Dreizehn

Trotz allem bin ich überzeugt, dass der Mensch im Grunde seines Herzens ein friedliches Wesen ist. Dumm, grausam, lüstern, naiv und zänkisch - aber friedlich. Niemand mit gesundem Menschenverstand und geregelten Verhältnissen würde danach trachten, jemanden umzubringen. Dergleichen tun nur Verrückte und Fanatiker. Selbst ein verknöcherter Kriegsherr, ein grober Klotz, der noch nie etwas anderes als eine Uniform getragen hat, der noch den Weg vom Bett zum Klo im Marschschritt zurücklegt und seiner Katze Armeekommandos erteilt, würde es vorziehen, Titel für seine Dienstjahre und Orden für Erfolge bei der Parade zu erhalten. Nicht umsonst heißt es in den traditionellen Trinksprüchen der russischen Soldaten »auf die Gefallenen« - und nicht »auf den Sieg«. Auf den Sieg trinken kann man nur, wenn der Krieg schon tobt ...

Gleichzeitig ist der Mensch eines der kriegerischsten Wesen, das man sich vorstellen kann. Die Grenze, die er entlangwandern muss, ist so schmal und durchscheinend, dass schon ein Wort, eine Geste oder ein Gläschen zu viel aus dem friedliebendsten Menschen einen blutdürstigen Killer macht. Angeblich liegt das daran, dass der Mensch ein Raubtier wider Willen ist. Im Unterschied zu den Tieren, die von vornherein zum Töten geschaffen und sich deshalb ihrer eigenen Kraft voll bewusst sind, verhält sich der Mensch häufig wie ein in die Ecke gedrängter, hungriger und hysterischer Affe, der sich, da er seine gewohnten Wurzeln und Bananen nicht findet, einen Knüppel schnappt und damit auf eine hinter der Herde zurückgebliebene Antilope eindrischt.

Oder wir sind - wenn man die Bibel wörtlich nimmt - alle vom Teufel irregeleitete Wesen, und unsere Seele ist durch die Ursünde verunreinigt.

Folglich wäre es wohl, wenn mich das Portal nach Arkan gebracht hätte, mit meiner Selbstbeherrschung nicht weit hergewesen. Mir schoss sogar kurz ein bluttriefendes Bild durch den Kopf: Ich finde mich in einem riesigen Thronsaal wider, der mich an Filme wie Herr der Ringe oder auch Star Wars denken lässt. Überall Wachsoldaten in prachtvollen Uniformen, überall die hinterhältigen Rädelsführer der Funktionale ... Den Kolben gegen den Bauch gestemmt, bestreiche ich alle mit Feuerstößen, und die Kugeln wollen mir nicht ausgehen, die Feinde fallen schreiend zu Boden, verschlucken sich an ihrem Blut, fliehen in alle Himmelsrichtungen, aber meine Schüsse holen sie ein, und die Schurken wimmern um Gnade, doch ich bin taub und stumm ...

Aber da, wo ich rauskam, gab es niemanden, auf den ich hätte schießen können.

Nur Steppe.

Niedriges, pikendes Gras, das unter meinen Füßen knisterte, Gras, das in der Sonne bereits verbrannt war. Zum Glück dämmerte es schon, die Sonne ging bereits unter; allerdings wehte immer noch ein heißer und unangenehmer Wind. Ich drehte mich einmal um mich selbst. Nichts und niemand. Nur am Horizont erhoben sich Berge.

Wohin hatte es mich jetzt schon wieder verschlagen?

Abermals hob ich den Arm und bewegte meine Finger, versuchte, eine weitere Feuerschrift in der Luft entstehen zu lassen. Nichts geschah. Meine Kräfte waren wieder verschwunden.

Zusammen mit meinen Funktionalsfähigkeiten hatten mich jedoch auch meine menschlichen Kräfte verlassen. Ich ließ mich auf die Erde plumpsen. Gut eine Minute saß ich nur da und schaute in den Sonnenuntergang, bevor ich mich schließlich daranmachte, die Reste des Fangnetzes von meinen Hosen zu klauben. Die Fäden schienen irgendwie ausgetrocknet zu sein und waren nun spröde und brüchig.

Wo zum Teufel war ich?

Jetzt bloß nicht in Panik geraten! Ich konnte ebenso gut auf Feste wie auch auf der Erde oder auf Arkan sein. Schließlich gab es auf jedem Planeten genügend unbewohnte Orte! Entscheidend war, dass ich mir gewünscht hatte, »im Herzen« der Funktionale zu landen. In der Welt, wo ihre Wurzeln lagen.

Ging ich also mal davon aus, dass mir mein Wunsch erfüllt worden war.

Mit purer Willenskraft schob ich diesen Gedanken vorerst beiseite. Ich drehte die MPi seitlich und legte sie ein Stück von mir entfernt auf den Boden. Dann öffnete ich den Rucksack, den ich dem Soldaten abgenommen hatte.

Von ganzem Herzen freute ich mich darüber, dass mein Traum von Patronen geplatzt war. Hier in der Steppe brauchte ich sie so dringend wie eine Kombizange in der Sauna.

Nacheinander holte ich folgende Dinge aus dem Rucksack:

Eine Plastikflasche mit einem Fassungsvermögen von etwa einem Liter und der eingeprägten Aufschrift »Wasser«.

Drei in Folie eingeschweißte Päckchen mit dem Aufdruck »Tagesration«.

Einen kleinen Erste-Hilfe-Kasten mit Spritzen, Tablettenröhrchen und Verbandszeug; glücklicherweise gab es sogar eine Gebrauchsanweisung für all diese Wohltaten.

Eine Taschenlampe, die als Metallzylinder gearbeitet war und mir möglicherweise auch als Knüppel dienen konnte.

Eine straff gewickelte Rolle Toilettenpapier. Da gibt es nichts zu lachen. Das Lachen vergeht dir nämlich, wenn du als an die Zivilisation gewöhnter Bürger auf freiem Feld von einem Bedürfnis ereilt wirst und dann auf diesem Feld nicht mal Kletten wachsen - sondern nur Gras, das so scharf wie Ried ist.

Drei Tafeln Schokolade, die entweder nicht zur Standardausstattung gehörten oder irgendeinen Bonus darstellten. Die Schokolade war mir schmerzlich vertraut: Goldene Marke. Auf mich musste ein russischer Spezialeinheitler von Arkan geballert haben. Das ließ meine Stimmung endgültig in den Keller sinken.

Eine schmale Broschüre mit dem Titel Überleben auf Erde-3. Natürlich. Instruktionen für Soldaten, die in Gefangenschaft geraten waren oder sich verirrt hatten, damit sie wussten, wie sie sich auf Feste verhalten sollten. Gehen wir einfach davon aus, dass sich mein Klopapiervorrat vergrößert hatte.

Ein Plastikträger, aus dem drei weitere Spritzen mit einer knallroten Flüssigkeit herausragten. Ein Loch war leer. Ein Kampfcocktail? Wahrscheinlich. Eine Spritze hatte sich der Soldat vor dem Angriff gesetzt, die anderen waren als Vorrat gedacht.

Eine große Rolle dicken weißen Fadens. Aus irgendeinem Grund fehlte die Nadel.

Ein Kompass. Der Zeiger gab mir bereitwillig den hiesigen Norden an.

Und etwas, das mit Sicherheit nützlich, in der Steppe jedoch absolut überflüssig war, ein Taschenmesser mit mehreren Klingen, einer Feile und einem Dosenöffner. Aber nein, halt! Wie hatte ich denn die Essenspakete öffnen wollen? Mit den Zähnen? Insofern: ein Hoch auf das Taschenmesser!

Vorsichtshalber schüttelte ich den Rucksack noch einmal - wofür ich mit einigen Kleinigkeiten belohnt wurde, die aus den Seitentaschen fielen. Einer Packung Streichhölzer, einer aufgerollten Angelschnur mit Schwimmer, Haken und Angelblei sowie einem Päckchen Kondome. Natürlich hatten die Arkaner nicht die Absicht, die Frauen von Feste zu vergewaltigen. Ein Präser stellt einfach eines der nützlichsten Gegenstände in der Ausstattung eines Soldaten dar. Mit ihm kann der Gewehrlauf gegen Staub geschützt werden, Streichhölzer gegen Wasser, man kann darin Wasser auffangen oder es zwirbeln und als recht ordentliches Gummi für ein selbstgebautes Katapult einsetzen. Und ein Katapult bietet wiederum die Möglichkeit, lautlos und ohne Patronen zu verschwenden Jagd auf kleine Vögel und Tiere zu machen.

Kurzum, ich hatte den Rucksack nicht vergebens mitgehen lassen.

Wenn ich obendrein noch einen Schlafsack und ein Zelt hätte ...

Ich packte die Sachen wieder ein und behielt nur den Kompass draußen. Der Versuchung, einen Schluck Wasser zu trinken, widerstand ich. Wer wusste denn, wie lange mir der eine Liter reichen musste? Schlimmstenfalls - bis ans Ende meiner Tage. Und der erbärmliche Anblick des hiesigen Grases förderte meinen Optimismus nicht gerade.

Ich nahm das Magazin aus dem Gewehr, öffnete es und zählte die Patronen. Hmm. Vierzehn Patronen - reichlich wenig für eine Auseinandersetzung à la Star Wars.

Für die menschenleere Steppe jedoch gerade richtig. Ich stellte den Riemen ein und hängte mir die MPi um den Hals, da der Rucksack mich daran hinderte, sie auf dem Rücken zu tragen.

Jetzt musste ich die Entscheidung treffen, wohin ich ging. Meine innere Uhr stand noch auf Mittag, in meinem Blut rauschte das Adrenalin, das ich auf vernünftige Art abbauen sollte, bevor es stockdunkel war und ich mich wohl oder übel schlafen legen musste.

Mir stand nur ein natürlicher Orientierungspunkt zur Verfügung, die Berge. An der Grenze zwischen der Steppe und den Bergen war es viel wahrscheinlicher, auf Wasser zu stoßen, auf Pflanzen und Leben. Vielleicht sogar auf Menschen.

Andererseits stiegen meine Chancen, das Meer zu erreichen, je weiter ich mich von den Bergen entfernte. Und Meer bedeutete jedenfalls Leben.

Unentschlossen stand ich da. Die Sonne ging schon im Westen unter, die Bergkette lag im Süden. Es war Sommer und heiß. Wollte ich da noch weiter nach Süden stiefeln?

Der blaue Zeiger des Kompasses wies mir mit freudigem Nicken eine einzige Richtung.

Ich marschierte nach Norden.

Mein Auftauchen in dieser Welt konnte kein - durfte kein! - Zufall sein. Irgendwie hatte ich die in mir schlummernden Fähigkeiten geweckt, mehr noch, ich war Kotja und anderen höheren Funktionalen wie Kuratoren oder Hebammen ebenbürtig geworden. Mich fesselte keine Leine, ich konnte Portale im Raum öffnen ... Nur wann und warum konnte ich das?

Auf das Warum wusste ich noch keine Antwort. Aber wie sah es mit dem Wann aus?

Zum ersten Mal war es zu einem solchen Durchbruch gekommen, als Kotja in seiner Panik versucht hatte, mich zu erwürgen. Mit tödlichem Griff hatte er meine Kehle umklammert, ich kriegte schon keine Luft mehr, Rettung gab es keine - bis ich in dem hilflosen Versuch, mich zu befreien, dem Kurator einen Schlag von mörderischer Kraft verpasste. Kotja war samt Tür aus dem Auto geschossen und im Schnee gelandet, wobei die verbeulte Tür wie ein eiserner Kragen um seinen Hals hing.

Ach, was für eine angenehme Erinnerung!

Was war damals geschehen? Jemand hatte versucht, mich umzubringen. Angst, Wut und Zorn - was davon hatte meine Fähigkeiten aktiviert? Und diese Situation ließ sich sehr gut mit der gegenwärtigen vergleichen ...

Aber halt, es hatte schließlich weitere Fälle dieser Art gegeben!

In den eisernen Weiten von Janus wäre ich beinahe erfroren - und meine Fähigkeiten hatten sich nicht gemeldet.

Als mich die Polizisten in Elbląg umzingelt hatten, konnte ich nichts dagegen machen.

In Orjol wiederum hatte ich mich bei meiner Flucht vor den Arkanern in ein Taxi gesetzt. Damit war ich eigentlich aus der Gefahrenzone raus. Doch dann führte ich mit dem Fahrer ein zwangloses Gespräch über die Straßen der Gegend und wusste völlig banale Details darüber, wann und mit wem ihn seine Frau betrog.

Also musste die erste und naheliegendste Erklärung falsch sein. Es lag nicht an der Wut. Ich war nicht der gutmütige Dr. Jekyll, der sich in den grausamen Mr. Hyde verwandelte. Da musste etwas anderes dahinterstecken.

Etwas ziemlich Einfaches.

Einfacher noch als Wut und Zorn!

Meine Hand schnappte zu, als wollte ich die Lösung, die mir zu entgleiten drohte, einfangen. Ich war mir ganz sicher, dass ich, wenn ich erst mal den Einschaltmechanismus meiner Fähigkeiten begriffen hatte, noch etwas viel Wichtigeres erfasst hätte. Die Grundlagen dieser Kraft, die Unlogik all dieser Parallelwelten mit ihren zahlreichen Übereinstimmungen und ihren nicht minder zahlreichen Unterschieden.

Was verband die drei Situationen noch?

Zweimal hatte ich in Lebensgefahr geschwebt, einmal ... einmal musste ich eine Wahl treffen. Ob ich nach Moskau zurückkehrte oder meinen Weg nach Charkow fortsetzte.

Schon wärmer?

Und wie!

Die polnischen Polizisten in Elbląg hätten mich niemals geschnappt, denn Kotja hatte auf mich aufgepasst. Genau wie damals auf Janus. Worauf es aber ankam: Ich hatte in beiden Situationen gar keine andere Wahl gehabt. Ich hatte mich in die Eiswüste begeben müssen, genau wie ich den Polizisten nicht hatte entwischen können. Ich war dem einzig gangbaren Weg gefolgt.

In den drei anderen Fällen hatte ich jedoch eine Wahl treffen können.

Ich hätte Kotja im Auto um Gnade anflehen können - oder versuchen, mich zu wehren.

Ich hätte nach Moskau zurückkehren können - oder nach Charkow weiterfahren.

Ich hätte mich den Arkanern ergeben können - oder den aussichtslosen Kampf aufnehmen.

Eine Wahl. Eine Wegscheide meines Schicksal.

Arkan regiert die Welten, lenkt ihre Entwicklung in die eine oder andere Richtung. Es löscht Cervantes aus der Geschichte - und es gibt weder Don Quixote noch Sancho Pansa. Das bedeutet in den Hirnen von Hunderten und Tausenden seiner Zeitgenossen, gebildeten und belesenen Menschen, indes keine solch große Veränderung, dass die Position der Kirche ins Schwanken geriete oder Rittertum und Mittelalter vor der Zeit endeten. Die Renaissance wäre ein wenig anders verlaufen, die Kirche hätte sich ihre Position bewahrt, die technische Entwicklung sich verzögert. Obwohl aus der Realität herausgefallen, hätte Don Quixote am Ende doch alle Windmühlen dieser Welt besiegt ...

Aber - was für eine Ironie des Schicksals - die weitaus machtvollere Kirche auf Feste hielt die Biowissenschaften für zulässig!

Nein, vermutlich war es zu der Spaltung der Welten nicht nur aufgrund des unglückseligen spanischen Schriftstellers gekommen. Da spielten noch eine Menge anderer Faktoren eine Rolle, angefangen von Cäsar, der nicht von Brutus verraten worden war, bis hin zu Churchill, der philosophische Traktate statt seiner politischen Memoiren schrieb. In jedem Fall zeigte das Vorgehen der Funktionale jedoch: Sie nahmen hochpräzise Veränderungen in der Geschichte vor, mischten sich ausschließlich in das Schicksal einzelner Menschen ein. Anscheinend hingen die Fähigkeiten der Funktionale generell also ebenfalls von einer Wahl ab. Und ich erhielt jedes Mal meine Kräfte zurück, wenn mein Schicksal mich vor eine Wahl stellte, vor eine ernsthafte Wahl, nicht das Dilemma, ob man Tee oder Kaffee trinkt.

Was mir im Übrigen längst nicht garantierte, dass ich die richtige Entscheidung traf.

Die Sonne verzog sich jetzt endgültig hinterm Horizont. Der Himmel verdunkelte sich rasch, die ersten Sterne funkelten auf. Ich blieb stehen und sah mich noch einmal um. Sollte ich in der Dunkelheit weiterwandern, mich an den Sternen orientieren? Um morgen, irgendwann am Ende meiner Kräfte, in der glühenden Sonne zusammenzubrechen?

Besser suchte ich mir ein Nachtlager. Dieser Punkt der Steppe war dafür nicht besser oder schlechter geeignet als jeder andere.

Ich nahm den Rucksack ab, spielte mit einer der Essensrationen herum, öffnete sie jedoch noch nicht. Stattdessen aß ich ein Stück Schokolade, trank Wasser aus der Flasche. Ich meinte, mich mit einem oder zwei Schlückchen zu bescheiden - doch danach war die Flasche zu einem Drittel leer. Also musste ich besser aufpassen, viel besser...

Den Rucksack legte ich mir unter den Kopf, die MPi unter den rechten Arm. Ich rechnete zwar nicht mit ungebetenen Gästen, aber falls doch ...

Am Himmel funkelten nach und nach immer mehr Sterne auf. Nirgendwo sonst sieht man so viele Sterne wie nachts in der Steppe. Im Meer glitzert Krill, spiegelt sich das schwache Licht der Sterne wider. Hier dagegen herrschte absolute Dunkelheit. Ich hatte das Glück gehabt, zu Neumond in diese Welt zu gelangen - als wollte ich ihr nur einen Besuch abstatten, um mich an der Schönheit des hiesigen Himmels zu ergötzen.

Beim Einschlafen fragte ich mich, ob ich da wirklich das ferne Rauschen des Meeres hörte. Oder ob mir meine Nerven den ersten Streich spielten. Weil ich fürchtete zu verdursten...

Mitunter findet man ja selbst im bequemsten Bett in ausgeglichenster Gemütsverfassung keinen Schlaf. Oder man schläfst ein, wacht aber in der Nacht mehrmals auf. Oder man schläft die ganze Nacht durch, fühlt sich am Morgen aber zerschlagen und müde.

Aber hier, auf diesem mit trockenem, pikendem Gras bewachsenen Boden, mit meinen Verfolgern, die sich jeden Moment direkt neben mir materialisieren konnten, nach dieser grausamen und blutigen Auseinandersetzung, öffnete ich munter und tatendurstig beim ersten Sonnenstrahl die Augen. Ich hatte sogar einen beruhigenden und angenehmen Traum gehabt. Ob das an der sauberen Luft lag? Oder ob die Schokolade irgendwelche Tranquilizer enthalten hatte? Oder erlaubte sich die unvorhersehbare menschliche Psyche mal wieder einen ihrer üblichen Scherze?

Während ich mich reckte und zur Lockerung ein paar Schritte vor und zurück ging, lauschte ich auf die Signale meines Körpers. Einen Alarm gab es nicht, ich wollte nur etwas trinken. Langsam, um das Vergnügen herauszuzögern, holte ich die Flasche heraus, schraubte sie auf und trank ein paar Schluck. Danach aß ich die Schokolade auf. Finster blickte ich auf die aufgehende Sonne.

In der Wüste bringt dich Hitze im Handumdrehen um. Zum Glück befand ich mich nicht in der Wüste, die Luft war nicht ganz so trocken, und diesen Tag würde ich schon noch überstehen. Morgen würde ich dann entweder Wasser brauchen oder ... oder ich würde gar nichts mehr brauchen.

Den Rucksack geschultert, die MPi um den Hals gehängt! Und auf nach Norden! Solange die Hitze noch einigermaßen erträglich war, musste ich eine möglichst große Strecke zurücklegen ...

Aber ich brauchte dann doch nicht lange zu marschieren.

Nach zwei, drei Minuten bemerkte ich vor mir einen Streifen, der die Steppe von Osten nach Westen durchzog. Nachdem ich genauer hingesehen hatte, aber trotzdem nicht dahintergestiegen war, legte ich einen Zahn zu.

Als mir endlich klar war, was ich da sah, blieb ich erst stehen, bevor ich mich schließlich langsam und vorsichtig weiterwagte.

Bis hin zum Rand dieses Cañons, der die Steppe zerklüftete.

Ich bin weder ein Geograph noch ein Geologe. Ich weiß nicht - zumindest nicht ohne die Einspeisung meiner Funktionalskenntnisse -, ob es in unserer Welt solche Cañons gibt. Vermutlich schon.

Dem Grand Canyon, den alle Regisseure von Actionfilmen so lieben, glich dieser Abgrund nicht. Aber auch mit einer normalen Schlucht hatte er nichts zu tun.

Er war gerade wie ein Pfeil, rund fünfzig Meter breit und mindestens genauso tief. Die extrem steilen Wände des Cañons bildeten an seinem Fuß eine schmale Schlucht, durch die mit starker Strömung Wasser schoss. Der Cañon fing irgendwo im Vorgebirge an, und als ich mit dem Blick dem Wasser folgte, machte ich in der Ferne eine blaue Fläche aus.

Ich war auf einem Plateau entlanggewandert, das dicht am Meer lag!

Ein Problem weniger. Verdursten würde ich nicht.

Falls ich es nach unten schaffte.

Ob das auch eine Art von Wahl war? Sollte ich hinunterkraxeln oder den Cañon entlang zum Meer wandern? Ich schnippte mit den Fingern und versuchte, die blaue Flamme entstehen zu lassen. Nichts. Anscheinend hatte ich keine Wahl, ich musste runter.

Warum hatte ich es in meiner Jugend bloß nicht mit Freeclimbing versucht? Ein Bekannter von mir war drei Jahre lang regelmäßig in eine Kletterhalle gegangen, zu Turnieren gefahren und hatte im Naturschutzgebiet Stolby bei Krasnojarsk Felssäulen erklommen ... Nach dem fünften oder sechsten Bruch hatte er diesen Sport dann aufgegeben, im Großen und Ganzen zufrieden, selbst wenn er heute mit seinen fünfundzwanzig Jahren schon hinkte.

Na schön, versuchen wir’s ...

Die ersten Meter waren die flachsten, gleichzeitig aber auch die schwierigsten, denn die Wand des Cañons bestand hier aus fester, trockener Erde, die leicht unter Füßen und Händen wegbröckelte. Eine Hilfe waren die Graswurzeln, die den Boden durchdrangen und ihn nicht ganz abrutschen ließen. Dann folgte der harte Steinboden, auf dem es zu meiner Überraschung leichter wurde. Durch die Verwitterung war ein Schichtgestein entstanden, das alle zwanzig, dreißig Zentimeter eine recht bequeme »Stufe« aufwies, auf die ich meinen Fuß setzen konnte. Nur war die Wand extrem steil. Aber immerhin nicht senkrecht. Selbst wenn ich abgleiten würde, gab es noch Chancen, mit heiler Haut davonzukommen.

Was ich allerdings lieber nicht ausprobieren wollte.

Schweiß floss mir in die Augen, meine Beine fingen schon bald an zu zittern. Für einen Städter ist es nicht gerade ein Kinderspiel, die Natur zu bezwingen. Die idiotische MPi, die mir zunächst federleicht vorgekommen war, baumelte inzwischen schwer um meinen Hals. Wegwerfen wollte ich sie aber trotzdem nicht. Obwohl der Rucksack drohte, mir von den Schultern zu rutschen, wagte ich es nicht, stehenzubleiben und ihn festzuzurren. Als die Hälfte des Abstiegs hinter mir lag, machte ich eine Pause, um Luft zu schnappen. Ich blickte nach oben - und wusste sofort, dass ich damit einen Fehler begangen hatte. Der über mir lastende Felsen erschreckte mich viel mehr als der Abgrund unter mir. Zu spät wurde mir klar, dass ich immer irgendwie runter kommen würde, selbst ohne dabei zum Krüppel zu werden. Aber wieder nach oben, das würde ich wohl kaum schaffen.

Der Stein, auf dem ich mich zu lange abgestützt hatte, begann unter meinen Füßen wegzubrechen. Hastig setzte ich meinen Weg fort. Hier machte ich besser keine Pausen mehr.

Zehn, fünfzehn Meter über dem Boden des Cañons wuchs wieder Gras am Hang, das viel frischer grünte als oben, und es gab auch kleine Sträucher. Einerseits bot mir das eine Möglichkeit, mich festzuhalten. Andererseits rutschte ich im Gras aus, und die Büsche rissen mir, obwohl sie keine Dornen hatten, die Hände auf. Was war das wieder für eine Schweinerei? Das Zeug half mir - und gleichzeitig verletzte es mich. Was für ein grausames Gesetz der Natur!

Auf den letzten Metern packte mich der Wunsch, mich von der Felswand zu lösen und den steilen Abhang hinunterzurasen. Wahrscheinlich wäre das sogar gutgegangen, allerdings wäre ich am Ende im Wasser gelandet. Und hier, am Boden des Cañons, war es entsetzlich kalt. Die Sonne schaute nur mittags in dieser Schlucht vorbei.

Mit nach der Anstrengung zitternden Armen und Beinen, blutig gekratzten Händen, einem Hemd, das ich mir an einem hinterhältigen Zweig aufgerissen hatte, und einem schmerzenden Knie - ich war gegen einen Stein gestoßen - erreichte ich schließlich den Fuß des Cañons, einen schmalen, nur zwei Meter breiten Uferstreifen. Rasch schoss das klare Wasser an meinen Füßen vorbei. Ich setzte mich auf einen Felsblock und wusch mir Hände und Gesicht. Danach trank ich mich satt. Das Wasser war eisig. Trotzdem zog ich mich aus, um mich am Ufer stehend zu bespritzen.

Wie gut das tat!

Ich trat etwas vom Wasser weg, setzte mich auf einen runden Stein und wartete, dass mein Körper trocknete. Seit dem Eintritt in diese Welt hatte ich nicht den Wunsch nach einer Zigarette verspürt. Jetzt fand ich in dem Rucksack die vorausschauend dort versteckte Schachtel - genauer: eine halbe Schachtel - und rauchte voller Genuss. Danach zog ich mich wieder an. Und öffnete eine der Rationen.

Ich fand ein fast vollständiges Mittagsmenü vor. Ein Plastikbeutelchen mit verdächtigen Brocken von brauner Farbe, die sich, kaum dass ich Wasser hinzugab, erhitzten und in eine Tomatensuppe verwandelten. Mit einiger Fantasie konnte man das Ganze sogar als Borschtsch bezeichnen. Das Fehlen einer Schüssel machte sich störend bemerkbar, bis ich begriff, dass die arkanischen Soldaten zunächst das in eine Plastikschüssel verpackte Hauptgericht - gefriergetrocknetes Fleisch und ebensolche Kartoffeln - zu essen hatten. Auch dieser Gang erhitzte sich nach der Zugabe von Wasser und gewann Form und Geschmack. Ich schüttete die Suppe in das frei gewordene Gefäß und aß sie. Dann öffnete ich eine Dose, auf der ein Apfel abgebildet war, und trank den sehr dicken und süßen Saft. Das Brot, fest in Plastik eingeschweißt, schmeckte fast wie frisches.

Perfekt. Mich über schlechtes Essen zu beklagen wäre eine Sünde gewesen.

Wohingegen es durchaus sinnvoll war, mir mal den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich als Nächstes tun sollte.

Ich könnte, erstens, versuchen, ein Floß zu bauen. Indem ich die vertrockneten Sträucher zusammenband, am Ufer Holz suchte ... und die Kondome aufblies. Klang ja unglaublich verlockend!

Und ich könnte, zweitens, das Ufer den Strom entlang hinunterwandern. Hier würde ich nicht ganz so gut vorankommen wie in der Steppe, dafür würde mir tagsüber die Hitze nicht zu schaffen machen, und Wasser hätte ich auch stets in der Nähe.

Keine sehr tolle Wahl. Nach dem, was ich von oben gesehen hatte, mündete der Fluss nach rund vierzig Kilometern ins Meer. Welche Strecke würde ich an einem Tag bewältigen? Wenn ich Glück hatte, würde ich die vierzig Kilometer schaffen. Und Meer bedeutete jedenfalls Leben.

Also machte ich mich auf den Weg.

Mit der Beschreibung dieses Tages könnte ich sehr viel Zeit verbringen. Ich könnte berichten, wie ich meinen Weg zurücklegte und immer wieder kleine Pausen machte. Wie ich einen alten Steinsturz überwand, durch den das Wasser sich einen Tunnel gebohrt hatte und wo ich über glitschige, moosbewachsene Felsbrocken klettern musste. Wie ich mich mittags vor der vom Himmel sengenden Sonne versteckte und sogar ein Stündchen schlief. Wie ich einen Ameisenhaufen entdeckte, keinen Waldameisenhaufen, kein Gebilde aus Tannennadeln und Zweigen, sondern eine von winzigen Bauten durchlöcherte Felswand, und gerührt die Insekten beobachtete: die ersten lebenden Wesen, die ich hier traf. Wie ich versuchte zu verstehen, in welche Welt des Multiversums es mich verschlagen hatte. Nach Reservat? Gar nicht so unwahrscheinlich. Schließlich dürfte nicht der ganze Planet mit dichtem Grün bewachsen sein. Janus? Auch nicht ausgeschlossen. Irgendwo an der Grenze zwischen Sommer und Winter, womit ich ziemlich viel Glück gehabt hätte. Unsere Erde? Selbst das wäre denkbar. Nur wir Städter glauben, der ganze Planet sei unwiderruflich durch die Zivilisation zerstört worden. Stattdessen gibt es auf ihm mehr als genug Flecken, mit denen der Mensch nicht das Geringste anzufangen weiß, da sie völlig ungeeignet sind, um sich dort anzusiedeln.

Ich könnte es aber auch kurz und knapp halten: Ich lief den ganzen Tag, überwand einige nicht allzu schreckliche Hindernisse, verfluchte mich für meinen Geiz, der es mir nicht erlaubte, die MPi wegzuschmeißen, ließ in der Abenddämmerung den Cañon hinter mir und erreichte das Meer.

Oder den Ozean?

Ich stand auf einem Felsen, von feinen Wasserspritzern besprenkelt. Links versank die Sonne im Meer. Vor mir zogen die Wolken über das Meer dahin. Direkt unter mir stürzte sich aus hundert Metern Höhe ein Wasserfall ins Meer.

Der Cañon fiel zum Meer hin nicht ab. Der Cañon erhob sich als senkrechte Felswand am Meeresufer. Und ich stand wie der letzte Idiot vor diesem Abgrund.

Hinauf - das bedeutete fünfzig Meter steiler, fast senkrechter Felsen. Hinunter - hundert Meter absolut steiler Felsen.

Wohin sollte ich jetzt?

Lange blieb ich wie angewurzelt stehen und schaute nach oben. Würde ich es schaffen, diesen Hang zu erklimmen? Hmm ... angesichts des Sedimentgesteins ... wohl schon. Natürlich nicht jetzt, sondern morgen früh, wenn es hell war.

Aber was würde mir das nützen? Ich würde mich auf einem Felsplateau hoch über dem Meer befinden.

Und nach unten?

Auf allen vieren kroch ich an den Rand der Felswand. Sie war mit Moos bewachsen und glitschig. Unmittelbar am Abgrund legte ich mich auf den Bauch und spähte hinab.

Nein, das war unmöglich. Nach unten würde ich es auf gar keinen Fall schaffen. Wenn ich ein sehr, sehr langes Seil hätte, könnte ich es irgendwo befestigen und mich langsam parallel zum Wasserfall herunterlassen. Aber ein Seil gehörte nicht zur Ausrüstung der arkanischen Soldaten, nur eine Rolle mit Faden ...

Mit einem Faden und ohne Nadel.

Wozu eigentlich?

Ich kroch vom Rand weg, holte die Rolle heraus und spulte ein wenig von dem Faden ab. Ich begutachtete ihn genau. Keine Baumwolle und keine Seide, irgendein synthetisches Material ... Ich zerrte an dem Faden. Er riss nicht.

Nachdem ich eine große Schlinge geknüpft hatte, warf ich sie über einen Felsvorsprung und wickelte den Faden dann wieder auf die Spule, bis er sich stramm spannte. Danach zog ich die Beine an - und baumelte an dem feinen, weißen Faden. Ich schaukelte und stieß mich mit den Füßen vom Felsen ab.

Der Faden riss nicht.

Aha!

Jetzt war mir die Bestimmung des Fadens klar. Damit ließ sich ein Gefangener fesseln, den konnte man als Seil benutzen ... Nahm ich jedenfalls an.

Aber wie sollte ich mich an einem solch dünnen Faden herunterlassen, selbst wenn er stabiler als ein Kletterseil war? Er würde meine Hände in wenigen Sekunden völlig aufreißen. Wenn ich aber meine Hände mit irgendwas umwickelte, dann könnte ich den Faden nicht mehr richtig packen. Also bräuchte ich eine Art Umlenkrolle.

Was benutzten Alpinisten und Kletterer?

In meinem Gedächtnis ertönte plötzlich mit absoluter Klarheit der Ausdruck »Flaschenzug mit Steigklemmen«. Bedauerlicherweise begleitete ihn keine erklärende Skizze.

Trotzdem gab mir das Hoffnung! Ich stand vor einer Wahl, wenn sich meine Fähigkeiten melden!

Was stand mir zur Verfügung? Ein Flaschenzug mit Sicherheit nicht. Mir war vage in Erinnerung - und zwar nicht aus meinem Funktionalswissen, sondern aus meinem Physik- oder aus einem Sachbuch -, dass ein Flaschenzug ein System von Umlenkrollen ist, das wahrscheinlich schon die alten Griechen kannten. Mit den Hilfsmitteln, die mir zur Verfügung standen, würde ich so ein Ding allerdings garantiert nicht konstruieren können. Und die Steigklemme war mir ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln. Das musste etwas völlig Spezifisches sein. Eine Bergsteigerausrüstung konnte jedoch nicht nur aus komplizierten Geräten bestehen. Da musste es noch etwas anderes geben. Etwas Einfaches. Und je einfacher, desto besser.

Ich zwirbelte den Faden zwischen den Fingern. Ich brauchte einen festen Metallgegenstand, durch den ich ihn ziehen konnte. Irgendeinen Ring. An dem würde ich mich dann festhalten und mich ... Nein, das war auch noch nicht die Lösung. Der Faden müsste so geführt werden, dass die Reibung meinen Fall abbremste. Ein Ring, das war zu einfach.

Aber zwei Ringe? Zwei Ringe, zwei Enden, ein Nagel in der Mitte, hier ist die Schere, bitte! Also, ein Nagel in der Mitte war nicht nötig, eher etwas wie eine Acht, durch die ich den Faden ziehen konnte.

Ich betrachtete das Gewehr von allen Seiten. Aber klar, da war ein Ring, nämlich der Bügel, der um dem Abzug lag. Was konnte als zweiter Ring herhalten? Vielleicht das runde Visier?

Wenn ich den Faden erst durch den einen Ring führte, dann durch den anderen, konnte ich mich bequem an Lauf und Kolben festhalten. Was passierte dann aber mit dem Faden?

Ich fädelte den Faden entsprechend durch die Ringe und führte an demselben Vorsprung ein Experiment durch, wobei ich vorsichtshalber das Magazin herausnahm und prüfte, ob die Waffe gesichert war. Der Faden lief absolut sicher über die Waffe. Mich an Lauf und Kolben festhaltend, baumelte ich in der Luft. Ziemlich bequem sogar. Aber nach unten kam ich auf diese Weise immer noch nicht.

Und wenn ich die MPi etwas zur Seite kippte? Um die Reibung zu vermindern?

Langsam glitt das Gewehr über den Faden. Im nächsten Moment stießen meine Knie auf dem Felsen auf.

Ein Zittern erfasste mich, als mir klar wurde, dass der Abstieg möglich war. Theoretisch.

Wenn nämlich der Faden auf der Rolle reichte. Wenn der Knoten sich nicht löste und der Felsbrocken nicht abbröckelte. Wenn der Faden nicht riss. Wenn mir das Gewehr nicht entglitt, wenn sich der Faden nicht beim Runterwerfen verhedderte. Wenn ... wenn ... wenn...

Über Nacht würde ich einen ganzen Sack mit diesen Wenns füllen. Und nicht mal mehr an den Abstieg zu denken wagen.

Bis die Nacht hereinbrach, blieb mir noch eine Stunde.

Also handelte ich - um nicht zu grübeln.

Ich führte den Faden noch einmal durch die »Ringe« am Gewehr. Das freie Ende befestigte ich an einem Felsvorsprung, der mir besonders geeignet erschien, denn an seiner Unterseite verlief eine dünne Wasserrinne, sodass der Faden nicht wegrutschen würde.

Danach trat ich an den Rand des Abgrunds, holte weit aus und warf die Rolle nach unten. Eine Zeit lang verfolgte ich ihren Fall, dann entschwand sie meinem Blickfeld.

Blieb zu hoffen, dass sie sich bis zum Ende abgespult hatte.

Blieb zu hoffen, dass der Faden reichte.

Ich packte die MPi und ließ sie den Faden entlanggleiten. Dabei kroch ich zum Rand der Felswand. Dort ließ ich die Beine baumeln. Das Herz hämmerte mir wild in der Brust.

Himmel hilf, was tat ich da? Ich war verrückt, hundertprozentig verrückt, ein durchgeknallter Kamikaze, ein Selbstmörder, Masochist und Idiot, reif für den Darwin Award...

Ich holte tief Luft und robbte noch ein paar Zentimeter über den Felsen. Dann noch ein paar. Und noch ein paar.

Das war’s. Jetzt hing mein Gewicht an einem Faden. Gut, ein klein wenig lastete auch noch auf dem Felsen, gegen den ich mich stemmte. Die Wasserspritzer bildeten Wolken in der Luft.

Ich musste runter ...

Ich kippte das Gewehr, wobei ich aufpasste, dass der Faden meine Finger nicht berührte. Gleichmäßig glitt ich nach unten.

Die ersten zehn Meter ließen sich dermaßen gut an, dass sogar ein Teil der Anspannung von mir wich. Meine improvisierte Umlenkrolle - keine Ahnung, wie echte Alpinisten das Ding nennen! - glitt tadellos und langsam den Faden hinunter. Wie eine Spinne, die sich in ihrem Netz bewegt, seilte ich mich neben der Wasserwand ab, diesem Kaleidoskop aus Tropfen.

Irgendwann gewann ich Fahrt. Nein, es war alles noch wie bisher, nur lief der Faden mit einem Mal nicht mehr so stramm durch meine Konstruktion. Ich stellte die MPi senkrecht, in der Hoffnung, ich würde anhalten. Nein. Der Fall verlangsamte sich, nahm wieder ein akzeptables Tempo an, aber die Bewegung kam nicht zum Stillstand.

Das Wasser! Daran hatte ich nicht gedacht! Der Faden war feucht geworden, und der Reibungswiderstand, bei einem so dünnen Faden ohnehin nicht sehr hoch, fiel ganz weg. Mich rettete nur, dass sich der Faden noch am Lauf der MPi rieb.

Ich versuchte, mit den Füßen am Fels das Herabgleiten abzubremsen, aber das führte nur zu heftigen Rucken, die mich um die Stabilität des Fadens fürchten ließen. Die statische Belastung hatte er ausgehalten. Aber ob er auch die Stöße verkraftete?

Ich konnte nur noch darauf hoffen, dass der Abstieg, der immer mehr einem Sturz gleichkam, sich nicht auf ein mörderisches Tempo hochschraubte.

Die letzten Meter legte ich absolut rasant zurück, meine Arme wurden immer schwerer, meine Finger ließen sich kaum noch bewegen. Vom gegen den Felsen brandenden Meer trennte mich nicht mehr viel. Zehn Meter vielleicht. Gut, fünfzehn.

In dem Moment erblickte ich die unter mir baumelnde Rolle. Hatte der Faden also doch nicht gereicht.

Das Gewehr hielt ich fest gepackt. Mit vollem Schwung sauste ich runter, bis der Ring des Visiers auf die Rolle prallte. Der Faden sirrte kurz, riss, und ich stürzte strudelnd in die Tiefe, stieß mich im allerletzten Moment von der Felswand ab.

Der Himmel, die Felsen, der Wasserfall - alles wirbelte in einem teuflischen Karussell um mich herum. Ich glaube, ich vollführte drei komplette Salti, bevor ich rein zufällig in allerschönster strammer Haltung im Wasser landete. Wäre eine Sportjury in der Nähe gewesen, hätte ich bestimmt keine schlechten Noten bekommen. Wobei: Der verzweifelte Schrei, den ich während des ganzen Flugs ausstieß, das selbstständig durch die Luft fliegende Gewehr und der mir beim Aufprall aufs Wasser vom linken Fuß gerissene Schuh hätten mir garantiert ein paar Strafpunkte eingebracht.

Ich tauchte sehr tief unter. Der tosende Wasserfall drückte mich zusätzlich nach unten. Ich musste mich förmlich zwingen, die Augen zu öffnen, doch zum Glück war das Wasser nicht allzu salzig. Daraufhin schwamm ich, mich am Licht orientierend, nach oben. Meine Ohren schmerzten, und ich brauchte dringend Luft, denn beim Eintauchen hatte ich gerade ausgeatmet. Tapfer bezwang ich das Erstickungsgefühl, während ich mich nach oben arbeitete. Das durfte einfach nicht das Ende sein. Was hätte das denn sonst alles gebracht? Mein Aufstand, die Jagd, die Eiswüste auf Janus, der unglaubliche Abstieg ...

Ich ließ mich von diesem Gedanken förmlich hochtragen: Das darf nicht das Ende sein. Andererseits machte ich mir auch nichts vor. Milliarden von Menschen hatten diesen Gedanken schon gehabt - bevor ihr Ende eintrat.

Aber ich schaffte es.

Ich öffnete den Mund und stieß eine würdige Fortsetzung des Schreis aus, mit dem ich in die Tiefe gestürzt war. Ich hämmerte mit den Händen aufs Wasser und atmete gierig ein. Ich fluchte, was das Zeug hielt. Schließlich schwamm ich von dem donnernden Wasserfall weg.

Als mir klar wurde, dass mir nur ein Schuh geblieben war, zog ich auch den zweiten aus und warf ihn weg. Genau in dem Moment bemerkte ich den ersten, der auf dem Wasser trieb, doch da war es schon zu spät, das rechte Pendant war aus unerfindlichen Gründen wie ein Stein zu Boden gesunken.

Auf den ersten Blick kam es mir so vor, als wüchsen die senkrechten Felsen direkt aus dem Meer heraus. Dann erspähte ich jedoch einen schmalen Uferstreifen, den in der Vergangenheit vom Felsen abgebröckelte Steine geschaffen hatten. Ich schwamm darauf zu, kroch auf die Steine und erstarrte in der Pose einer gewissen dänischen Seejungfrau, zog die Beine unter den nicht vorhanden Fischschwanz und versuchte, zu Atem zu kommen.

Ich hatte es geschafft! Entgegen allen Erwartungen hatte ich es geschafft!

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