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Die Leber, größte Drüse des Körpers, ist ein nützliches und kompliziertes Organ, das eineinhalb Kilogramm wiegt — ungefähr zwei Prozent des Körpergewichts — und Hunderte von wichtigen biochemischen Funktionen ausführt. Die Leber erzeugt Galle, eine grünliche, für die Verdauung wichtige Flüssigkeit. Sie filtriert Bakterien, Gifte, Drogen und andere schädliche Verunreinigungen aus dem venösen Blut und fügt ihm Plasmaproteine hinzu, die sie erzeugt, darunter das Gerinnungsmittel Fibrinogen und das Antikoagulat Heparin. Ferner scheidet sie Zucker aus dem Blut ab, wandelt ihn in Glykogen um und speichert dieses, bis es vom Energiebedarf des Körpers aufgezehrt wird. Schließlich ist die Leber auch für die Umwandlung von Fetten und Proteinen in Kohlehydrate, die Speicherung von fettlöslichen Vitaminen, die Erzeugung von Antikörpern, den Abbau abgenutzter roter Blutkörperchen und vieles andere verantwortlich.

So viele Stoffwechselfunktionen erfüllt die Leber, daß kein Wirbeltier länger als ein paar Stunden ohne sie überleben kann. Sie ist für das Leben von so zentraler Bedeutung, daß sie außerordentliche Regenerativkräfte besitzt: werden drei Viertel der Leber entfernt, so vermehren sich die verbleibenden Zellen so rasch, daß das Organ innerhalb von zwei Monaten seine ursprünglichen Dime nsionen wieder erreicht. Selbst wenn neunzig Prozent der Leber zerstört werden, fährt sie fort, im normalen Umfang Galle zu erzeugen. Dennoch gibt es viele Fehlfunktionen der Leber — die verschiedenen Formen der Gelbsucht, Nekrosen, Sepsis, dysenterische Abszesse, Krebs und so weiter. Vielseitigkeit und Lebenskraft der Leber befähigen sie, selbst bei chronischen Erkrankungen noch lange ihren Dienst zu tun, aber mit dem Alter beginnt ihre Erholungsfähigkeit zu schwinden.

Der Vorsitzende leidet an chronischen Leberbeschwerden. Um Frische und Arbeitsfähigkeit zu erhalten und die Arbeit der künstlichen und verpflanzten Organe in ihm zu unterstützen, muß er täglich die verschiedensten Medikamente einnehmen, und selbst die widerstandsfähigste Leber wird durch die ständigen Angriffe hochwirksamer Chemikalien, die sie aus dem Blutkreislauf filtrieren muß, im Laufe der Zeit überfordert. Auch führt das Vorhandensein von so vielen fremden Organen zu biochemischen Reaktionen und Wechselwirkungen im Körper, denen die Leber entgegenwirken muß und die sie zusätzlich belasten. So kommt es, daß die Leber des Vorsitzenden durch ständige Überlastung in einen Zustand chronischer Krankhaftigkeit gerät, der von seinem hohen Alter und der unnatürlichen Kompliziertheit seiner zusammengesetzten inneren Struktur noch verschlimmert wird. Darum muß die Leber in periodischen Abständen ersetzt werden. Dieser Zeitpunkt ist wieder gekommen.

Zwei kräftige Krankenpfleger heben die kleine, schmächtige Gestalt des Vorsitzenden unter der Aufsicht des Leibarztes auf einen Krankentransportwagen, und es beginnt die schon vertraute Reise vom Schlafzimmer zum Operationstisch. Der Vorsitzende gibt sich forciert munter, obgleich er fiebrig, gebrechlich und hinfällig aussieht; er nickt und zwinkert den Pflegern zu, während sie ihn niederlegen, sagt ihnen, daß er bequem liege; er schmunzelt, versucht es sogar mit einem Scherz.

Schadrach ist, wie immer bei solchen Gelegenheiten, verblüfft von der unglaublichen inneren Ruhe des alten Mannes, wie sie von den telemetrischen Signalen bewiesen wird, die seine eingepflanzten Empfänger erreichen. Sicherlich weiß der Vorsitzende, daß sein Tod während der Operation nicht unwahrscheinlich ist, aber seine somalischen Funktionen geben keine Auswirkungen solchen Wissens zu erkennen, als befinde sich der Geist des Vorsitzenden in einem so vollkommenen Gleichgewicht zwischen Lebensfreude und Todessehnsucht, daß beide einander völlig neutralisieren. Jedenfalls ist Schadrach viel weniger entspannt als sein Brotgeber, vielleicht, weil er die Risiken einer Leberverpflanzung als äußerst ernst betrachtet und ganz und gar nicht bereit ist, sich mit der Möglichkeit einer Ungewissen persönlichen Zukunft in einer Welt ohne den alten Mann auseinander zu setzen.

Der Krankentransportwagen mit dem Vorsitzenden wird durch die Diele zum Aufzug geschoben und einen Stock tiefer in den Operationsraum gerollt. Helles, aber blendfreies Licht strahlt auf den Operationstisch herab, der im Inneren einer aufblasbaren aseptischen Blase mit transparenten Wänden und angeschlossener Desinfektionsschleuse steht. Neben dem Operationstisch erhebt sich drohend und massig ein von Kontrollleuchten, Meßskalen und Aufzeichnungsgeräten starrender mattgrüner Metallschrank, der alle möglichen Pumpen, Filter, Heizelemente, Sterilisierungseinrichtungen, Luftbefeuchter und dergleichen enthält. Am anderen Ende sind ein Autoklav, ein Gerät für Laserchirurgie, eine Anästhesiekonsole und ein fahrbarer Instrumententisch bereitgestellt. Im Hintergrund des Operationsraumes wartet ein mit allen notwendigen Anschlüssen und Versorgungseinrichtungen ausgestatteter Transportwagen, der den Patienten nach beendeter Operation in die Intensivstation bringen wird.

Schadrach Mordechai kennt beileibe nicht alle Funktionen der hier vorhandenen Apparate und Einrichtungen, und es ist auch nicht notwendig: er selbst wird den Eingriff nicht vornehmen. Seine Rolle bei der Operation ist die eines zusätzlichen Überwachungssystems, denn mit seiner Fähigkeit, die von einem Augenblick zum anderen im Körper des Vorsitzenden sich ereignenden Veränderungen zu spüren, in ihrem Zusammenhang mit den übrigen Körperfunktionen zu deuten und Aussagen darüber zu machen, ist er ein unschätzbares Hilfsmittel, flexibler als jedes medizinische Gerät und darüber hinaus intuitiver Erkenntnis fähig. Selbstverständlich wird der Zustand des Vorsitzenden davon unabhängig von den üblichen Apparaten überwacht, aber Schadrach, der neben Warhaftig steht und direkte Bulletins aus dem Innern des alten Mannes erhält, kann Interpretationen und Entscheidungshilfen liefern, deren Wert weit über eine bloße Kontrolle von Organfunktionen hinausreicht.

Die Pfleger heben den Vorsitzenden behutsam vom Transportwagen und legen ihn auf den Operationstisch. Schadrach, Doktor Warhaftig und zwei seiner Assistenzärzte, alle desinfiziert und in Operationskleidung, betreten die aseptische Blase; sie wird hinter ihnen verschlossen und erst nach beendeter Operation wieder geöffnet.

Der Patient, noch immer bei vollem Bewußtsein und offenbar in aufgeräumter Stimmung, blickt interessiert hierhin und dorthin und beobachtet jede Phase der letzten Vorbereitungen. Die Assistenten entblößen den kleinen, schmächtigen Rumpf des Vorsitzenden, der faltig und mager ist, fast ohne Fettpolster und Körperbehaarung. Die feinen weißen Narben ungezählter Operationen überziehen kreuz und quer die gelblich-bräunliche Haut. Während die Assistenzärzte sich daranmachen, die Endpunkte der Überwachungsgeräte anzubringen, tastet Warhaftig konzentriert und nachdenklich den Unterleib des Patienten ab, zieht das Lasergerät heran und justiert den Schneidwinkel. Der Anästhesiearzt, außerhalb der Blase postiert, beugt sich über die Akupunktur-Kombinationen, die er auf seiner Tastatur zusammengestellt hat.

Da der Vorsitzende für die Dauer von vier bis sechs Stunden ohne arbeitsfähige Leber sein wird, muß ein künstliches Organ angeschlossen werden, das ihn während der Operation am Leben erhält. Aber auch fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zeitalters der künstlichen Organe und Verpflanzungen gibt es noch keine brauchbare künstliche Leber. Das gedrungene, würfelförmige Gerät, das Warhaftig verwendet, ist eine kombinierte mechanischorganische Anlage. Röhren, Schlauchleitungen, Pumpen und elektrodialytische Filter halten das Blut des Patienten rein, aber die mechanisch nicht duplizierbaren biochemischen Funktionen der Leber werden von der Leber eines Hundes wahrgenommen, die im Innern des Apparats in einem Bad warmer Nährflüssigkeit ruht. Einer der Assistenzärzte stößt zwei Nadeln in den Oberarm des Patienten, eine in eine Vene, die andere in eine Arterie. Der arterielle Anschluß scheint auf einen Widerstand zu stoßen, und der Arzt zögert. Der alte Mann nickt ihm zu. Dies alles ist ihm vertraut. »Machen Sie nur«, murmelt er. »Ich kann es ertragen.« Der Arzt vervollständigt den Anschluß und Arzt vervollständigt den Anschluß und nickt dem Kollegen zu. Kurz darauf fließt das Blut des Vorsitzenden durch die Schlauchleitung zum Dialysegerät und anschließend durch die nassen roten Lappen der Hundeleber, worauf es in den Körper des Vorsitzenden zurückkehrt. Schadrach überwacht unterdessen die eingehenden telemetrischen Signale. Alles ist in Ordnung.

»Immunsuppression«, befiehlt Warhaftig.

In Vorbereitung auf die Operation hat Schadrach dem Vorsitzenden seit me hreren Wochen antimetabolische Medikamente verabreicht, um die normale Immunreaktion zu unterdrücken, die eine erfolgreiche Verpflanzung unmöglich machen würde. Inzwischen ist die Abwehrkraft des Patienten so geschwächt, daß die Gefahr einer Abstoßung der verpflanzten Leber gering ist. Warhaftig aber will nichts riskieren: der Patient erhält eine letzte Dosis, dazu eine weitere Dosis Corticosteroide, und ein Helfer außerhalb der Operationsblase aktiviert ein kleines Gerät, welches das Blut zwischen Ersatzleber und Körper bestrahlt, wobei die für die Abstoßung von Fremdgewebe verantwortlichen Lymphozyten abgetötet werden. Das Herz des Patienten schlägt kräftig und gleichmäßig. Alle wichtigen Körperfunktionen halten sich im Normalbereich: Blutdruck, Puls, Körpertemperatur, Peristaltik, Muskeltonus, Pupillenerweiterung, Reflexe.

»Anästhesie«, sagt Warhaftig.

Der Anästhesiearzt steuert von seiner Konsole aus den gelenkigen Metallarm des UltraschallAkupunkturgeräts über den Körper des Vorsitzenden und manövriert den spitz zulaufenden Ultraschallkopf minutiös an Ort und Stelle. Sobald er den Akupunkturpunkt des neuralen Energieleiters gefunden hat, läßt er den scharf gebündelten Ultraschallstrahl in den entspannten, bewegungslosen Körper stoßen. Keine Akupunkturnadel verletzt die Haut des alten Mannes. Warhaftig überprüft mit Hilfe angehefteter Hautelektroden die Reaktionen des Patienten, berät mit dem Anästhesiearzt, prüft wieder, bittet Mordechai um eine Ablesung, unternimmt einen neuen Versuch mit erhöhter Spannung, und diesmal bleibt das schmerzliche Zusammenzucken aus. Der Vorsitzende erlaubt nicht, daß ihm eine allgemeine Anästhesie verabreicht wird — der Verlust des Bewußtseins ähnelt zu sehr dem Tod —, und Warhaftig lehnt alle chemischen Anästhesiemethoden ab, so daß Akupunktur für Arzt und Patient die geeignete Methode ist. Noch immer bei vollem Bewußtsein und beängstigend munter, kommentiert der Patient seine zunehmende Fühllosigkeit.

Schließlich stimmen Warhaftig und der Anästhesiearzt darin überein, daß der Prozeß abgeschlossen sei.

»Wir fangen jetzt an«, erklärt der Chirurg.

Die Helligkeit der Beleuchtung schwankt, als alle chirurgischen Geräte und unterstützenden Systeme gleichzeitig eingeschaltet werden. Zur Linken vom Chirurgen steht die Maschine mit der Ersatzleber, die das Blut des Patienten abpumpt und durch die Dialysefilter drückt. Zur Rechten wartet die neue Leber, die seit ihrer Entnahme vom Spender in einer geeisten Salzlösung gelagert worden ist und nun von warmer Flüssigkeit auf Körpertemperatur gebracht wird. Warhaftig überprüft ein letztes Mal sein Laser-Schneidgerät, dann setzt er es an, und der feine, blendende Lichtstrahl schneidet eine dünne rote Linie in den Unterleib des Patienten, der völlig bewegungslos bleibt. Der Chirurg wirft dem Leibarzt einen fragenden Blick zu. Schadrach nickt.

Warhaftig schneidet mit geschickten, energischen Bewegungen tiefer. Während eines jeden Schnitts bringt ein Assistenzarzt Stahlklammern an, mit denen die Wundränder auseinandergezogen werden. Der Vorsitzende verfolgt die Anfangsphasen mit angespannter Aufmerksamkeit, ohne den Chirurgen mit Fragen zu behelligen. Doch als seine inneren Organe bloßgelegt werden, wendet er den Kopf ab und starrt zur Decke empor. Vielleicht findet er den Anblick seiner Eingeweide erschrekkend oder abstoßend, aber vielleicht ist er nur gelangweilt, nachdem er so viele Male aufgeschnitten worden ist.

Nun ist die dunkle, kranke Leber sichtbar, schwer, schwammig, fleckig. Warhaftig klemmt mit geschickten Fingern die Arterien und Venen ab, dann durchschneidet sein Laserskalpell die Pfortader, die Leberarterie, die untere vena cava, das ligamentun teres, und den Gallenleiter. »Das war’s«, murmelt er und hebt des Vorsitzenden dritte Leber aus der Bauchhöhle. Die vierte wartet in unmittelbarer Nähe, groß, plump und gesund.

Nun beginnt der schwierigste Teil der Operation. Jeder Metzger kann einen Einschnitt machen, aber nur ein Künstler kann Adern vernähen. Warhaftig verwendet dazu ein anderes Lasergerät, eines, das verschweißt, statt zu schneiden. Langsam und sorgfältig, ohne Zeichen von Ermüdung oder Nervosität zu zeigen, schließt er die stillgelegten Arterien, die Venen und den Gallenleiter an die neue Leber an. Der Patient liegt schlaff da, beinahe wie in Vollnarkose, die Augen glasig, mit halboffenem Mund. Schadrach hat diese Reaktion schon des öfteren gesehen und versteht sie gut; sie ist weder ein Anzeichen von Erschöpfung noch von Schock, sondern nicht mehr als eine Art Yogaübung, mit deren Hilfe der Vorsitzende sich von der langwierigen und nervenbeanspruchenden Operation ablöst. Seine Funktionssignale kommen noch immer gleichmäßig und unvermindert, wobei im Enzephalogramm der Alpharhythmus vorherrscht.

Warhaftig arbeitet unablässig. Die neue Leber ist angeschlossen. Der Puls des Patienten steigt und muß berichtigt werden, aber das ist eine Erscheinung, die nicht unerwartet kommt. Nachdem er die neue Leber in der Bauchhöhle untergebracht hat, gewissenhaft und bedächtig, fügt der Chirurg Bauchfell, Muskelschichten und Haut wieder zusammen. Die Nähte sind makellos und werden nur minimale Narben zurücklassen. Nun ist die Bauchdecke geschlossen. Warhaftig tritt zurück, kühl und selbstzufrieden, und wirft einen letzten Blick auf die Ablesungen der Körperfunktionen, bevor er sich abwendet. Die Verpflanzung hat genau fünf Stunden in Anspruch genommen. Schadrach beugt sich vorwärts, um das Gesicht des alten Mannes zu betrachten. Er scheint zu schlafen; die Gesichtsmuskeln sind entspannt, die Augen ruhen, die schmächtige Brust hebt und senkt sich gleichmäßig.

Aber nein, Schadrachs Schatten scheint dem Bewußtsein des Patienten nicht entgangen zu sein, denn die dünnen Lippen verziehen sich zu einem frostigen Lächeln; das linke Auge öffnet sich und zwinkert ihm unverkennbar zu.

»Nun, damit hätten wir wieder eine überstanden«, sagt Dschingis Kahn II. Mao mit klarer Stimme.

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