Drei

Jedes Volk hat Traditionen, die im Land selbst schon nicht mehr gepflegt werden, dafür aber echte Exportschlager sind. Und je schöner und exotischer eine Tradition ist, desto geringer sind ihre Chancen, in der Heimat zu überdauern. Ähnliches gilt übrigens auch für Menschen.

Die meisten männlichen Einwohner Schottlands bevorzugen Hosen - aber es verlässt nur selten ein Tourist das von Burns besungene Land des Heidekrauts und der Gerste wieder ohne einen karierten Kilt im Gepäck. Die meisten Franzosen schüttelt es beim Anblick von Austern und Froschschenkeln, mit denen sich die nach Exotik dürstenden Touristen vollstopfen. Selbst die Japaner ergötzen sich weniger an den blühenden Kirschen an den Hängen des Fujiyama oder am Studium von Karatetechniken, bevor sie Sushi und Sake zu sich nehmen, als vielmehr an einem schnellen Bier plus Hamburger mit einem amerikanischem Videoclip im Hintergrund.

Russland nimmt in diesem Prozess der Alltagsglobalisierung eine ungefährdete Spitzenposition ein. Natürlich ist die Rückkehr des Kwass zu begrüßen, der alle möglichen Arten von Cola zurückgedrängt hat. Inzwischen nehmen auch die Witze über die Filzstiefel ab, dieses für den russischen Winter unverzichtbare Accessoire. Selbst Sarafane, Schirmmützen und Russenhemden kehren dank den Bemühungen der Couturiers in neuem Gewand zurück.

Wenn aber etwas eindeutig zum Souvenir für Touristen mutiert ist, dann der Samowar. Er ist zusammen mit den Großfamilien gestorben, die an einem Tisch zusammenkamen, um gemeinsam zu essen - und zwar in aller Ruhe, ohne Fernseher und ohne in der Mikrowelle zubereitete Halbfertiggerichte. Eine Zeit lang überdauerten die bauchigen Samoware noch als Dekoration auf einer Festtafel, vernickelt oder traditionell bemalt. Zwar wurden sie nur noch an Geburtstagen, zu Neujahr und am Ersten Mai herausgeholt, aber immerhin. Und der beste Tee in Kindertagen war der aus dem Samowar.

Irgendwann machten die bunten Plastik-Teekessel dem Samowar jedoch den Garaus. Es war so viel bequemer, den Kessel aus der Küche zu holen und den Gästen eine Schachtel mit Teebeuteln hinzustellen, als diesen Riesensamowar anzuschleppen und den Tee nach allen Regeln der Kunst aufzubrühen: Warten, bis im heißen Wasser Perlen, zu einem Faden gereiht, aufsteigen, die kleine Porzellankanne ausspülen und den Sud aufgießen. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal an einem Tisch gesessen hatte, auf dem ein Samowar stand. Selbst Wassilissa hatte bei meinem letzten Besuch einen Kessel benutzt.

Heute jedoch stand auf dem Tisch ein Samowar. Ein großer Samowar, mit einem Fassungsvermögen von acht bis zehn Litern. Und so wie er aussah, wurde er häufig gebraucht.

»Och, was für eine Pracht ...«, murmelte ich.

Wassilissas Leidenschaft fürs Teetrinken ließ sich nicht leugnen. In einer Schale lagen Zitronenscheiben, es gab Sahne, Zucker (Streu- und Würfelzucker, weißen und braunen, Rüben- und Rohrzucker), allerlei Gebäck und Waffeln, mit und ohne Schokoüberzug.

»Ich erwarte Gäste«, erklärte Wassilissa leicht verlegen.

»Aus Nirwana?«

»Ja.« Wassilissa nickte in Richtung Fenster, hinter dem die Sonne strahlte und Bäume im sommerlichen Blättergewand grünten. »Ich habe mit den Leuten dort vereinbart, dass sie mir einmal pro Woche ein paar Kinder schicken. Wir trinken zusammen Tee, dann beschäftige ich mich mit ihnen ... Die Schule ersetzt das natürlich nicht, aber trotzdem ...«

Nirwana war die Welt, in der wir uns kennengelernt hatten. Mein Turm und Wassilissas Schmiede standen in ihr dicht beieinander. Es war ein bestechend schöner und erstaunlicher Planet mit mildem Klima und ohne eigene Tierwelt. Die dortige Flora gab eine spezielle Form von Psychedelikum in die Luft ab. Es ließ alle Eindrücke scharf hervortreten und betäubte den eigenen Willen fast ganz. Ein Mensch konnte in dieser Welt zwei Schritt von einem Bach entfernt verdursten, denn er spürte zwar seinen Durst, hatte aber nicht den Wunsch, die kurze Strecke zurückzulegen, und empfand keinerlei Qual. Beinahe wie der faule Kater aus dem Witz, der eine halbe Stunde lang miaute, weil er sich auf - na, sagen wir mal - den Schwanz getreten war.

Funktionalen konnte diese vergiftete Luft Nirwanas natürlich nichts anhaben. Da sie allerdings auch keine weitere Erholungswelt brauchten, nutzten sie Nirwana kurzerhand als Verbannungsort für all jene Menschen, die auf die eine oder andere Art zu einer Gefahr für die Funktionale geworden waren. Das war human - und zuverlässig. Nach einer Adaptionsphase entwickelten die Menschen Fähigkeiten zur Selbstversorgung, manche zeigten sich sogar in der Lage, Fische zu fangen oder Hühner zu halten. Selbst Kinder setzten sie gelegentlich in die Welt. Der alte Freud wäre hochzufrieden gewesen ...

Von außen betrachtet, konnte man die Dörfer der Verbannten für eine riesige Klapsmühle halten, so schlaff, ungeschickt und benebelt wie die Einwohner waren. Aber der Horror der Situation bestand eben darin, dass mit ihrem Verstand alles in Ordnung war. Es fehlte ihnen nur an Willenskraft.

»Und was bringst du ihnen bei?«, fragte ich. »Lesen und schreiben?«

»Das wäre Zeitverschwendung«, antwortete Wassilissa kopfschüttelnd. »Sicher, sie lernen es, aber sie lesen trotzdem nie ein Buch, dazu reicht ihre Motivation nicht aus.«

»Und du bist sicher, dass diese Ausdünstungen nicht in unsere Welt gelangen?«, erkundigte ich mich, während ich mir Tee einschenkte.

»Nun komm schon!« Wassilissa lachte. »Ich bringe ihnen bei, sich die Zähne zu putzen und die Hände zu waschen. Die Hosen auszuziehen, bevor sie ihr Geschäft erledigen. Kratzer zu verbinden. Geschirr abzuwaschen.«

»Aber ob das der richtige Weg ist?«, zweifelte ich.

»Schließlich sind sie nicht debil. Das Problem liegt einzig und allein im Mangel an Motivation. An Willen. Du solltest dich mal an einen Psychologen wenden, vielleicht weiß der Rat. Man muss diesen Kindern nicht beibringen, sich die Hände zu waschen, sondern ihre Ziele zu erreichen. Sich überhaupt erst mal Ziele zu stecken. Ohne das wirst du nichts ändern.«

»Ich denk drüber nach.« Wassilissa musterte mich neugierig. »Vermutlich hast du recht, Kirill. Von außen lässt sich das immer besser beurteilen ... Aber jetzt erzähl mal, was passiert ist. Wieso bist du mit Natalja aneinander geraten?«

Ich zögerte nur kurz. Wenn du dem einzigen Menschen gegenübersitzt, der dir helfen kann, ist es nicht nur unfair, etwas zu verbergen, sondern einfach idiotisch.

Ich erzählte alles.

Unterdessen tranken wir Tee, und Wassilissa fand trotz unseres ernsten Gesprächs immer wieder Gelegenheit, den Samowar anzustellen und darauf zu achten, dass die Tassen nie leer wurden. Vermutlich war das Teetrinken für sie genauso wichtig wie für die Engländer in viktorianischer Zeit.

Ich berichtete von dem Gespräch mit Illan, der Untergrundkämpferin, die früher ein Arztfunktional gewesen war. Von ihrer Freundin Nastja und wie sie Widerstand spielte ... Von Natalja Iwanowa, die diese Spiele gar nicht mochte. Von Kotja, der sich als Kurator unserer Erde herausgestellt hatte. Von Erde-1, also Arkan. Davon, wie ich beinahe umgebracht worden wäre. Und davon, wie ich selbst zum Mörder geworden war.

»Wir sind das Experimentierfeld der Arkaner«, schloss ich. »Sie können aus einfachen Menschen Funktionale machen.«

»Aber weshalb?«, wollte Wassilissa voller Neugier wissen.

»Auf diese Weise regieren sie die einzelnen Welten. Irgendwie kalkulieren sie, auf welchem Weg sie die gewünschten Ergebnisse erzielen. Genau wie in der Science Fiction: Hätte man den Zweiten Weltkrieg vermeiden können, wenn man Hitler schon als kleinen Jungen umgebracht hätte? Wäre das menschlicher gewesen? Sie brauchen dabei nicht mal jemanden zu töten. Sie stoßen den fraglichen Menschen einfach aus dem Leben und verwandeln ihn in ein Funktional, und schon sieht die Welt anders aus. Ein Mensch reicht, um eine ganze Welt auf ein anderes Gleis zu setzen.«

»Im Philosophieunterricht haben wir beigebracht bekommen, dass von einem einzigen Menschen gar nichts abhängt.« Wassilissa lächelte. »Das behauptet jedenfalls der Marxismus-Leninismus ... Aber dieses Fach kennst du ja gar nicht mehr, Kirill.«

»Ich würde dem Marxismus-Leninismus keinen allzu großen Glauben schenken«, meinte ich schnippisch. »Schon gar nicht nach dem Zusammenbruch der UdSSR.«

Wassilissa brach in schallendes Gelächter aus. Genussvoll biss sie die Hälfte eines gefüllten Tuler Honigkuchens ab. »Das tu ich auch nicht, Kirill! Warum sollte ich? Ein Mensch verändert die ganze Welt. Ganz einfach! Aber alles andere ist blanker Unsinn, du musst schon entschuldigen ...«

»Warum?«, murrte ich.

»Wenn deine Arkaner ...«

»Das sind nicht meine Arkaner!«

»Wenn die Arkaner das Schicksal der Welten so leicht kalkulieren könnten, wenn sie bloß jemanden aus einer Welt herauslösen müssten, damit es eine andere wird, dann bräuchten sie überhaupt keine Versuchswelten. Ein Labor und Experimente sind nur in den Fällen nötig, wenn du diese Ergebnisse nicht berechnen kannst! Du aber behauptest, die Arkaner wüssten alles auf Jahrzehnte im Voraus. Wie sie eine Welt ohne Technologie schaffen können und wie eine mit. Hier basteln wir uns eine Welt der Religion, dort eine der Wissenschaft und da eine der Wahrsagerei und hier ... ach, was weiß denn ich für eine ... Gut, ich glaube dir! Aber dann sind keine Experimente nötig!«

»Wassilissa ...« Hilflos breitete ich die Arme aus. »Ich erzähle dir doch bloß, was ich weiß!«

»Das alles ist viel komplizierter.« Sie schüttelte überzeugt den Kopf. »Viel komplizierter, Kirill.«

»Gut«, stimmte ich ihr zu. »Es gibt da wirklich noch was. Ich glaube nämlich nicht, dass Arkan die Hauptwelt ist. Wenn du ein paar Welten durchnummerieren müsstest, deine eigene eingeschlossen, die natürlich die wichtigste ist - welche Nummer würdest du ihr geben? Vor allem, wenn die anderen nichts von ihr wüssten dürften? Würdest du sie Erde-1 nennen?«

»Ich würde ihr überhaupt keine Nummer geben. Meine Welt ist einfach meine Welt. Per definitionem. Vor allem, wenn sie geheim ist.«

»Siehst du! Aber sie nennen ihre Welt Erde-1! Also muss es noch eine Welt geben! Erde-0! Und da müssen die Puppenspieler sein, die die Fäden ziehen! Die Arkaner sind auch nur Handlanger!«

Zu meiner herben Enttäuschung reagierte Wassilissa auf meine geniale Schlussfolgerung mehr als kühl.

»Ja und? Selbst wenn es noch eine Welt minus 1 gäbe! Das würde an der Situation nichts ändern. Entscheidend bleibt die Frage: wozu? Wer hat etwas davon? Von diesem Dutzend Planeten mit absolut unterschiedlichen Gesellschaftsformen? Von diesen Experimenten, in denen unterschiedliche Gemeinwesen geschaffen werden? Entschuldige, aber auf so eine Idee kann ja wohl nur ein Soziologe kommen.« Wassilissa milderte ihre Aussage mit einem Lächeln ab, aber ich hätte ihr sowieso nichts entgegenhalten können.

»Ich bin kein Soziologe«, brummelte ich bloß mürrisch.

»Was bist du dann?«

»Ich bin ein Niemand ... ein Hanswurst ... ein Angestellter in einem Computerschuppen ...« Ich stand auf und tigerte durchs Zimmer. »So kommen wir nicht weiter, Wassilissa. Arkan spielt so oder so die Rolle desjenigen, der alle Welten lenkt. Aber wem das nützt und wozu ... das ist eine Frage ...«

»Mich beschäftigt noch etwas anderes«, unterbrach mich Wassilissa. »Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, ein Funktional aus mir zu machen? Und warum ausgerechnet einen Zöllner? Die Türen, die ich geöffnet habe, braucht niemand ... Du hast gesagt, man schubst uns aus der Welt, damit diese sich verändert ... Genau das glaube ich nicht! Wenn du Putin herausnimmst, dann verändert sich die Welt! Oder den Papst! Jemanden wie Pelewin ... Johnny Depp ... Elton John ... von mir aus sogar Dima Bilan! Es gibt Menschen, von denen tatsächlich etwas abhängt. Aber von mir? Oder ... nimm’s mir nicht krumm ... von dir?«

»Ich bin ein guter Zöllner gewesen«, erklärte ich mit völlig unangemessenem Stolz. »Meine Türen waren vorzüglich. Allerdings glaube ich, dass niemand damit gerechnet hatte.«

»Also werden wir eben nicht aus der Welt genommen, damit diese sich ändert«, trumpfte Wassilissa auf. »Da muss etwas anderes hinterstecken, Kirill. Und das musst du rauskriegen.«

»Ich?« Ich setzte mich aufs Fensterbrett. Hinter mir prasselten Regentropfen auf den Sims.

»Wer sonst?«, entgegnete Wassilissa, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie drehte sich mir zu. »Wie du dich vielleicht erinnern wirst, bin ich an dieses Gebäude gekettet. Acht Kilometer und siebenhundertundvierzehn Meter reicht meine Leine. Das habe ich in meiner Freizeit nachgemessen. Wenn ich diesen Bewegungsradius verlasse, geht meine Funktion flöten. Dann werde ich zu einem absolut normalen Menschen. Nur dass sich niemand mehr an mich erinnert, Kirill. Ich würde obdachlos sein, würde unter Heizungsrohren schlafen, lernen, Kölnischwasser zu saufen ...«

»Mich hat man nicht vergessen«, sagte ich. »Meine Eltern haben sich an mich erinnert, meine Freunde auch.«

»Aus deiner Geschichte werde ich sowieso nicht schlau«, gestand Wassilissa. »Wie hast du es geschafft, eine Hebamme zu besiegen? Und dann noch diesen Kurator?«

»Ich weiß es nicht.« Unwillkürlich schielte ich auf meine Hand. Das trug mir eine weitere ironische Bemerkung ein.

»An den Ring der Macht glaube ich nicht. Ich habe selbst welche geschmiedet, als der Film gerade in war. An dem Ring kann es nicht liegen, es muss etwas mit dir zu tun haben ...«

»Womit soll ich anfangen, Wassilissa?«, fragte ich. »Du musst mir helfen.«

»Warum gerade ich?«

»Ich habe sonst keine Freunde unter den Funktionalen.«

»Freunde ...« Wassilissa schnaubte vielsagend.

Ich hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen.

»Wenn du mich fragst, läuft alles darauf hinaus, dass du nach Arkan musst. Dort musst du die Lösung für dieses Rätsel suchen. Aber da führen keine Türen hin!«

»Es muss welche geben. Nur hält man geheim, wo. Aber irgendwie müssen die Polizisten aus Arkan schließlich nach Orjol gelangt sein!« Ich sprang vom Fensterbrett und schaute hinaus. Es war das Fenster, an das ich mich noch von meinem ersten Besuch erinnerte.

»Dass sie nicht mit dem Zug gekommen sind, ist mir auch klar«, höhnte Wassilissa.

»Ich glaube aber, sie sind mit dem Zug von Orjol hierher nach Charkow gefahren«, bemerkte ich, während ich auf die stille herbstliche Gasse hinausstarrte.

Der Regen hatte zugenommen, und ein paar kräftige junge Männer, allesamt identisch gekleidet, spannten ihre schwarzen Schirme auf, die sich ebenfalls glichen wie ein Ei dem anderen. Die Typen hatten einen Halbkreis um den Turm herum gebildet und starrten schweigend hoch zum Fenster.

Mir direkt ins Gesicht.

Ich trat vom Fenster weg. Langsam wich ich zur Seite.

Sie glotzten immer noch unverwandt in dieselbe Richtung. Niemand rührte sich, niemand zwinkerte auch nur.

»Sehen die mich?«, fragte ich.

»Nein«, beruhigte mich Wassilissa, nachdem sie an mich herangetreten war. »Durch das Glas kann man nur von innen etwas sehen.«

»Trotzdem ... die wissen doch, dass ich hier bin.« »Oder sie nehmen es an. Wenn sie dich im Zug gesucht haben, dann wissen sie, wohin du wolltest. Kennst du viele Leute in Charkow?«

»Nur dich.«

Wassilissa guckte noch einmal zum Fenster hinaus.

»Die warten auf jemanden«, stellte sie stirnrunzelnd fest.

»Auf einen Polizisten?«, schlug ich vor.

Wassilissa sparte sich die Antwort auf diese eher rhetorische Frage. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.

»Nirwana oder Janus?«, wollte sie wissen.

»Janus?«, fragte ich zurück.

»Erde-14. Im Winter bitterer Frost, im Sommer glühende Hitze. Menschen leben dort keine.«

Mir war alles klar. Ich durfte nicht darauf hoffen, dass Wassilissa den Polizisten nicht hereinlassen würde. Und früher oder später würde der auftauchen. Ich hätte sie auch nie darum gebeten, ihm den Zutritt zu verweigern: Dann würde bloß eine Hebamme auf der Bildfläche erscheinen und kurzerhand Wassilissas Funktion zerstören, diese kleine Zollstelle zwischen Erde, Nirwana und Janus, die niemand brauchte.

»Mich zieht rein gar nichts nach Janus«, erklärte ich.

»Der Name reimt sich nicht angenehm. Wassilissa, kannst du mich nicht auf Nirwana verstecken?«

Wassilissa schaute zu dem Fenster raus, hinter dem Sommer herrschte. »Du würdest dich auf der Stelle ausklinken«, gab sie zu bedenken. »Schließlich bist du kein Funktional mehr. Sicher, ich könnte die Leute bitten, dich in ihrem Dorf zu verstecken. Sie können sich inzwischen ganz gut um Neulinge kümmern. Aber wenn ein Polizist auf die Idee kommt, ihr Dorf zu überprüfen ...«

»Und auf diese Idee wird er kommen«, entschied ich in Erinnerung an Zei, den Polizisten aus Kimgim, der Illan bis nach Reservat verfolgt hatte. Sie hatte es damals allerdings geschafft, ihm zu entkommen.

Nirwana war jedoch was ganz anderes. Hier brauchte mich niemand zu verfolgen, da konnte man mich, einen Idioten, dem der Sabber aus dem Mund lief und der ständig glückselig lächelte, einfach einsammeln.

»Wo könnte ich mich auf Janus verstecken?«

»Wart mal.« Wassilissa ging zu dem klobigen Büfett hinüber und zog eine Schublade heraus. Ich beobachtete, wie sie sich durch Gebrauchsanleitungen für Mikrowelle und Kühlschrank wühlte, ihr aber auch ein Haushaltsbuch mit Stromrechnungen unterkam. (Mussten Funktionale etwa den Strom bezahlen?) Irgendwann hielt sie ein kleines, ledergebundenes Buch in Händen, das ich nur zu gut kannte: die Zollbestimmungen. Auf dem Einband war in silbernen Buchstaben: JANUS aufgeprägt. Es war ein sehr edles Buch. Das Einzige, was mich stutzen ließ, war sein Umfang. Fast hätte man meinen können, es bestünde lediglich aus dem Einband.

Im Grunde war es tatsächlich so. Von der Erde durfte man jedes x-beliebige Produkt nach Janus ausführen. Umgekehrt ebenfalls. Insofern waren die Zollbestimmungen für Erde-14 denkbar einfach und knapp.

Wassilissa interessierte sich jedoch gar nicht für diese Gesetze. Sie nahm ein zerknittertes Blatt Papier aus dem Buch und reichte es mir. »Hier. Leider versagt da jeder Kompass ...«

Ich erhielt eine Art handgezeichneter Karte, die zwar ziemlich primitiv war, aber klar. In einer Ecke war neben einem geschlängelten Band ein Quadrat eingezeichnet, das war Wassilissas Haus am Fluss. Die Ansammlung von Höckern in der Mitte symbolisierte eine Bergkette, auch wenn sie eher an den von seiner Libido gequälten Versuch eines Studenten erinnerte, möglichst viele große Brüste zu zeichnen. In der gegenüberliegenden Ecke der Karte war ein Turm eingezeichnet, den man als einen weiteren Malversuch des besagten Studenten auffassen konnte, bei dem er seine männliche Pracht vor möglichst vielen Brüsten darstellen wollte.

»Ist es weit?« Ich tippte mit dem Finger auf den Turm.

»Zweiundzwanzig Kilometer.« Wassilissa sah mich ernst an. »Ich selbst komme da logischerweise nicht hin.«

»Wem gehört der Turm?«

»Keine Ahnung.«

»Und woher hast du diese Karte?«

Wassilissa druckste kurz, antwortete dann aber doch. »Ich ... habe da mal ... Also, ich hab mal jemandem geholfen, von Nirwana wegzukommen. Das war sein sehnlichster Wunsch. Auf unsere Erde konnte ich ihn natürlich nicht schicken, da hätten sie ihn gleich geschnappt. Aber damals war auf Janus gerade Frühling. Das ist die einzige Jahreszeit, die da erträglich ist ... Im Sommer bringt dich die Hitze um, im Herbst gießt es, im Winter Schnee. Er ist nach Janus gegangen. Später hat er mir diese Karte zugeschickt. Da hatte er sich bereits zu unserer Erde durchgeschlagen. Er hat es geschafft, diesen Turm zu erreichen und von dort zur Erde zurückzukehren.«

»Kann ich mich auf die Karte verlassen?«, fragte ich.

»Ja.« Ihre Stimme zitterte nicht. Trotzdem klang es nicht sehr ermutigend. Ich sah noch mal zum Fenster raus. Zum dritten Fenster, hinter dem jene Welt lag, die nach dem nicht sonderlich sympathischen Gott benannt worden war und einen unangenehmen Reim ergab.

Dort war alles grau und verhangen.

»Ist da gerade Nacht?«, fragte ich.

»Tag«, antwortete Wassilissa nach kurzem Zögern.

»Und du meinst, ich schaffe es bis zum Turm?«

Wassilissa trat ans Fenster und presste das Gesicht an die Scheibe. Ich verstand nicht sofort, dass vor dem Fenster in jener fremden Welt ein Thermometer hing, ein stinknormales Alkoholthermometer aus russischer Produktion, eine Glasröhre mit zwei Plastikhaltern an den Enden.

»Minus zehn Grad«, teilte Wassilissa mir mit. »Der Frost hat noch nicht voll zugeschlagen. Du hast eine Chance.«

»Zwanzig Kilometer?«

»Zweiundzwanzig. Aber wie es aussiehst, hast du deine Funktionalsfähigkeiten ja nicht vollständig eingebüßt. Vielleicht nützt dir das was ...«

»Ich habe nur eine dünne Jacke«, gab ich zu bedenken.

»Und viel zu leichte Schuhe«, sagte Wassilissa ernsthaft. »Überleg’s dir. Wenn du nach Janus gehst, gebe ich dir ordentliche Sachen.«

»Und wenn ich nicht da hingehe?«

Wassilissa breitete die Arme aus. »Ich werde mich nicht mit einem Polizisten anlegen«, stellte sie nach kurzem Schweigen klar. »Er würde mich umbringen ... und von mir hängt ein ganzes Dorf ab. Flieh, Kirill. Denn die werden mit Sicherheit hier auftauchen.«

Ich schaute noch mal zum Fenster hinaus, nach Charkow, dieser gastfreundlichen, noch schneefreien Stadt ... Von einem Werbeplakat auf der anderen Straßenseite lächelten mir drei Männer zu, die mich anscheinend dazu aufforderten, irgendein spezielles Produkt zu kaufen. Wind und Regen hatten dem Plakat ordentlich zugesetzt, das Gesicht von einem der Typen war völlig aufgeweicht, das von einem anderen wirkte jetzt unzufrieden; nur der dritte hatte sich aller Unbill der Natur zum Trotz seinen Optimismus bewahrt.

Im Grunde hatte ich keine Wahl, was gar nicht schlecht zu den drei Figuren da auf dem Werbeplakat passte. Oder zu dem Stein am Wegesrand, der für den Helden im Märchen verschiedene Prophezeiungen bereit hält - auch das nur eine Entscheidung zwischen Regen und Traufe. Wenn ich nach Nirwana ging, würde ich verblöden, wenn ich in meiner Welt blieb, war ich vollends erledigt. Eine Chance hatte ich nur auf Janus.

Aber zweiundzwanzig Kilometer!

»Ich habe Skier«, bemerkte Wassilissa. »Gute, breite Jagdskier ... Nein, Mist! Einer ist zerbrochen, Kirill, und ich habe noch keine neuen gekauft. Weshalb sollte ich schließlich nach Janus gehen? Gut, so tief ist der Schnee nicht, der Wind trägt ja noch alles weg. Du schaffst es bestimmt ohne Skier, oder?«

Ich sagte ihr nicht, dass ich das letzte Mal in der fünften Klasse auf Skiern gestanden hatte. Danach hatte mich entweder die Erderwärmung abgehalten, oder unser neuer Sportlehrer hatte diese Form der Leibesertüchtigung einfach nicht gemocht.

»Such mir was Warmes zum Anziehen raus«, verlangte ich.

Winterkleidung - und zwar richtige, nicht die Schöpfungen der Modemacher, die nur für den Gang zum Rednerpult gedacht sind - taugt letztendlich gleichermaßen für Männer wie für Frauen. Wie nennen diese Couturiers mit ihrem blasierten Lächeln es so schön: Unisex. Aber wenn es dir egal ist, ob die Knöpfe auf der einen oder auf der anderen Seite liegen, hindert einen Mann nichts daran, einen Schafspelz für Frauen zu tragen. Vorausgesetzt, es handelt sich um eine richtige Frau, kein Magerquarkmodell, sondern eine mit Pferd und Hütte, wie sie schon Nekrassow besungen hat.

Ich bekam - da die Zeiten Nekrassows vorbei waren - zum Glück jedoch keinen Pelz, sondern eine moderne Steppjacke, hergestellt von einer bekannten amerikanischen Firma, hundert Prozent Synthetik, mit der du getrost nach Sibirien fahren könntest. Mehrschichtig nach dem Prinzip einer Thermoskanne saugte sie den Schweiß auf und ließ weder Kälte noch Wind durch. Mit einem albernen, unter durchsichtigem Plastik liegenden Thermometer am Futter und einem zweiten, noch alberneren an der Klappe der Brusttasche. Klar, man musste ja sehen, wie kalt es draußen und wie warm es drinnen war ...

Erfreulicherweise passten mir sogar die Stiefel. Zu enge Schuhe sind das schlimmste, was dir im Winter passieren kann. Obwohl die Moonboots etwas feminin wirkten, mussten sie mindestens Größe 43 haben. Ich bezweifelte zwar, dass das Plastik mich gegen die Kälte schützen würde, aber Wassilissa versicherte mir, sie habe die Schuhe selbst mehrfach getragen und sie hätten ihr bei jeder Kälte gute Dienste geleistet.

Die Pelzmütze war mir allerdings zu klein. Wassilissa machte sich deswegen jedoch keine großen Sorgen, sondern stülpte mir eine Strickmütze auf, die bei mir verschwommene Kindheitserinnerungen wachrief: Spiele an der frischen Luft, Schneeballschlachten und Schneemänner. Ich glaube, wir haben solche Mützen immer »Hahn« genannt.

Die Daunenjacke hatte eine ordentliche Kapuze, weshalb mir der alberne, dünne Hahn sowieso gestohlen bleiben konnte.

»Du hast nicht vielleicht auch Handschuhe?«, bat ich. »Du kannst meine Fäustlinge haben.« Wassilissa streckte mir Handschuhe aus Leder und Fell hin, die ziemlich abgetragen und von außen ganz verrußt waren. »Du hast dann zwar extrem monströse Pranken, aber immerhin warme Hände.«

»Du bist wie das kleine Räubermädchen, das Gerda ausstattet, als sie Kay sucht«, murmelte ich.

Zu meiner Überraschung wurde Wassilissa daraufhin knallrot. Und sie gab mir einen reichlich unbeholfenen Kuss auf den Mund. »Danke, Kirill« flüsterte sie.

Was um alles in der Welt hatte sie denn da als Kompliment aufgefasst? Den Vergleich mit dem kleinen Räubermädchen? Oder reichte womöglich schon das Wort »klein«?

Auf einmal kam mir in den Sinn, dass sie vermutlich einen Liebhaber unter den Einwohnern Nirwanas hatte. Irgendeinen Mann, der noch relativ gut beieinander war und einigermaßen aussah. Aber Komplimente dürfte der ihr wohl kaum machen ...

»Dank dir«, sagte ich.

Wir standen an der Tür, die nach Janus führte. Ich war komplett ausgerüstet, angezogen und beschuht. Wassilissa hatte sogar noch einen Rucksack ausgegraben, wenn auch keinen zum Wandern, sondern eher einen für die Stadt, der aber trotzdem bequem auf dem Rücken zu tragen war. In ihn hatten wir meine dünne Jacke, Proviant und allerlei Kleinkram gepackt, den ich vielleicht brauchen könnte. Prompt fiel mir wieder Kotja ein, wie er sich auf die Suche nach Illan gemacht hatte.

»Hast du meinen Dolch noch?«, fiel es Wassilissa plötzlich ein.

»Nein.«

»Hier.«

Offenbar hatte sie überall Klingen herumliegen. Diese nahm sie von dem Tisch, der neben der Tür nach Nirwana stand, und überreichte sie mir feierlich. Ein anständiger Dolch. Nicht schlechter als der erste. Gebe Gott, dass er sich als ebenso überflüssig herausstellt wie sein Vorgänger.

»Und wenn sie nicht zum Angriff blasen?«, fragte ich. Ich musste selbst über den Unsinn schmunzeln, den ich da von mir gab.

»Warten wir’s ab«, entgegnete Wassilissa. Ich hatte den Eindruck, sie wirkte erleichtert.

In dem Moment klopfte es auf der Charkower Seite an die Tür. Zurückhaltend, freundlich und respektvoll. Nur diejenigen, die Macht und Stärke hinter sich wissen, klopfen auf diese Weise an.

»Geh jetzt.« Wassilissa riss ohne weiteres Zögern die Tür nach Janus auf. Es roch nach Frost, in der Türfüllung tanzten Schneeflocken. »Geh Richtung Sonnenuntergang! Ich lasse sie nicht gleich rein, das verschafft dir ein oder zwei Stunden Vorsprung.«

»Dann kriegst du aber Probleme«, wandte ich ein.

»Gehen wir einfach davon aus, ich sei auf Nirwana.« Wassilissa grinste. »Das klingt ja fast nach Puschkin ... Ich bin auf Nirwana gewesen, habe die Armen besucht. Und dass ich dich nach Janus durchgelassen habe, das ist schließlich meine Funktion, Leute von der einen Welt in die andere zu schleusen! Leider hatte ich noch gar keine Zeit, die Zeitung zu lesen, sodass ich nichts weiß, gehört habe ich auch noch nichts ... Und jetzt ab mit dir!«

Sie berührte mit den Lippen kurz meine Stirn, diesmal ohne jeden erotischen Hintergedanken. Ein schwesterlicher oder mütterlicher Kuss. Dann stieß sie mich ins Schneegestöber hinaus.

Sanft, fast lautlos, schlug die Tür hinter mir zu.

Ich drehte mich noch einmal um.

In dieser Welt erinnerte Wassilissas Haus an eine Burgruine, in der auf wundersame Weise ein einziger gedrungener Turm erhalten geblieben war. Aus dem einzelnen Fenster im ersten Stock fiel ein mattes, zitterndes Licht, das von einer Fackel oder Kerze zu stammen schien. Das Haus stand an einem Abhang, an dessen Fuß ich ein eisverkrustetes und zugeschneites Flussbett erahnte.

Um mich herum tobte ein Schneesturm. Flocken wirbelten durch die Luft, unter meinen Füßen knirschte der Schnee, der zum Glück tatsächlich nicht sehr tief war. Die Sonne drang kaum durch die Schneewolken hindurch. Die Berge, die ich überqueren musste, ragten als dunkle, abweisende Wand vor mir auf.

»Das werd ich schon schaffen«, versprach ich mir selbst.

Dann stapfte ich in Richtung Hügel los.

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