Zweiundzwanzig

Man sagt, seinem Schicksal entkommt man nicht. Freilich, manch einer glaubt, der Mensch sei seines eigenen Schicksals Schmied.

Ich selbst bin der Ansicht, beide Seiten haben recht.

Denn der Mensch ist auch sein Schicksal. Es gibt immer etwas, das du ändern kannst. Etwas, das du bewältigen kannst. Genau wie es manches gibt, das du nie erreichst. Wozu du nicht imstande bist. Selbst wenn du mit dem Kopf gegen die Wand rennst.

Ich hatte ein paar Bücher gelesen, in denen Autoren nachweisen, dass der Mensch zu allem fähig ist. Pflanz ihn nur in die entsprechende Umgebung - und er wird Scheiße fressen und Kehlen durchbeißen. Einige haben das sogar ausgesprochen überzeugend nachgewiesen. Meiner Ansicht nach beweisen solche Bücher jedoch nur eins: dass dieser eine Mensch Scheiße fressen und Kehlen durchbeißen würde. Ansonsten wäre alles falsch. Ansonsten wäre alles vergeblich.

Deshalb haben mir schlechte Bücher immer so gut gefallen. Die, in denen es heißt, der Mensch sei im Grunde sogar besser, als er selbst glaubt.

Ich saß in der Küche, rauchte und schüttete eine Tasse Kaffee nach der nächsten in mich rein. Schlecht fürs Herz, sicherlich. Aber wovor sollte ich mich schon fürchten, wenn ich mich im Prozess der Wahl befand? Vor allem, wenn ich Kurator werden sollte?

Und wenn ich das nicht würde - dann bräuchte ich mir ohnehin nie wieder Gedanken über meine Gesundheit zu machen.

Das Handy lag vor mir auf dem Tisch. Cashew, der sich eine Weile in der Küche herumgedrückt hatte, hatte irgendwann eingesehen, dass er kein Mitternachtshäppchen kriegen würde, und sich zum Schlafen in mein Bett verzogen, weit weg von dem Licht und dem Tabakqualm.

Wenn eine Fabrik vor deinem Fenster die Luft verpestet, kannst du in eine Gegend ziehen, in der es keine Fabriken gibt. Oder dafür sorgen, dass die Fabrik geschlossen wird.

Aber was, wenn das Gift in der Luft liegt, wenn du ihr weder in den Bergen noch auf einer Insel mitten im Meer entkommst? Wenn alle um dich herum dieses Gift ausstoßen? Wenn es ihnen im Grunde sogar gefällt - wie ja auch die halluzinogene Luft auf Nirwana den unglückseligen Verbannten gefällt?

Was bleibt dir dann übrig?

Die Luft anzuhalten.

Oder dich damit abzufinden.

Wahrscheinlich war ich im Moment wirklich ziemlich stark. Wenn ich mit einer einzigen Kugel den Nicht-Engel hatte ausschalten können, dieses alte und starke Funktional. Wenn ich dem Briefträger eins hatte verpassen können, wenn ich die Anstrengungen des Polizisten ignoriert hatte. Und wenn obendrein unsere ganze Welt von meinem Wohlergehen abhing, dann war es in der Tat riskant, mich zu töten.

Sicherlich würde ich mit Kotja fertigwerden.

Und danach seinen vorgewärmten Platz einnehmen. Ich würde in Tibet ein- und ausgehen wie in meiner eigenen Küche. Ich würde von einer Welt in die andere springen, reisen und mich erholen. Die Arbeit schaffte ich mit links. Einfach ein paar Befehle der einen Funktionale an die anderen weiterleiten - was war das schon? Danach könnte ich es mir sofort wieder gutgehen lassen. Ich würde anfangen, etwas zu sammeln. Und ich würde Krimis oder philosophische Abhandlungen schreiben.

Falls mich Langeweile überkommen sollte, würde ich zur Heimat der Funktionale aufbrechen, zu Erde-16. Warum sie ihr am Ende doch eine Nummer zugeteilt haben? Noch dazu eine so komische? Zur Irreführung allzu neugieriger Zöllner? Oder gab es in diesem Fächer von Welten, in diesem Multiversum, eine Harmonie, die sich mir bislang nicht erschlossen hatte? Vielleicht ...

Die vulkanischen Wüsten reizten mich kaum, aber das Museum mit dem geflügelten Kustoden, das war schon was anderes.

Und wenn mir alle Welten zum Hals raushingen, dann würde ich nach Arkan gehen. Um weitere Welten zu verändern. Vielleicht würde es ja klappen, und ich bekam eine bessere hin? Eine Welt, in der niemand Funktionale brauchte. Wo alles gut war.

Schließlich hatte ich keine andere Wahl.

Ich starrte das Handy an und wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Kotja ebenfalls nicht schlafen konnte. Er würde auf meinen Anruf warten. Ich sollte also die sorgfältig gehütete Visitenkarte heraussuchen und die lange Nummer des Satellitentelefons wählen ...

Da klingelte es.

Ich nahm das Handy an mich und drückte auf »Empfang«. Langsam führte ich es ans Ohr.

»Hallo? Hab ich dich geweckt?«

»Nö«, antwortete ich. »Ich häng hier nur rum und gönn mir ein Käffchen.«

»Ich kann auch nicht schlafen«, tröstete Kotja mich. »Das Rumgesitze bringt mich noch um. Ich schreibe sogar schon Gedichte.«

»Lyrische oder feierliche?«

»Satirische. Wie der alte Veteran Wassili Tjorkin einen Einberufungsbefehl kriegt. Hör mal:

Na, da staunt Wassili Tjorkin,

Unverwüstlicher Soldat,

Dass er, wie es scheint, vom Wehrkreis

Einen Brief erhalten hat.

Und so liest er laut das Schreiben,

Das er in den Händen hält:

›Hiermit sind Sie, Bürger Tjorkin,

Zur Erfassung einbestellt.‹

Tjorkin legt den Brief beiseite,

Blinzelt übern Brillenrand:

Dass sie jetzt schon Alte ziehen -

Steht’s so schlimm ums Vaterland?

Tags darauf der junge Leutnant,

Glattrasiert und rot vor Scham,

Weiß sich gar nicht zu erklären,

Wie es zu dem Irrtum kam.

›Hier nach unsern Unterlagen

Sind Sie grad mal achtzehn Jahr.‹

Und mein lieber alter Opa

Lacht laut auf und sagt: ›Na klar!

Jungs, da hat sich der Computer

Wohl verzählt, er hat mir gleich

Hundert Jahre abgezogen.‹

Und der Leutnant wurde bleich.«




»Das ist witzig. Ich gratuliere dir zur Entdeckung eines neuen Hobbys«, sagte ich. »Weshalb rufst du an?«

»Weshalb hätte ich nicht anrufen sollen? Und wen kann ich sonst anrufen? Wenn ich Illan wecke, würde sie den Humor sowieso nicht zu schätzen wissen. Was weiß sie schon von Wassili Tjorkin? Schließlich hat sie das Gedicht von Twardowski noch nie gehört!« Er verstummte. Nach einer Weile fragte er sachlich: »Hast du noch keine Wahl getroffen? Oder weshalb zögerst du es sonst hinaus?«

»Du kannst das alles auf die leichte Schulter nehmen, das ist mir klar. Aber ich bin schließlich noch jung, mir bereitet noch jeder Tag Vergnügen.«

»Stimmt, daran hatte ich nicht gedacht«, gab Kotja zu. »Trotzdem sitz ich hier wie auf Kohlen ...«

»Wo hier? In Shambala? Die Verbindung ist gut, es gibt nur eine kurze Verzögerung ...«

»Hmm. Wenn du Lust hast, komm doch vorbei. Wir rufen einen temporären Waffenstillstand aus.«

Ich schaute zum Fenster raus. Es tagte bereits. »Nein, du hast recht. Es nützt nichts, es weiter auf die lange Bank zu schieben. Also ... heute, zwölf Uhr mittags. Aber an einem Ort, der nicht so pathetisch ist ...«

»Einverstanden. Passt dir die städtische Müllhalde?«

»Dass du nie etwas ernst nehmen kannst! Wir wollen uns außerhalb der Stadt treffen, auf dem Weg zu den Medweshji-Seen, wo wir im letzten Jahr Witalkas Geburtstag gefeiert haben.«

»Das ist doch total langweilig, mitten im freien Feld, wie zwei Recken ... Außerdem ist da jetzt alles aufgeweicht und voller Löcher. Treffen wir uns bei dir in der Nähe, in dem Kindergarten, den sie dichtgemacht haben. Da gibt es einen Innenhof, den von außen niemand sieht.«

»Da hängen immer Alkis rum.«

»Was heißt hier Alkis? Wir haben da doch auch schon rumgehangen. Wenn jemand auftaucht, kriegt er einen Tritt in den Hintern. Ist für uns doch ein Kinderspiel.«

Ich schaute zum Fenster raus. Der Kindergarten, ein zweistöckiges, quadratisches Gebäude, war vor fünf Jahren geschlossen worden. Damals hatten die Kinder etwas, wo sie spielen konnten, wenn der Wind durch die Straßen fegte.

»Trotzdem ... lieber nicht«, erwiderte ich. »Angeblich steigt ja die Geburtenrate, sie wollen den Kindergarten renovieren und wiedereröffnen.«

»Ja, und? Wer übrigbleibt, räumt auf. Und, wie gesagt, es ist in deiner Nähe.«

»Also gut«, lenkte ich ein. »Das ist wirklich kein Ort voller Pathos.«

»Dann wähl die Waffen.«

Während ich nachdachte, ließ ich meinen Blick ziellos umherschweifen. »Messer.«

»Sitzt du gerade in der Küche, oder was?«

»Hmm.«

»Kirill«, sagte Kotja sanft, »das ist wirklich keine gute Wahl. Hast du in letzter Zeit irgendwann einmal ein Messer in Händen gehalten?«

»Das ist noch gar nicht lange her. Vor zwei Wochen habe ich in dieser Küche die Hebamme Natalja mit einem Messer aufgespießt.«

»Ja, entschuldige. Aber ich will dich nur warnen, ich habe ...«

»Das weiß ich.«

»Soll ich dir eins mitbringen?«

»Ein Messer? Danke, nicht nötig.«

»Also dann ... um zwölf?«

»Abgemacht.«

Damit beendete ich das Gespräch. Ich schnappte mir eine weitere Zigarette, die ich zwischen den Fingern hin und her drehte. Meine Kehle kratzte bereits. Ich steckte die Zigarette zurück in die Schachtel.

Wie einfach das alles war! Wie unglaublich einfach.

Der Ort war in meiner Nähe, ich würde es nicht weit haben.

Waffen fand ich in meinem Haus mehr als genug.

Übrigens, ich sollte das Jagdmesser nehmen, das Dietrich mir geschenkt hatte. Das würde ihm gefallen, außerdem war es ein gutes Messer ...

Ich stellte den Wecker im Handy auf elf, schaltete das Licht aus und ging mit dem Mobiltelefon in mein Zimmer. Cashew bellte müde, als ich eintrat. Ich schob ihn vom Kopfkissen runter zum Fußende, legte mich hin und schlief auf der Stelle ein.

Natürlich wachte ich erst Viertel nach elf auf, und zwar nicht durch den unablässig piepsenden Handywecker, sondern durch Cashew, der mich ableckte. In der Wohnung war es kalt, die Heizung lief kaum, obendrein hatte ich in der Küche das Fenster aufgelassen, damit der Zigarettengestank abzog. Ich machte das Fenster zu, wechselte Cashews Wasser und stellte ihm das diätische Hill’s hin, was er überhaupt nicht begeistert aufnahm. Bei meinen Eltern hatte er garantiert seiner Gesundheit abträgliche, dafür jedoch schmackhafte Happen vom Esstisch gekriegt.

Während Cashew schlecht gelaunt frühstückte, duschte ich und spülte genussvoll die Reste des Schlafs von mir ab. Das japanische Minzshampoo brachte mich endgültig auf Touren. Anschließend ging ich in die Küche, wo es schon wärmer geworden war, holte mir aus dem Kühlschrank ein inzwischen steinhart gewordenes Stück Salami, säbelte mir ein paar Scheiben ab, aß sie und trank Tee dazu. Kaffee hätte ich jetzt nicht runterbekommen.

Zwanzig vor zwölf schrieb ich meinen Eltern eine kurze Nachricht. Für alle Fälle. Dass mit mir alles in Ordnung sei, ich aber gezwungen gewesen sei wegzufahren und nicht so bald wieder da sein würde. Dann ging ich kurz mit Cashew direkt vor dem Haus Gassi, was mir einen höchst missbilligenden Blick von meiner Nachbarin Galina Romanowa eintrug, die gerade vom Einkaufen zurückkam. Was soll’s? Ich war nun mal ein Schwein ... Der verstimmte Auftritt Cashews, der auf einen langen Spaziergang gehofft hatte, betrübte mich viel stärker.

Nachdem ich ihn in der Wohnung abgeliefert hatte, wurde er plötzlich ganz still und sah mich so traurig an, dass ich noch einmal kehrtmachte, mich neben ihn hockte, ihm die weichen Ohren kraulte und ihm versicherte, er sei der beste Hund der Welt. Und dass ich ganz bestimmt wiederkommen würde. Jedenfalls würde ich mir alle Mühe geben.

Währenddessen nahm ich mir das Messer und steckte es unter die Jacke. Irgendwie hatte ich gar nicht mehr an die Waffe gedacht.

Drei Minuten vor zwölf zwängte ich mich durch das altvertraute Loch im Zaun des Kindergartens und machte mich auf den Weg zum Innenhof. Dafür brauchte ich nur durch einen einzigen Torbogen, der früher mal mit einem Gitter versperrt gewesen war, doch die Saufbrüder der Umgebung hatten es längst aus den Angeln gehoben.

Kotja war noch nicht da.

Gut. Es wäre peinlich gewesen, zu spät zu kommen. Schließlich brauchte ich nur zu Fuß über einen Hof, während er mit Teleportation aus Tibet anrücken musste ...

Ich drehte eine Runde in dem betonierten Hof und setzte mich auf eine winzige Bank. Ich betrachtete die kleine kaputte Schaukel und die niedrige Basketballstange. Der Ring war abgebrochen, auf die Tafel dahinter war eine grässliche Fratze gemalt und geschrieben: Boris ist dohf. Ich fuhr über das h, betrachtete anschließend meinen Finger und grinste. Ein hässlicher Ort für Kinder zum Spielen. Aber gerade recht, um einen zu trinken. In den Ecken lagen kaputte Flaschen herum, zerquetschte Plastikbecher und ganze Lagerstätten bis zum Filter heruntergerauchter Kippen. Ich steckte mir jetzt auch eine an. Die erste Zigarette an diesem Morgen - und sie schmeckte sogar.

Etwas klatschte leise.

Ich drehte mich um und erblickte den mitten im Hof stehenden Kotja.

Er sah ausgesprochen elegant aus.

Eine alte Uniform. Weiße, gebügelte Hosen mit einer Goldlitze an der Naht, eine Art Militärrock, ebenfalls mit Goldlitze, unter dem eine Scheide herauslugte. Auf die Brille hatte er diesmal selbstverständlich verzichtet.

»Rauch ruhig«, sagte Kotja, sobald unsere Blicke sich trafen. »Ich kann warten.«

Ich nickte ihm zu und rauchte rasch zu Ende. Ich drückte die Kippe aus, stand auf, klopfte meine Jeans ab und ging auf Kotja zu. Drei Meter vor ihm blieb ich stehen. »Du siehst höchst eindrucksvoll aus«, bemerkte ich.

»Zunächst möchte ich dir ein paar Ratschläge geben«, begann Kotja. »Erstens: Versuche dich so schnell wie möglich damit abzufinden, dass deine Freunde und deine Familie sterben werden. Wir leben viel länger als sie, selbst wenn du deine Lieben von Ärztefunktionalen behandeln lässt. Zweitens: Alle zehn, zwanzig Jahre nimm dir eine Auszeit. Für ein halbes oder ein ganzes Jahr. Irgendwo auf einem romantischen und altmodischen Planeten. Veros ist dafür ideal ... Übrigens, diese Uniform stammt vom Insel-Stadtstaat Fald, den ich dir sehr empfehle. Drittens: Du kannst nicht die ganze Zeit über du selbst bleiben. Denk dir hin und wieder eine neue Biographie aus, ein neues Schicksal. Versuche sie selbst zu glauben. Sie muss dir in Fleisch und Blut übergehen. So, dass du selbst an sie glaubst. Bei mir hat das geklappt. Ansonsten kriegst du nämlich Flügel, dein Schwert verwächst mit deiner Hand, und du verlierst dein menschliches Aussehen völlig. Viertens: Übe dich in den unterschiedlichsten Waffenarten. Vom Marinedolch bis hin zu ... keine Ahnung, was man sich so alles ausgedacht hat ... bis hin zum Kampflaser.«

»Wozu denn das?«, fragte ich.

»Dazu.«

Kotja selbst bewegte sich überhaupt nicht, nur seine Hand glitt nach unten. Förmlich aus dem Nichts sprang ein spitzer Dolch in sie hinein. Kotja holte aus - und ein silbriger Blitz zuckte pfeifend über meinen Kopf hinweg.

Ich drehte mich um.

Der Griff des Dolchs (eines Offiziersdolchs?) ragte aus dem Auge des fratzenhaften Boris auf dem Basketballschild heraus.

»Ich werde mich nicht mit dir schlagen«, verkündete Kotja. »Ich bin gewiss kein Heiliger. Wenn man hier alle hinlegen würde, die ich irgendwann mal umgebracht habe, wäre für uns beide kein Platz mehr. Aber mit dir werde ich mich nicht schlagen. Schon gar nicht mit Messerchen. Das ist lächerlich. Ich bin mit der festen Absicht hergekommen, dich umzubringen, aber jetzt ... habe ich es mir anders überlegt.«

»Du bist ein Wichtigtuer, Kotja«, bemerkte ich. »Die Farbe auf dem Schild ist noch feucht. Du hast das erst heute da hingeschmiert, in aller Herrgottsfrühe, nach unserem Gespräch. Dann noch das h in ›doof‹, das ist nun wirklich zu viel des Guten.«

Kotja machte eine aufgebrachte Handbewegung. »Und wenn schon! Was geht dich das an? Ich habe doch gesagt: Ich werde mich nicht schlagen. Selbst wenn ich dann meine Funktion verliere, ein normaler Mensch werde und bald verrecke. Mir doch egal!«

Ich holte mein Messer heraus und wog es in der Hand. Dann drehte ich mich um und warf es. Die Klinge durchbohrte das zweite Auge von Boris.

»Aber woher wollen wir eigentlich wissen«, sagte ich, »wie unser Duell ausgegangen wäre? Ich befinde mich in einem ungefestigten Zustand. Ich bin ein wandelndes lokales Chronoklasma, ein Mensch, der aus seiner Welt herausgerissen wurde - nur dass diese Welt sich plötzlich mit aller Kraft an ihn geklammert hat. Sparen wir uns also diese hehren Worte. Übrigens hätte ich dir einen ernsthaften Vorschlag zu machen.«

»Welchen? Willst du mir etwa weismachen, du seist bereit, die Erde zu verlassen? Das würde ich dir nie im Leben abkaufen, Kirill! Und zwar nicht, weil dir unsere Erde so gefällt. Sondern weil du ein Sturkopf bist, der es nicht erträgt, wenn jemand ihn zu etwas zwingt.«

»Lass uns doch mal annehmen, ich würde die Erde nicht verlassen. Aber ich würde auch keinen Anspruch auf deinen Posten erheben. Ich bin im Prozess der Wahl ... und jetzt habe ich meine Entscheidung getroffen.«

Ich zog den Ring von meinem Finger, das letzte Relikt aus meiner Zollstelle. Ich ließ ihn zu Boden fallen.

»Kirill, das ist nur ein Stück Metall, das überhaupt nichts zu bedeuten hat!«

»Das weiß ich. Aber es ist ein Symbol. Ich trenne mich von euch. Ihr geht mir auf die Nerven. Ihr alle: Zöllner, Köche, Polizisten und Kuratoren. Schert euch zum Teufel! Ich bin ein Mensch! Ich habe keine Funktion!«

»Willst du etwa behaupten, du gehst in dein Bit und Bite zurück und versuchst, den Leuten deine Graphikkarten für möglichst teures Geld anzudrehen?«, fragte Kotja ungläubig.

»Nein, vermutlich nicht. Wahrscheinlich haben sie mir sowieso längst gekündigt, weil ich unentschuldigt weggeblieben bin. Ich werde mein Studium wieder aufnehmen.«

»Wozu das?«, wunderte sich Kirill.

»Ich werde Ingenieur, baue mir eine Rakete, verpiss mich damit und sehe zu, dass ich möglichst viel Abstand zwischen mich und euch bringe!«

»Alles klar. Und nachts lädst du Güterzüge aus, damit du deinen Eltern nicht auf der Tasche liegst.«

»So schlimm wird’s schon nicht kommen. Immerhin verstehe ich was von Computern. Ich kann bei einem Provider arbeiten, abends im Serviceteam. Korbin-Telekom findest du in ganz Moskau, da könnte ich bestimmt ...«

»Stopp!« Kotja breitete beschwichtigend die Arme aus. »Halt mal die Luft an, Kirill! Du bist auf hundertachtzig, wir haben beide die Nerven verloren und Panik gekriegt. Natürlich kannst du das alles machen. Du kannst wieder an die Uni gehen, und du kannst per Telefon kluge Ratschläge erteilen: Jetzt öffnen Sie den Ordner mit der Aufschrift ›Verbindungen‹ ... Aber das ist doch alles nichts Halbes und nichts Ganzes! Das wird dich nie im Leben zufrieden stellen! Siehst du das denn nicht ein? Du wirst das Funktional in dir nicht mehr los, früher oder später wirst du dich an den Kopf fassen - und mich suchen. Und du wirst mich finden, weil all deine Fähigkeiten zurückkehren werden! Lass uns der Wahrheit lieber ins Auge sehen! Du bist ein Funktional, daran besteht kein Zweifel! Du hast den Ring abgenommen, ein paar vollmundige Worte von dir gegeben, aber du bist kein normaler Mensch geworden!«

»Anscheinend bleibt mir nur eins übrig«, erwiderte ich. Ich ging zu der Stange für den Basketballkorb rüber und taxierte sie. Sie war nicht sehr tief eingegraben, vielleicht fünfzig Zentimeter, unten saß ein Betonfuß ...

Ich griff fest zu und riss die Stange aus dem Beton.

»Na siehst du«, stellte Kotja triumphierend fest. »Ich habe dir doch gesagt, dass du ...«

Mit der zwei Meter langen Metallröhre über der Schulter (an einem Ende klebte der Zementbrocken, an der anderen das Holzschild mit den Messern) hielt ich auf Kotja zu.

Der wartete geduldig. Offenbar wollte er wirklich keinen Widerstand leisten - und das beunruhigte mich.

Ich riss die Stange hoch und schleuderte sie gegen Kotja.

Im letzten Moment hielt er es nicht mehr aus. Mit einem Sprung brachte er sich vor dem Ding in Sicherheit, machte auf dem Beton eine Rolle und hechtete über die Bank. »Bravo!«, rief er. »So ist es richtig!«

Ich hob die Stange wieder auf. Der Aufprall hatte den Zementbrocken weggesprengt und ein spitzes, verrostetes Ende freigelegt.

Kotja griff nach der Bank. Die war nicht in der Erde verankert. Er riss sie mit ausgestreckten Armen hoch und warf sie nach mir.

Ich parierte mit der Stange. Pah! Ein Bänkchen von einem Kinderspielplatz!

»Jungs! Jungs, was macht ihr denn da!«

Aus den Augenwinkeln sah ich zwei versoffene Penner, die im Torbogen standen. Einer hielt bereits eine angebrochene Flasche in der Hand, der andere eine Zweiliterflasche Fanta. Die Limo brachte mich zum Lachen.

»Jungs, hört auf! Das ist ja schrecklich!«, empörte sich der Typ mit dem Wodka. Der andere schien eine klarere Vorstellung davon zu haben, was Menschen Schreckliches anrichten können und was nicht. Seine Augen weiteten sich, er schaffte es aber, die Fanta nicht fallen zu lassen. Er packte seinen Kumpan am Ellbogen und zog ihn weg.

Kotja stand da und sah mich triumphierend an.

»Entschuldige«, sagte ich. »Uns bleibt nur ein Ausweg ... und ich hoffe, ich täusche mich nicht ...«

Er nickte, den Blick unverwandt auf mich gerichtet.

Ich legte mir die Stange bequem in die Hand - und rammte sie meinem Freund mit einem harten Stoß in den Bauch.

Kotja fasste mit beiden Händen nach der Stange. Das Metall gab ein jämmerliches Stöhnen von sich. Mit bloßen Händen brach er die Stange vorm Bauch ab, als kappe er sie mit einer hydraulischen Schere. Er ließ sich auf den Beton plumpsen und lehnte sich gegen die umgekippte Bank. Ein halber Meter Stange ragte noch aus seinem Bauch heraus.

Ich trat an ihn heran und kniete mich neben ihn.

»Siehst du?«, sagte Kotja. Sein Gesicht war kreidebleich. »Siehst du, wie einfach das ist? Nun ... mach schon ...«

»Das alles ist viel komplizierter«, entgegnete ich. »Aber ich hoffe, ich habe keinen Fehler gemacht. Ich will kein Kurator werden. Ich will kein Funktional sein. Geht doch alle zum Teufel.«

Ich griff nach der Stange, zog sie aus Kotja heraus und warf sie weg.

»Ich sterbe gleich«, sagte Kotja bekümmert. »Der Blutverlust, der Schmerzschock ...«

Ich betrachtete das Blut, das auf seiner Uniform eintrocknete.

»Quatsch!«, entgegnete ich. »Du stirbst nicht. Du bist schließlich Kurator. Du bist ein mächtiges Funktional, du verwaltest das Personal in der zivilisierten Welt von Demos ganz hervorragend.«

»Und du?«

»Ich bin einfach nur ein Mensch. Ich habe meine Wahl getroffen, verstehst du? Indem ich dich verletzt, aber nicht umgebracht habe, habe ich meine Wahl getroffen. Und aufgehört, ein Funktional zu sein.«

»Das verstehe ich nicht ...« Kotjas Stimme klang schon etwas kräftiger. Er tastete nach seiner Wunde und verzog das Gesicht. »Scheiße, das tut höllisch weh ... Wenn du wüsstest, wie weh das tut!«

»Ich kann’s mir vorstellen. Keine Sorge, das überstehst du schon. Bis zum Mittagessen ist alles wieder heil.«

»Trotzdem wird dir niemand glauben. Alle werden vermuten, dass du noch ein Funktional bist. Dass sich ... deine Fähigkeiten einfach verborgen haben ...«

»Soll mir recht sein. Dann wird man auf alle Fälle davor zurückschrecken, mich kaltzumachen. Weil in dem Fall nämlich die Gefahr besteht, dass unsere Welt untergeht. Insofern habe ich absolut nichts dagegen, wenn man mir nicht vollends glaubt.«

Kotja suchte eine bequemere Position. »Das heilt schon ...«, teilte er mir sachlich mit. »Und du spürst nichts in dir?«

»Nichts. Absolut nichts.«

Ich streckte die Hand aus und versuchte, die Stange mit den Fingerspitzen anzuheben. Sie rührte sich kein bisschen.

»Wie hast du das fertiggebracht?«

»Jeder Mensch hat sein Schicksal«, antwortete ich. »Ihr verwandelt diejenigen in Funktionale, die das Schicksal der Menschheit ändern können. Es gibt jedoch zahllose Welten. Und irgendwo in einer dieser Welten folgen die Menschen ihrem Schicksal, verändern ihr Leben ... Ich hoffe, nicht nur durch Kriege. Ich hoffe, zum Besseren. Eure Manipulation, die künstliche Existenz der Funktionale, ist zugleich die Quelle eurer Kraft. Wir ... nein, ihr ... ihr seid stark, weil ihr nicht euer Leben lebt. Weil ihr nicht das tut, was ihr tun könntet und müsstet.«

»Und was musst du noch tun?«

»Ich weiß es nicht, ehrlich nicht. Als Erstes werde ich mein Studium wieder aufnehmen. Vielleicht ist es tatsächlich mein Schicksal, Raketen zu bauen?«

»Wir haben dich nicht von der Uni gejagt«, gab Kotja zu bedenken. »Du hast das Studium aus freien Stücken abgebrochen. Ich habe damals nie im Traum daran gedacht, dass du ein Funktional werden könntest, das hast du selbst so gewollt. Erinnerst du dich noch, wie du dich bei mir darüber beklagt hast, dass du es satt hast, zu lernen und zu lernen, nur um dein ganzes Leben lang wie ein Trottel Muttern festzuziehen und Zeichnungen anzufertigen?«

»Kotja!« Ich musste lachen. »Wie kommst du bloß darauf, dass nur ihr Funktionale seid? Dass nur ihr die Schicksale anderer umschreibt? Diejenigen, die durch eure Portale gehen, in euern Restaurants die unglaublichsten Delikatessen verzehren und ihre Partys an den Küsten sauberer Meere feiern - für sie sind wir, du und ich, ein und dasselbe! Sie brauchen keinen Weltraum, sie brauchen keine wissenschaftlichen Entdeckungen, sie brauchen keinen Gottesglauben und nicht das dritte Epos von Homer. Für sie ist es viel wichtiger, dass jemand in einem Geschäft hinterm Ladentisch steht und ihnen Computerzubehör verkauft.«

»In meiner Tasche sind Zigaretten, gib mir die mal«, bat Kotja.

Ich holte eine goldschimmernde Schachtel heraus, entnahm ihr eine Zigarette, zündete sie an und steckte sie Kotja zwischen die Zähne. Seine Hände waren über und über mit Blut beschmiert.

»Nimm dir auch eine«, forderte Kotja mich auf. Dann konnte er jedoch nicht an sich halten und fügte noch hinzu: »Behalt die Schachtel. Mit deinem Stipendium wirst du dir so was nicht leisten können.«

»Danke, lieber nicht. Ich muss jetzt auf meine Gesundheit achten, schließlich bin ich kein Funktional mehr.«

Ich erhob mich und klopfte mir die Oberschenkel ab. »Soll ich dir eine Decke bringen?«, fragte ich. »Sonst erkältest du dich womöglich noch, und dann wäre Illan sauer.«

»Ich werde mich nicht erkälten.«

»Wie du meinst. Ich hau jetzt ab. Ich muss mit meinem Hund Gassi gehen.«

Ich marschierte über den Hof. Im Torbogen drehte ich mich noch einmal um. Kotja rauchte, den Blick hoch in den grauen Moskauer Himmel gerichtet. Wonach er ihn wohl absuchte? Nach der heißen Sonne von Byzanz? Was musste er zum Abschluss bringen? Worauf hatte er verzichtet, weil er lieber Funktional werden wollte?

Ich machte mich auf den Weg zu meinem Haus.

Die beiden Alkis standen vor dem Zaun und diskutierten aufgeregt miteinander. In die Flasche hatten sie inzwischen ziemlich tief reingeleuchtet. Als ich ihnen zuwinkte, verdrückten sie sich hastig.

Was sie wohl zu Ende bringen mussten? Was hatten sie angestellt, dass man sie so sicher und endgültig aus dem Leben geworfen hatte, sogar ohne die süße Pille des Funktionaldaseins?

Ich wusste es nicht und würde es nie in Erfahrung bringen.

Denn ich würde keine Wunder mehr vollbringen.

Ich würde die Welt nicht mehr ändern können.

Aber ich konnte auf meinem letzten Recht bestehen, dem einzigen, das ein Mensch hatte: Dem Recht, er selbst zu sein. Dem Recht, seinen eigenen Garten zu bestellen.

»Zu teuer sind mir Tod und Leid«, zitierte ich in Erinnerung an Erde-16, wo ich nie wieder hinkommen würde, denn jetzt hatte ich nur noch eine Erde. »... und seltne, bittre Glücksmomente, als dass ich für Vollkommenheit auf ewig Sklave werden könnte!«

Als ich meine Wohnung betrat, empfingen mich direkt hinter der Tür eine riesige Pfütze und ein kleinlauter, aber dennoch von der Richtigkeit seines Tuns überzeugter Cashew. Nun ja, jeder protestiert auf seine eigene Weise.

Ihn auszuschimpfen - das kam nicht in Frage.





Загрузка...