Bahnhöfe sind Orte der Transformation. Sobald du einen Zug besteigst, hörst du auf, du selbst zu sein. Von dem Moment an verfügst du über eine andere Vergangenheit und hoffst auf eine andere Zukunft. Der zufälligen Reisebekanntschaft erzählst du alles, was du erlebt hast, desgleichen das, was dir nie passiert ist. Glaubt man den Unterhaltungen in einem Zug, gibt es auf der Welt weder langweilige Menschen noch uninteressante Biografien.
Genau deshalb liebe ich Züge.
Sogar die in Richtung Süden.
Mein Abteil stellte sich übrigens als überraschend sauber heraus, für einen ukrainischen Zug nicht gerade die Regel. Auf dem Boden lag ein Läufer, den Tisch zierten eine weiße Decke und Plastikblumen in einer Vase, in die aus unerfindlichen Gründen jemand Wasser gegeben hatte. Das etwas graue, aber dennoch saubere Bettzeug war bereits aufgezogen. Über dem Fenster hielt ein Metallhaken einen Fernseher, keinen Flachbildschirm, wie es praktisch gewesen wäre, sondern einen mit bauchiger Bildröhre, aber immerhin.
Ach ja, so ein Schlafwagen Erster Klasse hatte schon seine Vorteile. Nicht, weil es nur einen weiteren Platz im Abteil gab, sondern ganz grundsätzlich vom Komfort her.
Ich verstaute meine Tasche in der Gepäckablage, schloss die Abteiltür und trat auf den Bahnsteig hinaus. Unter meinen Schuhen schmatzte ein Brei aus Schnee und Dreck. Feuchter Wind ging, ein für Moskau absolut untypisches Wetter, das eher zum Meer im Winter passte, beispielsweise zu Jalta oder Sotschi. Irgendwie schien der Zug aus dem Süden diese feuchte, salzige Wärme mitgebracht zu haben. Ich zündete mir eine Zigarette an. Die Zugbegleiterinnen traten von einem Fuß auf den anderen und unterhielten sich lauthals in einem Dialektgemisch. Sie zogen über irgendeine Vera her, deren ungebührliches Verhalten sie in allen Einzelheiten erörterten.
Das Ticket für den Schlafwagen Erster Klasse hatte ich mir nicht aus Sucht nach Bequemlichkeit gekauft. Ich hatte einfach weder für die Schlafwagen Zweiter Klasse noch für die gewöhnlichen Waggons einen Platz gekriegt. Und die Reise aufschieben wollte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, ich würde niemals fahren, wenn ich die Reise auch nur um einen Tag verschieben würde. Denn allmählich reichten mir meine Abenteuer.
Oder eben doch noch nicht?
Während ich rauchte, stiegen weitere Fahrgäste ein. Ob wohl einer von ihnen mein Reisegefährte war? Vielleicht diese schlanke Frau mit den großen Augen und der schmal gerahmten Brille? So hold würde mir das Glück bestimmt nicht sein. Oder der Mann in meinem Alter, mit dem streng geschnittenen Mantel und dem teuren Aluminiumkoffer? Wohl ebenfalls kaum. Mit Sicherheit würden die infamen Eisenbahngötter mir den halbblinden Tattergreis zuweisen, der die ganze Fahrt über hustete. Oder - der Horror einer jeden Reise - diese junge Frau mit ihrem liebreizenden Kleinkind auf dem Arm. Wer schon einmal einem Windelwechsel in seinem Abteil beigewohnt hat, weiß, was ich meine. Insbesondere wenn der Kleine von dem Geschüttel und dem Wechsel der Ernährung ein krankes Bäuchlein hat. Und natürlich musste die Ventilation auf Befehl dieser wunderbaren Frau schon vorher ausgeschaltet werden, damit das Kindchen sich nicht erkältet ...
Voll finsterster Vorahnungen kehrte ich in mein Abteil zurück. Diesmal hatte das Schicksal es jedoch gut mit mir gemeint. Da saß zwar nicht die Frau mit Brille, aber immerhin mein Altersgenosse - der aus seinem Angeberkoffer bereits eine Flasche Bier herausgeholt hatte.
»Guten Abend. Ich bin Sascha.« Der Mann erhob sich und streckte mir ohne viel Federlesens die Hand entgegen.
»Guten Abend. Kirill.«
»Sie haben doch nichts dagegen?« Sascha deutete mit einem Blick auf die Flasche.
»Nur zu, zieren Sie sich nicht.« Sein Auftreten irritierte mich. Was war denn das für ein Yuppie? Oder nein. Kein Yuppie, sondern eher einer dieser Nichtsnutze, die sich Jungpolitiker nennen und ständig irgendwelche Meetings organisieren oder die Versammlungen der Gegenseite sprengen, vor allem aber Skandale im Internet lostreten, genau wie zänkische Weiber in der Straßenbahn.
Wenn ich recht hatte, stand mir wahrlich ein netter Abend bevor! Diese jungen Politiker können nicht eine Minute Ruhe geben, die ganze Zeit über legen sie eine erhöhte politische Aktivität an den Tag.
»Ich würde Sie gern einladen.« Sascha hielt mir eine Flasche hin. Alle Achtung. Das war gutes englisches Ale, kein Importbier aus russischer Abfüllung und auch nicht das ruhmreiche Gebräu unserer ukrainischen Brüder.
»Vielen Dank.« So ein Angebot lehnte ich doch nicht ab. Ich nahm auf meinem Bett Platz. Inzwischen packte mein Begleiter geschäftig seinen Koffer aus und beförderte fünf weitere Flaschen Bier, Basturma, Käse und Pistazien zutage. Und er verzichtete auf schlabbrige Trainingshosen und Gummilatschen, die wir Russen auf solchen Fahrten so gern tragen! Allerdings genügte ein Blick auf Sascha, um zu wissen, dass er sich in der Öffentlichkeit niemals in Pantoffeln zeigen würde. Er war perfekt rasiert. Seine Frisur wirkte, als komme er gerade vom Podium. Der dunkelblaue Anzug aus feiner Wolle sah teuer aus - und hatte vermutlich noch mehr gekostet.
Außerdem bewegte Sascha nicht auf diese fischmäßige Art den Kopf, um ja behutsam und ohne den Knoten zu zerstören die als Schlaufe gerettete Krawatte abzunehmen, wie das eben jene Männer tun, die nicht an einen Anzug gewöhnt sind. Nein, er knotete die tadellos auf die Farbe seines Hemdes abgestimmte Krawatte gekonnt auf und entnahm seinem Koffer einen speziellen Beutel, in dem er das gute Stück versenkte und den er dann an einen Haken hängte. Für sein Jackett fand sich selbstverständlich ebenfalls eine Schutzhaube, gleich mit eingearbeitetem Bügel. Vermutlich hatte er sogar für die Socken so ein Ding.
Ich rückte genau in dem Moment rüber zum Fenster, als der Bahnsteig erzitterte und langsam dahinfloss. Jetzt fuhr ich also nach Charkow. Wozu? Hatte ich in der letzten Woche etwa noch nicht genug Abenteuer erlebt? Aber was heißt in der letzten Woche? Allein in den letzten vierundzwanzig Stunden wäre ich beinah dreimal umgebracht worden!
»Moskauer?«, erkundigte sich Sascha.
»Was?« In meine Gedanken versunken, hatte ich seine Frage nicht auf Anhieb verstanden. »Äh, ja, Moskauer.«
»Ich auch«, teilte mir mein Reisegefährte in einem Ton mit, als gebe er mir ein Losungswort.
»Geschäftlich unterwegs?«, fragte ich. Im Grunde interessierten mich seine Belange überhaupt nicht. Aber irgendwie musste das Gespräch ja am Laufen gehalten werden, vor allem wenn dein Gegenüber dich auf ein Bier einlud.
»Eigentlich ... nicht ganz.« Sascha schien sich die Sache erst mal durch den Kopf gehen lassen zu müssen. »Obwohl man es auch so ausdrücken könnte.«
»Also geht’s um Politik?«, vermutete ich mit düstersten Vorahnungen.
»In gewisser Weise.« Sascha lachte. »Letztendlich haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen, Kirill. Ein Mittelding zwischen Politik und Geschäften. Ich arbeite bei einer staatlichen Institution. Mache sozusagen ein bisschen Bürokratie. Mit dem politischen Unsinn beschäftige ich mich natürlich nicht. Das sollen die Politiker schön selbst erledigen. Wir sorgen dafür, dass die Staatsmaschinerie am Rollen bleibt, die Züge fahren, das Korn gedeiht, die Grenzen unter Verschluss sind! Zu Sowjetzeiten nannte man Leute wie uns Funktionäre.«
Ich trank einen Schluck Bier und stellte die Flasche ab. Ein Funktionär also ...
»Und Sie, Kirill? Arbeiten Sie? Studieren Sie?«, fragte Sascha. Allmählich platzte mir der Kragen. Musste ich mir wirklich von einem Mann, der höchstens ein Jahr älter war als ich, derart gönnerhafte Fragen gefallen lassen? Arbeiten Sie? Studieren Sie?
»Ich bin vorübergehend arbeitslos«, antwortete ich.
»Sie sollten sagen: Im Moment suche ich Arbeit«, korrigierte mich Sascha. »Das klingt besser, glauben Sie mir. Und was machen Sie beruflich?«
»Ich? Ich bin ein Funktional«, blaffte ich ihn an. Was bildete der sich eigentlich ein, einen Unbekannten in diesem Ton zu belehren?! Diese Unverfrorenheit bildete sich anscheinend bei allen Beamten heraus. ›Mache ein bisschen Bürokratie.‹ Damit das Korn unter Verschluss ist, die Züge gedeihen und die Grenzen fahren ...
»Und was für ein Funktional - falls die Frage gestattet ist?«, erkundigte sich Sascha, wobei ich nun in seiner Stimme echte Neugier heraushörte. »Ich habe noch nie ein Funktional getroffen, das reisen konnte!«
Wir starrten einander an. In meinen Schläfen pochte es.
»Sie wissen etwas über Funktionale?«, hauchte ich. »Selbstverständlich«, antwortete Sascha gelassen. »In ihrem Metier sind sie unübertroffene Meister, dafür aber an ihre Funktion gekettet. Sie können sich nicht weiter als zehn, fünfzehn Kilometer von ihr entfernen. Mein Friseur ist ein Funktional, sein Salon befindet sich in der Nähe der Metrostation Tschistyje Prudy.«
»Sie wissen also über Funktionale Bescheid?«, wiederholte ich wie vor den Kopf geschlagen.
Warum wunderte ich mich bloß so darüber? Immerhin hatte ich doch einige Tage als Zöllnerfunktional gearbeitet, und durch meinen Turm waren Politiker, Geschäftsleute und junge Popstars mit ihrem Gefolge von einer Welt in eine andere spaziert. Meinem Inspektionskomitee hatten ein Politiker und ein Komiker angehört. Dieses Spektrum hätte mir doch zeigen müssen, dass in Moskau einige hundert, vielleicht sogar einige tausend ganz normale Menschen über Funktionale Bescheid wussten. Wer es an die Spitze der Regierung, der Geschäftswelt oder der Populärkultur geschafft hatte, war eingeweiht. Und dieser junge Kerl gehörte nicht zum Fußvolk, das war auf den ersten Blick klar.
»Natürlich weiß ich Bescheid!« Sascha lachte. »Aber wie kann ich Ihnen das beweisen? Soll ich Ihnen die Zollstellen aufzählen, die es in Moskau gibt?«
»Nennen Sie mir lieber ein paar andere Welten, die Sie schon besucht haben.«
»Veros!«, antwortete Sascha wie aus der Pistole geschossen.
»So eine Welt gibt es nicht!«, kanzelte ich ihn voller Genugtuung ab.
»Was heißt das - die gibt es nicht? Das ist die Welt mit den Stadtstaaten. Die mit diesem komischen Feudalismus und den Dampfmaschinen ...« Er schnippte mit den Fingern. »Dort, wo Nut, Kimgim und Ganzser liegen.«
Ich nickte. Ach ja, natürlich. Meine Zollstelle hatte auch über einen Zugang in den Stadtstaat Kimgim verfügt. Eine sehr beschauliche Stadt. Und daneben gab es noch Tausende von anderen Stadtstaaten ...
»Ich glaube Ihnen«, versicherte ich.
»Dann gibt es noch das Reservat«, zählte Sascha weiter auf. »Ferner ...«
»Wie gesagt, ich glaube Ihnen!« Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier. »Wirklich. Das kommt nur alles etwas überraschend.«
»Was sind Sie denn nun für ein Funktional?«, fragte Sascha mit ungebrochener Neugier noch einmal. »Verzeihen Sie mir, wenn ich so bohre, denn wenn Sie nicht darüber sprechen wollen ...«
»Ich bin Zöllner«, erklärte ich. Wobei ich mir den Vorsatz »ehemaliger« sparte.
»Und Sie können reisen?«
»Ja.«
»Nicht zu fassen!« Über die Existenz der Funktionale an sich wunderte sich Sascha jedoch kein bisschen. »Das sollte uns doch ein Gläschen wert sein, oder?«
Seine Hand tauchte im Koffer ab, und er zog mit der Geste eines Zauberkünstlers eine Flasche Martell hervor.
Ich schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, besser nicht. Morgen früh steht uns der Zoll bevor.«
»Sie sind mir ein Spaßvogel!« Sascha brach in Gelächter aus. »Ein Funktional, das sich vorm Zoll fürchtet ...« Dann wurde er wieder ernst. »Grenzen und Zoll ... ständig ziehen wir Mauern hoch. Das schadet doch nur den einfachen Menschen, hält Verbrecher aber bestimmt nicht auf ... Wer also braucht all diese Schranken?«
Es war schon komisch. Das schien seine ehrliche Meinung zu sein, und ich konnte seinen Worten nur zustimmen. Trotzdem klang es irgendwie kalkuliert, als halte er vom Podium aus eine Rede. Unwillkürlich fiel mir der Politiker Dima ein.
Ob das bei allen von ihnen so war? Dieses professionelle Getue?
»Stimmt, die braucht niemand«, pflichtete ich ihm bei.
»Nehmen wir zum Beispiel einmal Veros. Obwohl es eine Art Flickenteppich ist, verzichtet es im Grunde auf richtige Grenzen zwischen den einzelnen Ländern«, fuhr Sascha fort, während er geschickt das marinierte Fleisch zerteilte. »Eine zauberhafte, anheimelnde kleine Welt. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, ganz dorthin überzusiedeln.«
»Wie haben Sie eigentlich etwas über die Funktionale erfahren?«, wollte ich wissen. »Oder über die anderen Welten?«
»Das bringt meine Position mit sich.« Sascha grinste breit. »Als ich zum Referenten von Pjotr Petrowitsch geworden bin, hat er mich davon in Kenntnis gesetzt. Was blieb ihm auch anderes übrig? Schließlich verlangt der Beruf, dass ich ihn überallhin begleite.«
Wenn ich mich nicht irrte, kam es in seinen Ausführungen vor allem auf den »Referenten von Pjotr Petrowitsch« an. Genau das war das Stichwort, anhand dessen die Einteilung in »unsere Leute« und »alle anderen« vorgenommen wurde. Als Funktional musste mir der Name etwas sagen und ich entsprechend reagieren.
»Wie geht es ihm denn?«, fragte ich, ohne zu präzisieren, wen ich meinte. »Besser?«
Vermutlich handelte es sich bei dem mysteriösen Pjotr Petrowitsch, dem etatmäßig ein paar vertrauenswürdige Referenten zustanden, um einen mindestens fünfzigjährigen Mann. Und in dem Alter gibt es keine kerngesunden Männer, schon gar nicht unter den Beamten im Grenzbereich von Politik und Wirtschaft.
Sascha zwinkerte mir zu. »Bestens«, antwortete er. »Aber er hat ja auch ausschließlich Heilwasser getrunken, Diät gehalten ...«
»In Karlsbad?«, gab ich einen weiteren Schuss ins Blaue ab.
Und traf erneut ins Schwarze.
»Wie immer.« Damit akzeptierte Sascha mich endgültig als einen von »unseren Leuten«. Meine Fähigkeit zu reisen stimmte ihn nicht länger misstrauisch, ebenso wenig die Tatsache, dass er mich nicht kannte. Als er sich ein weiteres Bier aufmachte, fragte Sascha mich: »Kennen Sie den Witz von dem Gynäkologenfunktional?«
»Welchen denn?«, fragte ich zurück.
»Den, wo das Gynäkologenfunktional ins Sprechzimmer seines Kollegen stürmt und sagt: ›Komm mal rüber zu mir! Meine Patientin, die musst du dir angucken!‹«
Das Manko all der Witze über eine bestimmte Gruppe besteht ja darin, dass sie lediglich Abwandlungen von bestimmten Grundwitzen darstellen. Selbst wenn du kein verrückter Fan der Harry-Potter-Bücher bist, von Rollenspielen oder, da sei Gott vor, von Rapmusik, verstehst du alle einschlägigen Witze. Du brauchst nämlich bloß den Bürgerkriegshelden Tschapajew gegen Potter einzutauschen oder seinen Gefährten Petka gegen Ron. Statt »Karo Trumpf« heißt es eben »Spezialfähigkeiten«. Oder du tauschst Alla Pugatschowa gegen Timati oder Dezl aus. Es funktioniert, denn im Prinzip sind alle Witze gleich aufgebaut.
Aus Höflichkeit lächelte ich trotzdem. Obendrein gab ich meinerseits einen gemäßigt schweinischen Witz zum Besten, in dem ein allzu liebestoller Georgier vor Gericht stand.
Sascha wieherte vor Lachen und fuhrwerkte begeistert mit der Bierflasche herum. Seine Reisegesellschaft stellte ihn fraglos hochzufrieden.
Mich, wenn ich ehrlich sein sollte, auch.
Wir tranken Bier, gingen ein paar Mal zum Rauchen auf den Gang, wobei ich Sascha zu den Treasures einlud, die ich in Kotjas Wagen requiriert hatte, was mir abermals einen anerkennenden Blick einbrachte. Irgendwann ging das Bier aus, und Sascha besorgte im Speisewagen neues. Natürlich gab es da kein englisches Ale, aber nach der dritten Flasche verliert sich der Unterschied zwischen den Sorten sowieso und jedes Bier schmeckt gleich.
Kurz nach eins legten wir uns schlafen, beide in bester Stimmung. Alexander schnarchte sofort los, was mich jedoch bei dem Rattern der Räder nicht sonderlich störte. Die Ventilation im Waggon lief tadellos, ein seltener Glücksfall in einem ukrainischen Zug. Ich schob eine Hand unter den Kopf, lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte auf die über die Decke flitzenden Lichtreflexe von Laternen. Wir mussten uns irgendeiner Kleinstadt nähern.
Schon merkwürdig: Von allen Passagieren hatte ich ausgerechnet denjenigen abgekriegt, der über Funktionale Bescheid wusste. Der mich sogar dazu gebracht hatte, über sie zu reden. War das ein Zufall? Oder eine Falle? Schließlich war ich aus den Reihen der Funktionale ausgeschert, hatte ihre Gesetze verletzt. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich hatte den Aufstand geprobt. Ich hatte den Polizisten Andrej überwältigt, die Hebamme Natalja umgebracht und war anschließend meinem Kurator entkommen, meinem ehemaligen Freund Kotja.
Wenn man vom gesunden Menschenverstand ausging, schien ein Zufall kaum wahrscheinlich, was hieß, Sascha musste auf mich angesetzt worden sein. Wenn man allerdings schon mit dem gesunden Menschenverstand argumentierte, dann musste ich sowieso seit langem im Krankenhaus liegen und mir etwas im Fieberwahn zusammenspinnen, denn wer würde an andere Welten glauben, in die geheime Türen führten, an Funktionale, die durch die Stadt flanierten, und an geheimnisvolle Experimentatoren, die das alles lenkten?
Ich hob eine Hand und starrte müde auf den Stahlring an meinem Finger. Er war alles, was mir von meiner Funktion geblieben war.
Zeit, zu schlafen. Mein Reisegefährte, mochte er nun eine Zufallsbekanntschaft oder auf mich angesetzt sein, würde wohl kaum mitten in der Nacht über mich herfallen. Ich spürte keine Gefahr, und auf meine Instinkte verließ ich mich nach wie vor. Morgen früh würde ich Charkow erreichen und Wassilissa suchen, jene seltsame Frau, der ich trotz allem über den Weg traute.
Der Zug wurde immer langsamer. In der Ferne vernahm ich bereits das rasselnde, metallene Scheppern der Bahnhofslautsprecher: »Auf Gleis zwei ... hat Einfahrt der Schnellzug Nr. 19 ... Moskau - Charkow ...« Über die Wand glitt ein greller, rechteckiger Lichtfleck, der meine unter einem Gummizug steckende Hosen und die zusammen mit dem ausgeleierten Pullover auf das Ablagegitter geworfenen Socken erfasste. (Ja, ich geb’s zu, ich bin ein Schwein!)
Ich stemmte mich auf einen Ellbogen hoch und griff nach der locker vorgezogene Gardine. Automatisch wanderte mein Blick über den näher kommenden Bahnsteig.
Ganz am Anfang, da, wo der letzte Waggon halten würde, stand eine Gruppe junger Männer, vielleicht zehn oder zwölf Typen. Sie alle hatten kurz geschnittene Haare, trugen keine Mütze, dafür aber Trenchcoats oder hyperkurze Lederjacken. Aufmerksam musterten sie die Waggons.
Ihre Gesichter kamen mir vage bekannt vor, nicht aufgrund einzelner Merkmale, eher der Typus als solcher. Im Grunde schienen es die reinsten Durchschnittsgesichter zu sein - aber etwas Ungewöhnliches machte ich eben doch aus.
Dann war der Bahnsteig erst mal eine ganze Weile leer. Es gab halt nicht viele Menschen, die mitten in der Nacht jemanden in einer kleinen Provinzstadt vom Zug abholen wollten.
Aber dann: Dreißig Meter weiter stand ein junger Kerl, der so aussah, als hätte er sich rein zufällig von der ersten Gruppe gelöst. Nach zwanzig oder dreißig Metern langweilten sich erneut ein paar junge und durchtrainierte Gestalten. Schließlich kam noch ein Mann. In einiger Entfernung machte ich über der Bahnhofshalle das matt schimmernde Schild »Orjol« aus.
Während ich anfing, mich anzuziehen, ließ ich den Bahnhof keine Sekunde aus den Augen. In Jeans, Socken und Schuhe geschlüpft, den Pullover übergezogen. Ein Blick auf meine Tasche - nein, die würde ich nicht mitnehmen. Die enthielt eh nur ein paar Klamotten. Aber die Jacke. Ich klopfte gegen die Tasche und spürte das dicke Portemonnaie. Fertig, es wurde höchste Zeit ...
»Musst du pinkeln oder willst du eine rauchen?«, fragte Sascha von seinem Bett aus, indem er sein Schnarchen kurz unterbrach.
»Rauchen«, murmelte ich. »Schlaf weiter!«
Daraufhin huschte ich in den Gang hinaus. Der Zug hatte noch nicht angehalten, sondern zuckelte bloß langsam am Bahnsteig lang. Gleich würden diese aufmerksamen jungen Männer in den ersten und den letzten Wagen springen und sich zu zweit oder zu dritt vor jeder Waggontür aufbauen.
Ob ich mit ihnen zu meiner Zeit als Funktional hätte fertig werden können, wüsste ich nicht zu sagen. Jetzt würde ich das mit Sicherheit nicht schaffen. Dafür brauchte ich nicht mal eine Wahrsagerin zu konsultieren.
Ich lief den schmalen Gang hinunter und rüttelte an den kalten Aluminiumgriffen der Fenster. Zu! Zu! Zu! Das vierte Fenster gab endlich nach und bewegte sich nach unten. Die feuchten Schienen krochen unter mir dahin, auf einem Nebengleis stand ein Güterzug, feiner Schneeregen funkelte im schwankenden Lichtkegel einer der auf einem Pfeiler sitzenden Blechlampen auf ...
Irgendwann erhaschte ich den Blick eines dieser kurzrasierten Typen, der einsam am Nachbargleis stand. So langsam, als schlafe er halb, verzog er die Lippen zu einem Grinsen und winkte mir zu. Anschließend kramte er ohne zu zögern sein Funkgerät aus der Gürteltasche.
Diejenigen, die den Zug eingekesselt hatten, machten keine Fehler. Die Kette stand auf beiden Seiten.
Ich saß in der Falle.
»Wo willst du denn hin, Kirill?« Sascha tauchte gähnend aus dem Abteil auf. Er fixierte mich. Dann lugte er zum Fenster raus. Mit zusammengekniffenen Augen behielt er jemanden im Blick. Wie ein wildes Tier witterte er die Gefahr. Wobei es im tiefsten Dschungel längst nicht so gefährlich sein dürfte wie in den hellen, klimatisierten Gängen von Regierung und Wirtschaftswelt. »Sind die hinter dir her?«
Ich nickte. »Gehörst du zu ihnen?«, fragte ich.
»Weshalb solle ich mich auf ein derart schmutziges Spiel einlassen?«, japste Sascha empört. Und als könnte ich nach wie vor gleich einem Funktional eine Lüge erkennen, wusste ich: Er sagte die reine Wahrheit. Er hatte es in seinen Kreisen von Politik und Wirtschaft und als Bürokrat in einer staatlichen Institutionen genau deshalb so weit gebracht, weil er sich niemals mit irgendjemandem anlegte. An keiner einzigen Auseinandersetzung hatte er teilgenommen, sondern sich allen gegenüber freundlich gezeigt und strikt Neutralität gewahrt. Solche Leute kommen in der Regel nie bis ganz an die Spitze - fallen aber auch nie auf die Schnauze.
»Ich muss weg«, sagte ich. »Die haben’s auf mich abgesehen.«
Zitternd brachte der Zug die letzten Meter hinter sich.
»Dann geh«, erwiderte Sascha erleichtert. »Viel Glück! Ich hätte dir gern geholfen, aber ...«
»Schön, wenn du das gern tun würdest«, hakte ich sofort ein. »Du wirst mir helfen.«
Ich verschwand wieder in unserem Abteil, schnappte mir meine Tasche und rannte zurück zu dem offenen Fenster. Genau in dem Moment kroch der Zug in den Schatten der kleinen Gitterbrücke, die sich über das Gleis spannte. Ich schleuderte die Tasche zum Fenster raus.
Sascha dachte anscheinend, ich würde meinen Sachen hinterherhechten. Er kam sogar auf mich zu, um mir eiligst behilflich zu sein. Ich zog jedoch die Notbremse, was den ohnehin schon langsamer werdenden Zug dazu brachte, mit zischenden Druckluftbremsen abrupt anzuhalten. Vermutlich würden sämtliche Reisenden, die ich damit aus dem Schlaf gerissen hatte, den absolut unschuldigen Lokführer verfluchen.
»Ich bin aus dem Fenster gesprungen«, erklärte ich.
»Das hast du doch gesehen?«
Einen ausgedehnten Moment lang schwieg Sascha, drückte sich gegen die Wand und kratzte sich den bei seinem Beruf allzu flachen Bauch. Wer mir auf den Fersen war, wusste er nicht, was ihn ganz wesentlich daran hinderte, zu einer Entscheidung zu gelangen. Ich schien irgendwie einer von ihnen zu sein - aber auch von den eigenen Leuten muss man sich rechtzeitig distanzieren!
Es war nicht schwer dahinterzukommen, welche Gedanken ihm durch den Kopf schossen. Was sprach dafür, mir zu helfen, was dafür, mich ans Messer zu liefern? Die Argumente hielten sich in etwa die Waage ...
Sascha drehte sich von mir weg und steckte den Kopf zum offenen Fenster hinaus. »Bleib stehen, du Schwein!«, schrie er in die Nacht. »Halt!«
Jetzt durfte ich auf keinen Fall länger zögern.
Ich raste zurück in unser Abteil und linste durch den schmalen Spalt zwischen den Gardinen auf den Bahnsteig. Anscheinend beobachtete mich niemand. Daraufhin stieg ich aufs Bett.
Der Schlafwagen Erster Klasse in seiner modernen ukrainischen Variante unterscheidet sich kaum von einem einfachen. Nur die oberen Betten sind abmontiert und ein paar Schönheitsreparaturen vorgenommen worden. Das Gepäckfach über der Tür hatte man jedoch nicht angetastet.
Dahin kletterte ich nun, wobei ich mich mit der Gewandtheit eines Menschen hochzog, dessen Fersen bereits der gierige Atem eines Raubtiers umwehte.
Meine Chancen standen eher bescheiden. Nur jemand, dem keine andere Wahl bleibt, versteckt sich. Die Rettung eines Flüchtlings liegt einzig und allein in der Flucht. Sich zu verstecken - das ist pure Kinderei.
Aber selbst auf der Flucht konnte man noch taktieren ...
»Dich erwisch ich!«, schrie Sascha höchst überzeugend im Gang. »Du dreckiger Dieb!«
Endlich klapperte eine Tür des Waggons und schwere Schritte trampelten durch den Gang. Etwas Gleichförmiges, Einheitliches lag in diesem Getrampel, genau wie bei marschierenden Soldaten oder bei den Schulkindern, die sich in Pink Floyds The Wall übers Fließband schleppen. Eine Uniform verbindet halt - selbst wenn von ihr nur die Schuhe geblieben sind!
Mir fiel eine Geschichte ein, die mir mal jemand erzählt hatte: Während der Olympiade in Moskau waren Milizionäre massenhaft in Zivilkleidung gesteckt und auf Streife geschickt worden. Dafür hatte man im befreundeten Ostdeutschland, das damals DDR hieß, eine entsprechende Menge anständiger Anzüge, Hemden und Krawatten gekauft. Die alle gleich aussahen. Vermutlich, damit sich niemand zurückgesetzt fühlte. Oder sollte den Beschaffungsintendanten tatsächlich nicht klar gewesen sein, dass Zivilkleidung individuelle Nuancen aufweist? Jedenfalls patrouillierten durch die Moskauer Straßen Pärchen von jungen Männern, die allesamt kurz geschnittene Haare und absolut identische Anzüge trugen. Da man außerdem versucht hatte, sämtliche Kinder in Ferienlagern außerhalb der Stadt unterzubringen - damit sie die Ausländer ja nicht um Souvenirs anbettelten -, nahmen die Besucher einen ausgesprochen befremdlichen Eindruck mit nach Hause: Moskau ist eine von verkleideten Spionen wimmelnde Stadt, düster und für ein normales Leben ungeeignet.
»Was ist passiert, Bürger?«, klang es aus dem Gang zu mir herüber.
Ein eiskalter Klumpen ballte sich in meiner Brust zusammen.
Der Typ hatte Russisch gesprochen. Absolut korrektes und ordentliches Russisch. Lediglich eine kaum wahrnehmbare Nuance, ein ganz zarter Akzent enttarnte ihn als Nicht-Russen.
Mich jagten nicht unsere eigenen Funktionale und auch nicht unser Geheimdienst. Den Zug durchkämmten die Dreckschweine aus Arkan.
Ich konnte nur hoffen, dass Sascha das nicht mitkriegte.
»Mein Abteilnachbar! Dieser Mistkerl!«, jammerte Sascha mit leicht übertriebener Dramatik. »Da sitzen wir friedlich beieinander und dann ...«
Die Geräusche signalisierten mir, dass Sascha seinen Gesprächspartner förmlich in unser Abteil boxte, um ihm zu demonstrieren, dass dieses leer war. Daraufhin zog er ihn genauso rasant wieder heraus, hin zum Fenster.
»Der Hund! Wir haben noch Bier zusammen getrunken, wie zwei anständige Menschen! Und dann springt er wie von der Tarantel gestochen aus dem Fenster! Der hat doch garantiert mein Portemonnaie geklaut!« Wieder rasselte etwas, und Sascha tauchte im Abteil auf, um nach seinem Jackett zu langen. »Ach nee!«, rief er erstaunt aus. »Mein Portemonnaie ist noch da! Wohin wollen Sie denn? Ich habe mich ja geirrt, der ist gar kein Dieb!«
»Ihr Reisegefährte ist ein extrem gefährlicher Terrorist und Mörder«, antwortete ihm jemand, der schon ziemlich weit weg war. »Sie können von Glück sagen, dass Sie noch am Leben sind, Bürger.«
Ich lag ruhig wie eine Maus da und konnte immer noch nicht glauben, dass das Abteil nicht durchsucht worden war. Im Gepäckfach roch es nach Staub, Desinfektionsmittel und aus irgendeinem Grund nach Hanf. Wundern tat mich das allerdings nicht - es war ja eine Verbindung nach Süden.
Mich hatte gerettet, dass meine Häscher von Arkan, von Erde-1, stammten. Also aus einer Welt, in der alles korrekter zuging als bei uns. Wo die Bürger mehrheitlich loyal waren und ihren Polizisten die reine Wahrheit auftischten.
»He ... du Mörder und Terrorist ...«, rief Sascha mit leicht zweifelnder Stimme. »Sie sind weg.«
Ich schaute nach unten und sprang hinunter.
Im Waggon war es still. Die Fahrgäste schienen zu spüren, dass etwas nicht stimmte. Wer aufgewacht war, blieb in seinem Abteil hocken und steckte die Nase nicht in den Gang heraus.
Sascha sah mich mit einem zweifelnden Blick an, in dem ich die Frage las: Habe ich die richtige Entscheidung getroffen?
»Tschüs«, sagte ich, während ich in geduckter Haltung zur Waggontür rannte.
Die Tür vom Personaltabteil stand offen. Die beiden Zugbegleiterinnen tuschelten auf dem Bahnsteig miteinander, den Blick fest auf etwas gerichtet. Ich linste von der Treppe aus über ihre Schultern. Sie studierten ein Plakat mit meinem Bild. Den Text unter dem Foto las ich erst gar nicht. Ich pirschte mich an die beiden Frauen an. »Ist euch euer Leben lieb?«, flüsterte ich.
Die ältere der beiden nickte und presste beide Hände vors Gesicht. Die jüngere wollte den Mund öffnen und loskreischen.
Ich presste ihr die Hand auf den Mund. »Willst du, dass deine Kinder friedlich im Hof spielen können?«, fragte ich.
Die Zugbegleiterin riss panisch die Augen auf und erstarrte.
»Dann habt ihr beide niemanden gesehen und niemanden gehört.« Mit diesen Worten zog ich meine Hand weg.
Keine der beiden Frauen brachte einen Ton heraus. Ich spähte nach links und nach rechts. Niemand zu sehen. Entweder durchkämmten die jungen Herren den Zug oder suchten mich zwischen den Abstellgleisen und Güterzügen.
So schnell ich konnte, sprintete ich rüber zu der halbdunklen Bahnhofshalle.