Sechs

Nirgends erfährt man so viel über einen Menschen wie in seiner Wohnung. Ich hatte mal einen Bekannten, den alle für einen ausgemachten Hallodri hielten. Er konnte sich eine Woche lang auf Partys herumtreiben, sich in Gesellschaft von völlig Unbekannten bestens amüsieren, auf dem Boden unter einer schmutzigen Zudecke schlafen, sich von Sprotten in Tomatensoße ernähren und von Zwieback, der vom Vorjahr und schon verschimmelt war. Dennoch bewahrte er sich ein gepflegtes Äußeres und gab sich nie dem Suff hin, sodass sein Verhalten von allen einer erstaunlich spartanischen Haltung in Alltagsdingen zugeschrieben wurde.

Wer malt sich da meine Überraschung aus, als ich ihn das erste Mal zu Hause besuchte? Die kleine Zweizimmerwohnung, die mein Freund von seiner in hohen Jahren verstorbenen Großmutter geerbt hatte, war liebevoll renoviert worden, zugegeben, nicht nach europäischem Standard, was ihn teurer als die Wohnung selbst zu stehen gekommen wäre, aber doch ganz anständig und so, dass man nicht gleich auf den Einfall einer Brigade besoffener Handwerker aus Moldawien schloss. Doppelfenster mit teuren Rahmen aus Holz, ein einfacher Boden, aber mit Parkett, nicht mit irgendeinem Laminat, zudem nicht lackiert, sondern gewachst. Alles war modern, penibel und geschmackvoll ausgeführt, man hätte meinen können, hier wohne ein junger begabter Designer, nicht aber ein Journalist, der in Computerzeitschriften über Hardware schrieb. In der Küche verblüffte ein riesiger Herd mit höchst ausgebufften Knöpfen und ausladender Abzugshaube, die ganz offenkundig nicht nur der Zierde diente. Dem Ganzen die Krone setzte das Porträt seiner Oma auf, eine durchaus talentvolle Tempera-Arbeit, die in einem schönen Rahmen an der Wand hing. Bei dem Porträt handelte es sich um ein Werk des »Hallodris«.

Danach nahm ich mir vor, nie wieder über einen Menschen zu urteilen, bevor ich ihn nicht zu Hause besucht hatte.

Bei Kotja war ich schon öfter gewesen, weshalb ich zutiefst überzeugt war, ihn in- und auswendig zu kennen. Andererseits: Durfte ich dergleichen überhaupt noch behaupten, nachdem sich mein langjähriger Freund als Funktional, ja mehr noch, als Kurator und damit als Oberfunktional der Erde herausgestellt hatte?

Warum auch immer, jedenfalls war ich mir sicher, dass wir nicht in Kotjas Moskauer Wohnung landen würden, sondern an einem völlig anderen Ort. Und diesmal täuschte mein Vorgefühl mich nicht.

Der Raumverschiebung selbst haftete nichts Besonderes an. Es war, als ob ich durch eine offene Tür ginge oder durch ein Zollportal in eine andere Welt gelangte. Keinerlei entsetzliche Qualen, aber auch keine paradiesischen Wonnen, wie sie nach Ansicht einschlägiger Schriftsteller die Teleportation, den Hypersprung oder andere fiktive Methoden des Ortswechsels begleiten.

Wir verschwanden schlicht von der Straße in der Nähe der polnischen Kleinstadt Elblag und tauchten an einem anderen Ort wieder auf.

Zu fluchen ist nicht gerade meine Leidenschaft.

Aber jetzt fluchte ich, und zwar sowohl wegen der Überraschung als auch wegen des ekelhaften Drucks in meinen Ohren. Ich musste ein paar Mal inbrünstig gähnen, um sie wieder freizukriegen. Der erfahrene Kotja war dagegen, wie ich festgestellt hatte, mit weit offenem Mund durch den Raum gereist.

Wir standen mitten in einem runden Marmorpavillon. Über uns wölbte sich eine Kuppel, die aus derart feinem weißem Marmor bestand, dass sie wie Milchglas schimmerte. Die Kuppel ruhte auf dunkelgrünen Säulen, um die sich spiralförmig Schnitzerei wand. Der Boden war ebenfalls aus Marmor, aus weiß-grünem.

Am meisten frappierte mich jedoch die Landschaft, die uns umgab.

Riesenhohe Berge, auf deren Gipfeln Schneemützen saßen. Die untergehende Sonne ließ die zarten Flocken der Wolken rosa, fliederfarben und violett schimmern. Die Luft war kalt und dünn.

»Wo sind wir denn hier, auf dem Mars?«, fragte ich. »Tja, das musst du entscheiden, ich bin da noch nie gewesen«, grummelte Kotja. »Mist! ... Was für eine Schweinekälte! ... Mann, das ist Tibet!«

»Shambala vielleicht?«, versuchte ich wieder zu witzeln.

»Ja.« Kotja nickte. »Gehen wir ... Hier frieren wir uns alles ab!«

Die Kälte drang uns in der Tat bis in die Knochen. Mich nach wie vor auf Kotja stützend, humpelte ich aus dem Pavillon. Den steilen Hang führte eine Steintreppe hinunter, die in ein kleines Tal zwischen den Felswänden mündete. Dort ließen sich mehrere von einer hohen Mauer gesäumte Gebäude erahnen. Sie waren aus roten, von der Zeit zerfressenen Steinen errichtet und hatten schmale, an Schießscharten erinnernde Fenster. War das ein buddhistisches Kloster?

»Ist das ein Kloster?«, fragte ich.

»Nicht ganz. Es ist die offizielle Residenz des Kurators in unserer Welt.«

Ich starrte Kotja an und schüttelte den Kopf. »Und du bist doch ein Arschloch ...«

»Und wieso?«

»Als ob du nicht wüsstest, dass ich immer davon geträumt habe, mal nach Tibet zu kommen!«

Kotja zeigte mir einen Vogel. »Du tickst echt nicht mehr richtig. Gehen wir runter, ansonsten ist dein erster Besuch in Tibet auch dein letzter.«

Auf seine Schulter gestützt, humpelte ich die Treppe runter. Kotja schnaufte und ächzte, als ob er nicht über die Kräfte eines Funktionals verfügte. Was für ein Meister der Verstellung!

In dem Moment bemerkte ich, dass ich weder sauer noch wütend auf ihn war. Fast, als hätte er nie versucht, mich umzubringen. Fast, als wäre er nicht für dieses ganze Chaos verantwortlich, in das meine Freunde und ich geschlittert waren.

Und war er denn wirklich dafür verantwortlich?

Woher wollte ich wissen, was ein Kurator eigentlich machte? Was er konnte und was nicht? An welcher Leine er ging?

»Kotja, wir müssen ernsthaft miteinander reden«, kündigte ich an.

»Das müssen wir wohl«, räumte Kotja in schuldbewusstem Ton ein. »Und ich werde mich nicht dagegen sträuben ...«

»Andernfalls würde ich dir auch derart eins überziehen, dass du von Tibet nach Peking fliegst«, ließ ich meiner Phantasie freien Lauf. Mir entging jedoch nicht, wie Kotja zusammenzuckte. »Was ist, hast du etwa Angst vor mir?«

»Ja«, gestand Kotja. »Warum hast du diesen Polacken eigentlich keins übergebraten? So wie mir damals, im Auto?«

»Selbstverständlich um keine internationalen Konflikte auszulösen. Damit Spannungen überhaupt gar nicht erst aufkommen. Damit niemand beleidigt ist.«

»In dem Fall bitte ich vielmals um Entschuldigung«, blaffte Kotja. »Diese hehren Absichten waren mir leider nicht bekannt, sonst hätte ich dich nämlich da auf der Straße stehen lassen ... Pass doch auf, wo du hintrittst!«

Ich rutschte auf einer der vereisten Stufen aus und wäre beinahe hinuntergepurzelt. Kotja konnte mich nur mit Mühe abfangen. Er blieb kurz stehen. »Wo stecken eigentlich diese Idioten?«, sagte er. »Drehen die schon wieder ihre Mühlen? Dabei habe ich doch ausdrücklich angeordnet, dass sie sich um den Pavillon kümmern sollen ...«

»Was für Idioten? Was für Mühlen?«, wollte ich wissen.

Wie als Antwort auf meine Frage flogen die Türen des größten Gebäudes auf. Gleich orangefarbenen Apfelsinen schossen aus ihm dicke Männer in schlichten Togen heraus.

»Ich habe doch gewusst, dass das ein Kloster ist!«, fuhr ich Kotja an.

»Und ich habe gesagt: Nicht ganz«, konterte Kotja.

»Aber sie müssen sich doch irgendwie beschäftigen, oder? Schließlich bin ich für sie eine Art ...«

»Buddha?«, fragte ich neugierig.

»Nein. Aber ein Rechtschaffener, der ihm äußerst nahe kommt«, erklärte Kotja stolz.

»Verstehe. Ein Rechtschaffener. Das Mädchen und ihr Hund«, murmelte ich halblaut.

»Was?«

»Nichts, schon gut. Du bist also ein Rechtschaffener ... Einzelunterricht.«

Diesmal bekam Kotja mit, was ich sagte. Zu meiner Überraschung brachte ihn die Anspielung sogar in Verlegenheit.

Inzwischen näherten sich uns die Mönche mit ihren leuchtenden, geschorenen Köpfen. Die orangenen Togen schienen in der Abenddämmerung förmlich zu strahlen.

»Wie lange brauchen die denn noch?« Kotja winkte sie heran. Er rief ihnen mit kehliger Stimme etwas zu, erhielt eine Antwort, und einige der Mönche wuselten zurück ins Haus. »Ich habe die Aufgewecktesten von ihnen losgeschickt, um uns ein heißes Bad vorzubereiten«, informierte mich Kotja. »Ich weiß ja nicht, wie es bei dir steht, aber ich bin total durchgefroren.«

Etwa eine halbe Stunde später saß ich in einem hohen Holzkübel bis zum Hals im warmen Wasser und trank aus einer Tonschale ein kochend heißes Getränk, das Kotja als tibetanischen Tee bezeichnet hatte. Dem Aussehen nach erinnerte diese braun-grüne ölige Brühe eher an Matsch. Vom Geschmack her ... konnte sie als starker Tee durchgehen, in den jemand großzügig Fett und Salz gegeben und anschließend alles zu einem dickflüssigen Brei verrührt hatte. Ich war mir sicher, dass ich zu Hause keinen einzigen Schluck von dem Zeug heruntergekriegt hätte. Nicht mal aus Neugier. Nicht mal in einem dieser angesagten Restaurants.

Hier brachte ich das Getränk jedoch runter. Sogar mit Genuss.

Neben mir stand noch ein Kübel, in dem Kotja saß, mit einer identischen Schale in Händen. Er trank seinen Tee schmatzend und mit einem begeisterten Schnaufen, das mir ein wenig übertrieben vorkam.

Der Raum, in dem unsere »Wannen« standen, war nicht sehr groß und hatte eine niedrige, rußgeschwärzte Decke. Alles hier war dunkel, von der Zeit, vom Rauch, vom jahrhundertealten Schmutz. Der Boden bestand offenbar nur aus Erde, die jedoch festgestampft worden war, bis sie hart wie Stein war. Getrocknete Kräuter waren locker darüber verteilt. Den einzigen Anachronismus stellten die lustigen Gummimatten dar, rosafarbene Dinger mit Enten und Fischen, die vor unseren Kübeln auf dem Boden lagen. Und natürlich das monströse Aggregat aus China, das in sich einen kleinen Schwarzweiß-Fernseher, eine Tageslichtlampe, ein Radio und anderen technischen Schnickschnack vereinte. Die Lampe leuchtete, der Fernseher lief, brachte allerdings nur krisseliges Rauschen. Das Radio knisterte, spuckte aber gelegentlich ganze, unzusammenhängende Silben aus: Tsin ... bai ... tsem ... is ... ka ... es...

Chinesisch, natürlich.

Dawa und Mimar tauchten auf, die beiden »aufgewecktesten Mönche«. Jeder brachte einen Eimer mit heißem Wasser, das sie langsam in die Kübel gossen. Anschließend langte Mimar - oder vielleicht auch Dawa? - nach einem grauen Beutel, knotete ihn auf und gab getrocknete Kräuter ins Wasser.

»Was ist das?«, wollte ich voller Misstrauen von Kotja wissen.

»Eine alte tibetanische Medizin. Glotz nicht so misstrauisch, ich weiß es wirklich nicht! Irgendwelche Kräuter. Wegen des Dufts. Oder für die Gesundheit.«

»Wie soll ich dich denn sonst bitte schön angucken?« Ich zuckte die Achseln. Die beiden Mönche waren schon wieder hinausgegangen, immer noch entrückt und wortkarg. »Seit ich dich kenne, hast du mich ständig belogen! Erst hast du dich für einen ganz normalen Menschen ausgegeben! Dann hast du versucht, mich umzubringen! Kannst du mir das vielleicht irgendwie erklären?«

»Ja«, antwortete Kotja in ungewöhnlich ernstem Ton. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Frag, was du willst, ich werde dir antworten.«

Das ist leicht gesagt: Frag, was du willst. In mir hatten sich derart viele Fragen angestaut, dass ich zunächst fast verzweifelte. Kotja wartete geduldig in seinem Kübel.

»Wie alt bist du?«, fing ich an.

»Wieso reitest du jetzt wieder darauf herum?«, wunderte sich Kotja. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich älter bin, als ich aussehe.«

»Das habe ich nicht vergessen. Aber konkret? Wie viel?«

Pfeifend sog Kotja die Luft ein. Er beugte den Kopf zurück und bettete ihn auf den Kübelrand. »Neunundvierzig«, antwortete er düster.

Aus irgendeinem Grund nahm ich ihm das sofort ab.

»Zwei Weltkriege und eine Handvoll Revolutionen«, erinnerte ich ihn gemeinerweise. »Kurator ... dabei bist du nur ein Vierteljahrhundert älter als ich! Warum hast du mich angelogen?«

»Ein Kurator muss alt sein«, behauptete Kotja. »Alt, weise und erfahren. Ich bin vor dreiundzwanzig Jahren Kurator geworden ... Hätte man mir da etwa Respekt entgegengebracht?«

»Wie bist du Kurator geworden?«, wollte ich wissen, obwohl ich die Antwort bereits ahnte.

Kotja seufzte. Er nahm seine Brille ab, tauchte sie absurderweise in das heiße Wasser und hing sie über den Rand des Kübels.

»Also?«, insistierte ich.

»Ich ... man hatte mich ausgelöscht. Das war eine Hebamme von Arkan, ein Mann, der jetzt in einer anderen Welt arbeitet, nicht mehr bei uns ...« Kotja stockte. »Ich wurde zum Funktional ... und zwar ... das ist jetzt kein Witz ... zu einem Musikerfunktional.«

»Was?«

»Ein Musiker.«

»Geiger?«, mutmaßte ich ironisch.

»Saxophonist.«

Das verschlug mir die Sprache, und ich schwieg.

»Du hättest mich mal spielen hören sollen!«, sagte Kotja träumerisch. »Ich hatte ein sehr seltenes Instrument, ein Basssaxophon ...«

»Eine Arbeit von Stradivari?«

»Wenn du dich über mich lustig machst, kriegst du aus mir kein Wort mehr raus.«

»Entschuldige.« Einlenkend hob ich die Hände. »Es ist mit mir durchgegangen. Ich wusste nicht mal, dass es verschiedene Saxophone gibt.«

»Sieben Arten. Am verbreitetsten ist das Tenorsaxophon und das Alt ... Ein Bass ist eine wahre Seltenheit. Das war mein Instrument.«

»Was macht man damit für Musik?«, fragte ich, noch immer wie vor den Kopf gestoßen.

»Fürs Saxophon gibt es unterschiedliche Musikrichtungen«, wich Kotja einer klaren Antwort aus. »Ich habe meist improvisiert. Ich habe ...« Er verstummte, beendete den Satz dann aber doch: »... in Restaurants gespielt.«

»Jazz ist Musik für Fettwänste«, grummelte ich.

»Ja, ja!« Kotja schnaubte bloß. »Ist dir etwa noch nicht klar geworden, dass wir alle nur Angestellte sind? Der Besitzer eines Hotels genauso wie der Inhaber einer Restaurants oder der Zöllner an einer Übergangsstelle zwischen den Welten? Ich ... habe damals Journalismus studiert, davon geträumt, bei der Komsomolskaja Prawda zu arbeiten - und wurde dann von heute auf morgen ein Niemand. Zwei Tage lang bin ich durch die Straßen geirrt, wobei ich von Glück sagen kann, dass damals Sommer war. Dann haben sie Kontakt aufgenommen ... Damals gab es ja noch keine Handys. Damals existierte die Sowjetunion noch. Breschnew war vor kurzem gestorben, Andropow an der Macht ... Weißt du überhaupt, wer Andropow ist? Aber woher solltest du das wissen ... Er war Leiter des KGB und hat als Erstes Säuberungen im Land vorgenommen. Wer korrupt war, wanderte ins Gefängnis, diejenigen, die während ihrer Arbeitszeit ihre Privatangelegenheiten regelten, wurden entlassen ... Es wurden Razzien in Geschäften und Kinos durchgeführt und die Leute überprüft, ob sie gerade Urlaub hatten oder zu dieser Zeit eigentlich hätten ihrer Arbeit nachgehen müssen ...«

»Ich weiß sowohl über die Sowjetunion als auch über Andropow Bescheid. Wer korrupt war, wurde festgenommen, aber das ist ja wohl nicht verkehrt«, erklärte ich. »Oder willst du mir etwa weismachen, Korruption sei eine tolle Sache? Und wenn bei uns jemand während der Arbeitszeit ins Kino ginge ... aber was heißt da Kino ... es bräuchte sich bloß jemand den Hintern zu kratzen ... und schon würde Andrej Isaakowitsch ihn achtkantig rauswerfen!«

Kotja verschluckte sich und sah mich einen ausgedehnten Moment lang nachdenklich an. »In gewisser Weise, natürlich ...«, meinte er dann. »Aber das hat nichts mit unserer Sache zu tun. Kurz und gut, ich war überzeugt, ich sei ein Opfer des KGB geworden. Dass die mich in den Wahnsinn treiben wollten oder sich einfach einen Scherz mit mir erlaubten ...«

Ich wollte schon fragen, was das KGB veranlassen sollte, sich mit einem Studenten einen Scherz zu erlauben. Da ich jedoch befürchtete, Kotja würde daraufhin wieder in seine trübseligen und für mich völlig irrelevanten Erinnerungen eintauchen, schwieg ich lieber.

»Ich ging gerade an einer Telefonzelle vorbei«, fuhr Kotja fort, »als es plötzlich klingelte. Das war so ein altes Ding aus Eisen ... in das du ein Zweikopekenstück reinwerfen musstest ... Ich habe immer gedacht, man könne damit nicht angerufen werden, weil sie keine Nummer haben. Alle wussten natürlich, dass es im Westen Telefonzellen gab, in denen du angerufen werden kannst, in Filmen hast du so was ja oft genug gesehen, aber bei uns gab’s das eben nicht. Aber dieser Apparat klingelte ... ich ging hin und nahm ab.«

Er verstummte.

»Sie haben dir eine Adresse genannt, zu der du kommen solltest?«

»Ja. Ich fand ein merkwürdiges Haus vor, ein kleines einstöckiges Häuschen aus rotem Ziegelstein und mit einem Eisendach. Es wurde von zwei elfstöckigen Plattenbauten eingekeilt. Das musst du dir mal vorstellen! So wurde damals bei uns nicht gebaut! Ein altes Haus wie dieses hätten sie einfach abgerissen ...«

»Daran hat sich nichts geändert«, warf ich ein. »Bauland ist teuer.«

»Im Parterre des Hauses war eine Instrumentenhandlung untergebracht«, berichtete Kotja weiter. »Ich ging rein, schaute mich um ... und suchte mir ein Saxophon aus. Ich weiß selbst nicht, was mich da geritten hat. Ich wusste einfach, dass das mein Instrument ist ...« Kotja kicherte. »Dann ging ich rauf in den ersten Stock, wo ein seltsames Chaos herrschte. Die Fenster waren eingeschlagen, der Putz auf den Boden gebröckelt, ein durchgesessenes, fadenscheiniges Sofa stand da rum ... Auf das Ding setzte ich mich und fing an zu spielen. Ich hatte nie ein musikalisches Gehör gehabt. Als Kind hat meine Mutter mich zu einigen bekannten Musikern geschleppt, die haben ihr gleich erklärt, dass sie weder den Jungen noch das Klavier quälen wollten. Und hier setzte ich mich hin und spielte los. Hungrig, völlig ahnungslos, was mit mir geschah, saß ich da und spielte. Drei Stunden später besuchte mich ein Mann, meine Hebamme ...«

Von jetzt an unterbrach ich ihn nicht mehr. Ich hörte, wie Kotja seine ersten Auftritte absolvierte, manchmal in ganz normalen Einrichtungen der Menschen, meist jedoch in den von Funktionalen betriebenen Restaurants und Clubs. Er spielte für Funktionale und für die Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nahmen. So verging ein halbes Jahr.

Dann lernte Kotja einen Kurator kennen.

»Er hieß Friedrich. Ich glaube, er war Österreicher. Eigentlich ein sehr angenehmer Mensch ...« Kotja verstummte. »Wir wurden zwar keine Freunde, aber es ist immer angenehm, wenn dich jemand schätzt ... selbst für ein Talent, das dir in den Schoß gefallen ist ... Normalerweise brachte er seine Freundin mit, sie hieß Lora. Eine ganz normale Frau, kein Funktional ... sehr schön. Sehr, sehr schön.«

Abermals verfiel er ins Schweigen.

»Du hast ihn umgebracht«, sagte ich.

»Ja.«

»Wegen der Frau?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil er als Erster getötet hat. Lora. Als er dahinter gekommen ist, dass sie ihn betrügt ... mit mir.« Kotja grinste. »Später habe ich erfahren, dass ich nicht ihr erster Liebhaber war. Letztendlich bedeutete ich ihr auch gar nichts. Friedrich hatte allem Anschein nach einfach die Nase von den ewigen Seitensprüngen und ihren hysterischen Anfällen voll. Er hat die Frau ermordet ... Eine Szene, wie aus einem alten Film. Er hat sie nämlich in einen Abgrund gestoßen. Vor meinen Augen. Anschließend hat er mich davor gewarnt, noch einmal auf solche Verlockungen reinzufallen ... Er sei, so erklärte er mir, ein anständiger Mann, der es nicht schätze, wenn ihm Hörner aufgesetzt werden ... Insgesamt nahm er die Situation auf die leichte Schulter. Aber ich nicht. In mir explodierte etwas. Genau wie bei dir, als die Nastja ermordet haben. Ich habe mich auf Friedrich gestürzt, obwohl ich wusste, dass ich nichts gegen ihn ausrichten konnte ... Aber dann ist irgendwas passiert. Ich konnte ihn völlig problemlos ersticken. Ich habe ihn einfach auf den Boden gepresst und erstickt. Er wollte ewig nicht sterben, hat versucht, sich meinem Griff zu entwinden ...« Kotja schwieg kurz. Dann setzte er wieder an: »So bin ich Kurator geworden. Jemand hat sich ... mit mir in Verbindung gesetzt. Jemand aus Arkan. Man hat mir erklärt, da ich nun schon mal den bisherigen Kurator getötet habe, müsste ich seine Aufgaben von jetzt an übernehmen. Ich willigte ein. Ehrlich gesagt, hatte ich panische Angst.«

»Und muss ein Kurator oft ...?« Ich ließ die Frage unvollendet.

»Danach habe ich nie wieder jemanden umgebracht.« Kotja schüttelte den Kopf. »Nein. Niemals. Das ... das erledigen die Hebammen oder Polizisten. Ein Kurator ... der braucht sich die Hände da nicht schmutzig zu machen. Dafür bekleidet er ein zu hohes Amt. Als das mit dir passiert ist ... als diese durchgeknallte Iwanowa Nastja umgebracht hat und du mit ihr abgerechnet hast ... bin ich in Panik geraten. Ich habe befürchtet, es würde sich alles wiederholen. Dass du an meiner Stelle Kurator wirst. Deshalb habe ich versucht ... Entschuldige. Ich werde das nie wieder tun.«

Eine Zeit lang saßen wir schweigend da, zwei nackte Idioten in Kübeln, in denen das Wasser bereits kalt wurde.

»Gut«, sagte ich schließlich, »aber verrat mir eins, Kotja ... Werde ich wirklich zum Kurator?«

»Ich weiß es nicht.« Kotja schwieg. »Auf alle Fälle hast du dir bestimmte Fähigkeiten angeeignet - wenn du selbst mit einer Hebamme fertiggeworden bist. Und ich ... ich verliere meine Fähigkeiten nach und nach.«

Aus seiner Stimme hörte ich leichte Panik heraus.

»Ich schenke dir ein Saxophon«, versprach ich. »Du wirst in Restaurants spielen. Nachts schreibst du dann an deinem Skandalroman Die Gesangslehrerin. Du hast genau das richtige Alter dafür, um dich deinen erotischen Phantasien hinzugeben.«

»Ich werde mich ihm hingeben«, meinte jemand leise von der Tür her. »Und wie ich mich ihm hingeben werde ... Hallo, Kirill.«

Ich drehte mich zur Tür um und starrte entgeistert auf Illan.

Nein, natürlich hatte ich nicht vergessen, dass die beiden zusammen gewesen waren. Und logischerweise hätte ich annehmen müssen, dass sie auch zusammen geblieben sind.

»Verzeiht, dass ich mich erst jetzt bemerkbar mache.« Lächelnd legte Illan einen Stapel grauer Handtücher auf eine Bank neben der Tür. »Aber ich wollte lieber draußen bleiben und euerm ausgesprochen interessanten Gespräch zuhören.«

»Wir kommen gleich«, versicherte Kotja etwas betreten. Anscheinend hatte sein Status als Kurator, über den Illan inzwischen informiert war, nicht das Geringste an ihrer Beziehung geändert.

»Beeilt euch, Jungs. Ich hätte da auch noch ein paar Fragen.« Illan sah mich an. In ihren Augen schimmerte Schmerz auf. »Mein Beileid, Kirill.«

Ich deutete ein Nicken an und erwiderte: »Und mein ... Beileid.«

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