In der Zeit, die ihm noch bleibt, ehe er gehen und den Vorsitzenden abholen muß, entledigt sich Schadrach Mordechai einer seiner regelmäßigen bürokratischen Pflichten: er läßt sich von den Leitern der drei Forschungsprojekte Talos, Phönix und Avatara, die vom Vorsitzenden selbst ins Leben gerufen wurden — und in denen viele nur ein Indiz für die unausweichliche Hybris der Mächtigen sehen —, die täglichen Lageberichte geben. Als Leibarzt des Vorsitzenden hat Schadrach nominell die Oberleitung aller drei Projekte, und er konferiert allmorgendlich mit den Projektleitern, deren Laboratorien in einem niedrigeren Seitenflügel des Regierungspalastes untergebracht sind.
Als erste erscheint Katja Lindman vom Projekt Talos auf der Mattscheibe. »Wir haben gestern die Augenlider kodiert«, erzählt sie ihm sofort. »Das ist einer der größten bisher gelungenen Schritte in unserem Umsetzungsprogramm von der Analogie zur Digitale. Damit haben wir sieben der rund dreihundert grundlegenden kinetischen Merkmale des Vorsitzenden vollständig aufgezeichnet und in Steuerimpulse umgesetzt.« Katja Lindman ist eine stämmig gebaute, üppige Schwedin von beängstigender Intelligenz, dunkelhaarig und cholerisch, eine Frau, die trotz oder wegen ihres dünnlippigen, spitzzahnigen Mundes, der ihr einen Ausdruck bedrohlicher Wildheit verleiht, auf Schadrach eine seltsame Anziehungskraft ausübt. Von den drei Projekten ist das ihrige am weitesten hergeholt, ein Versuch, einen mechanischen Dschingis Khan II. Mao zu entwickeln, eine analoge Einheit, durch die er nach seinem körperlichen Tod weiterregieren kann — eine Gliederpuppe, eine mechanische Nachahmung, die zugleich eine künstliche Fortsetzung seiner Persönlichkeit werden soll. Rein technisch bietet der Bau einer solchen Nachbildung keine unüberwindlichen Schwierigkeiten; das Problem besteht darin, etwas zu schaffen, was über die Walt Disney-Roboter hinausgeht, an die Schadrach sich aus seiner Jugend erinnert, die raffinierten, überraschend lebensechten Maschinen, die in ihren Hauttönungen und Bewegungen und Sprechweisen so verblüffend wirklichkeitsgetreu schienen. DisneyMaschinen sind im vorliegenden Fall nicht ausreichend. Ein Disney-Abraham Lincoln kann die Ansprache von Gettysburg achtmal in der Stunde fehlerlos aufsagen, würde aber niemals imstande sein, mit einer Delegation von Parteitagsabgeordneten aus aller Welt zu verhandeln oder vor dem Ministerrat die ideologischen Grundsätze und Leitbilder der praktischen Politik zu erläutern. Ein Vorsitzender aus Metall und Plastik könnte mit hypnotischer Beredsamkeit die alten Ansprachen wiederholen, aber viel Wert hätte das inmitten der Krisen einer im Umbruch befindlichen Gesellschaft nicht. Nein, es kam darauf an, die Essenz des lebendigen Vorsitzenden einzufangen, zu verschlüsseln und zu einem Programm zu verarbeiten, das weiterwachsen und selbständig reagieren kann. Was den Erfolg des Projekts betrifft, so ist Schadrach ziemlich skeptisch. Er fragt Katja Lindman, wie er es alle paar Wochen zu tun pflegt, welche Fortschritte ihre Abteilung bei der Umsetzung von Gedankenprozessen des Vorsitzenden in verschlüsselte Dateneinheiten erzielt hat, was erheblich schwieriger als die Ausarbeitung von Digitalprogrammen für Mienenspiel und Eigentümlichkeiten der Haltung ist. Sie empfindet die Frage als Drohung und Herausforderung, und in ihren Augen blitzt ein vertrautes Feuer auf; aber dann sagt sie nur: »Wir beschäftigen uns weiterhin mit diesem Problem. Unsere besten Leute arbeiten ständig daran.«
Schadrach bedankt sich und schaltet auf Irina Sarafrazis Kanal. Die Leiterin des Projekts Phönix ist eine junge persische Gerontologin, eine schmächtige, beinah zerbrechlich aussehende Person mit großen dunklen Augen, einem festen, ernsten Mund und streng zurückgekämmten schwarzen Haar. Ihre Gruppe sucht nach einer Technik zur körperlichen Erneuerung, die die Verjüngung des lebenden Zellgewebes des Vorsitzenden ermöglichen soll, damit er in seiner eigenen Haut wiedergeboren werden kann, wenn er nicht länger die Kraft und die Widerstandsfähigkeit für weitere Organverpflanzungen aufbringt. Das Haupthindernis ist in diesem Fall die mangelnde Bereitschaft des Gehirns, seine täglich zu Hunderttausenden absterbenden Zellen zu regenerieren. Der Alterungsprozeß der übrigen Organe und Körpergewebe ist aufzuhalten, wenn die Neuprogrammierung der Nukleinsäure gelingt, eine schwierige, doch immerhin lösbar scheinende Aufgabe, aber niemand weiß einen Weg, wie der ständige Zerfall und Tod der Gehirnzellen aufgehalten, geschweige denn rückgängig gemacht werden könnte. Im Laufe von neun Jahrzehnten hat das geschätzte Hirngewicht des Vorsitzenden bereits um zehn Prozent abgenommen, mit einem entsprechenden Verlust mnemonischer Funktionen und neuraler Reaktionszeit; nichtsdestoweniger ist er weit davon entfernt, senil zu sein. Aber welch schrecklicher Niedergang in die Idiotie könnte ihn ereilen, wenn er weitere fünfzig Jahre mit dem vorhandenen, nicht erneuerungsfähigen Gehirn auskommen müßte? Hunderte von glücklosen Primaten mußten Irina Sarafrazis Forschungsprojekt ihren Schädelinhalt opfern, und ihre Gehirne leben in Glasbehältern mit Nährlösung auf den Laboratoriumsregalen weiter, wach und reaktionsfähig, während die Forscher nach Möglichkeiten suchen, die Neuronen zu neuem Wachstum anzuregen. Fortschritte sind nicht erzielt worden und auch nicht in Sicht.
An diesem Morgen wirkt die Projektleiterin entmutigt. Ihre glitzernden Achämenidenaugen blikken stumpf und angestrengt. Das entkörperte Gehirn von Pan, einem Schimpansen, hat plötzlich eine fatale Zustandsverschlechterung erlitten, gerade als es schien, daß neues Zellwachstum einsetzen würde. »Es ist nicht mehr zu retten, und wir sind in Begriff, die Autopsie einzuleiten«, sagt Irina Sarafrazi trübe. »Pans Tod kann bedeuten, daß unser ganzes Programm zur Stimulierung der Gehirnzellen ein Fehler ist. Ich denke daran, das Hauptgewicht unserer Forschungsarbeit von der Gehirnerneuerung auf die Aktivierung ungenutzten Potentials zu verlagern. Was meinen Sie?«
Schadrach zuckt die Achseln. Natürlich weiß er, daß das menschliche Gehirn enorme ungenutzte Areale besitzt, Milliarden von Zellen, deren einzige erkennbare Funktion die einer Reserve für den Notfall ist; er weiß auch, was zur Rehabilitierung der Opfer von Schlaganfällen und anderen Gehirnschäden durch Umleitung der neuralen Kanäle in die Reservegebiete des Gehirns erreicht worden ist. Aber die Nutzbarmachung bestehenden Gehirngewebes verzögert nur die drohende Gefahr seniler Degeneration, ohne sie zu bannen. Solange täglich Gehirnzellen absterben, wird der Vorsitzende früher oder später in senilen Schwachsinn verfallen, selbst in einem verjüngten Körper.
»Ich glaube, das wäre nur eine vorübergehend wirksame Maßnahme«, antwortet Schadrach. »Ohne eine echte Regeneration des Gehirns scheint mir das Risiko zu hoch. Ein altes Gehirn in einem verjüngten Körper — ich fürchte, das geht nicht gut. Vielleicht sollten wir morgen noch einmal darüber sprechen, wenn der Autopsiebericht über den Schimpansen vorliegt.«
Unfähig, den Anblick ihres traurigen Gesichts zu ertragen, schaltet er aus und stellt eine Verbindung mit Nicki Crowfoot vom Projekt Avatara her.
Sie lächelt zärtlich.
»Hast du gut geschlafen, Schadrach?«
Ihre Kraft und die Stärke ihrer Anteilnahme verleihen noch der kleinen Wiedergabe auf der Mattscheibe eine besondere Ausstrahlung. Sie ist eine kraftvolle Frau, eine Athletin, braunhäutig, großbrüstig und so groß wie er selbst, mit einem starkknochigen Gesicht, weit auseinander stehenden Augen, einem breiten Mund und hochrückiger, leicht gebogener Nase. Beide Eltern waren Indianer, die Mutter eine Navajo, der Vater ein Hopi. Sie und Schadrach sind seit über einem Jahr befreundet, seit vier Monaten Liebende. Schadrach hofft, daß der Vorsitzende von ihrer Affäre nichts weiß, ahnt jedoch, daß es eine naive Hoffnung ist.
Er sagt: »Jedenfalls habe ich eine Zeitlang gut geschlafen.«
»Sorgen wegen der Operation?«
»Wahrscheinlich. Oder vielleicht nur allgemeine Sorgen.«
Sie lächelt. »Ich hätte dir helfen können, auf andere Gedanken zu kommen.«
»Ganz bestimmt. Aber bei einem solchen Eingriff möchte ich ausgeruht sein. Die Konzentration muß absolut klar sein, der Verstand wach und unvernebelt. Vielleicht ist es albern, Nicki, aber das war immer mein Prinzip: vor wichtigen Ereignissen auszuschlafen.«
»Schon gut, schon gut. Ich wollte dich bloß aufziehen. Außerdem läßt sich alles nachholen.«
»Heute Abend, ja. Oder am Nachmittag. Ich denke, wir werden ihn um halb drei vom Tisch haben. Wie würde es dir gefallen, mit mir einen Ausflug nach Karakorum zu machen?«
Sie seufzt und macht ein Gesicht. »Ich kann nicht. Wir haben heute Nachmi ttag wichtige Versuche laufen. Möchtest du meinen Bericht hören?«
Doktor Crowfoots Arbeit überlappt in mancher Hinsicht die beiden anderen Projekte, denn das Ziel des Projekts Avatara ist die Entwicklung einer Technik der Persönlichkeitsübertragung, die Dschingis Khan II. Mao in die Lage versetzen soll, mit dem bewußten Selbst seiner Persönlichkeit, aber ohne Mitnahme irgendwelcher Teile seiner hinfälligen physischen Erscheinung in einen anderen, jüngeren Körper einzugehen. Wie im Projekt Talos wird auch hier versucht, Denkmuster und Verhaltensweisen des Vorsitzenden in digitale und daher programmierbare, reproduzierbare Kodierungen umzuwandeln; wie im Projekt Phönix wird damit bezweckt, dem Vorsitzenden einen neuen und gesunden Körper zu verschaffen. Aber wo Talos die aufgezeichnete und reproduzierte Persönlichkeit des alten Mannes in einem mechanischen Konstrukt beherbergen möchte, würde Avatara sie in einem bis dahin von jemand anders bewohnten Körper unterbringen, genauer gesagt, in Mangus Körper. Auf der einen Seite würde Crowfoots Projekt die Unmenschlichkeit vermeiden, einen Robotervorsitzenden zu schaffen, während es auf der anderen Seite das Problem des Gehirnzellenverfalls umgehen würde, indem es die ungreifbare und abstrakte Essenz des alten Mannes einem jungen und leistungsfähigen Gehirn aufprägen würde. Trotz dieser teilweisen Überlappung werden die drei Projekte völlig unabhängig voneinander weiterverfolgt, obwohl auf allen Ebenen ein ständiger Gedankenaustausch stattfindet.
Dank seiner privilegierten Stellung ist Schadrach Mordechai vielleicht der einzige, der einen genaueren Überblick über den Stand der Dinge hat. Er weiß, daß Katja Lindmans Gruppe an einem Problem arbeitet, das wahrscheinlich hoffnungslos ist — die Übertragung einer menschlichen Persönlichkeit auf eine Maschine wird kein überzeugendes und politisch lebensfähiges Duplikat des Originals hervorbringen, da Maschinen im allgemeinen unfähig sind, die Begrenztheit ihres maschinellen Charakters zu überwinden —, und daß Irina Sarafrazis Gruppe, obwohl sie mit der einleuchtendsten Methode versucht, dem Vorsitzenden die ersehnte langfristige Lebensverlängerung zu bescheren, wahrscheinlich verurteilt ist, an der offenbar unlösbaren Schwierigkeit des Gehirnzellenverfalls zu scheitern. Er weiß auch, daß Nicki Crowfoots Weg zur Persönlichkeitsverschlüsselung erfolgreicher als Lindmans Methode gewesen ist, und daß es den Wissenschaftlern des Projekts Avatara in einigen Monaten möglich sein mag, die Persönlichkeitsstruktur des Vorsitzenden wie einen tief eindringenden Farbanstrich über das Gehirn eines Spenderkörpers zu decken, dessen bisheriger Bewohner durch aktive elektro-enzephalographische Techniken ausgelöscht worden ist. Armer Mangu. Sein Geschick wird sich bald erfüllen, es sei denn, der Revolutionsrat, dem die diesbezüglichen Pläne seines Vorsitzenden nicht bekannt sind, widersetzt sich dem Vorhaben. Das kann angesichts der herrschenden Rivalitäten und persönlichen Ambitionen innerhalb des Revolutionsrates jedoch keineswegs als gesichert gelten.
Schadrach lauscht in fröstelnder Faszination ihrem Bericht. Sie haben das Stadium erreicht, wo sie die Verhaltensweisen von Tieren verschlüsseln können, indem sie die charakteristischen Muster der Gehirntätigkeit aufzeichnen und in Zahlenkombinationen umsetzen, mit deren Hilfe ein Computer die elektrischen Muster auf die Gehirne von Spendertieren überträgt. So haben sie das Verhalten eines Hahns aufgezeichnet und auf das zuvor neutralisierte Gehirn eines Mäusebussards übertragen; dieser fliegt nun nicht mehr, sondern läuft im Hühnerstall herum, versucht den Hahnenschrei nachzuahmen, flattert unbeholfen mit den großartigen Schwingen und bespringt die entsetzten Hennen. Sie haben die Persönlichkeit eines Gibbon aufgezeichnet und auf einen Gorilla übertragen, der nun zu einem Baumbewohner geworden ist und in wilder Raserei durch die Baumkronen hangelt, während seine frühere Gorillapersönlichkeit nun in der Gestalt des Gibbon wohnt, der sich, auf die Fingerknöchel gestützt, bedächtig am Boden dahinbewegt und auf den schmächtigen Brustkorb trommelt, wenn er in Zorn gerät. Und so weiter; Nicki erzählt ihm, daß sie sich auf die ersten menschlichen Bewußtseinsübertragungen vorbereiten, mit denen In einigen Wochen begonnen werden könne.
Schadrach fragt nicht, wo sie ihre Versuchspersonen hernehmen will. Im Dienst des Vorsitzenden gerät man mit verwirrenden ethischen Problemen in Konflikt, und er zieht es vor, sein Gewissen nicht mit den Taten der Geliebten zu belasten.
»Ruf mich an, wenn die Operation beendet ist«, sagt Nicki Crowfoot.
»Wird euch das nicht bei den kritischen Versuchen stören?«
»So kritisch sind sie nicht. Ruf ruhig an. Also, bis heute Abend.«
»Ja, bis heute Abend«, sagt Schadrach und unterbricht die Verbindung. Es ist acht Uhr fünfundfünfzig. Er muß den Vorsitzenden zum Operationsraum geleiten.