Jeder kennt die alte Weisheit: Kratze an einem Russen - und du entdeckst einen Tataren. Ausländer stellt dieser Satz immer wieder vor ein Rätsel. Was genau ist damit eigentlich gemeint? Dass die Russen extrem schmutzige Tataren sind? Oder schwingt da eine allegorische Bedeutung mit? Und wenn ja, welche?
Die Russen selbst - und auch die Tataren - vertraten schon immer die Ansicht, diese Formulierung unterstreiche, wie stark in Russland die Sprachen und Völker miteinander vermischt seien. Es stecke also nichts Abfälliges in diesem Satz, im Gegenteil, man könne stolz auf dieses Beispiel eines solcherart sprichwörtlichen Internationalismus sein.
In Wahrheit aber haben als Erste ausländische Gäste Russlands vom Ankratzen der Russen gesprochen, und zwar in einem Sinne, der sowohl für Russen als auch für Tataren äußerst kränkend ist: Unter dem dünnen Überzug der Zivilisation sind Wilde verborgen.
Glücklicherweise verstanden die für den feinen europäischen Sarkasmus unzureichend zivilisierten Russen und Tataren die Anspielung jedoch nicht. Lächelnd fingen sie an, den Satz zu wiederholen - was die Welt endgültig von ihrer Heimtücke überzeugte.
Im Moment befand ich mich jedoch in einer seltsamen Version Russlands, in der dieser Satz seine volle Existenzberechtigung hatte. In einem moslemischen Russland!
Sofort schalt ich mich innerlich selbst, denn das Wort »Russland« war hier gänzlich fehl am Platze. Das hier war nicht Russland. Und auch nicht England, Deutschland, die USA, China ... Dies war eine Welt von Stadtstaaten, von winzigen Territorien, die sich niemals zu einem einzigen Imperium zusammengeschlossen hatten. Irgendwie hatten die Funktionale diese Welt im Stadium des Feudalismus halten können, in jenen Zeiten, da Bekenntnisse wie »Wir sind Pskower« oder »Ich bin Kasaner« viel mehr besagten als »Ich bin Russe« oder »Ich bin Tatar«. All diese Völker waren durch Europa und Asien gezogen. Sie hatten sich fröhlich miteinander gepaart. Sie hatten gegeneinander gekämpft, sich vernichtet und sich aneinander angepasst. Sie hatten ihren Glauben und ihre Namen gewechselt ... Nur wenige wissen, dass zum Beispiel die Vorfahren der Tschetschenen Christen waren, die Tataren überhaupt keine Tataren, sondern Bulgaren sind, die ihren Namen von einem Stamm der Tataren übernommen haben, die noch unter Dschinghis Khan von den Mongolen ausgerottet worden waren. Die Geschichte ist eine unbeständige und flatterhafte Dame, wenn auch ihr Humor in erster Linie schwarz ist.
Insofern konnte ich meine erste und allzu griffige Assoziation - »Ich bin in ein Russland geraten, in dem Islamisten an der Macht sind« - getrost vergessen. Ich war einfach in der Stadt Oryssultan gelandet, die in einer Welt namens Veros an der Stelle von Moskau lag. An der Stelle von Stockholm lag hier Kimgim, an der Stelle von Kiew irgendein Ababagalamaga, an der Stelle von Paris etwas wie Dyr-Bul-Schtschyl. (Vermutlich hatte nur die polnische Stadt Szczecin, deren Schreibung jedes Volk mit Lateinschrift in Panik versetzt, ihren Namen beibehalten.)
Russen gab es hier nicht und hatte es nie gegeben. Genau wie Deutsche. Oder Tungusen, Korjaken, Tataren und Baschkiren. Das hier war eine andere Welt - die unserer teilweise ähnelte.
Mit dieser sicheren Überzeugung verließ ich die Zollstelle Nikolai Zebrikows. Als ich mich nach ihr umdrehte, schnaubte ich.
Von der Oryssultaner Seite sah sie aus wie ... wie ein Grabmal?
Ein Mausoleum?
Ja, am ehesten wohl wie ein Mausoleum. Nicht wie das kommunistische mit der Mumie Lenins, das sich am Roten Platz befindet, sondern wie ein typisches orientalisches Mausoleum. Ein hoher gewölbter Eingang, in dem sich eine kleine Tür aus geschnitztem Holz versteckt, eine Kuppel über einem kleinen, nur drei mal drei Meter großen Bau aus weißem Stein.
»Gute Güte«, murmelte ich. »Ich bin ja ... auf einem Friedhof!«
Damit gewannen die geheimnisvollen Bauten um mich herum sofort einen Sinn. Es waren Mausoleen. Grabstätten. Ein orientalischer Friedhof. Was sollte es auch sonst für einer sein in einer Stadt wie dieser?
Aber dieser Zebrikow war schon ein bemerkenswerter Mann, wenn seine Zollstelle auf einem Friedhof »gewachsen« war ...
Ich ging an den Mausoleen entlang und betrachtete die Inschriften über den Türen. Und sonderbar: Sie waren auf Russisch. Sogar russische Namen fanden sich häufig:
»Wassili, Pjotrs Sohn, ist hier bestattet. Möge die Gnade Allahs ihm freigiebig zuteil werden. Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Erbarmers. Jede Seele schmeckt den Tod, danach kehrt ihr zu uns zurück!«
Oder diese:
»He, Jünger des wahren Glaubens! Haltet zusammen! Dann erwartet euch Wohlergehen! Iskander, der Sohn Rawils, ruht hier.«
Einige Grabinschriften stellten mich vor ein Rätsel und brachten mir einmal mehr in Erinnerung, dass ich mich nicht auf der Erde befand. »Es gibt keinen Tengri außer Allah. Mohammed ist sein Sendbote!«
Die meisten Texte umgab reiche Schnitzerei in Form von Blumen oder geometrischen Motiven. Photographien gab es keine, aber das ist in unserer Welt bei Moslems auch nicht üblich.
Häufig erinnerten die Grabinschriften an philosophische oder religiöse Sprüche. »Nur mit Gottes Hilfe kann man dem Bösen entsagen und ein aufrechter Mensch werden! Nehmt mich Verachtungswürdigen als Beispiel und urteilt!«
Irgendwann stieß ich auf ein kleines Mausoleum (die Tür schien nur pro forma zu existieren), dessen Inschrift mich zusammenfahren ließ: »Im Paradiese bin ich. Eine Huri liebkost mich. Doch bin ich untröstlich und weine, denn sie ist mir keine Mutter, keine Mutter ist sie mir. Ein Engel kommt zu mir, gibt mir Spielzeug. Doch bin ich untröstlich und weine: Er ist mir kein Vater, das weiß ich.«
Alle Exotik, alles Seltsame und Fremde dieser Welt verlor unversehens seine Bedeutung. Ich stand vor einem Kindergrab, und woran auch immer die Eltern dieses Kindes geglaubt haben mochten - an Christus, Allah, Tengri oder an Darwins Evolutionstheorie -, ihr Schmerz war der altbekannte, der echte.
Ich erzitterte - und daran trug der Wind keine Schuld. Die Arme um die Schultern geschlungen, blieb ich eine Weile stehen und betrachtete das fremde Grab in dieser fremden Welt.
Nur dass diese fremde Welt aufgehört hatte, eine fremde zu sein. Aus einer glänzenden Ansichtskarte, aus einem Experiment der arkanischen Forscher, hatte sie sich in ein lebendiges Universum verwandelt - weil nur in einem lebendigen Universum Menschen sterben.
»Du brauchst nicht zu weinen«, flüsterte ich dem fremden Grab halblaut zu, dann ging ich leise weiter die steinernen Wege zwischen den Mausoleen entlang, achtete jedoch nicht mehr auf die Inschriften.
Ob Funktionale Kinder haben?
Plötzlich dachte ich ernsthaft über die Frage nach. Zahlen sie für ihre Fähigkeiten wirklich nur mit der eingeschränkten Bewegungsfreiheit? Mit ihrer Leine? Der Mensch findet sich im Grunde ja schnell mit seiner Unfreiheit ab, kann ihr sogar Vorteile abgewinnen, siehe den Dekabristen Nikolenka. Aber um seiner Liebsten willen, seiner Kinder willen, sind die Menschen imstande, jede Kette zu zerreißen und den sicheren Tod auf sich zu nehmen.
Sex war für die meisten Funktionale die liebste Unterhaltung.
Aber eine Familie hatten sie in der Regel nicht ...
Bereits am Ausgang des Friedhofs mit der mannshohen Umfriedung traf ich die ersten Bewohner Oryssultans. Zwei in die Jahre gekommene Männer, die wirklich ein wenig wie Tataren wirkten. Ihre Kleidung wies allerdings keinerlei ethnische Nuance auf: Schnürschuhe, Hosen, Mantel ...
Wir nickten uns kurz zu und gingen aneinander vorbei, ohne ein Wort zu wechseln.
Was wollte ich mehr? Die erste Prüfung war bestanden, mein Äußeres hatte die Einheimischen nicht in Erstaunen versetzt.
Der Tempel des Propheten Isa, der bei jedem Moskauer Geistlichen zornigen Protest ausgelöst hätte, kam einer Karikatur der Christus-Erlöser-Kirche gleich. Obwohl es direkte Beziehungen vermutlich nie gegeben hatte - die Geschichte unserer Welten unterschied sich zu stark voneinander, die Weggabelung musste tief im Dunkel der Jahrhunderte liegen. Zudem stand der Tempel an einem ganz anderen Platz, in der Nähe unserer Majakowski-Straße, natürlich nur, falls der Kreml hier an der gleichen Stelle lag wie bei uns. Im Grunde erwies er sich auch nur auf den ersten Blick als ähnlich. Die Kuppel stimmte weitgehend, das ja. Allerdings gab es zwei Minarette, die direkt aus ihr herauswuchsen, und mit blauen Kacheln verkleidete Pylone, wohingegen Kreuze fehlten. Dafür gab es jedoch reich geschmückte Zierschrift (erst hier begegnete mir übrigens die verschnörkelte arabische Schrift).
Die Stadt Oryssultan - oder auch Orysaltan - machte mich einigermaßen konfus. Kimgim wirkte zwar verspielt und verwunschen, dabei aber unzweifelhaft europäisch. Wie eine deutsche Stadt aus der Zeit E. T. A. Hofmanns oder eine englische aus der Zeit von Charles Dickens. Von Kimgim ging etwas Vertrautes und Angenehmes aus, das man aus Büchern oder Filmen kennt. Oryssultan hing dagegen völlig in der Luft. Es erinnerte weder an die laute und chaotische Türkei, wie ich unbewusst befürchtet hatte, noch an exotischere Varianten wie Ägypten oder die Vereinigten Emirate.
Einen Kreml gab es tatsächlich. Die Türme bekrönte jedoch kein Stern oder Adler, sondern ein goldenes Dreieck. Ehrlich gesagt hätte ich mich über den arabischen Halbmond oder den jüdischen Davidstern mehr gefreut - denn das hätte ich einzuordnen gewusst. Aber ein Dreieck? Sollte das eine Freimaurerpyramide sein? Bloß auf den Kopf gestellt? Das Symbol der Dreieinigkeit? Mit dem gleichen Recht könnte ich dann allerdings darin eine Aufforderung sehen, sich zu dritt zusammenzuschließen, um eine Flasche Wodka zu köpfen.
Ein Kopfsteinpflaster gab es nur in zwei Gassen, durch die ich kam, und selbst dort war es eindeutig jüngeren Datums. Die Straßen selbst erweckten den Eindruck, auf Touristen eingestellt zu sein, mit den zahllosen Geschäften, in denen Helme und Säbel als Souvenirs verkauft wurden, Räucherstäbchen, Wasserpfeifen, Bastschuhe, verschiedenfarbige Kerzen, aus Birkenrinde geschnitzte Vögel, Tuler Honigkuchen, Kuckucksuhren (in denen jedoch kein Kuckuck, sondern eine pechschwarze Holzkrähe hauste) und große, grob bemalte Lithographien. Ein Verbot, Menschen darzustellen, existierte also entweder nicht oder wurde nur von den Gläubigen beachtet: Ich kam an zwei Gemäldegalerien und einer Teppichhandlung vorbei, in denen es reißerisch hieß: »Das schönste Geschenk für Ihre Liebste: ihr Bildnis auf einem Teppich!«
Die Überzeugung des Teppichhändlers vermochte ich nicht uneingeschränkt zu teilen, schließlich webte man in meiner Welt - wenn überhaupt - nur die Porträts von Präsidenten und Diktatoren in Teppiche ein. Aber der im Schaufenster ausgestellte kleine Teppich mit dem eingearbeiteten Gesicht einer rotblonden, sommersprossigen Frau sprach in der Tat an. Er wirkte weder angeberisch noch billig.
Es gab auch etliche Restaurants und Cafés. In einem winzigen Imbiss - es standen zwei Tische drinnen und zwei auf der Straße - bestellte ich eine Schale Tee und zwei große, dampfende Fleischpiroggen. Ich setzte mich nach draußen, neben dem Eingang stand ein Heizpilz, angeschlossen an eine Gaskartusche. Der katalytische Brenner atmete zischend durch sein Gitter Wärme aus, brachte damit die vereinzelten Schneeflocken zum Schmelzen und trocknete das Steinpflaster der Straße.
Die Piroggen waren lecker und saftig, mit mehr Fleisch als Zwiebeln. Auch der starke Tee schmeckte, selbst wenn man, ohne mich vorher zu fragen, unnötigerweise zwei Löffel Zucker hinzugegeben hatte.
Letzten Endes herrscht der Magen doch maßgeblich über den Kopf. Mit einem Mal stellte sich mir Oryssultan überraschend sympathisch dar. Alles in allem war Veros doch eine wunderbare Welt! Sprach nicht tatsächlich einiges dafür, die Entwicklung der Zivilisation im 19. Jahrhundert anzuhalten? Gut, vielleicht nicht ganz zu stoppen, aber zumindest abzubremsen, damit der technische Fortschritt den moralischen nicht abhängte?
Ich spazierte am Tempel des Propheten Isa entlang, bis ich auf den Haupteingang traf. Wenn ich mich mit dem Rücken zum Gotteshaus stellte, lag die breite Straße vor mir, über die recht viele Kutschen fuhren, angefangen von kleinen zweirädrigen bis hin zu großen Phaetonen. Schlitten gab es hier übrigens gar keine. Die zahllosen Hauswarte ließen diesen Transportmitteln anscheinend nicht die geringste Chance.
Schön, schön. Aber wo sollte ich hier »zehn, elf Uhr« suchen? Wo fand ich dieses Türmchen mit der Uhr, dem Vogel und dem Laden?
Ich musste nicht lange suchen. Schlagartig begriff ich, was Zebrikow mit seiner Formulierung gemeint hatte. Dafür reichte ein Blick auf den Turm über einem Uhrengeschäft. Er hatte nicht an einen frei stehenden Turm, sondern an einen Dachturm gedacht.
Der Alte hatte sich in Wortspielen versucht.
Zum einen hatte er fraglos die Richtung im Sinn gehabt. Schaue in Richtung zehn Uhr hieß nichts anderes als: Schau nach vorn und ein wenig nach links. Zum anderen gab es dort tatsächlich an die zehn große Uhren, die entweder lange nicht gestellt worden waren oder die Zeit in verschiedenen Städten anzeigten. Das kleine einstöckige Haus hatte im ersten Stock überhaupt kein Fenster - nur Zifferblätter.
Die größte Uhr befand sich jedoch in dem kleinen Turm überm Dach. Das Zifferblatt hatte einen Durchmesser von mindestens anderthalb Metern. Genau in dem Moment sprang aus der Holzluke eine Krähe heraus und krächzte: »Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah! Krah!«
Ich zuckte mit den Achseln.
Jeder verliert auf seine eigene Weise den Verstand. Zebrikow chattete mit der Begeisterung eines Neubekehrten durchs Netz. Ein anderer züchtet Fische, ein dritter unterhält einen Uhrenladen.
Die Funktion war eine Sache - das Hobby eine andere.
Aber warum ersetzten hier Krähen die Kuckucke?
Ich wartete, bis sich der Strom von Kutschen lichtete, und überquerte die Straße. Ampeln oder Zebrastreifen gab es nicht, allerdings erlaubte der Verkehr diese Nonchalance durchaus.
Die Tür in den kleinen Laden war nicht verschlossen. Als ich sie öffnete, klimperte ein Glöckchen. Der Inhaber selbst war auch vor Ort, er stand hinterm Ladentisch, ein freundlich lächelnder, dicker Brillenträger, der durch und durch europäisch aussah. Er trug einen bunten Hausmantel, weiße Ornamente auf grünem Untergrund, was seinem Äußeren eine Note exzeptioneller Komik verlieh.
»Andrjuscha?«, sprach ich ihn an.
»Assalam aleikum, mein Guter.« Der Dicke trat hinter dem Ladentisch hervor, ergriff mit beiden Händen meine Rechte und schüttelte sie. Seine Beine waren von weiten, dunkelgrünen Pumphosen umhülltt, seine Füße steckten in weichen Lederschuhen. »Sei Gast in meinem bescheidenen Laden, Unbekannter. Nicht alle ... nicht alle bemerken ihn, geblendet wie sie sind von der Größe des Tempels des Propheten Isa ... den Moslems sei ihre unzutreffende Einschätzung seiner Rolle in der Geschichte verziehen!«
Um den Hals des Zöllners (und ich spürte deutlich, dass vor mir ein Funktional stand) hing eine Kette. Als Andrjuscha meinem Blick folgte, öffnete er den Kragen des Mantels und zeigte mir ein Kreuz.
»Ich hänge dem Wahren Glauben an«, verkündete er stolz. »Nein, ich bin kein Extremist, das versteht sich von selbst! Das Christentum ist seinem Wesen nach eine friedliebende Religion, die zu Liebe und geistiger Vervollkommnung anhält. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert - das ist ein sinnbildliches Zitat, das auf keinen Fall ...«
»Ich bin ebenfalls ... sozusagen Christ«, murmelte ich. »Orthodox ...«
»Ach! Sei gegrüßt, mein Bruder! Verzeih mir, mein Bruder! Ich bin daran gewöhnt, mit Moslems zu streiten, die die Christen stets der Aggressivität bezichtigen, selbst die intelligentesten unter ihnen ... Womit kann ich Euch dienen, Freude meiner Augen?«
»Warum sitzen in den Uhren keine Kuckucke?«, wollte ich wissen.
»Hmm ...« Andrjuscha kniff die Augen zusammen. »Andrjuscha, der Kuckuck, orthodox ... Verstehe. Du bist aus Moskau? Stimmt’s? Kostja schickt dich?«
Ich nickte.
»Was hat Kostja noch mal für einen Spitznamen?«
»Kotja.«
»Und was lässt er mir übermitteln, o Freund meines Freundes?«
»Einen Brief«, erklärte ich und kam mir wie der letzte Idiot vor. Ich hatte den Brief nun doch nicht gelesen, hatte mich geniert.
Rasch überflog Andrjuscha den Brief. Derweil sah ich mich um. Der Laden war nicht sehr groß, der Ladentisch teilte ihn in der Mitte. An der Eingangsseite lagen die Tür und ein Fenster, standen ein paar abgeriebene Sessel. Hinter dem Ladentisch führte eine weitere Tür ins Innere des Hauses, und die gesamte Wand war mit Uhren behangen.
»Also die Kuckucke ...«, murmelte Andrjuscha, während er noch las. »Wir haben hier keine Kuckucke, mein Teurer. Die hat der Herrgott nicht erschaffen. Möglicherweise gibt es ja tatsächlich einen solch niederträchtigen Vogel, der seine Eier in fremde Nester legt, aber dann schreit er nicht ›Kuckuck‹ und sitzt nicht in Uhren. Die Krähe jedoch ... die Krähe ist ein kluger Vogel, pfiffig, mit Sinn für Humor, mit Sinn für das richtige Maß, ein Vogel, der um seine Verantwortung gegenüber dem Schwarm weiß. Das ist ein würdiger Vogel! Und sein Schrei ist durchdringend und weithin hörbar!«
Er faltete den Brief zusammen und legte ihn irgendwo unterm Ladentisch ab. Dann betrachtete er mich mit einem völlig veränderten, ernsten Blick. »Wie heißt du, unerwarteter Gast?«
»Kirill.«
»Sehr angenehm. Ich bin Andrej. Gute Freunde aus Moskau nennen mich Andrjuscha, aber wenn ich ehrlich sein soll, ist das in unserer Welt nicht üblich. Aber es gibt da einen Spaßvogel ... der spricht aus unerfindlichen Gründen alle Zöllner mit Koseformen an.«
Ich wurde knallrot. Nikolenka, Andrjuscha - natürlich. Kotja bevorzugte ja sogar für sich selbst einen von der Koseform abgeleiteten Spitznamen, ein Prinzip, das er ausnahmslos auf seine Umwelt übertrug.
»Sehr angenehm, Andrej.«
Wir reichten uns noch einmal die Hände.
»Wir haben keine Kuckucke«, wiederholte Andrej. »Und keine Strauße. Auch einige Fisch-, Insekten- oder Säugetierarten gibt es hier nicht. Dafür Riesenkraken im Meer, Dinosaurier in Afrika ...«
»Dinosaurier?«, rief ich voller Begeisterung aus.
»Sicher. Zwei Dutzend Arten, glaube ich. In der Regel kleine, von den großen ist nur der Tyrannosaurus vertreten. Aber er steht auf der Roten Liste, von ihm gibt es nur noch rund fünfzig Exemplare ...« Andrej verstummte, bevor er verwundert fortfuhr: »Warum begeistern sich bloß alle Demosier für die Saurier?«
»Wer?«
»Die Menschen aus deiner Welt, Sohn der Naivität! Aus der Welt, in der Moskau liegt. Ihr nennt unsere Welt Veros, wir eure Demos.«
»Warum das?«
»Bei euch gibt es überall Demokratie, so eine altertümliche Gesellschaftsform.«
»Sie ist nicht altertümlich!«, begehrte ich auf. »Und ihr habt hier doch Feudalismus, oder?«
»Haben wir«, bestätigte Andrej. »Die fortschrittlichere Gesellschaftsform. Die Demokratie hatten wir im Altertum.«
»Wir auch, in Athen«, glänzte ich mit meinen Kenntnissen. »Im alten Griechenland.«
»Ich kenne eure Geschichte«, unterrichtete mich der Uhrenhändler. »Hör zu! Die Demokratie ist eine altertümliche Form der politischen Machtausübung, untrennbar verknüpft mit Sklavenhalterei und mit der rechtlichen Gleichstellung eines Weisen und eines Toren, eines Nichtsnutzes und eines Meisters, eines erfahrenen Alten und eines grünen Jungen. Was soll an einer solchen Gleichmacherei gut sein?«
»Und wie ist es bei euch?«
»Wir haben ein progressives Referendumssystem. Jeder Bürger verfügt in Abhängigkeit von der Summe auf seinem Konto bei der Stadtbank über einen Bedeutungskoeffizienten, der das Gewicht seiner Stimme bei den Referenden zu den wesentlichen Fragen festlegt.«
»Was soll an einem solchen System fair sein?«, ereiferte ich mich. »Wer reicher ist, hat ...«
»Eben nicht!« Andrej drohte mir mit dem Finger. »Pass auf. Das Geld muss in der Stadtbank liegen. Auf diese Weise arbeitet es für das Wohl der Stadt und der Gesellschaft. Wenn du es privat für dich arbeiten lässt oder in den Sparstrumpf steckst, dann denkst du nicht an deine Mitmenschen - und hast einen entsprechend niedrigen Bedeutungskoeffizienten. Das zum einen. Die Referenden finden sonnabends am frühen Morgen statt. Wenn du da hingehst, verzichtest du auf deinen Schlaf, was abermals dein Verantwortungsbewusstsein unterstreicht, dein persönliches Interesse an der Frage, die es zu entscheiden gilt. Das zum anderen. Wenn du nicht in der Lage bist, genügend Geld zu verdienen, bist du entweder noch sehr jung und hast keine Lebenserfahrung oder du hast dir den falschen Beruf gesucht, und dann bist du entweder dumm oder lebst völlig an der Realität vorbei. In dem Fall musst du dich fragen lassen: Welchen Grund gäbe es, dir die Entscheidung wichtiger Fragen anzuvertrauen?«
Ich machte eine abwehrende Geste. »Schon gut, ich bin ja überzeugt. Das ist sehr progressiv und originell. Ein Bankier bringt sein ganzes Geld auf die Bank - und entscheidet für alle.«
»Wieso das? Vergiss den Koeffizienten nicht! Ein Mensch, eine Stimme. Diese Größe wird entweder mit null multipliziert, wenn du kein Geld auf der Bank hast, oder mit einer Ziffer, die logarithmisch von null nach eins strebt. Aber mehr als eins wirst du nie erreichen. Die Stimmen von zwei normalen, durchschnittlichen Händlern wiegen mehr als die Stimme des reichsten Bankiers.«
»Überzeugt mich trotzdem nicht«, widersprach ich. »Wenn man das Stimmrecht kaufen kann ...«
»Ach, mein argloser Bruder! Werden bei euch die Stimmen etwa nicht gekauft?« Andrej brach in Gelächter aus. »Und du kannst ja noch froh sein, wenn du Geld dafür bekommst. Normalerweise werdet ihr ja mit Versprechen abgespeist ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Halt. Auf diesen Streit lasse ich mich nicht ein. Ehrlich gesagt, ist mir doch egal, ob es nun eine Demokratie ist, Feudalismus ...«
»Und weil euch alles egal ist, kommt euer Leben nicht ins Lot«, belehrte mich Andrej im Ton eines Oberlehrers.
Ich wollte widersprechen. Aber warum auch immer: Die Vorteile unserer Welt wollten mir einfach nicht über die Lippen. Demos - was soll man dazu sagen!
»Und wie ist die Gesellschaft auf Feste aufgebaut?«
»O Vater der Wissbegier!« Der Uhrmacher lächelte. Anscheinend waren politische Vorträge seine Leidenschaft. Wenn er in unserer Welt leben würde, wäre er garantiert Politiker oder Journalist. »Dort gibt es eine Theokratie. Aber nicht einfach eine Theokratie, sondern eine scholastische Theokratie darwinistischer Ausrichtung.«
»Wie soll das denn gehen?« Die Reste meiner Zöllnerkenntnisse oder der Bücher, die ich irgendwann mal gelesen hatte, ließen mich zumindest den großen Zusammenhang verstehen. »Irgendwie passt das ja wohl nicht ganz zusammen.«
»Ganz im Gegenteil!« Andrej kicherte. »Die Regierung dort ist religiös geprägt, alles auf der Welt leiten sie aus der Bibel ab. Aber auf Feste hat auch ein bestimmter Mensch gelebt, Charles Darwin. Bei euch ist der doch auch bekannt, oder?«
»Ja. Und bei euch?«
»Hier ist er während einer Schiffsreise gestorben. Vermutlich beim Angriff eines Riesenkraken. Er hat es nicht geschafft, sich irgendwie hervorzutun.«
Ich nickte mit finsterer Miene.
»Kurz und gut«, fuhr Andrej unverdrossen fort, »Darwin hat eine Theorie aufgestellt, derzufolge sich in der Evolution der Pflanzen und Tiere Gottes Wille offenbart. Später schuf er zusammen mit dem Mönch Mendel, mit dem ihn eine zarte und treue Freundschaft verband, die Grundlagen der praktischen Genetik, mit der die göttlichen Kreaturen zum höheren Ruhme und zur Freude des Schöpfers verändert werden konnten.«
Er sprach voller Ernst, aber in seinen Mundwinkeln versteckte sich ein Lächeln.
»Zum höheren Ruhme und zur Freude?«, hakte ich nach.
»So wurde es vom Heiligen Konklave nach einer dreißig Jahre währenden Diskussion der Frage entschieden. Der nach dem Abbild Gottes und ihm gleich geschaffene Mensch ist zwar eine erbärmliche Kreatur, vermag jedoch in den Händen des Herrn als Werkzeug zu dienen. Biologie und Genetik sind auf Feste mit Siebenmeilenstiefeln vorangeschritten. Die Arbeiten des Heiligen Darwin und des Heiligen Mendel hat ein großer russischer Forscher fortgeführt, der nach seinem Tod ebenfalls heiliggesprochen wurde ...«
»Der Botaniker Mitschurin«, brachte ich finster hervor.
»Richtig!« Andrej lachte. »Iwan Mitschurin.«
»Wie ist er gestorben?«, fragte ich. »Ist er auf einen Apfelbaum geklettert, um Melonen zu pflücken, und wurde unversehens von einer Kirsche erschlagen?«
»Das ist ja entsetzlich!« Andrej verstand den Witz nicht. »Nein, Sohn der schönen Worte! Mitschurin starb bei einem Experiment zusammen mit seinen Laborangestellten, seinem Vivarium und seinem Versuchsbeet. Du weißt, Experimente am Genom sind nicht ungefährlich ...«
Ich wusste es nicht. Aber ich glaubte ihm aufs Wort.
Andrej ließ ein paar Sekunden verstreichen und stieß einen Seufzer aus. Anscheinend war er durchaus geneigt, sich weiter über Demokratie, Religionen, das Genom und den heiligen Darwin auszulassen. »Ich habe eine sehr günstige Tür nach Feste«, sagte er schließlich. »Etliche der Zugänge sind von den dortigen Machthabern geschlossen worden, andere liegen an einsamen Orten. Glücklicherweise gibt es noch meinen Zugang, über den der Kontakt gehalten wird. Die Tür führt genau zum Hof des Konklaves im Vatikan.«
»Des Konklaves?«
Andrej seufzte erneut. »Ist dir bekannt, dass dort das Christentum regiert, Enkel der Bildung? Dieses Christentum gleicht jedoch nicht dem bei euch oder bei uns. Einen Papst, noch dazu einen unfehlbaren, gibt es dort nicht. Stattdessen haben sie das Konklave der Kardinäle ... sechs Kardinäle. Gehen wir, mein Freund!«
Ich folgte ihm durch den Laden. Andrej öffnete die schmale Tür in der Wand hinter der Ladentafel und zwängte sich hindurch.
Was nun kam, passte schon besser zum Zuhause eines Funktionals, zu einem alten, eingewohnten und umgebauten Zuhause. Ein großer Saal, auf allen vier Seiten mit Mosaikfenstern, wie in einer Kirche. Durch zwei einander gegenüberliegende Fenster schaute die Sonne herein - genauer die Sonnen aus zwei Welten des Multiversums.
»Also«, erklärte Andrej, als er meinen Blick auffing, »das da ist Feste, das andere Janus.«
»Da bin ich schon gewesen«, meinte ich. »Kennen Sie die Zöllnerinnen Wassilissa und Marta?«
»Aus eurer Welt?«
»Ja. Sie haben jeweils eine Tür nach Janus. Ich bin von Wassilissa zu Marta gegangen ...«
»In welcher Jahreszeit?«
»Es war vor kurzem, da brach gerade erst der Winter an.«
»Also müssen ihre Türen weit weg von meiner liegen. Denn da, wo meine Tür hinführt, ist bereits Sommer. Überzeug dich ruhig!«
Neugierig stiefelte ich hinterher. Janus hatte ja nicht nur einen widerwärtigen Eindruck bei mir zurückgelassen, sondern auch Stolz: Ich hatte diese unwirtliche Welt überlebt.
Unter dem Mosaikfenster, das orangefarbene und grüne Lichtreflexe auf den Boden warf, befand sich eine einfache Holztür mit einem gewaltigen Riegel. Allem Anschein nach wurde er nicht häufig betätigt, denn Andrej ächzte, als er ihn zur Seite schob. Anschließend öffnete er die Tür weit und trat zur Seite, damit ich das Ergebnis bewundern konnte.
Schweigend blieb ich an der Schwelle stehen.
Vor mir erstreckte sich ein gelbes Meer aus Sand. Heißer trockener Wind hatte die Fläche glatt gefegt, es gab weder Dünen noch Steinchen am Strand. Das Einzige, was den Blick erfreute, war der Himmel. Blendend blau, rein, klar, mit einer funkelnden Sonnenscheibe.
»Darf ich raus?«, fragte ich.
»Natürlich. Schau dich ruhig um.«
Vorsichtig trat ich zur Tür hinaus und sah mich um. Die Hitze stülpte sich sofort über mich. Ich drehte mich um. Die Zollstelle gab sich in dieser Welt als altes Gebäude aus verwittertem Sandstein, in dem völlig unpassend oben ein Mosaikfenster prangte. Etwas abseits standen zwei in den Sand eingetiefte Pfeiler, zwischen denen eine Leine im Wind baumelte.
»Am Anfang wollte ich hier meine Wäsche trocknen«, erklärte mir Andrej von der Türfüllung aus. »Aber sie wird hier ganz starr und riecht nach Sand. Immerhin kannst du hier bequem Fleisch dörren. Fliegen gibt es nicht, und das Wetter ist im Sommer immer klar. Du kriegst hier einen Schinken hin, danach leckst du dir alle Finger!«
Mit einem Nicken betrat ich die Zollstelle wieder.
»Nun denn, auf nach Feste«, sagte Andrej, während er die Tür zuschloss. »Mit Gottes Hilfe ...« Er bekreuzigte sich.
Für alle Fälle tat ich es ihm nach. Und nach den anderen Welten erkundigte ich mich lieber gar nicht erst.
Die Tür nach Feste wurde eindeutig häufiger geöffnet. Andrej schloss sie auf, wartete - und zog sie ganz langsam auf. Ganz vorsichtig. »Du musst wissen«, bemerkte er, »dass dies der einzige passierbare Zugang in ihre Welt ist. Alle anderen sind zugemauert. Und dieser hier wird ständig beobachtet ...«
Hinter der Tür lag ein kleiner Hof, den eine nicht sehr hohe weiße Mauer säumte. Der Boden war mit Kopfsteinen gepflastert. In der Mauer gab es eine Tür. Und zahllose winzige Öffnungen, Fensternischen vielleicht, vielleicht aber auch Schießscharten. Sofort bemächtigte sich meiner ein unangenehmes Gefühl, als spähten mich durch diese Löcher unzählige missbilligende Augen an. Ja, mehr noch, als beobachteten sie mich nicht nur - sondern hielten eine Waffe auf mich gerichtet.
»Guten Tag«, brachte Andrej laut hervor. »Friede sei mit euch, zum Ruhme des Herrn!«
Daraufhin öffnete sich die Tür in der Mauer. Was für eine aufmerksame Wache, ständig auf der Lauer ...
Nun betrat den Hof die ungewöhnlichste Prozession, die ich mir vorzustellen vermochte.
Dass in unserer Welt der Papst von einer Schweizer Garde bewacht wird, die grellbunte, clowneske Kleidung trägt - Uniformen mit blauen, orange, roten und gelben Streifen vom Kopf bis zu den Füßen -, wusste ich. Viele Menschen sind der Ansicht, diese Uniformen gingen auf Michelangelo zurück, andere hingegen versichern, sie seien erst hundert Jahre alt und wären von einem Hauptmann der Schweizer Garde entworfen worden. Im Grunde haben beide Seiten recht, denn der Haudegen mit den Ambitionen zum Modemacher hat alte Skizzen Michelangelos herangezogen, die seinerzeit von den konservativen Katholiken abgelehnt worden waren. Folglich wunderte ich mich nicht sehr, als im Hof grellbunte Kleidung auftauchte.
Was mich indes frappierte, war, dass nicht kräftige Schweizer diese Uniformen trugen, die der Bewachung des Papsts - oder zumindest des Konklaves - den Vorzug vor der Anfertigung von Uhren, Schokolade und Taschenmessern gaben.
Nein, in den Hof liefen schwungvollen Schrittes junge Frauen, angetan mit besagter gestreifter Kleidung, bunten Baretten auf dem Kopf und leichten Piken in den Händen. Um die Füße jeder Frau wuselte ein kleiner Hund mit langem, seidigem Fell und einer Schleife im Haar!
»Sind das Yorkshireterrier?«, fragte ich perplex.
Die glamouröse Wache machte halt, indem sie einen perfekt abgezirkelten Halbkreis um uns bildete.
»Ja«, antwortete Andrej in angespanntem Ton. »Yorkshireterrier, die treuen Hunde der Kardinäle, Kampfhunde ...«
Ich brach in schallendes Gelächter aus. Mir einen Yorkshire als Wachhund vorzustellen war einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Die Lieblinge der Boheme, diese Handtaschenhündchen der feinen Damen von der Rubljowka und betont maskuliner Schauspieler à la Belmondo, sollten Kampfhunde sein?
Die Frauen sahen uns mit versteinerten Mienen an. Die Hunde wedelten mit dem kurzen Schwänzchen.
»Ich muss mit einem Parlamentär sprechen!«, erklärte der aus der Tür heraustretende Andrej.
Die Frauen hüllten sich in Schweigen. Andrej hatte offensichtlich keine von ihnen angesprochen, sondern sich an jemanden gewandt, der hinter der Mauer stand. Eine halbe Minute verging. Ich wechselte von einem Fuß auf den anderen, blieb aber sicherheitshalber im Haus. Der Uhrmacher und Zöllner in einer Person brachte mit seinem ganzen Gebaren zum Ausdruck, dass er bereit sei, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu warten.
Schließlich kam noch eine weitere Person durch die Tür. Diesmal ein Mann, der alles andere als ein Clownskostüm trug. Ein wenig älter als ich, akkurat, nicht in Uniform, sondern mit dunklen Hosen, hellem Hemd und grauem Wollpullover. Man konnte ihn sich in den Straßen Moskaus, Kimgims oder Oryssultans vorstellen, er würde nirgendwo auffallen.
»Andrej ...« Der Mann kam mit einem freundlichen Lächeln auf den Zöllner zu.
Offenbar entspannte sich Andrej daraufhin. Er ging dem anderen entgegen, sie reichten sich die Hände und umarmten sich.
»Es freut mich, dich zu sehen, mein armer, irregeleiteter Freund.« Der Mann lachte, als wollte er Andrej suggerieren, seine Worte nicht allzu ernst zu nehmen. »Ist etwas passiert?«
»Auch ich freue mich, dich zu sehen, Marco. Jemand hat mich gebeten, ein Treffen mit dir zu arrangieren.«
»Und wer hat dich darum gebeten?«
»Ein Bekannter aus Demos. Ein Mann, der in dieser Welt allem Anschein nach sehr geschätzt wird.«
Marco musterte mich und lächelte wohlwollend. »Und Sie sind dieser geschätzte Mann aus Demos?«
»Nein, ich bin nur ein Abgesandter«, beeilte ich mich klarzustellen. »Man hat mich gebeten, die Gespräche zu führen.«
»Gespräche sind eine gute Sache«, hielt Marco ernst fest. »Das Wort ist in der Lage, Feindschaft zu überwinden, Freundschaft zu festigen und Liebe zu wecken. Das Wort ist uns gegeben, damit wir einander verstehen, selbst wenn sich dergleichen höchst schwierig gestaltet ... Wie heißen Sie, junger Mann?«
Ich verzog das Gesicht. »Junger Mann« hatte mich schon lange niemand mehr genannt.
»Kirill.«
»Sehr schön. Sie sind Christ?«
»Ja.«
»Noch besser. Und ... Und Sie sind ein ehemaliges Funktional?« Marco lächelte.
Woher wusste er das?
»Ja.«
»Das ist sehr, sehr interessant ... Andrej, im Name des Konklaves garantiere ich für die Sicherheit des Abgesandten Kirill und für einen herzlichen Empfang in unserer Welt. Sobald er den Wunsch äußert, unsere Welt wieder zu verlassen, werden wir ihn zu deiner Tür bringen.«
»Vielen Dank, Marco«, sagte Andrej, offen erleichtert. »Geh nur, Kirill. Viel Erfolg bei deinem Unternehmen, natürlich sofern es rechtens und gottgefällig ist.«
Rasch verschwand er hinter mir, was, wenn ich ehrlich sein soll, meinen Glauben an die garantierte Sicherheit auf Feste nicht eben bestärkte.
»Wie kann ich mich denn mit ihnen verständigen?«, fragte ich ihn, ohne mich umzudrehen.
»Du verstehst sie doch auch jetzt, oder?«
»Jetzt schon. Aber was ist, wenn ich die Zollstelle verlasse? Sprechen die italienisch?«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht.« Andrej blickte finster drein. »Du gibst seltsame Sachen von dir, Stiefkind der Umsicht! Sobald du durch eine Zollstelle in eine neue Welt eintrittst, verstehst du ihre Sprache. Das wissen doch alle.«
»Ach ja.« Mit einem Mal war mir klar, was Zebrikow meinte, als er gesagt hatte, ich würde eine Zollstelle passieren. Vermutlich war also auch in Oryssultan kein Russisch in Gebrauch ... »Vielen Dank. All das verwirrt mich einfach ein wenig ...«
»Geh nur, Vater der Kühnheit!« Andrej schubste mich zur Tür. »Trödel hier nicht rum, es gehört sich nicht, die Leute warten zu lassen.«
Sobald ich die Zollstelle verlassen hatte, fiel die Tür hinter mir zu. Scheppernd wurde der Riegel vorgelegt.
Die Frauen in ihren gestreiften Uniformen bedachten mich mit strengen Blicken. Die Hunde wackelten lustig mit ihren Schwänzen. Marco lächelte.
»Guten Tag«, brachte ich hervor. »Sagen Sie, sind das Yorkshireterrier?«
»Zum Teil«, meinte Marco. »Sie halten sie wohl nicht gerade für die geeigneten Wachhunde?«
»Also ... wenn es nur um Mäuse geht ...«
»Korporal«, wandte sich Marco an eine der Frauen, »zeigen Sie unserem Gast, wozu unsere possierlichen Plüschbälle fähig sind.«
Die Frau nickte. Sie reichte ihre - wenn man einmal von der scharfen, blattförmigen Spitze absah - lächerliche Pike einer Freundin. Dann kam sie auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. »Geben Sie mir bitte Ihre Jacke.«
Ihre Stimme war zart und sanft. Mit einer solchen Stimme gesteht man seine Liebe.
Achselzuckend zog ich meine Jacke aus. Hier war es ja warm.
»Liegt Ihnen viel an ihr?«, wollte die Frau wissen.
»Nein, nicht sehr viel.«
»Gut.«
Die Frau schüttelte die Jacke in ihrer Hand. Der Hund zu ihren Füßen folgte aufmerksam jeder Bewegung. Dann gab sie einen Befehl: »Töte!«
Sie warf die Jacke in die Luft.
Der Hund schien, alle viere von sich gestreckt, förmlich mit dem Pflaster zu verschmelzen - bevor er sich in die Luft katapultierte. Vielleicht wäre ein Kater zu einem solchen Sprung in der Lage - wenn es ein sehr kräftiger, ausgewachsener Hofkater wäre. Aber vermutlich würde selbst der das nicht schaffen. Der Hund schnappte sich in einer Höhe von anderthalb, vielleicht sogar zwei Metern die Jacke. Er landete zusammen mit ihr auf dem Kopfsteinpflaster, ein mit den Zähnen ratterndes, knurrendes Knäuel. Stofffetzen flogen in alle Richtungen auf. So etwas hatte ich schon einmal gesehen, als der Hausmeister im Hof mit dem alten, klapprigen Rasenmäher über Altkleider fuhr. Nach zehn Sekunden ließ der Hund abrupt von der Jacke ab.
Diesen zerfetzten Lappen Jacke zu nennen wäre selbst dem heruntergekommensten Penner nicht in den Sinn gekommen.
»Himmel hilf«, brachte ich heraus.
Der Hund kläffte fröhlich und rannte zu seinem Frauchen. Die streichelte ihn (den Blick fest auf mich gerichtet) und holte ein Stück Würfelzucker aus der Tasche ihrer Clownsuniform, das sie dem Hund gab.
»Wenn man ihn nicht von einem Feind loseist, beißt er die Wirbelsäule innerhalb von zehn, fünfzehn Sekunden durch«, setzte mir Marco auseinander. »Sollte der Hals geschützt sein, nimmt er sich das Gesicht vor.«
»Was haben Sie ... wie haben Sie das geschafft ...«, hauchte ich.
Ich liebe Hunde. Ich habe selbst einen Skyeterrier, Cashew, der im Moment bei meinen Eltern untergebracht war. Natürlich sind Hunde keine Plüschtiere. In ihnen - selbst im kleinsten von ihnen - fließt Wolfsblut. Sie können kämpfen, um ihrer selbst willen und für ihre Herrchen. Aber es gibt Kampfhunde, Jagdhunde und es gibt Hunde, die dein Freund sind. Ein Kampfyorkshire, das ist absurd, das ist ... das ist wie eine Klosterfrau 007.
»Sie wurden in einem Kloster in York gezüchtet, wo unsere tapferen Gardistinnen für die Verteidigung des Konklaves ausgebildet werden«, erklärte mir Marco, der mich neugierig beobachtete. »Das wahrhaft Gute sollte nicht schutzlos sein, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich. »Also, zumindest habe ich das bisher immer angenommen. Aber ... sie sind so lieb ...«
»Die Mädchen?«
»Die Hunde ... aber die Mädchen natürlich auch ...«, stotterte ich.
»Sie bleiben auch lieb. Sie können sie streicheln, die Hunde werden Sie nicht beißen ... solange es ihnen niemand erlaubt.«
»Und die Mädchen?«, fragte ich.
Die Korporalin lächelte und sprach für sich selbst: »Das kann ich nicht sagen. Aber ich würde Ihnen nicht raten, die Probe aufs Exempel zu machen.«
Daraufhin brach Marco in schallendes Gelächter aus. »Gehen wir, Kirill. Ich hoffe, diese kleine Vorstellung hat Sie nicht eingeschüchtert? Unsere Freunde haben hier nicht das Geringste zu befürchten. Und Sie sind doch unser Freund, oder?«
»O ja«, versicherte ich mit einem Blick auf den Hund. »Ohne jeden Zweifel!«