irgendwo in amerika
New York macht Salim Angst, daher klammert er sich mit beiden Händen an seinen Musterkoffer und hält ihn vor der Brust fest. Er hat Angst vor schwarzen Menschen, wie sie ihn anstarren, und er hat Angst vor den Juden – die ganz in Schwarz gekleideten mit den Hüten und Bärten und Schläfenlocken kann er bestimmen, aber wer weiß, wie viele da noch sind, denen man es nicht ansieht? –, und auch die schiere Menge der Leute schüchtert ihn ein, Menschen in allen Gestalten und Größen, die sich aus den hohen, ewig hohen, schmutzigen Gebäuden auf den Bürgersteig ergießen; er hat Angst vor dem lärmenden Tohuwabohu des Verkehrs, und er hat sogar Angst vor der Luft, die sowohl schmutzig als auch süß riecht, kein bisschen so wie die Luft in Oman.
Salim ist seit einer Woche in New York, in Amerika. Jeden Tag besucht er zwei, vielleicht drei verschiedene Büros, öffnet seinen Musterkoffer, führt den Kupferschmuck, die Ringe und Flaschen und winzigen Taschenlampen vor, die kleinen Empire State Buildings, die Freiheitsstatuen, die in Kupfer erglänzenden Eiffeltürme; jede Nacht schickt er ein Fax an seinen Schwager Fuad zu Hause in Maskat, teilt ihm mit, dass er keine Bestellungen aufgenommen hat oder dass er, wenn es ein glücklicher Tag gewesen ist, gleich mehrere Bestellungen aufnehmen konnte (wenn auch, wie Salim schmerzhaft bewusst ist, noch lange nicht genug, um auch nur die Kosten für Flug und Hotel zu decken).
Aus Gründen, die Salim nicht nachvollziehen kann, haben die Geschäftspartner seines Schwagers ihn im Hotel Paramount an der 46th Street untergebracht. Er empfindet es als verwirrend.
Fuad ist der Ehemann von Salims Schwester. Er ist zwar kein reicher Mann, aber immerhin Mitinhaber einer kleinen Schmuckfabrik. Alles wird für den Export gefertigt und geht in andere arabische Länder, nach Europa, nach Amerika. Seit sechs Monaten arbeitet Salim für Fuad. Fuad macht ihm ein wenig Angst. Der Ton in Fuads Antwortfaxen wird zusehends schroffer. Abends sitzt Salim im Hotelzimmer, liest im Koran und sagt sich, dass das alles hier vorübergehen wird, dass sein Aufenthalt in dieser fremdartigen Welt zeitlich begrenzt und eine einmalige Angelegenheit ist.
Sein Schwager hat ihm tausend Dollar Reisespesen mitgegeben, und dieses Geld, das eine solch ungeheure Summe zu sein schien, als er es anfangs in Händen hielt, löst sich schneller in Luft auf, als Salim glauben kann. In der ersten Zeit nach seiner Ankunft verteilte er, aus Furcht, für einen billigen Araber gehalten zu werden, nach allen Seiten Trinkgelder, drückte jedem, der ihm über den Weg lief, einen Extraschein in die Hand; dann aber kam er zu der Überzeugung, dass man ihn übervorteilte, dass man ihn vielleicht sogar auslachte, und daher gibt er jetzt überhaupt kein Trinkgeld mehr.
Auf seiner ersten und einzigen Fahrt mit der U-Bahn fand er sich nicht zurecht, stieg in den falschen Zug und verpasste seinen Termin; jetzt fährt er mit dem Taxi, aber nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, sonst geht er zu Fuß. Er stolpert in überheizte Büros hinein, die Wangen von der Kälte draußen taub, aber unter dem Mantel ist er schweißgebadet, die Schuhe sind vom Schneematsch klatschnass, und wenn der Wind durch die Avenues bläst (welche von Norden nach Süden verlaufen, während die Streets sich von Westen nach Osten ziehen, alles ganz einfach, und Salim weiß immer, wohin er sich gen Mekka drehen muss), dann fühlt er die Kälte auf seiner entblößten Haut so schmerzhaft, als wäre er geschlagen worden.
Er speist nie im Restaurant des Hotels (Fuads Geschäftspartner übernehmen zwar die Hotelrechnung, aber fürs Essen muss er selbst aufkommen), stattdessen kauft er sich etwas in Falafelbuden und kleinen Lebensmittelgeschäften, um dann alles mit aufs Zimmer zu nehmen. Tagelang hat er seine Einkäufe unter dem Mantel verborgen an der Rezeption vorbeigeschmuggelt, bis ihm aufging, dass sich niemand dafür zu interessieren schien. Aber selbst jetzt noch kommt es ihm merkwürdig vor, die Einkaufstüten in den schwach beleuchteten Fahrstuhl zu tragen (Salim muss sich immer bücken und die Augen zusammenkneifen, um den Knopf zu finden, der ihn zu seinem Stockwerk bringt) und weiter hinauf in das winzige weiße Zimmer, in dem er untergebracht ist.
Salim ist aufgeregt. Das Fax, das heute Morgen beim Aufwachen auf ihn wartete, war kurz und schroff gewesen, tadelnd, streng, aber auch enttäuscht klingend. Salim lasse sie im Stich – seine Schwester, Fuad, Fuads Geschäftspartner, das Sultanat von Oman, die ganze arabische Welt. Sollte Salim nicht in der Lage sein, die nötigen Warenbestellungen beizubringen, sehe Fuad sich nicht länger verpflichtet, ihn zu beschäftigen. Sie seien auf ihn angewiesen. Sein Hotel sei viel zu teuer. Was denn bitte stelle Salim mit ihrem Geld an – lebe er wie ein Sultan in Amerika? Salim las das Fax auf seinem Zimmer (das immer zu heiß und stickig war, weshalb er letzte Nacht ein Fenster geöffnet hat, jetzt aber ist es zu kalt) und saß eine Weile einfach da, das Gesicht in einem Ausdruck völligen Elends eingefroren.
Schließlich geht Salim nach Downtown, hält seinen Musterkoffer fest, als enthielte er Diamanten und Rubine, trottet Straßenzug für Straßenzug durch die Kälte, bis er, Ecke Broadway und 19th Street, zu einem gedrungenen Gebäude kommt, in dessen Erdgeschoss sich ein Deli befindet. Er steigt die Treppe hinauf in den vierten Stock zum Büro von Panglobal Imports.
Das Büro ist schmuddelig, aber er weiß, dass Panglobal fast die Hälfte der aus dem Fernen Osten in die USA importierten Deko-Souvenirs bewegt. Eine richtige Order, eine bedeutende Bestellung von Panglobal könnte Salims Mission retten, könnte den Unterschied zwischen Scheitern und Erfolg ausmachen, und so sitzt Salim auf einem unbequemen Holzstuhl in irgendeinem Vorzimmer, den Musterkoffer auf seinem Schoß balancierend, und starrt die Frau mittleren Alters an, deren rot gefärbte Haare einen Tick zu hell geraten sind und die schniefend hinter ihrem Schreibtisch sitzt, während sie ein Kleenex nach dem anderen verbraucht. Wenn sie sich die Nase ausgeschnaubt hat, wischt sie sie ab und wirft das Kleenex in den Papierkorb.
Salim ist um elf Uhr dreißig eingetroffen, eine halbe Stunde vor dem verabredeten Termin. Jetzt sitzt er da, erhitzt und zitternd, und er fragt sich, ob sich da bei ihm ein Fieber anbahnt. Die Zeit verstreicht ganz furchtbar langsam.
Salim sieht auf seine Armbanduhr. Dann räuspert er sich.
Die Frau hinter dem Schreibtisch blickt ihn feindselig an. »Ja?«, sagt sie.
»Es ist fünf nach halb zwölf«, sagt Salim.
Die Frau wirft einen Blick auf die Wanduhr und sagt noch einmal: »Ja.« Und dann: »Stimmt.« Es klingt wie stibbd.
»Ich hatte einen Termin für elf Uhr«, sagt Salim mit beschwichtigendem Lächeln.
»Mister Blandig weiß, dass Sie hier sind«, teilt sie ihm tadelnd mit. (»Bidter Bladdig beid, dad Die hier dind.«)
Salim greift sich eine alte Ausgabe der New York Post vom Tisch. Er spricht zwar ganz gut Englisch, hat aber Schwierigkeiten mit dem Lesen, und so tastet er sich durch die Berichte wie jemand, der ein Kreuzworträtsel zu lösen versucht. Er wartet, ein rundlicher junger Mann mit den Augen eines geprügelten Hundes, die zwischen seiner Armbanduhr, der Zeitung und der Wanduhr hin und her schweifen.
Um zwölf Uhr dreißig kommen mehrere Männer aus dem Chefbüro. Sie unterhalten sich lautstark, plappern auf Amerikanisch aufeinander ein. Einer davon, ein großer Mann mit Bauch, hat eine unangezündete Zigarre im Mund. Er wirft Salim einen flüchtigen Blick zu. Er sagt der Frau hinter dem Schreibtisch, sie solle es mal mit Zitronensaft und Zink probieren, seine Schwester schwöre geradezu auf Zink und Vitamin C. Sie verspricht es und reicht ihm mehrere Umschläge. Er steckt sie ein, und dann geht er, zusammen mit den anderen Männern, in den Flur hinaus. Langsam verklingt das Gelächter im Treppenhaus.
Es ist ein Uhr. Die Frau hinter dem Schreibtisch öffnet eine Schublade und holt eine braune Papiertüte hervor, der sie mehrere Sandwiches, einen Apfel und ein Milky Way entnimmt. Zuletzt kommt noch eine kleine Plastikflasche mit gepresstem Orangensaft zum Vorschein.
»Entschuldigen Sie«, sagt Salim, »aber könnten Sie vielleicht Mister Blanding anrufen und ihm sagen, dass ich immer noch warte?«
Sie sieht ihn an, als wäre sie überrascht, dass er immer noch da ist, als hätten sie nicht die letzten zweieinhalb Stunden in zwei Meter Entfernung voneinander dagesessen. »Er ist zum Mittagessen«, sagt sie. Er id zub Middagedde.
Salim weiß, tief unten im Bauch spürt er es, dass Blanding der Mann mit der unangezündeten Zigarre war. »Wann wird er zurück sein?«
Sie zuckt die Achseln und beißt von ihrem Sandwich ab. »Er hat den ganzen Nachmittag über Termine«, sagt sie. Er had de gambn Nachmiddag über Dämide.
»Wird er mich dann empfangen, wenn er zurückkommt?«, fragt Salim.
Sie zuckt wieder die Achseln und schneuzt sich.
Salim knurrt der Magen, immer lauter, er ist frustriert und fühlt sich machtlos.
Um drei Uhr blickt die Frau auf und sagt: »Heude gommdä nich mä.«
»Wie bitte?«
»Bidder Bladdig. Dä gommd heude nich mä wiede.«
»Kann ich dann einen Termin für morgen bekommen?«
Sie wischt sich die Nase. »Die müdde anrufe. Dämine nur pä Tedefon.«
»Verstehe«, sagt Salim. Und dann lächelt er: Ein Verkäufer, so hat Fuad ihm, bevor er Maskat verließ, viele Male eingeschärft, steht in Amerika ohne sein Lächeln nackt da. »Ich werde morgen anrufen«, sagt er. Er nimmt seinen Musterkoffer, und er geht die vielen Stufen hinunter auf die Straße, wo der Eisregen sich allmählich in Schneeregen verwandelt. Salim denkt an den langen, langen Weg zum Hotel an der 46th Street, denkt an das Gewicht des Musterkoffers, dann tritt er an die Bordsteinkante und winkt jedem gelben Taxi, das sich nähert, ob das Licht auf dem Dach nun an ist oder nicht, aber alle fahren sie an ihm vorbei.
Eines der Taxis beschleunigt beim Vorbeifahren: Eines der Räder taucht in eine Schlaglochpfütze und spritzt eiskaltes Dreckwassser über Salims Hose und Mantel. Einen Moment lang erwägt er, sich vor eines der plumpen Fahrzeuge zu werfen, aber dann macht er sich klar, dass sein Schwager mehr um das Wohlergehen des Musterkoffers besorgt sein würde als um seines, Salims, und die Leidtragende wäre einzig und allein seine geliebte Schwester, Fuads Ehefrau (seinem Vater und seiner Mutter ist seine Existenz nämlich schon immer etwas peinlich gewesen, und seine etwaigen Liebesbeziehungen waren stets – und notwendigerweise – kurz und relativ anonym); zudem bezweifelt er, dass irgendeines der Autos schnell genug ist, um ihn auch tatsächlich aus dem Leben zu befördern.
Ein ramponiertes gelbes Taxi hält neben ihm, und Salim, dankbar, seinen Gedankengang abbrechen zu können, steigt ein.
Der Rücksitz ist mit grauem Klebeband geflickt, die halb offene Plexiglastrennscheibe trägt zahlreiche Hinweise, die ihm das Rauchen untersagen und ihn darüber informieren, wie viel man zahlen muss, um zu den verschiedenen Flughäfen zu gelangen. Die aufgezeichnete Stimme eines offenbar berühmten Menschen, von dem er allerdings noch nie gehört hat, erinnert ihn daran, den Sicherheitsgurt anzulegen.
»Zum Hotel Paramount, bitte«, sagt Salim.
Der Taxifahrer grunzt und fädelt sich in den Verkehr ein. Er ist unrasiert, trägt einen dicken, staubfarbenen Pullover und eine schwarze Plastiksonnenbrille. Das Wetter ist grau in grau, und es dämmert bereits: Salim fragt sich deshalb, ob der Mann vielleicht Probleme mit den Augen hat. Die Scheibenwischer verschmieren das Straßenbild zu einem Flirren aus Grautönen und schmutzigen Lichtflecken.
Aus dem Nichts auftauchend, setzt sich ein Laster vor das Taxi, und der Fahrer stößt sofort Verwünschungen aus, beim Barte des Propheten.
Salim späht nach dem Namen auf dem Armaturenbrett, aber er kann ihn von seinem Platz aus nicht entziffern. »Seit wann fahren Sie Taxi, mein Freund?«, fragt er den Mann in seiner Muttersprache.
»Zehn Jahre«, antwortet der Mann in derselben Sprache. »Wo kommen Sie her?«
»Maskat«, sagt Salim. »In Oman.«
»Aus Oman. Ich war mal in Oman. Ist aber lange her. Haben Sie mal von der Stadt Ubar gehört?«
»Aber ja«, sagt Salim. »Die versunkene Säulenstadt. Man hat sie vor fünf, zehn Jahren, ich weiß nicht mehr genau, in der Wüste gefunden. Haben Sie etwa zu der Expedition gehört, die sie ausgegraben hat?«
»So ungefähr. Es war eine gute Stadt«, sagt der Taxifahrer. »An den meisten Tagen haben drei-, vielleicht viertausend Menschen ihr Nachtlager dort aufgeschlagen, alle Reisenden haben Station in Ubar gemacht; die Musik spielte, der Wein floss wie Wasser, und das Wasser floss ebenso, was auch der Grund war, dass die Stadt überhaupt existierte.«
»Das habe ich auch gehört«, sagt Salim. »Und sie ging unter vor, was – tausend Jahren? Zweitausend?«
Der Taxifahrer sagt nichts. Sie müssen an einer roten Ampel halten. Es wird wieder grün, aber der Fahrer rührt sich nicht, trotz des sofort einsetzenden misstönenden Gehupes hinter ihnen. Zögerlich schiebt Salim eine Hand durch die Lücke im Plexiglas und berührt den Fahrer an der Schulter. Der Mann lässt den Kopf ruckartig hochfahren, stellt den Fuß aufs Gaspedal, und sie schießen über die Kreuzung hinweg.
»Scheißepissescheißescheiße«, sagt er auf Englisch.
»Sie müssen sehr müde sein, mein Freund«, sagt Salim.
»Ich fahre dieses allahvergessene Taxi seit dreißig Stunden«, sagt der Fahrer. »Es ist einfach zu viel. Vorher hab ich fünf Stunden geschlafen, und davor bin ich vierzehn Stunden gefahren. Wir sind so kurz vor Weihnachten knapp an Leuten.«
»Ich hoffe, Sie haben wenigstens ordentlich Geld verdient«, sagt Salim.
Der Fahrer seufzt. »Nicht mal. Heute Morgen habe ich einen Mann von der 51st Street zum Flughafen Newark gefahren. Als wir da waren, ist er einfach in die Halle gerannt, und ich konnte ihn nicht wiederfinden. Fünfzig Dollar Fahrpreis sind futsch, und auf dem Rückweg musste ich auch noch die Maut selbst bezahlen.«
Salim nickt. »Ich musste heute den ganzen Tag darauf warten, von einem Mann empfangen zu werden, der mich nicht empfangen will. Mein Schwager hasst mich. Ich bin seit einer Woche in Amerika, aber der Aufenthalt hat nichts gebracht, im Gegenteil, er frisst nur Geld. Ich bringe einfach nichts an den Mann.«
»Was verkaufen Sie denn?«
»Scheiße«, sagt Salim. »Wertlosen Tand und Flitter und Schmuckstücke für Touristen. Fürchterlicher, billiger, alberner und hässlicher Scheiß.«
Der Fahrer reißt das Steuer nach rechts, kurvt um etwas herum und fährt weiter. Salim fragt sich, wie der Fahrer bei all dem Regen, der Dunkelheit und der dicken Sonnenbrille überhaupt sehen kann, wohin er fährt.
»Sie versuchen Scheiß zu verkaufen?«
»Ja«, sagt Salim, einerseits begeistert, andererseits aber auch erschrocken darüber, dass er die Wahrheit über die Muster seines Schwagers ausgesprochen hat.
»Und man will es Ihnen nicht abkaufen?«
»So ist es.«
»Seltsam. Wenn man sich die Geschäfte hier anguckt, ist das doch alles, was verkauft wird.«
Salim lächelt bedrückt.
Ein Lastwagen blockiert die Straße vor ihnen. Ein rotgesichtiger Cop steht davor, winkt und schreit und dirigiert sie in die nächste Querstraße hinein.
»Wir fahren rüber zur Eighth Avenue, da kommen wir auch nach Uptown«, sagt der Taxifahrer. Sie biegen in die Straße, und es stellt sich heraus, dass der Verkehr dort vollständig zum Erliegen gekommen ist. Eine Kakophonie der Autohupen erklingt, aber es geht trotzdem nicht voran.
Der Fahrer schwankt auf seinem Sitz. Das Kinn rutscht ihm langsam auf die Brust herab, einmal, zweimal, dreimal. Dann fängt er leise zu schnarchen an. Salim streckt die Hand aus, um den Mann zu wecken, obwohl er sich nicht ganz sicher ist, ob das auch angebracht ist. Als er ihn an der Schulter schüttelt, bewegt sich der Fahrer, Salims Hand streift am Kopf des Mannes entlang und schlägt ihm die Brille vom Gesicht, sodass sie ihm hinunter in den Schoß fällt.
Der Taxifahrer öffnet die Augen, greift nach der schwarzen Plastiksonnenbrille und setzt sie sich wieder auf, aber es ist schon zu spät. Salim hat seine Augen gesehen.
Das Auto kriecht im Regen vorwärts. Die Zahlen auf dem Taxameter werden größer.
»Wirst du mich jetzt töten?«, fragt Salim.
Der Taxifahrer hat die Lippen fest zusammengepresst. Salim beobachtet das Gesicht des Mannes im Rückspiegel.
»Nein«, sagt der Fahrer ganz ruhig.
Wieder wird der Wagen angehalten. Der Regen prasselt aufs Dach.
Salim hebt an zu sprechen: »Meine Großmutter hat Stein und Bein geschworen, dass sie einmal spätabends am Rand der Wüste einen Ifrit, oder vielleicht auch einen Marid, gesehen hat. Wir haben ihr gegenüber beteuert, dass das nur ein Sandsturm war, ein bisschen Wind, aber sie sagte, nein, sie hätte sein Gesicht gesehen und seine Augen, die gleich hellen Flammen gewesen seien, genau wie deine.«
Der Fahrer lächelt, aber seine Augen sind hinter der schwarzen Plastikbrille verborgen, und Salim kann nicht erkennen, ob in seinem Lächeln Humor liegt oder nicht. »Die Großmütter sind auch hier rübergekommen«, sagt er.
»Gibt es viele Dschinn in New York?«, fragt Salim.
»Nein. Es gibt nicht viele von uns.«
»Es gibt die Engel, und es gibt die Menschen, die Allah aus Lehm geschaffen hat, und dann gibt es noch die Wesen des Feuers, die Dschinn«, sagt Salim.
»Die Leute hier wissen nichts von meinem Volk«, sagt der Fahrer. »Sie glauben, dass wir Wünsche erfüllen. Glaubst du, ich würde Taxi fahren, wenn ich Wünsche erfüllen könnte?«
»Ich verstehe nicht.«
Der Fahrer wirkt bedrückt. Salim starrt das Gesicht des Mannes im Spiegel an, während dieser spricht, und beobachtet die dunklen Lippen des Ifrits.
»Sie glauben also, dass wir Wünsche erfüllen. Wie kommen die bloß darauf? Ich schlafe in einem kleinen, stinkigen Zimmer in Brooklyn. Ich fahre dieses Taxi für jeden stinkenden Verrückten, der dafür bezahlen kann, und manchmal auch für solche, die es nicht können. Ich fahr sie dahin, wo sie hin müssen, und manchmal bekomme ich dafür ein Trinkgeld. Manchmal bezahlen sie mich.« Seine Unterlippe beginnt zu zittern. Der Ifrit scheint ziemlich aufgebracht zu sein. »Einer hat mir mal auf den Rücksitz geschissen. Ich musste alles sauber machen, bevor ich den Wagen zurückbringen konnte. Wie kann man so etwas nur tun? Ich musste die nasse Scheiße vom Rücksitz putzen. Gehört sich das etwa?«
Salim streckt eine Hand aus und tätschelt dem Ifrit die Schulter. Er fühlt festes Fleisch unter dem Wollpullover. Der Ifrit nimmt eine Hand vom Lenkrad und legt sie für einen Moment auf die von Salim.
Salim muss an die Wüste denken: Roter Sand bläst ihm einen Staubsturm durch die Gedanken, und die scharlachrote Seide der Zelte, welche die verlorene Stadt Ubar einst umgaben, flattert und bauscht sich in seinem Kopf.
Sie fahren die Eighth Avenue hinauf.
»Der alte Glaube. Sie pissen nicht in Erdlöcher, weil der Prophet ihnen erzählt hat, dass Dschinn in Erdlöchern hausen. Sie wissen, dass die Engel flammende Sterne nach uns werfen, wenn wir versuchen, ihren Unterhaltungen zu lauschen. Aber selbst für die Alten sind wir, sobald sie in dieses Land kommen, weit weg, sehr weit. Früher musste ich jedenfalls nicht Taxi fahren.«
»Traurig, das zu hören«, sagt Salim.
»Es sind schlimme Zeiten«, sagt der Fahrer. »Ein Sturm zieht auf. Es macht mir Angst. Ich würde alles tun, um hier wegzukommen.«
Den Rest der Fahrt bis zum Hotel schweigen beide.
Beim Aussteigen gibt Salim dem Ifrit einen Zwanzigdollarschein, will aber kein Wechselgeld von ihm haben. Dann, in einem jähen Anfall von Mut, nennt er ihm noch seine Zimmernummer. Der Taxifahrer gibt darauf keine Antwort. Eine junge Frau steigt ins Taxi, und er fährt wieder hinaus in die Kälte und den Regen.
Sechs Uhr abends. Salim hat das Fax an seinen Schwager noch nicht geschrieben. Er geht noch einmal in den Regen hinaus und kauft sich seine heutige Ration Kebab mit Fritten. Eine Woche ist er erst hier in diesem Land New York, aber schon fühlt er sich schwerer, runder, unförmiger werden.
Als er ins Hotel zurückkommt, sieht er zu seiner Überraschung den Taxifahrer, der die Hände tief in den Taschen vergraben hat, in der Empfangshalle stehen. Er beguckt sich angestrengt einen Ständer mit Schwarzweißpostkarten. Beim Anblick Salims lächelt er verlegen. »Ich hab dein Zimmer angerufen«, sagt er, »aber es ist niemand rangegangen. Also dachte ich mir, dass ich ein bisschen warte.«
Auch Salim lächelt und berührt den Mann am Arm. »Da bin ich«, sagt er.
Zusammen betreten sie den trüben, grün schimmernden Fahrstuhl, mit dem sie dann Hand in Hand in den fünften Stock hinauffahren. Der Ifrit fragt, ob er wohl Salims Bad benutzen dürfe. »Ich fühl mich sehr schmutzig«, sagt er. Salim nickt. Er sitzt auf dem Bett, welches das kleine weiße Zimmer fast ganz ausfüllt, und lauscht dem Strömen des Duschwassers. Salim zieht die Schuhe aus, die Socken und dann den Rest seiner Kleidung.
Der Taxifahrer kommt, noch nass, mit einem Handtuch um den Bauch aus der Dusche. Die Sonnenbrille hat er abgelegt, und in dem düsteren Zimmer leuchten seine Augen in scharlachroten Flammen.
Salim hält blinzelnd seine Tränen zurück. »Ich wünschte, du könntest sehen, was ich sehe«, sagt er.
»Ich erfülle keine Wünsche«, flüstert der Ifrit, lässt das Handtuch fallen und schiebt Salim sanft, aber unwiderstehlich aufs Bett.
Es dauert eine Stunde oder sogar länger, ehe der Dschinn, sich heftig in Salims Mund windend, endlich kommt. Salim ist in der gleichen Zeit schon zweimal gekommen. Der Samen des Dschinns schmeckt seltsam und brennt ihm feurig im Hals.
Salim geht ins Bad, wo er sich den Mund auswäscht. Als er zurückkommt, ist der Taxifahrer in dem weißen Bett bereits eingeschlafen und schnarcht friedlich. Salim legt sich neben den Ifrit, schmiegt sich eng an ihn, und malt sich in Gedanken die Wüste auf dessen Haut aus.
Als er gerade dabei ist einzuschlafen, fällt ihm ein, dass er noch immer nicht das Fax an Fuad geschrieben hat, und bekommt ein schlechtes Gewissen. Tief drinnen fühlt er sich leer und einsam: Er streckt die Hand aus, lässt sie auf dem anschwellenden Schwanz des Ifrits ruhen und schläft getröstet ein.
In den frühen Morgenstunden erwachen sie, reiben sich aneinander, und dann schlafen sie wieder miteinander. Irgendwann bemerkt Salim, dass er weint und dass der Ifrit ihm die Tränen mit brennenden Lippen wegküsst. »Wie heißt du?«, fragt Salim den Taxifahrer.
»Auf meinem Taxischein steht ein Name, aber das ist nicht meiner«, sagt der Ifrit.
Hinterher konnte Salim sich nicht erinnern, wo der Sex aufgehört und wo die Träume begonnen hatten.
Als Salim erwacht und die kalte Sonne ins Zimmer kriecht, ist er allein.
Außerdem muss er feststellen, dass sein Musterkoffer verschwunden ist, all die Flaschen und Ringe und Souvenirtaschenlampen aus Kupfer sind weg, ebenso sein Reisekoffer, seine Brieftasche, sein Pass und sein Rückflugticket nach Oman.
Dafür findet er, achtlos auf den Boden geworfen, ein Paar Jeans, das T-Shirt und den staubfarbenen Wollpullover. Darunter liegt ein Führerschein, ausgestellt auf den Namen Ibrahim bin Irem, ein Taxischein mit demselben Namen und einen Schlüsselbund, an dem ein Stück Papier mit einer auf Englisch geschriebenen Adresse befestigt ist. Die Fotos auf den Dokumenten sehen Salim zwar nicht sehr ähnlich, aber andererseits sahen sie dem Ifrit auch nicht sehr ähnlich.
Das Telefon klingelt. Es ist jemand von der Rezeption, der ihn darauf hinweist, dass Salim bereits abgereist sei und dass auch sein Besuch jetzt bald gehen müsse, damit man das Zimmer für den nächsten Gast herrichten könne.
»Ich erfülle keine Wünsche«, sagt Salim und lässt dabei die Worte, die sich in seinem Mund bilden, nachwirken.
Während er sich anzieht, überkommt ihn ein seltsames Schwindelgefühl.
New York ist simpel gestrickt: Die Avenues verlaufen von Norden nach Süden, die Streets von Westen nach Osten. Was kann da schon passieren?, fragt er sich.
Er wirft die Autoschlüssel in die Luft und fängt sie wieder auf. Dann setzt er sich die schwarze Plastiksonnenbrille auf, die er in einer der Hosentaschen gefunden hat, und verlässt das Hotel, um sein Taxi zu suchen.