, sondern irgendeinem Ding auf der anderen Seite der Straße, etwas, das er nicht sehen konnte.
»Ganz ruhig«, sagte Shadow. Die Katze stolzierte über die Straße davon und verschwand in einem Feld mit altem, nicht abgeerntetem Mais.
Hinter der nächsten Wegkrümmung stieß Shadow auf einen winzigen Friedhof. Die Grabsteine waren verwittert, an einigen lehnten jedoch frische Blumensträuße. Es gab weder Mauer noch Zaun um den Friedhof herum, abgegrenzt wurde er lediglich durch niedrige, von Eis und Alter gebeugte Maulbeerbäume. Shadow stieg über einen Wall aus Eis und Schneematsch, der am Straßenrand aufgeschichtet war. Der Eingang des Friedhofs wurde von zwei steinernen Torpfosten markiert, zwischen denen sich freilich kein Tor befand. Shadow spazierte durch die Pfosten hindurch auf den Friedhof.
Er wanderte zwischen den Gräbern umher und inspizierte die Grabsteine. Es gab keine Inschriften, die später als 1960 datierten. Er wischte den Schnee von einem stabil wirkenden Granitengel und lehnte sich dagegen.
Er holte die Papiertüte aus der Tasche und zog die Pastete heraus. Als er sie aufbrach, stieg feiner Dampf in die winterliche Luft. Riechen tat sie auch sehr gut. Er biß hinein.
Hinter ihm raschelte etwas. Einen Augenblick lang dachte er, es wäre wieder die Katze, doch dann roch er Parfüm und hinter dem Parfüm einen Hauch von Verwesung.
»Bitte, sieh mich nicht an«, sagte sie hinter ihm.
»Hallo, Laura«, sagte Shadow.
Ihre Stimme klang zögerlich, vielleicht, dachte er, sogar etwas ängstlich. »Hallo, Hündchen«, sagte sie.
Er brach ein Stück Pastete ab. »Möchtest du?«, fragte er.
Sie stand jetzt unmittelbar hinter ihm. »Nein«, sagte sie. »Nimm du ruhig. Ich esse so was nicht mehr.«
Er aß seine Pastete. Sie schmeckte gut. »Ich möchte dich ansehen«, sagte er.
»Es wird dir nicht gefallen«, entgegnete sie.
»Bitte?«
Sie trat um den Steinengel herum. Shadow sah sie, diesmal im Tageslicht, an. Einiges war anders, einiges noch wie gewohnt. Ihre Augen hatten sich nicht verändert, ebenso die schiefe Zuversichtlichkeit ihres Lächelns. Und sie war ganz offensichtlich sehr tot. Shadow aß seine Pastete auf. Er erhob sich und schüttelte die Krümel aus der Papiertüte, die er anschließend zusammenfaltete und in die Tasche zurücksteckte.
Die Zeit, die er im Bestattungsinstitut von Cairo verbracht hatte, machte es ihm irgendwie leichter, mit ihrer Anwesenheit klarzukommen. Er wusste allerdings nicht, was er ihr sagen sollte.
Ihre kalte Hand tastete nach seiner, und er drückte sie sanft. Er konnte fühlen, wie ihm das Herz in der Brust schlug. Er hatte Angst, und gerade die Normalität des Augenblicks war es, was ihm Angst machte. Er fühlte sich so wohl an ihrer Seite, dass er für immer dort hätte stehen bleiben mögen.
»Du fehlst mir«, gestand er.
»Ich bin da«, sagte sie.
»Genau dann fehlst du mir am meisten. Wenn du da bist. Wenn du nicht da bist, wenn du nur ein Geist aus der Vergangenheit bist oder ein Traum aus einem anderen Leben, dann ist es leichter.«
Sie drückte seine Finger.
»Also«, sagte er. »Wie ist es, tot zu sein?«
»Schwer«, sagte sie. »Es geht einfach immer weiter.«
Sie legte ihm den Kopf auf die Schulter, und das gab ihm beinahe den Rest. »Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«, sagte er.
»Klar.« Sie lächelte zu ihm herauf, ein nervöses, schiefes Lächeln in einem toten Gesicht.
Sie verließen den kleinen Friedhof und wandten sich Hand in Hand die Straße hinunter, zurück in Richtung Stadt. »Wo bist du gewesen?«, fragte sie.
»Hier«, sagte er. »Die meiste Zeit jedenfalls.«
»Seit Weihnachten«, sagte sie, »hatte ich irgendwie deine Spur verloren. Manchmal wusste ich, wo du warst, ein paar Stunden, ein paar Tage lang. Da warst du überall. Danach bist du mir wieder entglitten.«
»Ich war hier in der Stadt«, sagte er. »Lakeside. Eine gute kleine Stadt.«
»Oh«, sagte sie.
Sie trug nicht mehr das blaue Kostüm, in dem sie beerdigt worden war. Stattdessen trug sie jetzt mehrere Pullover übereinander, einen langen, dunklen Rock und hohe, burgunderrote Stiefel. Shadow machte eine Bemerkung darüber.
Laura zog den Kopf ein. Sie lächelte. »Sind das nicht tolle Stiefel? Ich habe sie in diesem riesigen Schuhgeschäft in Chicago gefunden.«
»Und was hat dich veranlasst, von Chicago hierher zu kommen?«
»Oh, ich bin schon seit längerem nicht mehr in Chicago, Hündchen. Ich war nach Süden unterwegs. Die Kälte hat mir zu schaffen gemacht. Man würde meinen, dass sie mir willkommen sein müsste. Aber es hat irgendwas mit dem Totsein zu tun, schätze ich. Man empfindet es nicht als kalt. Man empfindet es als eine Art von Nichts, und wenn man tot ist, dann dürfte das Einzige, vor dem man sich fürchtet, das Nichts sein. Ich wollte eigentlich nach Texas. Ich hatte vor, den Winter in Galveston zu verbringen. Ich glaube, ich habe schon als Kind immer in Galveston überwintert.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Shadow. »Du hast nie was davon erzählt.«
»Nein? Dann war es vielleicht jemand anders. Ich weiß nicht. Ich. erinnere mich an Seemöwen – wie wir für die Möwen Brot in die Luft geworfen haben, Hunderte davon, der ganze Himmel hat sich in ein Schwirren von Möwen verwandelt, wenn sie mit den Flügeln schlugen und sich das Brot aus der Luft schnappten.« Sie hielt inne. »Wenn ich es nicht gesehen habe, dann wohl jemand anders.«
Ein Auto kam um die Ecke gefahren. Der Fahrer winkte ihnen zu. Shadow winkte zurück. Es fühlte sich wunderbar normal an, mit seiner Frau spazieren zu gehen.
»Es ist schön«, sagte Laura, als läse sie seine Gedanken.
»Ja«, sagte Shadow.
»Als der Ruf kam, musste ich in aller Eile zurück. Ich war kaum in Texas angekommen.«
»Ruf?«
Sie sah ihn an. An ihrem Hals glitzerte die Goldmünze. »Es hat sich jedenfalls wie ein Ruf angehört«, sagte sie. »Ich musste sofort an dich denken. Ich wollte dich unbedingt sehen. Es war wie ein Hungergefühl.«
»Und du wusstest, dass ich hier bin?«
»Ja.« Sie brach ab. Sie sah finster drein und biss mit der oberen Zahnreihe sanft in die blaue Unterlippe. Mit zur Seite gelegtem Kopf sagte sie dann: »Ja. Plötzlich wusste ich es. Ich hab gedacht, dass du es bist, der mich ruft, aber du warst es gar nicht, oder?«
»Nein.«
»Du wolltest mich nicht sehen.«
»So kann man es nicht sagen.« Er zögerte. »Nein. Ich wollte dich nicht sehen. Es tut so weh.«
Der Schnee unter ihnen knirschte, und wenn das Sonnenlicht darauf fiel, glitzerten Hunderte von Diamanten.
»Es ist bestimmt hart«, sagte Laura, »nicht lebendig zu sein.«
»Du meinst, es ist hart für dich, tot zu sein? Hör zu, ich bin immer noch dabei herauszufinden, wie ich dich vollständig zurückholen kann. Ich glaube aber, dass ich auf dem richtigen Weg …«
»Nein«, sagte sie. »Ich für meinen Teil bin dankbar, wie es ist. Ich hoffe natürlich trotzdem, dass du es irgendwann richtig schaffst. Ich habe viele schlimme Dinge getan …« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich habe von dir gesprochen.«
»Ich bin am Leben«, sagte Shadow. »Ich bin nicht tot. Schon vergessen?«
»Du bist zwar nicht tot«, sagte sie, »aber ich bin mir auch nicht sicher, ob du lebendig bist. Nicht so richtig jedenfalls.«
Was ist das eigentlich im eine Unterhaltung, dachte Shadow. Das kann doch nicht wahr sein.
»Ich liebe dich«, sagte sie leidenschaftslos. »Du bist mein Hündchen. Aber wenn man richtig tot ist, sieht man manches klarer. Es ist so, als ob niemand da wäre. Und du, du bist wie so ein großes, stabiles, menschenförmiges Loch in der Welt.« Sie runzelte die Stirn. »Selbst wenn wir zusammen waren. Ich war gern mit dir zusammen. Du hast mich angebetet und hättest alles für mich getan. Aber manchmal bin ich in ein Zimmer gekommen und habe gedacht, dass niemand drin sei. Ich habe das Licht angemacht, oder ausgemacht, und plötzlich hab ich gemerkt, dass du darin gesessen hast, ganz allein, du hast nicht gelesen, nicht ferngesehen, du hast nichts gemacht, nur so dagesessen.«
Sie umarmte ihn jetzt, als wollte sie ihren Worten den Stachel nehmen, und sagte: »Das Beste an Robbie war, dass er überhaupt jemand war. Manchmal war er ein Arsch, und er konnte auch ein schlechter Witz sein, und er stand drauf, Spiegel rundrum stehen zu haben, wenn wir miteinander geschlafen haben, damit er sich beim Bumsen zusehen konnte, aber er war lebendig, Hündchen. Er wollte etwas. Er hat den Raum ausgefüllt.« Sie hielt inne, sah ihn an und legte den Kopf etwas schräg. »Tut mir Leid. Habe ich dich verletzt?«
Weil er sich nicht sicher sein konnte, dass seine Stimme ihn nicht verriet, schüttelte er einfach den Kopf.
»Gut«, sagte sie. »Das ist gut so.«
Sie näherten sich dem Rastplatz, wo er den Wagen abgestellt hatte. Shadow hatte das Gefühl, er müsse etwas sagen: Ich liebe dich oder Bitte, geh nicht oder Es tut mir Leid. Worte halt, die man verwendete, um eine Unterhaltung zu flicken, die unversehens in dunkle Gefilde abgedriftet war. Stattdessen sagte er: »Ich bin nicht tot.«
»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Aber bist du dir sicher, dass du lebst?«
»Sieh mich an«, sagte er.
»Das ist keine Antwort«, sagte seine tote Frau. »Wenn du lebst, dann weißt du, dass du lebst.«
»Und was jetzt?«, sagte er.
»Tja«, sagte sie, »ich habe dich gesehen. Jetzt gehe ich wieder nach Süden.«
»Zurück nach Texas?«
»Irgendwohin, wo es warm ist. Ist mir ganz egal.«
»Ich muss hier warten«, sagte Shadow. »Bis mein Boss mich braucht.«
»Das ist kein Leben«, sagte Laura. Sie seufzte, aber dann lächelte sie, das gleiche Lächeln, das ihm seit jeher das Herz zerrissen hatte, gleichgültig, wie oft er es sah. Wenn sie ihn anlächelte, war es immer wie das erste Mal, jedesmal von neuem.
Er machte Anstalten, den Arm um sie zu legen, aber sie schüttelte nur den Kopf und entzog sich ihm. Sie setzte sich auf die Kante eines schneebedeckten Picknicktisches und sah zu, wie er wegfuhr.