Vierzehn

Ein echter Held, einer von denen, die Ketten durchbeißen, kurzerhand Hubschrauber aus der Luft holen und spielend mit zehn, zwanzig Feinden fertigwerden, muss all seine Taten gelassen, kaltblütig und absolut emotionslos vollbringen. Also ungefähr so wie Schwarzenegger, der nicht umsonst mit diesen Rollen große Erfolge als Schauspieler gefeiert hat. Wenn im realen Leben ein Spezialeinheitler schreit, zetert und flucht und höchst anschaulich die Folgen seines Zorns ausmalt - wie die Figur eines anderen guten Schauspielers, Bruce Willis -, dann erleidet dieser Held nach ein paar Jahren voller Ruhmestaten einen dauerstressbedingten Herzinfarkt und wird den Rest seiner Tage durch Parks spazieren und Tauben mit Hirse füttern.

Vermutlich tauge ich nicht für die Rolle eines richtigen Helden.

Das wurde mir mit aller Deutlichkeit klar, als ich da am Meeresufer saß. Ich hatte Angst, sogar mehr Angst als beim Abstieg. Ein leichtes Zittern schüttelte mich, das nicht von der Kälte herrührte - das Wasser war warm gewesen -, sondern einzig und allein von dem Gedanken, wie mein Abenteuer hätte enden können, ja, hätte enden müssen.

Ein wenig tröstete mich, dass ein Mensch mit reicherer Fantasie sich schon längst vor Angst in die Hosen gepisst hätte.

Und ein Genreschriftsteller wie Melnikow hätte es sogar getan, noch bevor er sich abgeseilt hätte ...

Diese Phantastik-Schriftsteller haben’s gut! Ihren Helden steht immer das ganze Spektrum an Ausrüstung zur Verfügung, angefangen bei einer normalen Schnur bis hin zu einer Profi-Achteröse. Oder bis zum Einweg-Taschenantigrav. Oder zum Propeller, wie bei Karlsson, der bloß seine Hosen mit dem Motor anzuziehen brauchte und ganz gemütlich, den begeisterten Jungen noch zuwinkend, in die Luft aufstieg.

Hier lief jedoch pures Abenteuer als Improvisation ab, der verzweifelte Rettungsversuch eines Laien, der in eine Falle getappt war ... Und sollte ich diese Geschichte je rumerzählen, dann würde mich der Mathematiker für meine miserablen Berechnungen kritisieren, der Physiker für die Vernachlässigung des Reibungskoeffizienten und der Kletterer dafür, dass ich mich auf meine Hände verlassen und folglich keine Schlaufe aus meinem Gürtel und dem MPi-Gurt geknüpft hatte ...

Ach, ihr Schlaumeier! Zu gern hätte ich euch an meiner Stelle gesehen! Wenn du spürst, wie mit jeder Sekunde deine Entschlossenheit, diesen Abstieg zu wagen, dahinschwindet, wenn du begreifst: Noch fünf Minuten, und du wirst mutterseelenallein auf diesem Felsen hocken bleiben, genau wie Väterchen Fjodor aus den Zwölf Stühlen ...

Indem ich meine hypothetischen Kritiker gedanklich in ihre Schranken verwies, entspannte ich mich ein wenig. Ich zog mich aus und wrang die nasse Kleidung aus. Die Nacht würde kalt werden, auf eine Brise von der Landseite brauchte ich nicht zu hoffen, schließlich saß ich unter einem einhundertsiebzehn Meter hohen Kliff ...

Wie bitte?

Eine Achteröse? Ein Kliff?

Da waren sie wieder!

Ich fuhr mit der Hand durch die Luft und versuchte, ein Portal zu öffnen. Nein, so weit waren meine Fähigkeiten nicht zurückgekehrt. Aber auch die Zugriffsmöglichkeit auf das enzyklopädische Wissen eines Funktionals war nicht zu verachten.

Vielleicht würde ich jetzt wissen, was ich weiter tun sollte.

Von Stein zu Stein springend, bewegte ich mich den winzigen Strand entlang. Der erneute innerliche Aufruhr verlangte nach einem Ventil.

Sollte ich hier schlafen?

Sollte ich am Ufer entlangschwimmen?

Sollte ich vom Ufer wegschwimmen?

Was auch immer mir meine Intuition vorgeschlagen hätte, ich hätte mich darauf eingelassen. Aber die Sache erschöpfte sich in fragmentarischen Kenntnissen aus den Bereichen Geologie und Alpinismus.

Also würde ich nicht schwimmen.

Sondern warten.

Ein Feuer entfachen und mich aufwärmen.

Der letzte Gedanke kam mit überraschender Klarheit und Überzeugungskraft daher.

Ob die Instinkte eines Funktionals mich vor einer Lungenentzündung warnen wollten?

Ich öffnete den Rucksack, was ich vermutlich besser gleich getan hätte, und holte die feuchten Sachen heraus.

Sie hatten zum Glück weitaus weniger gelitten, als ich befürchtet hatte. Der Verschluss des Rucksacks, äußerlich ein ganz normaler Reißverschluss, hatte kaum Wasser durchgelassen. Nur die Rolle Klopapier war völlig durchgeweicht und hatte damit demütig die Rolle von Silicagel übernommen. Das Päckchen Streichhölzer erwies sich jedoch als trocken.

Jetzt brauchte ich nur noch Brennholz ...

Zweige und Gehölz fanden sich auf dem kleinen Steinstrand in beschämend geringer Menge. Dafür türmten sich graubraune Algen, von einem Sturm oder der Flut angespült, am Uferstreifen zu wahren Bergen auf. Sie waren mehr oder weniger trocken. Ich sammelte sie ein und dachte nach.

Ging es tatsächlich darum, wieder warm zu werden?

Hatte mir das meine Intuition vorgeschlagen?

Kaum.

Kurz entschlossen zerriss ich die Broschüre zum Überleben auf Feste, schuf eine kleine Mulde in dem Wust von Algen und gab die Papierfetzen dort hinein. Sie fingen mit dem ersten Streichholz Feuer. Die Algen widersetzten sich kurz, glommen dann aber ebenfalls auf.

Es wäre ohnehin nicht gerade leicht gewesen, sich an diesem Feuer aufzuwärmen. Einzurußen - das wäre kein Problem. Ich trat ein paar Schritte zurück und betrachtete neugierig meiner Hände Werk. Eine dicke Säule aus schwarzem Rauch stieg auf, die sich klar vor dem Hintergrund der Felsen abzeichnete. Die schwache Flamme dürfte aus der Ferne in der Dämmerung kaum zu sehen sein, der Rauch hingegen ... Ja, der Rauch stellte mich hoch zufrieden.

Wenn man vom Meer aus ans Ufer blickte, würde die quasi direkt aus dem Wasser aufsteigende Rauchsäule klar zu erkennen sein.

Ich setzte mich auf einen Stein, öffnete meine zweite Ration und machte mich über mein Abendbrot her. Bei der Suppe handelte es sich diesmal um Kartoffelsuppe, als Hauptgang bekamen die Soldaten zwei Bouletten mit Bohnen. Eine nicht gerade gängige Kombination, aber momentan fand ich mich bereit, darüber hinwegzusehen.

Eine halbe Stunde später, nach dem Essen und einer Zigarette, erspähte ich am Horizont den weißen Fleck eines Segels.

Tief in ihrer Seele sind vielleicht alle Menschen Rassisten.

Nein, damit meine ich jetzt nicht, dass jeder Mensch an einen Punkt kommen kann, an dem er alle Ausländer verwünscht, das Hohelied auf Weiße, Gelbe oder Schwarze singt und - je nach eigener Hautfarbe - Schwarze, Weiße oder Gelbe hasst. Dergleichen kommt vor, aber das meine ich nicht.

Ich meine vielmehr, dass wir in jeder Krisensituation unbewusst erwarten, auf jemanden zu treffen, der uns ähnlich ist. In meinem Fall erwartete ich Weiße. Europäer. Hoffte sogar auf Russen, wenn auch in der hiesigen Variante.

Andererseits rechnete ich auch mit etwas absolut Unvorstellbarem, mit grünen Männchen, Menschen mit Hundeköpfen oder aufrecht gehenden Krokodilen. Schließlich war mir noch immer schleierhaft, in welcher Welt ich überhaupt gelandet war. Ich musste jedoch davon ausgehen, dass es sich um die Heimat der Funktionale handelte. Durfte ich denn mit Sicherheit annehmen, dass sich hinter den Funktionalen Menschen verbargen? Der Homo sapiens?

Als das Schiff sich so weit genähert hatte, dass ich es deutlich ausmachen konnte - eine fünfzehn Meter lange Jacht, anscheinend ein Segelboot, das jedoch in keiner Weise primitiv oder unmodern wirkte, mit seinen runden, gläsernen Bullaugen in den blitzblanken Kupferrahmen und mit dem elektrischen, auf einem Drehkranz (genau wie bei einer Waffe) sitzenden Scheinwerfer am Bug -, da erkannte ich, dass die Mannschaft sich nicht aus Weißen, sondern aus Asiaten zusammensetzte. Sie winkten mir zu, anscheinend freundlich. Ich winkte zurück. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen, zwei Männer legten sich tüchtig in die Riemen.

Ob ich vielleicht tatsächlich irgendwo auf der Erde war? In Südostasien? In Neuseeland, dort, wo es angeblich ein sehr eigenwilliges Landschaftsrelief gibt. Fantasy-Leute drehen da ja nicht umsonst Film um Film ...

Kaum näherte sich das Boot den Felsen, ruderten die beiden Matrosen sofort ein Stück zurück; offenbar befürchteten sie, sich den Boden aufzureißen. Aufmerksam musterte ich sie.

Hochgewachsene, dunkelhäutige, schwarzhaarige, schlitzäugige Männer. In weißen Uniformhemden von seltsamem Schnitt, die wie bei kleinen Kindern an den Schultern geknöpft wurden, dazu weiße Hosen. Warum lieben alle Seeleute weiß? Das Zeug muss doch schwer zu waschen sein.

»Spring!«, forderte mich einer der Matrosen in einer Mischung aus Befehl und Einladung auf.

Mir fiel ein Stein vom Herzen. Die Sprache verstand ich. Es war kein Russisch, aber ich verstand den Mann.

Trotzdem sprang ich dann nicht - das Boot wurde nämlich gegen die Felsen getrieben, ich brauchte nur hineinzusteigen. Ich setzte mich auf den Boden. Die Ruderer handhabten synchron die Ruder, um das Boot vom Ufer wegzubringen.

Ich musterte die beiden weiterhin recht ungeniert. Waren das Japaner? Nein. Chinesen? Auch keine große Ähnlichkeit, obwohl es natürlich unterschiedliche Chinesen gibt, China ist ja genau wie Russland ein Vielvölkerstaat. Vielleicht Malaien oder Indonesier?

Ich gab den Kampf gegen meine geographische Ignoranz auf. Wie hatte eine Bekannte von mir gesagt, die ständig Abidjan und Andijon, Island und Irland, Gambia und Sambia durcheinanderbrachte: »Ich weiß gar nicht, was du willst, ich hatte in der Schule immer eine Eins in Erdkunde.«

Jedenfalls sahen diese Matrosen freundlich aus, und Waffen trugen sie auch keine.

»Vielen Dank«, sagte ich, um ein Gespräch anzufangen. »Ich hatte schon Angst, ich würde hier versauern.«

»Bist du schon lange hier?«, fragte einer der Seemänner. Der andere sah ihn missbilligend an, sagte jedoch kein Wort.

»Seit zwei Stunden.«

»Und woher kommst du?«

Offenbar verwunderte sie mein Äußeres nicht. Überhaupt hatte ich nicht gerade den Eindruck, die Matrosen würden vor Neugier platzen oder auf die Antwort brennen, woher denn bitte schön an diesem Uferstreifen mit der senkrechten Felswand dahinter plötzlich ein Mensch kam.

»Ich habe mich an einem Seil den Fels heruntergelassen«, antwortete ich, nur halb mit der Wahrheit herausrückend.

»Alle Achtung«, brachte einer der Matrosen voller Respekt hervor. »Du bist stark.«

»Nur der Kopf ist mir dabei ganz abgefroren«, murmelte ich, mich an den Witz von der Krähe erinnernd, die mit den Wildgänsen über das Meer davonfliegen wollte.

Die Matrosen lachten beide. Inzwischen hatten wir das Heck der Jacht erreicht und konnten uns nicht weiter unterhalten. Das Schiff schaukelte auf den sanften Wellen, die beiden Männer manövrierten es vorsichtig direkt ans Heck. Ich ging als Erster an Bord. Ich packte das Geländer einer Metallleiter am Heck und kletterte aus dem Boot, indem ich die paar Sprossen hochstieg. Obendrein fassten kräftige Hände nach mir und zogen mich an Deck.

Hier empfingen mich an die sieben Mann, vermutlich die gesamte Besatzung der Jacht. Einige Matrosen, zwei junge Männer, die ich innerlich als Passagiere einstufte, denn sie trugen keine Uniform, sondern weite bunte, leicht arabisch wirkende Kleidung; ihre Gesichter zeigten jedoch ebenfalls eher asiatische Züge.

Und dann gab es einen weiteren Mann, mit rund sechzig Jahren der älteste von allen, den ich für den Kapitän hielt. Zumindest trug er eine Schirmmütze mit einer goldenen Kokarde in Form eines Ahornblatts. Dennoch war der Kapitän ebenso wenig Kanadier wie der Rest der Mannschaft: Auch er durfte ohne weiteres als Chinese durchgehen, bei der geringen Körpergröße und den typischen Gesichtszügen.

Der Kapitän behielt mich fest im Blick.

Das heißt, nein, nicht mich. Den Rucksack auf meinem Rücken. Offenbar unterdrückte er nur mit Mühe den Wunsch, näherzukommen und ihn genauer zu inspizieren.

»Vielen Dank für die Rettung«, wandte ich mich an den Kapitän.

»Das ist die heilige Pflicht eines jeden Seemanns«, erwiderte der Kapitän, der seinen Blick nur unter größter Willensanstrengung vom Rucksack auf mich richtete. Umsonst heißt es, dass sich Europäern die Mimik der Chinesen nur schwer erschließt. Im Gesicht des Kapitäns konnte ich lesen wie in einem offenen Buch: Sorge, Zweifel, Angst und Misstrauen standen da geschrieben. »Gibt es noch mehr Menschen, die unsere Hilfe brauchen?«

»Alle Menschen brauchen Hilfe, aber an diesem Ufer sind keine weiteren Personen«, antwortete ich diplomatisch.

Der Kapitän nickte mit einem Ausdruck, als hätte ich eine Weisheit von mir gegeben, die eines Konfuzius würdig gewesen wäre. »Müssen wir im Zusammenhang mit Ihnen mit Verfolgung oder anderen Unannehmlichkeiten rechnen?«, fragte er plötzlich in einer anderen Sprache.

Niemand verstand ihn. Außer mir. Also war mir mit dem Eintritt in diese Welt die Kenntnis fremder Sprachen eingespeist worden. Worin der Unterschied zwischen der einen und der anderen bestand, hätte ich nicht zu sagen vermocht, denn sowohl die Sprache, in der ich mich mit den Matrosen unterhalten hatte, als auch die, in der mich jetzt der Kapitän ansprach, hatten nichts mit dem Russischen oder dem Englischen zu tun. Trotzdem wusste ich, dass Letztere eine andere Sprache war. Und nicht die Muttersprache des Kapitäns.

»Ich glaube nicht, dass in der nächsten Zeit mit Unannehmlichkeiten dieser Art zu rechnen ist«, antwortete ich. Und zwar ebenfalls in dieser nur dem Kapitän und mir verständlichen Sprache.

Das musste eine Art Test gewesen sein. Der Kapitän nickte und wechselte, als er sich an einen der Matrosen wandte, wieder in sein »Chinesisch« über, wie ich die gemeinsame Mannschaftssprache für mich nannte.

»Bring unseren hohen Gast in meine Kajüte«, verlangte er. »Sorge für trockene Sachen und etwas zu essen.«

Und weiter, an mich gewandt, wobei er bei der Mannschaft Bewunderung ob seiner Zweisprachigkeit auslöste: »Ich bitte untertänigst, mein Fehlen zu entschuldigen. Das Ufer birgt durch die Steine im Wasser Gefahr, weshalb ich hier oben bleiben muss.«

Anscheinend sprach ich die Sprache besser als er, denn ich antwortete: »Es ist die Pflicht eines Kapitäns, an Deck zu sein, wenn Riffe in der Nähe sind. Steuern Sie das Schiff, ich werde auf Sie warten, so lang es auch dauern mag. Herzlichen Dank für die Gastfreundschaft.«

Der Kapitän, bereichert um die Wörter »Deck« und »Riff«, entfernte sich nachdenklich. Mich geleitete der Matrose höflich zu einem Aufbau am Heck (keine Ahnung, wie es heißt, meine Funktionalskenntnisse waren versiegt und meine Bekanntschaft mit dem Meer erschöpfte sich in der Lektüre der Schatzinsel und dem Film Fluch der Karibik - also in nichts).

Durch eine niedrige Tür kamen wir in einen kurzen Gang. Türen zu jeder Seite und an der Stirn. Der Mann brachte mich zu der Tür, die am Ende des Korridors lag. Obwohl sie nicht abgeschlossen war, öffnete der Matrose sie mit unverkennbarer Schüchternheit.

Die Kapitänskajüte war nicht sehr groß, aber man sollte hier wohl auch keinen Fürstenpalast erwarten. Drei mal drei Meter, mehr nicht. Zu beiden Seiten fest verschlossene Bullaugen. Helle elektrische Glühbirnen an der Decke. Holzgetäfelte Wände, gerahmte Fotos unter Glas und allerlei seltsame Gegenstände, ein Tisch mit vier Stühlen, ein recht breites Bett, an der Wand ein kleiner Schreibtisch, besser gesagt nur ein Stehpult. Kurz darauf brachte mir ein zweiter Matrose einen Stapel sauberer, trockener Kleidung, die haargenau der entsprach, die sie selbst trugen. Danach ließ man mich allein.

Ich zog einen Stuhl unter dem Esstisch hervor - wer wohl die Ehre hatte, mit dem Kapitän zu dinieren? Die beiden Passagiere? - und bemerkte, dass die Beine für den Fall heftigen Seegangs in speziellen Rillen steckten. Ich nahm Platz. Und atmete tief durch.

Anscheinend ausgesprochen freundliche Menschen. Keinerlei Ähnlichkeit mit Piraten.

Gut. Was hatte ich jetzt an der Hand?

Ich hatte eine Welt, die vermutlich nicht meine Heimat war. Ich hatte ein Entwicklungsniveau, das in etwa dem unserer Welt oder auch dem von Veros entsprach. Was lag hier an der Stelle von China? Irgendein Lytdybr?

Aber als Heimat der Funktionale taugte diese Welt nicht, mochte sie nun Veros sein oder nicht ...

Was noch?

Es gab hier arkanische Soldaten. Der Kapitän hatte den Rucksack eindeutig wiedererkannt und hielt es daraufhin für angebracht, sich in einer Sprache an mich zu wenden, die er mit diesem Rucksack in Verbindung brachte. Hieß das, dass ich jetzt die Sprache der Funktionale verstand? Irgendeine Sondersprache, deren Kenntnis eine Seltenheit ist und damit sofort die hohe Stellung des Sprechenden unterstreicht, seinen »Zugang zu Staatsgeheimnissen«.

Interessant...

Ich zog mich um. Die Sachen passten mir, gepriesen sei der hohe Wuchs der hiesigen Bevölkerung. Nun sah ich mich genauer um.

Die nächsten fünf Minuten verpassten all meinen Theorien einen schweren Schlag.

Erstens: Ich entdeckte die Stromquelle auf dem Schiff.

Über dem Stehpult, das dem Kapitän garantiert als Schreibtisch diente, war ein grauer Zylinder angebracht, der in auf Hochglanz polierten Bronzeringen steckte und noch am ehesten an einen großen, fünfzehn Zentimeter langen Elektrolysekondensator erinnerte. Das Ding bestand aus einem Gehäuse, einem glänzenden Glasboden (aus unerfindlichen Gründen meinte ich, der Zylinder sei mit dem Boden nach oben angebracht) und zwei Kupferstiften, die aus dem Glas herausragten. An den Stiften waren Klemmen befestigt, von denen Kabel in die Wand führten. Der Zylinder summte kaum hörbar und verströmte Ozongeruch. Ein mit Schrauben an der Wand befestigtes Bronzegitter, eine Art Verblendung, schützte die Konstruktion.

Freilich, ich konnte mich einfach irren. Vielleicht war das nur eine höchst eigenartige Luftdusche, und die Leitungen verteilten den Strom von diesem Ding aus nicht, sondern leiteten ihn vielmehr in diesen Zylinder hinein. Trotzdem wäre ich jede Wette eingegangen, die Energiequelle vor Augen zu haben, den Apparat, der sämtliche Lampen auf der Jacht mit Strom versorgte. Was angesichts der Maße des Zylinders völlig undenkbar war. Weder auf der Erde noch auf Veros war eine solche Technik bekannt.

Zweitens: Ich schaute mir die fünf Fotos an der Wand intensiver an. Keine schlechte Qualität, aber schwarzweiß, nur eins war grob von Hand koloriert. Ausgerechnet das »Farbfoto« interessierte mich nicht sonderlich, denn wenn man ihm glaubte, musste der Kapitän eine winzige, nicht mehr junge Frau haben und mindestens drei erwachsene Söhne und eine Tochter. Oder drei Söhne, von denen der eine bereits verheiratet war, aber das spielte ja keine Rolle. Ich hätte auch ohne diesen fotografischen Beweis nicht angenommen, in eine Welt geraten zu sein, in der ausschließlich Männer lebten.

Die anderen Fotos erwiesen sich dagegen als aufschlussreicher.

Auf einem Bild war der Kapitän, zum Zeitpunkt der Aufnahme noch deutlich jünger, zusammen mit einigen europäisch wirkenden Männern zu sehen. Auch das musste nichts heißen, schließlich hatte ich nicht damit gerechnet, auf eine ausschließlich asiatische Menschheit zu treffen. Wäre da nicht der Hintergrund gewesen! Die Männer standen auf einem Hügel, hinter ihnen waren die Ruinen einer Stadt zu erkennen.

Einer sehr großen Stadt. Selbst halb zerstört wirkten die Wolkenkratzer noch wie die Giganten aus Manhattan oder aus einer hypermodernen Metropole im Orient. Die monströsen Skelette der Gebäude ragten wie die Knochen verwester Dinosaurier am ganzen Horizont auf. In den Gesichtern der Männer spiegelte sich das Bewusstsein um den feierlichen Moment wider: Sie wirkten stolz und verängstigt zugleich.

Das dritte Foto war überhaupt nur eine Landschaftsaufnahme. Nur dass diese Landschaft Hieronymus Bosch während der Arbeit an der Hölle für sein Triptychon gefallen hätte. Ein Himmel voll tiefhängender, dunkler Wolken, eine aufgewühlte, geschundene Erde voller Hügel und Schluchten. In der Nähe des Fotografen brannte der Boden, über die Steine tanzten Feuerzungen.

War das Erde-16, in die ich von der polnischen Zollstation aus einen Blick geworfen hatte?

Fuhr dieses Schiff zwischen den Welten hin und her?

Aber da waren ja noch zwei weitere Fotos.

Das eine zeigte eine schöne junge Frau. Eine Asiatin, aber anscheinend weder die Frau noch die Tochter des Kapitäns. Sie trug zeremonielle Kleidung. Und stand in einem prachtvollen Saal. Auch die Aufnahme selbst wirkte gestellt, offiziell, ein Hauch von Bürokratie ging von ihr aus, von Macht, von Empfängen und Befehlen. Obendrein prangte in einer Ecke eine seltsame Hieroglyphe ... Eine Widmung? Von einer der hiesigen Herrscherinnen?

Und das letzte Bild, auf dem ein Mann mittleren Alters dem Kapitän die Hand drückte, eine Aufnahme im Halbprofil, sodass die Gesichter nicht zu erkennen waren - im Gegensatz zur Wache, einigen Soldaten in altbekannter Uniform. Diese trugen langweilige, widerwärtige Gesichter zur Schau, in denen eine gemeine, angsteinflößende Brutalität lag, die nicht einer akuten Gefahr galt, sondern vom Protokoll so vorgesehen war. Im Hintergrund nicht sehr hohe Holzhäuser, orientalische Architektur, mit heruntergezogenen »Wellendächern« ...

Der Kapitän verkehrte anscheinend wirklich in höchsten Kreisen. Insofern hatte ich Glück gehabt. Oder auch nicht. Das würde sich herausstellen ...

Die übrigen Gegenstände in der Kajüte waren interessant, mehr aber auch nicht. Ein Säbel an der Wand, ein Allerweltsstück, europäisch, eher ein Sportgerät als eine Kriegswaffe, sogar mit einer Schnitzerei am Knauf des Griffs. Ein Stapel Bücher, den Titeln nach zu urteilen Liebesromane - um nicht zu sagen Pornoromane. Die Jaspisflöte und der lüsterne Schlund. Das Rotkehlchen und die Lyrasaite. Der arbeitsame Diener und die goldene Furche. Der treue Botschafter und das Tal des Geheimnisses. Die beiden letzten Titel ließen mich - warum auch immer - an die Märchen vom Zauberlehrling Harry Potter denken, und ich musste kichern.

Na, Kapitän, war wohl nicht ganz so einfach ohne Frau auf dem Meer, oder?

Zu gern hätte ich im Stehpult gekramt und eine Karte gesucht. Oder wenigstens ein Handbuch der Seefahrt. Aber natürlich ließ ich mich zu einer solchen Frechheit nicht hinreißen. Um der Versuchung nicht zu erliegen, verschränkte ich die Hände auf dem Rücken, machte mich daran, die Kajüte mit Schritten auszumessen und sah zum Bullauge hinaus auf das sich entfernende Ufer. Die Nacht war inzwischen vollends hereingebrochen, mein Rauchsignal hätte jetzt niemand mehr bemerkt ...

»Das Essen kommt gleich.«

Der Kapitän war sehr leise hereingekommen, als ich mit dem Rücken gerade zur Tür stand. Ob er mich irgendwie beobachtet und auf den richtigen Moment gelauert hatte?

»Vielen Dank. Ich habe zwar bereits etwas gegessen, bevor ich das Feuer gemacht habe, nehme aber gern an ihrem Mahl teil«, antwortete ich, ohne mich umzudrehen.

Aus unerfindlichen Gründen mied ich das »Chinesisch«, zu dem der Kapitän zurückgekehrt war. Stattdessen gab ich jener offiziellen Sprache den Vorzug, die weitaus diplomatischer und geschraubter klang. Warum?

Vermutlich, weil es so richtig war.

»Ich hatte schon lange nicht mehr die Gelegenheit, in der Obersprache zu reden«, gestand der Kapitän.

»In der Hochsprache«, korrigierte ich ihn automatisch. Ich wusste einfach, dass es so heißen musste.

»In der Hochsprache«, wiederholte der Kapitän gehorsam. »Mein Name ist Van Tao. Ist es mir gestattet, Ihren Namen zu erfahren?«

»Kirill«, sagte ich und drehte mich um. »Nennen Sie mich Kirill.«

Der Kapitän fühlte sich augenscheinlich nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Etwas an mir störte ihn, trotz des ihm vertrauten Rucksacks und meiner Kenntnis der Hochsprache.

»Hat Herr Kirill am Ufer die Ankunft meines Schiffs erwartet?«, fragte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

»Nein, das war für mich völlig einerlei«, antwortete ich. »Sorgen Sie bitte dafür, dass meine Sachen in Ordnung gebracht werden. In dieser Kleidung fühle ich mich wie ein Matrose und kämpfe ständig gegen den Wunsch an, die Segel zu hissen.«

»Der Herr scherzt ...« Der Kapitän lachte leise. » Verzeihen Sie die Armut dessen, was ich Ihnen anbieten kann. Meine Kleidung würde Ihnen nicht passen, die meiner Passagiere ebenfalls nicht. Es sind angesehene Händler aus dem Norden ... Soll ich sie zum Essen hinzubitten?«

»Wir sollten sie nicht über Gebühr in Verlegenheit bringen«, sagte ich. Es wunderte mich selbst, wie leicht ich in die Rolle des hochnäsigen Aristokraten schlüpfte.

Der Kapitän nickte unterwürfig.

»Ihre Familie?« Ich schaute auf die Fotografie.

»O ja!«

»Und wie sind Ihre Dinge bestellt? Bereiten Ihre Söhne Ihnen Freude?«

»Wie es guten Kindern gegenüber ihrem verehrten Vater geziemt ...«

»Wie ich sehe, sind Sie viel gereist.«

Der Blick des Kapitän huschte über die Bilder. »Ja. Damals war ich jung und handelte unvernünftig. Aber der Himmel hat mich bewahrt.«

»Ihre Heimat?«, gab ich einen Schuss ins Blaue ab und nickte in Richtung des Photos mit den Wolkenkratzern.

»Ja. Aber ich habe nichts Verbotenes getan!« In seiner Stimme schwang Angst mit.

»Natürlich nicht ...«, bemerkte ich lakonisch. Alles in mir jubilierte vor Begeisterung.

Anscheinend war ich doch im Haus der Funktionale gelandet.

Das die Hausherren allerdings schon vor langem verlassen hatten.

»Mir entgeht nicht, wie Sie sich mit der Frage quälen, wer ich sein mag«, sagte ich. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und zwei Matrosen brachten unter einer Verbeugung das Essen herein. Ich schwieg, bis sie den Raum wieder verlassen hatten, obwohl ich mir sicher war, dass sie mich nicht verstanden hätten.

»O nein, nein, Herr Kirill!«

Der Kapitän brachte es zuwege, diesen Satz so auszusprechen, dass darin sowohl eine aufrichtige Ablehnung als auch die Neugier auf meine nächsten Worte lag. So schlecht beherrschte er seine »Obersprache« nicht!

»Hören Sie«, meinte ich, ohne die geringste Vorstellung, wie ich fortfahren sollte. Aber zurück konnte ich nun nicht mehr. »Sie brauchen sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, denn Sie müssen das nicht wissen. Mein Leben ist zu langweilig und alltäglich, als dass ich damit das Gedächtnis eines so verehrten Mannes beschweren wollte. Ich war in verschiedenen Welten, liebte verschiedene Frauen, schloss mit vielen Männern Freundschaft, tötete etliche Frauen und Männer, rettete etliche. In keiner Welt fand ich Vollkommenheit vor, und das quält mich ohne Unterlass. Aber Sie sind jung, und mein Schmerz braucht Sie nicht zu bekümmern.«

Van Tao erbleichte. »Ich bitte mir zu verzeihen ... Ich habe Sie mit meinen Gedanken beleidigt ... mir scheint ...«

»Schwamm drüber.« Ich machte eine lässige Handbewegung. »Weshalb sollte auf Anhieb ins Auge springen, wer ich bin und wie viele Jahre ich zähle?«

»Man brachte mir bei ... ich habe die Menschen-über-den-Menschen immer erkannt ...«

Anscheinend hatte ich ins Schwarze getroffen.

Den Kapitän hatte weder mein Auftauchen am Ufer noch mein heruntergekommener Anblick irritiert, sondern mein Alter. Und darüber hinaus, dass er das Funktional in mir nicht erkannte. Also musste er tatsächlich in den entsprechenden Kreisen verkehren, wenn er gelernt hatte, Funktionale zu identifizieren.

»Sie haben offenbar hochstehende Bekanntschaften schließen dürfen.« Abermals nickte ich in Richtung Wand mit den Photos.

»O ja.« Der Kapitän ließ das heikle Thema meiner Herkunft freudig hinter sich. »Zweimal bin ich in die verbotenen Welten gefahren und mit vielen kostbaren Raritäten zurückgekehrt.«

Mir schoss durch den Kopf, dass man ihm diese Raritäten sehr billig abgeknöpft hatte, wenn er auf seine alten Tage gezwungen war, Händler auf seiner Jacht mitzunehmen und keinen jungen Kapitän für sein Schiff anheuern konnte. Oder etwa nicht? Schließlicht gibt es Menschen, die schaffen es, ein ganzes Vermögen durchzubringen, weshalb sie sich im Alter ihre Brötchen genauso verdienen müssen wie einst, als sie noch jung waren. Und dann gibt es noch diejenigen, die nie einen Schlussstrich ziehen können, vor allem da das Meer solche Seebären nicht freiwillig hergibt. Im Grunde erzählt Scheherazade Märchen von solch einem Manne, nämlich von Sindbad dem Seefahrer. Über einen anderen wurden vier - in manchen Welten auch sieben - Bücher von dem englischen Politiker Jonathan Swift geschrieben.

»Wollen wir essen?«, schlug ich vor. Das Essen auf den Tabletts sah extrem lecker aus. Berge von kleinen Pelmeni in geflochtenen Bambusschüsseln, eine dickflüssige Suppe in Schalen, winzige gefüllte Blätterpäckchen.

Unversehens wurde der Kapitän nervös.

»Es ist schon alles erfroren, Herr Kirill.«

»Kalt«, korrigierte ich ihn automatisch. Was als Nächstes kam, ahnte ich.

»Ich werde anordnen, es warm zu machen ... sofort ...« Geschickt schnappte sich der Kapitän die beiden Tabletts und schlüpfte aus seiner Kajüte.

Noch ein Treffer!

Vermutlich war ich gerade einem höchst exotischen Gewürz in der Suppe entkommen. Und ich hätte von Glück sagen können, wenn ich dank diesem Gewürz nur in einen tiefen Schlaf gefallen und irgendwann mit gefesselten Armen und Beinen aufgewacht wäre. Schließlich hätte ich am nächsten Morgen ... auch kalt sein können.

Ich wartete auf den Kapitän und gähnte demonstrativ.

»Ich glaube, mir ist der Appetit vergangen. Wann laufen Sie im Hafen ein?«

»Im Morgengrauen.« Der Kapitän verstand, dass ich verstanden hatte, und träumte jetzt nur noch von einem: möglichst weit weg von mir zu sein. »Die See ist unruhig, ich werde die ganze Nacht über auf Wache sein müssen, Herr Kirill.«

Wie schade, nun würde aus einem vertraulichen Gespräch mit Sicherheit nichts werden ...

Wie musste sich ein Mensch-über-den-Menschen verhalten, der wusste, dass er vergiftet werden sollte? Ein aufgeblasenes Funktional, gegen das, wenn auch unwissentlich, ein dummer Tropf etwas ausgeheckt hatte? Eine reale Gefahr drohte Funktionalen nicht, ihr Organismus würde jedes Gift verarbeiten und neutralisieren, aber die Tatsache als solche ...

»Zieh ab«, sagte ich kalt. »Sollte sich heute Nacht jemand der Tür dieser Kajüte nähern, ist das seine letzte Nacht!«

Katzbuckelnd sprang der Kapitän aus seiner Kajüte. Ich setzte mich aufs Bett und beruhigte mich. Vom Stehpult schnappte ich mir den Arbeitsamen Diener und die goldene Furche und blätterte den Band durch. O nein, dergleichen hätte sich der Zauberlehrling nicht mal in der Pubertät einfallen lassen ...

Nach einigem Suchen fand ich den Lichtschalter, ein affektiertes Ding aus Bronze und Hartgummi. Ich löschte das Licht in der Kajüte. Es wurde absolut dunkel. Die Jacht schaukelte. So wie die Wellen gegen das Schiff klatschten, musste die Jacht ein zügiges Tempo draufhaben.

Tastend fand ich das Bett und legte mich mit der festen Absicht hin, bis zum nächsten Morgen kein Auge zuzumachen.

Selbstverständlich fiel ich sofort in den Schlaf des Gerechten.

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