Es gibt unter den Menschen eine ganz erstaunliche Spezies: verwurzelte Moskauer. Man darf sie nicht mit gebürtigen Moskauern verwechseln, die sich, vom leichten Snobismus der Hauptstädter abgesehen, durch nichts von anderen Russen unterscheiden. Ein verwurzelter Moskauer ist dagegen ein Wesen, das Moskau noch nie verlassen hat und auch gar nicht daran denkt. Innerhalb der Spezies treten verschiedene Varianten auf. In der hartnäckigsten Form kommt ein Mensch in der Grauermann-Frauenklinik zur Welt, wird auf dem Wagankow-Friedhof begraben und verbringt sein (mitunter sehr langes) Leben irgendwo zwischen diesen beiden Punkten.
Von einem solchen hartnäckigen Fall hatte mir mein Vater einmal berichtet. Eine Kollegin von ihm verließ mit Anfang fünfzig zum ersten Mal Moskau, um an einer wissenschaftlichen Konferenz in Petersburg teilzunehmen. Vor der Reise war sie extrem nervös gewesen, aber erst im Zug erfuhren die anderen, dass die Frau nie zuvor aus Moskau rausgekommen war. Als Kind nicht ins Pionierlager, im Sommer nicht auf die Datscha! Das hatte keinen besonderen Grund, sie war einfach nirgendwo hingefahren, mehr nicht. Während der Fahrt schlief sie keine Sekunde, sondern starrte die ganze Zeit in die triste Landschaft entlang der Strecke. In Piter zeigte sie sich entzückt von Newa und Newski-Prospekt, begeisterte sich für die Isaak-Kathedrale und die Admiralität, für prachtvolle Hauseingänge und Ziermauerwerk. Unversehens eröffnete sich dieser Frau eine ganz neue Welt!
Obwohl auch ich in Moskau aufgewachsen bin, stellte sich die Frage, ob es jenseits der Moskauer Ringautobahn Leben gebe, für mich nicht, denn ich war bereits fünf Mal in Piter gewesen, ferner in Rjasan und Jekaterinburg, ja sogar in Krasnojarsk. Außerdem natürlich in der Türkei und in Spanien, den heutigen Alternativen zur Krim.
Dennoch war die Stadt Orjol für mich absolute Terra incognita. Nun ja, es war die »Stadt des ersten Salutschusses«, genau wie das benachbarte Belgorod. In der Vergangenheit hatte es da irgendeine Festung gegeben. Oder war es eine Schlacht?
Damit erschöpfte sich mein Wissen allerdings auch schon.
Mir war nicht mal klar, wie die Einwohner hießen. Orjoler oder Orjolier? Orlower? Orjolten? Orjoler, Orjolerinnen und Orjolchen?
Die Antwort auf diese Frage bekam ich von einem Taxifahrer, der vorm Bahnhof gewartet hatte und dem ich erklärte, ich hätte meinen Zug verpasst und müsse so schnell wie möglich nach Charkow.
»Mir soll’s recht sein«, erklärte der Taxifahrer unerschütterlich, der den Kopf zum Fenster seines alten Wolgas herausstreckte. »Wenn du zahlst, bring ich dich überall hin. Sogar nach Moskau.«
Nach Moskau?
Mit einem Mal wollte ich schrecklich gern zurück. Nach Hause, nach Moskau. Zurück in die lärmende Metropole, wo du problemloser untertauchen kannst als in jeder Wüste. Würden die da nach mir fahnden? Vielleicht hatten sie mich überhaupt nur verfolgt, weil ich - statt Ruhe zu geben und mein altes Leben wieder aufzunehmen - nach irgendwas suchte? Warum auch immer, der Gedanke leuchtete mir sofort ein. Ich bräuchte jetzt also nur nach Hause zu fahren, zurück nach Moskau - und der ganze Albtraum würde sich in Luft auflösen. Ich würde wieder bei Bit und Byte arbeiten, selbst wenn ich einen Rüffel wegen der blaugemachten Tage kriegte, mich mit Anka aussöhnen ...
Ich würde Nastja vergessen.
»Nein«, sagte ich. »Ich muss nach Charkow.«
»Wie viel?«
Obwohl ich wusste, was er meinte, hörte ich mich zu meiner Überraschung antworten: »Wie fahren wir denn? Über Kursk oder über Snamenka?«
Was für ein Snamenka nun schon wieder? Mir war nicht mal klar, dass die Strecke über Kursk führte!
Der Fahrer musterte mich noch einmal. Diesmal wesentlich aufmerksamer. Anscheinend passte das, was er sah, nicht zu dem, was ich sagte. Als ob im Fernsehen im Sender »Unser Kino« irgendein Mädchenfilm läuft, der mit der Tonspur von irgendeinem Mädchenreport vom Pornokanal unterlegt ist.
»Warum willst du denn über Snamenka?«, wollte der Fahrer wissen.
»Das ist kürzer«, vermutete ich.
Nein, ich vermutete es nicht. Ich wusste es!
»Stimmt, dauert aber trotzdem länger. In Kromy bleiben wir stecken ... Bist du Orlowtschane?«
»Sozusagen.« Ich lächelte ihn an. »Also, wie viel willst du?«
Der Fahrer seufzte. Dann spuckte er durch das offene Fenster. »Also ...«, setzte er zögernd an. »Zurück bekomme ich niemanden ... Sagen wir sieben?«
Nach alter Moskauer Gewohnheit nahm ich sofort an, es ginge um siebenhundert Dollar.
»Nun übertreib’s mal nicht, Chef, so kommen wir nicht ins Geschäft!«
»Dann halt sechstausend Rubel, weil du von hier bist.« Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Drunter mach ich’s aber nicht!«
»Geht klar!« Ich guckte noch einmal zum Bahnhof rüber, stapfte ums Auto rum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Endlich war bei mir der Groschen gefallen: In der Provinz werden große Summen nicht à Hundert Dollar, sondern à Tausend Rubel angegeben.
»Erst das Geld«, verlangte der Fahrer, der keine Anstalten machte, den Motor anzulassen. »Ich fahr noch zu Hause vorbei und geb’s meiner Frau.«
»Ein kluger Gedanke«, lobte ich ihn und holte das Portemonnaie heraus, das früher einmal Kotja gehört hatte. Ich zählte sechs Tausender ab. Der Fahrer faltete sie sorgfältig zusammen und steckte sie in seine Tasche. Anschließend drehte er den Zündschlüssel. »Warum nimmst du nicht den Zug?«, fragte er.
»Den hab ich doch verpasst.«
»Klar.« Der Fahrer grinste. »Verpasst ... Der Schwanz verschwindet gerade hinter den Bäumen ... Ich könnte dich nach Kursk bringen, bevor der Zug da ist. Willst du das? Da haust du dich in deinem Abteil aufs Ohr ...«
»Nach Charkow«, wiederholte ich stur.
»Mir soll’s egal sein, ich bring dich überhall hin.« Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Du solltest aber eins wissen: Wenn deine Papiere nicht in Ordnung sind oder sie an der Grenze bei dir Waffen oder Drogen finden ... dann ist das dein Problem.«
»Ich trage keine Waffen«, versicherte ich. »Und auf Drogen habe ich mich noch nie eingelassen. Wieso nimmst du mich überhaupt mit, wenn du mir so was unterstellst?«
»Ich mach’s halt«, erklärte der Fahrer. »Von irgendwas muss ich ja leben ... Und lass dein Fenster runter, der ganze Wagen stinkt schon nach Bier ... Wenn uns die Polizei anhält, darf ich denen noch beweisen, dass ich keinen Tropfen angerührt hab.«
An die Fahrt nach Kursk erinnere ich mich nicht mehr, denn ich schlief die ganze Zeit über. Kaum hatte der Fahrer bei sich zu Hause vorbeigeschaut und seiner verschlafenen Frau das Geld ausgehändigt, war ich weg gewesen. Ich träumte allerlei Unsinn, an den ich mich zwar nicht mehr erinnerte, der sich beim Wachwerden jedoch mit einem bedrückenden, ekelhaften Gefühl bemerkbar machte.
Als ich aufwachte, ließen wir Kursk gerade hinter uns. Der Fahrer fuhr auf eine Tankstelle, parkte, ging in den Laden und kaufte ein paar Dosen kalten Kaffee. Der kurze Halt weckte mich zuverlässiger als das ganze Gerumpel während der Strecke Orjol - Kursk. Ich drehte mich um und betrachtete blinzelnd den Fahrer, der gerade zurückkam. Benzin blubberte, als der Wagen aufgetankt wurde. Und es blubberte die in Blech gepackte koffeeinhaltige Flüssigkeit - meine Zunge weigerte sich, dem Getränk die Bezeichnung Kaffee zuzugestehen -, die die Speiseröhre des Fahrers hinunterplätscherte und seinen Magen füllte. Der Geschmack ließ mich von diesem Gebräu ausschließlich in kargen medizinischen Begriffen denken.
»Willst du auch?«, fragte der Fahrer. Da er anscheinend zu dem Schluss gelangt war, dass ich nicht die Absicht hatte, ihn zu überfallen und mir sein Auto anzueignen, taute er etwas auf.
»Gibt es hier ein Klo?«
»Im Laden.«
»Ich vertret mir mal die Beine.«
Nachdem ich wieder zurück war, nahm ich den angebotenen Kaffee, öffnete die Dose und trank einen Schluck. Wir verließen die Tankstelle und fuhren weiter. Langsam tagte es. Ich rauchte eine, wobei ich das Fenster ganz heruntergelassen hatte. Die Luft war kalt und frisch, der Winter hatte hier noch keinen Einzug gehalten, sodass mich meine Reise zurück in den Spätherbst brachte.
»Du bist ein komischer Vogel«, brummte der Fahrer plötzlich. »Irgendwie einer von uns ... und gleichzeitig doch nicht. Kein Verbrecher, aber mit Geld wirfst du nur so um dich. Dann schläfst du ein ... Was, wenn ich dir eins übergezogen hätte und du im nächsten Graben gelandet wärst?«
»War mir doch klar, dass du mir keins überziehst«, widersprach ich.
»Ach, das war ihm klar!« Der Fahrer schnaubte bloß.
Das Auto polterte über die nächtliche Straße. Wir wurden ordentlich durchgeschüttelt, denn die Straße, die erst im Frühjahr ausgebessert worden war, war zum Winter schon wieder aufgerissen.
Woher wusste ich, wann die Straßenarbeiten vorgenommen worden waren? Woher kannte ich die Entfernung zwischen den Städten?
Und woher in drei Teufels Namen wusste ich, dass die Frau des Fahrers Oxana hieß, zehn Jahre jünger war als er und den Rest der heutigen Nacht im Bett ihres Nachbarn verbringen würde - mit stillschweigender Duldung ihrer bei ihnen lebenden Mutter.
Den Namen des Fahrers wiederum kannte ich nicht.
Waren das Reste meiner Funktionalfähigkeiten? Die sich ganz willkürlich zeigten?
»Du bist wirklich seltsam«, meinte der Fahrer noch einmal.
»Ich weiß.«
»Was ist dir wichtiger, Kumpel, möglichst schnell in Charkow zu sein oder dir nicht wie der letzte Idiot vorzukommen?«
»Du stellst Fragen!«, stöhnte ich. »Wär’ nett, wenn sich beides machen ließe. Am Ende wäre es mir aber wichtiger, schnell anzukommen.«
»Dann lass ich dich in Belgorod am Busbahnhof raus. Ich bring dich sogar zu einem von den Taxifahrern, die da stehen. Die haben ihre Abkommen mit den Grenzern und werden schnell durchgelassen. Uns beide würden die Typen ein paar Stunden aufhalten. Das würde dich nur fünfhundert Rubel kosten.«
»In Ordnung.« Ich nickte. »Akzeptiert. Und für wie viel hättest du mich nach Belgorod gebracht? Wenn ich mich von Anfang an mit dir darauf geeinigt hätte?«
»Bei dreitausend hättest du einsteigen können!«, erklärte der Fahrer mit unverhohlener Genugtuung.
»Verstanden. Soll mir’ne Lehre sein.«
Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. »Hör mal«, brachte der Fahrer schließlich hervor, »die fünfhundert in Belgorod übernehm ich.«
»Warum das?«, wollte ich wissen. »Das würde ich nie vor dir verlangen ...«
»Ich bin Taxifahrer, kein Abzocker.« Der Mann holte eine Zigarette aus seiner Camel-Schachtel. »Das ist meine Arbeit, und da will ich ein reines Gewissen haben. Außerdem ...« Er schielte mich aus den Augenwinkeln an. »... zu feilschen, um mehr Geld rauszuschlagen, das geht in Ordnung. Und bei einem Ukrainer hätte ich vermutlich auch jetzt keine Probleme ... Aber wo du kein Fass aufmachst, dein Geld nicht zurückverlangst, da will ich mich auch anständig verhalten. Ich bin nämlich der Ansicht, wenn die Leute ihre Arbeit endlich mit Begeisterung machen würden und Respekt vor ihrem Beruf hätten, dann würde schon alles ins Lot kommen.«
Beinahe hätte ich laut losgelacht. Stattdessen sagte ich jedoch kein Wort, sondern nickte nur, um mein Einverständnis mit diesem Motto zu bekunden, das eines echten Funktionals würdig war.
Sie sind schon seltsam, diese kurzen Bekanntschaften. Normalerweise macht man sie auf Reisen, manchmal aber auch zu Hause. Wir treffen jemanden, unterhalten uns, essen und trinken gemeinsam. Manchmal kommt es zu Streit, manchmal zu Sex - aber danach geht man für immer auseinander. Doch der zufällige Trinkgenosse, mit dem du ein Herz und eine Seele bist, bis ihr euch Gemeinheiten an den Kopf werft, oder die sich langweilende junge Zugbegleiterin, mit der du beim Rattern der Räder das Bett geteilt hast, und, in der prosaischsten aller Varianten, der Taxifahrer, der dich ein paar Stunden lang durch die Gegend chauffiert - sie alle stehen für ein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal.
Mit dem Trinkgenossen zerstreitest du dich derart, dass er dich absticht. Oder du ihn.
Bei der Zugbegleiterin fängst du dir Aids ein. Oder sie wird deine treue und dich liebende Ehefrau.
Der Taxifahrer ist derart auf euer Gespräch konzentriert, dass er gegen einen Betonpfosten knallt. Oder ihr steckt in einem Stau fest, du kommst irgendwo nicht rechtzeitig an, erhältst eine Abmahnung, musst dir eine neue Arbeit suchen, fährst in ein anderes Land, triffst dort eine andere Frau, zerrüttest eine fremde Familie und verlässt deine eigene ...
Jede Begegnung ist ein winziger Einblick in eine Welt, in der du leben könntest. Und der aalglatte Beamte Sascha ist genau wie der Taxifahrer aus der Provinz, den seine Frau nachts betrügt, dein nicht in Erfüllung gegangenes Schicksal. Und diese Schicksale interessieren mich.
Vor allem, nachdem ich am eigenen Leib erfahren hatte, wie leicht unsere Schicksale aus dem Leben zu löschen sind.
Fröstelnd bohrte ich die Hände tief in die Taschen (letzten Endes war es selbst hier im Süden kalt) und wanderte durch die morgendliche, gerade erst erwachende Stadt. Zu dumm, dass ich Wassilissa nicht nach ihrer Adresse gefragt hatte. Aber wie hätte ich ahnen können, dass ich sie je brauchen würde?
In einem Imbiss mit leicht ukrainischem Anstrich bestellte ich eine Portion Wareniki, einen Teller Borschtsch, Kaffee und - nach kurzem Zögern - einen Kognak, um wieder warm zu werden. Zu meiner Überraschung stellten sich die Teigtaschen als handgemacht und lecker heraus, zur Suppe reichte man ein köstlich nach Knoblauch duftendes Hefebrötchen, beim Kaffee handelte es sich um einen vorzüglichen Espresso, und der Kognak - oder, ehrlich gesagt, der ukrainische Brandy - zog mir keineswegs den Kiefer zusammen. Obendrein verkehrten in diesem Imbiss junge Frauen, die im Vergleich zu den Moskauerinnen sehr viel sympathischer wirkten. Ich hatte immer geglaubt, in Moskau würden sehr sympathische Frauen leben, aber Charkow lief eindeutig außer Konkurrenz. Bei der fünften oder sechsten Frau, die ich auf der Stelle kennenlernen wollte, hielt ich es schließlich für geboten, meinen Kaffee auszutrinken und hinaus in den ekelhaften Sprühregen zu fliehen.
Die Straße brachte mir allerdings auch keine Erleichterung. In der Nähe musste es ein großes Institut oder eine Universität geben, wohin die Studenten - und Studentinnen! - zu ihren ersten Veranstaltungen eilten. (Gab es in Charkow überhaupt eine Uni? Ich wusste es nicht, und meine Intuition ließ mich im Stich.) Schon nach einer Minute ertappte ich mich dabei, wie ich eine Frau neben mir offen angaffte, die mir daraufhin ein freudestrahlendes Lächeln schenkte. Sofort bog ich scharf ab und murmelte: »Wird Zeit, dass Sie heiraten, gnädiger Herr ...«
Leider war ich nicht hierhergekommen, um eine Freundin zu finden. Und auch nicht wegen der Wareniki.
Ich setzte mich auf eine Bank im Hof eines alten zweistöckigen Hauses, bei dem der Putz abbröckelte, die kleinen Balkons mit den bauchigen, rissigen Balustraden auf Stücken von Eisenbahnschienen ruhten und wenige weiße Thermofenster von den ansonsten alten grauen Rahmen abstachen. Etwas an diesem Haus erinnerte seltsam an Moskau, und zwar an das alte Nachkriegsmoskau. Ob es womöglich tatsächlich von Moskauer Maurern gebaut worden war? Während des Kriegs war Charkow heftig umkämpft gewesen und fast dem Erdboden gleich gemacht worden. Danach hatte sich das ganze Land am Wiederaufbau beteiligt, weshalb die Stadt stellenweise an Moskau erinnerte, stellenweise an andere Städte.
Wie sollte ich hier eine Frau namens Wassilissa finden? Als ich noch ein Zöllner gewesen war, hatte ich einen Richtungsinstinkt besessen, der es mir erlaubte, zu dem als alten Wasserspeicher getarnten Turm an der Kreuzung der Welten zurückzufinden. Fremde Portale hatte ich jedoch selbst damals nicht gespürt. Und auch Funktionale hatte ich erst erkannt, wenn sie mir direkt gegenüberstanden.
Meine Idee, nach Charkow zu fahren, Wassilissa zu finden und sie um Hilfe zu bitten, hatte von Anfang an nicht viel Aussicht auf Erfolg. Gut, wir hatten uns damals auf Anhieb gemocht. Und den unsichtbaren Puppenspielern, die uns zu Funktionalen gemacht hatten, brachten wir beide nicht allzu viel Sympathie entgegen. Soweit ich es verstanden hatte, war Wassilissa mehr oder weniger freiwillig in die Verbannung gegangen und kontaktierte ihre Kollegen nicht allzu oft.
Aber wie kam ich darauf, dass sie mir helfen würde - und damit riskierte, alles zu verlieren?
Nur weil ich sie besser kannte als die anderen Zöllner? Hmm, genau genommen stimmte auch das nicht. Die Begegnung mit dem deutschen Zöllner war nicht weniger herzlich verlaufen, beinahe hätten wir sogar Brüderschaft getrunken ...
Während ich rauchend diesen eher unerfreulichen Gedanken nachhing und im Regen durchweichte, driftete ich nach und nach in eine Depression ab. Was machte ich hier? Wäre es nicht wesentlich gescheiter, die Funktionale wissen zu lassen, dass ich nicht die geringste Absicht hatte, gegen sie zu kämpfen? Weshalb sie mich getrost in Ruhe lassen konnten? Vielleicht würden sie mir ja glauben ... Ich würde einfach nach Hause fahren. Bei Bit und Byte würde man mir zwar den Kopf für die unentschuldigt gefehlten Tage waschen, aber vermutlich würde man mich trotzdem wieder einstellen. Und selbst wenn nicht! Schließlich hatte ich weiß Gott nicht die Absicht, bis ins hohe Alter pickligen Teenies die neuesten Videokarten anzudrehen oder Buchhaltern fortgeschrittenen Alters vorzuführen, dass der und der Rechner extrem leistungsstark ist und mit Maus, Monitor und Internetanschluss verkauft wird! Ich würde an die Uni gehen, an die Fakultät für Physik und Mathematik. Um ... um eine Maschine zu erfinden, mit der man von einer Welt in eine andere gelangte. Um auf Erde-1 zu landen ... Nein, besser gleich auf Erde-0, die meiner Ansicht nach hinter alldem stecken musste. Denen würde ich Feuer unterm Arsch machen! Mit zwei Schwertern auf dem Rücken und einer MPi im Anschlag! Nachdem ich mich mit heiligem Wasser besprengt und tibetanische Kampfmagie studiert hatte! Ein Szenario, ganz im Geiste des SF- und Fantasy-Schriftstellers Melnikow ...
Sobald mir Melnikow einfiel, musste ich unwillkürlich an Kotja denken.
Das gab mir den Rest. Ich stand auf und trat die zweite Zigarette aus, die ich mir gleich nach der ersten angesteckt hatte. Missmutig durchquerte ich den Hof.
Charkow ist eine große Stadt. Mit einer Metro und allem, was statusbedingt sonst noch dazu gehört. In erster Linie halt eine Unmenge von Häusern. Platz hatten sie hier nicht gespart, weshalb es nur stellenweise Hochhäuser gibt.
Komisch, dass Wassilissa ausgerechnet aus dieser Stadt stammte. Zu ihr hätte viel besser ein gemütlicher kleiner Ort wie Bobruisk gepasst ...
Die nächsten Höfe - feuchte, graue, traurige Plätze - durchquerte ich völlig in Gedanken versunken und ohne irgendetwas wahrzunehmen. Die Häuser zogen sich einen Hügel hinauf, zwischen ihnen schlängelte sich eine asphaltierte Straße entlang, die an bezäunten Vorgärten vorbeiführte, fast schon kleinen Gemüsegärten, eine für eine Millionenstadt befremdliche und vermutlich nicht erlaubte Erscheinung. Aber im Süden war eben alles unkomplizierter. Weiter weg von diesem idiotischen Schema von »Das gehört sich und das nicht«, dichter dran an der Realität. Es konnte durchaus sein, dass die Bewohner hier unbehelligt Zwiebeln und Dill vor der eigenen Haustür anpflanzten.
Plötzlich zwang mich etwas stehenzubleiben. Und zwar in einer schmalen Gasse, direkt am Ausgang eines dieser Höfe.
Dieses Etwas ließ sich nur schwer mit Worten beschreiben. Es lag an der Grenze zwischen Realem und Märchenhaftem, Gesehenem und Eingebildetem, eine Art huschender Schatten, aus den Augenwinkeln erfasst und ins Nichts verschwunden.
Ich schaute mich um. Lauschte.
Und wenn ich auf meine durch die Zigaretten verdorbene Nase vertraut hätte, hätte ich auch noch geschnuppert!
Dieser Hof war anders.
Hier hatten die Bäume noch nicht alle Blätter verloren. Die Gardinen in den Fenstern waren knalliger. Auf den Fensterbrettern leuchteten die Blumen triumphaler und fröhlicher, fast als seien sie Nachkommen des Rosenstocks von Gerda und Kay. Ein dicker schwarzer Kater, der sich auf dem Kofferraum - pardon, auf der Motorhaube - eines Saporoschez putzte, bis sein Fell glänzte. Er hatte Maße, die dich stutzen ließen: Thronte da eine Rohrkatze oder ein kleiner Luchs?
Auch der alte Saporoschez sah erstaunlich gut in Schuss aus, nicht wie ein restaurierter Oldtimer, nicht wie ein Haufen Schrott, sondern genau wie das, was er war: ein kleines, wendiges Auto.
Bei dem Zaun vor einem der Häuser handelte es sich um ein schmiedeeisernes Gitter. Es war mit einer widerlichen Farbe gestrichen, außerdem schmutzig, aber dennoch eine echte Schmiedearbeit. Kunstvoll rankten sich Weinreben um Blätter von Erdbeerpflanzen. Als Tüpfchen auf dem i bekrönte das Dach eine schmiedeeiserne Wetterfahne, kein banaler Hahn, sondern ein Drache, der die Flügel spreizte, die Zähne fletschte und gezackte Flammen spie. Ein Lattenzaun aus Fernsehantennen ragte um ihn herum in den Himmel auf wie die Piken einer Armee in der Verteidigung, die einen ungebetenen Gast entdeckt hatte.
Ich lachte los. Wenn das keine Visitenkarte von Wassilissa war, dem Zöllnerfunktional, das so großzügig Schmiedearbeiten verschenkte!
Wie hatte ich mir ihre Zollstelle in einer anderen Welt denn vorgestellt? Damals hatte sie eine ironische Bemerkung gemacht über die Türme, die Männer immer bewohnen würden ... Genau, etwas über Freud oder in der Art. Und jetzt handelte es sich bei ihrer Zollstelle tatsächlich nur um ein einfaches kleines Häuschen. Ganz ohne jede Exotik.
Die Gebäude, an die unsere Funktion gekoppelt ist, fallen an sich nicht weiter auf. Jeder normale Mensch kann sie sehen, tut das ja auch. Aber sehen und wahrnehmen, das ist nicht dasselbe. Das ehemalige Zimmermädchen und heutige Hotelierfunktional Rosa Weiß entdeckte in den Hungerjahren des Bürgerkriegs ein Lebensmittelgeschäft nur deshalb, weil man sie zu dieser Adresse bestellt hatte. Alle anderen - all die hungernden Rotarmisten, die vor nichts zurückschreckenden Banditen und die ihre Schätze hortende Bourgeoisie - gingen daran vorbei, träumten von einem Stück Brot und sahen nichts von dem eingelegten Gemüse, den Anchovis, dem roten und schwarzen Kaviar oder den Kalbfleischfilets.
Auch meinen Turm in der Nähe der Metrostation Alexejewskaja hatten nur diejenigen bemerkt, denen gesagt worden war, es sei eine neue Zollstation entstanden, ein höchst bequemer Übergang in andere Welten.
Nun hatte ich buchstäblich zwei Schritte von Wassilissas Zollstation gestanden, ohne sie überhaupt wahrzunehmen!
Das einstöckige Ziegelhaus zwängte sich zwischen größere und höhere Gebäude, schien sie förmlich auseinanderzusprengen, um sich einen Zugang zur Straße zu erkämpfen. Das Haus, das eindeutig Wassilissas Stempel trug und von ihr mit einem Zaun und einer Wetterfahne ausgestattet worden war, verschmolz mehr oder weniger mit den beiden höheren Nachbarbauten und wurde von ihnen nur durch einen schmalen, zugemüllten Spalt getrennt.
Die Zollstation verfügte zum Hof hin weder über Türen noch über Fenster. Hier standen ein paar alte, krumme Bäume, die Erde war mit vermoderten Blättern und abgebrochenen Ästen bedeckt. Die Grenze, hinter der die Menschen blieben und die sie unwillkürlich um das seltsame Haus herumführte, ließ sich klar erkennen, da gab es nämlich einen richtigen Trampelpfad.
Zur Gasse hin machte ich im ersten Stock ein Fenster aus, das jedoch dunkel war, als ob eine Gardine vorgezogen war. Und ich entdeckte die Tür - an die ich voller Vergnügen klopfte.
Stille.
»He, Nachbar!«, rief ich in Erinnerung an meinen ersten Besuch. Was hatte ich damals doch gleich von mir gegeben? Hatte ich das Gebäude nicht für eine Mühle gehalten und mich nach dem Klappern erkundigt? Na ja, wir wollen uns nicht wiederholen. »He! Ich bin ohne Mehlsack gekommen!«
Nach einer Weile hörte ich Schritte, feste, sichere Schritte. Ich grinste, als ich mir Wassilissa vorstellte, diese kräftige muskulöse Frau mit der Lederschürze über dem nackten Körper ...
Gegen diese Fantasien sollte ich mal was unternehmen. Zum Beispiel Brom trinken.
»Wer zum Teufel ...«, drang eine bekannte Stimme gedämpft an mein Ohr. »Ich werd’ verrückt, das kann ja wohl nicht ...«
Die Tür wurde aufgerissen, und ich erblickte Wassilissa.
Die einen rosafarbenen, mit Rüschen und Spitzen besetzten Bademantel trug. Ihre Pantoffeln imitierten kleine weiße Hündchen mit Knopfaugen.
»Kirill«, brachte Wassilissa heraus, die Arme in die Hüften gestemmt. »Ich fass es nicht! Du?«
»Höchstselbst«, antwortete ich, da ich ihre konsternierte Reaktion nicht ganz verstand. Ich versuchte, woanders hinzugucken und Wassilissa nicht allzu offen anzuglotzen.
Gelingen wollte mir das kaum - sie war einfach allgegenwärtig.
»Steh hier nicht wie angewurzelt rum!« Mit einem Ruck zog mich Wassilissa ins Haus. Anschließend steckte sie den Kopf zur Tür hinaus und inspizierte aufmerksam die Umgebung, bevor sie die Tür schloss.
Selbst bei einer Giraffe kommt es irgendwo im Oberstübchen an.
»Du hast es also schon gehört?«, fragte ich. Bei der »Diele« des Hauses handelte es sich um einen Riesensaal, von dem drei Türen abgingen und wo eine Treppe in den ersten Stock führte. Er war absolut leer, es gab nur ein paar Säulen, die die Decke trugen und die mit schmiedeeisenern Haken verziert waren. Vielleicht war das aber auch nur Abfall von Wassilissas Produktion.
»Selbstverständlich.« Wassilissa schnappte sich eine zweifach zusammengefaltete Zeitung, die auf einem an der Tür stehenden Tisch lag - auch er mit schmiedeeisernen Beinen und mit einem geschmiedeten Rahmen, der Scherben dicken Glases einfasste. Das schmale, nur aus einer Doppelseite bestehende Presseerzeugnis erinnerte an die kostenlos verteilten Blätter, die die Bezirks- und Gebietsregierungen von Moskau herausgeben.
»Ja und?«, sagte ich nur, während ich den Namen las: Wöchentliche Funktion. Die Nummer von heute. Durfte man den Kopfangaben trauen, erschien die Zeitung bereits seit 1892.
»Tu nicht so scheinheilig!«, fuhr Wassilissa mich an.
»Sind sie dir auf den Fersen? Wie bist du hergekommen? Mit dem Flugzeug?«
»Nein, mit dem Zug. In Orjol hatten sie einen Hinterhalt geplant, aber ich bin ihnen entwischt ...« Ich faltete die Zeitung auf - und starrte auf mein Bild.
»Er ist ihnen entwischt!« Wassilissa fuchtelte mit den Händen. »Ha! Schaut ihn euch nur mal an ... diesen Entwischer!«
Warum auch immer, aber mir wollte einfach nicht in den Kopf, dass Funktionale eine eigene Zeitung hatten. Ärztefunktionale, Friseurfunktionale, Kellnerfunktionale, all die hatte ich geschluckt. Aber Schreiberlinge konnte ich mir unter meinen Kollegen einfach nicht vorstellen. Obwohl mich mein allererster Besucher, das Briefträgerfunktional, auf diesen Gedanken hätte bringen können ...
Erschaudernd betrachtete ich mein Foto auf der ersten Seite. Es war nicht alt, aber ich hatte keine Ahnung, wer es wann gemacht hatte. Dann las ich den Artikel mit der Überschrift »Der letzte Regenbogen«.
Am schlimmsten war, dass der Artikel im Grunde die Wahrheit enthielt.
Das eine oder andere Detail war nicht ganz ausgeführt. Aber über diese Dinge wusste der Journalist einfach nicht Bescheid, das leuchtete mir sofort ein, zum Beispiel die Rolle, die Kotja gespielt hatte, oder Arkan ... Im Bericht schwang sogar ein gewisses Mitleid mit. Mit dem jungen Mann, der die Trennung von den Eltern und die Verwandlung in ein Funktional innerlich nicht verkraften konnte. Dabei hätte ich zu großen Hoffnung Anlass gegeben, denn ich hätte an einem bislang unerschlossenen Punkt Moskaus einige exzellente Portale geöffnet. Der verhängnisvolle Einfluss versprengter Dissidenten - das denke ich mir nicht aus, das stand da wirklich: Dissidenten! - hätte mich jedoch vom rechten Weg abgebracht.
Knapp zusammengefasst hieß das: Ich hatte eine Frau, die mir gefiel, ihrem Freund ausgespannt; es wurde zwar nicht offen gesagt, aber trotzdem entstand der Eindruck, ich hätte sie ihm mit Gewalt entführt. Ein Polizistenfunktional, das am Tatort war - auch hier entstand der Eindruck, er sei einzig zu Nastjas Rettung gekommen -, hätte ich zusammengeschlagen. Am nächsten Morgen - unwillkürlich sah man glasklar vor sich, wie ich die ganze Nacht über die arme Frau herzog - hätte mich die Hebamme Natalja Iwanowa aufgesucht, die »bereits vielen von uns geholfen hat, das zu werden, was wir jetzt sind«. Ich jedoch hätte erst meine Freundin umgebracht und anschließend Natalja mit einem Stromkabel erwürgt. Daraufhin hätte ich den Turm verlassen; dieser sei in sich zusammengestürzt. Auch hier war kein Wort gelogen, aber jedes Funktional musste danach der felsenfesten Überzeugung sein, dass ich einfach die »Leine« durchgerissen und mich zu weit von meiner Funktion entfernt hätte. Nach alldem sei ich über meinen Freund Konstantin Tschagin hergefallen, den »seitdem niemand mehr gesehen hat«.
Mit dieser Szene beendete der Journalist die Beschreibung meiner Abenteuer und erklärte, das »traurige Ende dieser Geschichte bleibt abzuwarten«.
Was der Regenbogen damit zu tun hatte, war mir schleierhaft.
»Was davon ist gelogen?«, fragte Wassilissa, sobald ihr klar wurde, dass ich den Artikel durchgelesen hatte.
»Im Grunde bloß Kleinigkeiten.« Ich blätterte weiter. Die Rückseite füllten ein Kreuzworträtsel und eine Spalte mit Witzen.
Es gab auch einen Nachruf auf Natalja Iwanowa, an die sich ihre einstigen Schützlinge erinnerten, sowie etwas wie Anzeigen, in denen neue Funktionale aufgezählt und empfohlen wurden.
»Du hast die Iwanowa also nicht umgebracht?«, wollte Wassilissa wissen.
Ich schwieg kurz. »Doch, das habe ich«, antwortete ich schließlich, wobei ich Wassilissa fest in die Augen sah. »Sogar zwei Mal. Und beim zweiten Mal hat’s geklappt.«
»Tüchtig!«, kommentierte Wassilissa und schlug mir freundschaftlich auf die Schulter. Ich geriet kurz ins Wanken. »Dieses Luder! Wenn du wüsstest ... Nein, Männer können nicht verstehen, was für ein Luder sie war! Hast du schon gefrühstückt?«
»Ja.«
»Trotzdem trinken wir jetzt einen Tee.«