In Peking kommt Schadrach im Hotel der Hundert Tore bequem unter. Es liegt im alten Gesandtschaftsviertel am Rande der Verbotenen Stadt, wo Kublai Khan und Ch’ien lung einst residierten. Hier in Peking beginnt Schadrach wieder Signale vom Vorsitzenden zu empfangen. Er ist noch immer zwölf- oder dreizehnhundert Kilometer von Ulan Bator entfernt, jenseits des eigentlichen telemetrischen Bereichs, und so sind die aufgefangenen Impulse undeutlich und schwach. Auch ist er nach der wochenlangen Trennung nicht mehr in so genauer Übereinstimmung mit den Aussendungen der Meßgeräte im Körper des alten Mannes. Aber wenn er still sitzt und seine Aufmerksamkeit ganz er still sitzt und seine Aufmerksamkeit ganz auf die Sendeimpulse konzentriert, dann gelingt es ihm, die eingehenden Biodaten mit allmählich zunehmender Klarheit zu lesen.
Die Hauptfunktionen kommen natürlich am besten herein: Herzrhythmus, Blutdruck, Atmung, Körpertemperatur. Alles scheint auf der gewohnten Ebene unverwüstlicher Vitalität abzulaufen. Leber- und Nierenfunktionen liegen im normalen Bereich, die grundlegenden Stoffwechselvorgänge und neuromuskularen Reaktionen desgleichen. Schadrach ist wie schon so oft erstaunt, wie gesund und kräftig der alte Mann ist. Die heroische Ausdauer und Widerstandskraft dieses Greisenkörpers erfüllt ihn selbst mit einem gewissen Stolz, als wäre der zählebige Alte sein eigenes Werk.
Als Schadrach seinen Empfangsbereich erweitert und weitere, weniger offensichtliche Daten zu entziffern sucht, beginnen sich jedoch einige unerwartete Rätsel zu entwickeln. Mit der Produktion von Enzymen scheint es zu hapern, die Blutviskosität liegt unter dem Normalwert, die Cholesterolbildung darüber, und der pH-Wert des Blutes scheint erhöht.
Bei einem Mann vom Alter des Vorsitzenden, der in jüngster Zeit zwei ernste chirurgische Eingriffe erfahren hat, ist keines dieser Symptome ein Anlaß zu wirklicher Besorgnis — es wäre kaum vernünftig, zu erwarten, daß sein Gesundheitszustand vollkommen sei —, aber die Kombination der Symptome gibt Schadrach zu denken. Er fragt sich, wie viele seiner Ablesungen in Wirklichkeit der Entfernung zuzuschreiben sein mögen. Er hat Mühe, einige dieser Signale überhaupt wahrzunehmen, und so mag es sein, daß er sie nicht richtig deutet. Andererseits sind die Störungen — wenn es welche sind — von bemerkenswerter Beständigkeit. Jeder Ablesungsversuch ergibt die gleichen Werte.
Und eine Hypothese beginnt Gestalt anzunehmen.
Aus mehr als tausend Kilometern Entfernung eine Diagnose zu stellen, ist riskant. Schadrach vermißt seine medizinische Bücherei und seinen Datenanschluß, aber er hat eine Idee, von welcher Art das Problem sein könnte, und weiß, welche Daten er zur Bestätigung seiner Theorie benötigt. Was er nicht weiß, ist, ob Buckmasters Übertragungssystem gut genug ist, um so geringfügige Abweichungen richtig zu registrieren und in Form unmißverständlicher Signale über eine so weite Entfernung zu senden.
Wenn die Blutviskosität zu niedrig und der pHWert alkalisch ist, werden Plasmaproteinspiegel und osmotischer Druck zwischen Gewebe und Kapillargefäßen zu niedrig liegen. Ist der hydrostatische Blutdruck gleichzeitig normal, wie die Signale andeuten, dann kann sich in den Körpergeweben des Patienten überschüssige Flüssigkeit ansammeln. Das braucht für sich genommen nicht gefährlich zu sein, aber solche Ansammlungen können zur Entwicklung von Ödemen führen, und diese können symptomatisch für Nierenversagen und Leberfunktionsstörungen sein. Schadrach macht sich daran, die eingehenden Signale mit äußerster Konzentration zu entschlüsseln und zu durchforschen, ob weitere Anzeichen für die Bildung überschüssiger Flüssigkeit in den Geweben sprechen. Alles scheint in Ordnung zu sein. Schadrach neigt nun dazu, seine Hypothese aufzugeben. Vielleicht hat der Vorsitzende keine Schwierigkeiten. Diese wenigen negativen Hinweise waren wahrscheinlich nur Störgeräusche atmosphärischer Herkunft, und daher…
Aber dann bemerkt er, daß etwas im Schädel des Vorsitzenden nicht stimmt. Der Innendruck ist ungewöhnlich hoch.
Die Signale des in das Schädeldach des Patienten eingepflanzten Monitors sind für Schadrach weniger aufschlußreich als diejenigen anderer Meßsonden. Dschingis Khan II. Mao hat niemals einen Schlaganfall oder andere Gehirnschäden erlitten, die den Chirurgen Anlaß gegeben hätten, seinen Schädel zu öffnen. Daher muß Schadrach sich mit einer ziemlich oberflächlichen und lückenhaften Überwachung der Gehirnfunktionen zufrieden geben. Immerhin hat er einen Sensor, der ihm den Innendruck meldet, und der Anstieg dieses Drucks läßt ihn jetzt aufmerken. Sammelt sich die Flüssigkeit womöglich im Kopf an?
Schadrach zieht alle korrelativen Informa tionen heran, die er bekommen kann. Der osmotische Druck der Kapillargefäße des Schädels ist niedrig. Der hydrostatische Druck normal. Es besteht Blutandrang im Gehirn, und das System, das Flüssigkeit aus dem Inneren des Gehirns zur Hirnschale ableitet, wo sie vom Blutkreislauf aufgenommen wird, arbeitet offenbar nicht einwandfrei.
Im Augenblick bedeutet dies, daß der Patient wahrscheinlich unter Kopfschmerzen leidet, die sich verstärken werden, wenn Schadrach Mordechai nicht sofort nach Ulan Bator zurückkehrt, und daß es zu Gehirnschäden mit möglicherweise tödlichen Folgen kommen kann, wenn nichts unternommen wird. Es bedeutet auch, daß Schadrachs Urlaub zu Ende ist. Er muß auf die Besichtigung der Stadt verzichten. Der Bereich der Verbotenen Stadt, das historische Museum, die Ming-Gräber, der Konfuziustempel, der Kulturpalast des arbeitenden Volkes und die vielen anderen Sehenswürdigkeiten werden ihm unbekannt bleiben. Diese Dinge sind ihm jetzt nicht wichtig: dies ist der Augenblick, auf den er während seiner Wanderung von Kontinent zu Kontinent gewartet hat. Das labile System des alten Mannes hat während der Abwesenheit des Leibarztes Schaden genommen und droht zusammenzubrechen. Schadrachs Unentbehrlichkeit ist manifest geworden. Er wird gebraucht. Er muß sofort zu seinem Patienten. Und die geeigneten Schritte einleiten. Er hat seine hippokratischen Pflichten zu erfüllen. Außerdem muß er an sein eigenes Überleben denken.
Schadrach geht in die Hotelhalle hinunter, um einen Platz für den nächsten Flug nach Ulan Bator buchen zu lassen. Der hagere junge Chinese am Empfangsschalter, der seine Faszination für Schadrachs Hautfarbe nicht verbergen kann und ihn immer wieder anstarren muß, stellt fest, daß die nächste Maschine in zweieinhalb Stunden startet, und bedauert mit höflichen Worten, daß Schadrachs Aufenthalt in Peking von so kurzer Dauer ist.
»Ich mußte meine Pläne ändern«, erwidert Schadrach. »Dringende Verpflichtungen zwingen mich, sofort zurückzukehren.«
Er läßt seinen Blick durch die Hotelhalle wandern — einen weitläufigen, im Halbdunkel liegenden Raum, der nach Räucherstäbchen duftet und mit Sitzmöbeln aus Rattan, bemalten Wandschirmen, riesigen Porzellanvasen und Lackarbeiten auf Rosenholzfüßen vollgestellt ist — und erblickt die massige, zwei begleitende Chinesen überragende Gestalt Avogadros. Ihre Blicke begegnen einander, und Avogadro lächelt, nickt grüßend und wedelt mit der Hand. Wie es scheint, ist er gerade eingetroffen. Schadrach ist ganz und gar nicht überrascht, den Sicherheitschef hier in Peking zu entdecken. Es erscheint ihm nur folgerichtig und geradezu unausweichlich, daß Avogadro hier erscheint, um ihn persönlich zu verhaften.
Als sie sich begrüßen, erwähnt keiner der beiden die Koinzidenz ihrer Anwesenheit in diesem Pekinger Hotel. Avogadro erkundigt sich liebenswürdig, wie ihm die Weltreise gefallen habe.
»Ich habe viel gesehen«, sagt Schadrach. »Es war äußerst interessant.«
»Ist das das beste Wort, was Ihnen dazu einfällt? Interessant? Nicht überwältigend, erhellend, außergewöhnlich oder fantastisch?«
»Interessant«, wiederholt Schadrach mit beabsichtigter Nüchternheit. »Eine sehr interessante Reise. Und wie hat sich der Vorsitzende während meiner Abwesenheit gehalten?«
»Nicht allzu schlecht.«
»Er wird gut versorgt und gepflegt. Es gefällt ihm, sich einzubilden, ich sei unentbehrlich, aber das Aushilfspersonal ist durchaus fähig, mit allen normalerweise anfallenden Aufgaben fertig zu werden.«
»Wahrscheinlich.«
»Aber er hat neuerdings Kopfschmerzen, nicht wahr?«
Avogadro blickt ein wenig verdutzt. »Sie wissen das, nicht wahr?«
»Ich bin hier gerade am Rand des telemetrischen Bereichs.«
»Und da können Sie seine Kopfschmerzen ausmachen?«
»Ich kann bestimmte kausale Faktoren wahrnehmen«, sagt Schadrach, »und von ihnen auf Kopfschmerzen schließen.«
»Ein ungemein raffiniertes System«, sagt Avogadro bewundernd. »Sie und der Vorsitzende sind praktisch wie eine Person, finden Sie nicht? So, wie Sie jetzt miteinander verbunden sind. Er hat Schmerzen, und Sie fühlen es.«
»Das ist gut ausgedrückt«, sagt Schadrach. »Ja, der Vorsitzende und ich sind eine Person, eine Informationen verarbeitende Einheit. Vergleichbar mit der Einheit, die aus dem Bildhauer, dem Marmorblock und dem Meißel besteht, wie Nicki Crowfoot es kürzlich ausdrückte.«
Der Vergleich scheint Avogadro nicht zu beeindrucken, oder er hat gar nicht hingehört. Er fährt fort, das etwas starre, entschlossen liebenswürdige Lächeln zur Schau zu tragen, mit dem er Schadrach begrüßt hat.
»Aber die Verbindung ist noch nicht eng genug«, fährt Schadrach fort. »Das System könnte noch wirksamer zusammengeschlossen werden. Ich habe vor, mit den Elektronikern über ein paar Veränderungen zu sprechen, sobald ich nach Ulan Bator komme.«
»Und wann wird das sein?«
»Heute Abend«, sagt Schadrach. »Ich fliege mit der nächsten Maschine.«
Avogadro zieht die Brauen hoch. »Tatsächlich? Wie praktisch. Das erspart mir die Mühe, Sie…«
»Mich zur Rückkehr aufzufordern?«
»Ja.«
»Ich dachte mir, daß Sie mit so etwas herauskommen würden.«
»Die Sache ist die, daß der alte Mann Sie vermißt. Er hat mich hergeschickt, daß ich mit Ihnen spreche.«
»Natürlich.«
»Und Sie ersuche, zurückzukommen.«
»Er hat Sie geschickt, mich darum zu ersuchen? Er hat Ihnen nicht Anweisung gegeben, mich zu bringen? Nun, das ist eine angenehme Neuigkeit. Er hat Sie gebeten, mich zu ersuchen, ob ich zurückkehren würde! Aus freien Stücken.«
Avogadro sieht ihn stirnrunzelnd an. »Ja, natürlich. Was dachten Sie?«
Schadrach denkt an die Milizionäre, die ihn auf den verschiedenen Stationen seiner Weltreise keinen Tag aus den Augen gelassen haben, und er stellt sich vor, wie sie die Köpfe zusammensteckten und über ihren Protokollen und Berichten grübelten, die sie für ihre Vorgesetzten und die Kollegen in entfernten Städten anfertigen mußten. Er weiß, daß die wirkliche Situation nicht so harmlos und zufällig ist, wie Avogadro ihn glauben machen möchte. Mit seinem Entschluß, noch heute zurückzukehren, hat er Avogadro der Peinlichkeit enthoben, ihn in Gewahrsam zu nehmen und zwangsweise nach Ulan Bator zurückbringen zu müssen. Er hofft, der Sicherheitschef weiß ihm das zu danken.
Er sagt: »Wie schlimm sind die Kopfschmerzen des Vorsitzenden?«
»Ziemlich schlimm, soviel ich weiß.«
»Sie haben ihn nicht gesehen?«
Avogadro schüttelt den Kopf. »Nur am Telefon. Er sah müde und abgespannt aus.«
»Wann war das?«
»Vorgestern Abend. Aber von den Kopfschmerzen des Vorsitzenden ist schon die ganze Woche geredet worden.«
»Ich verstehe«, sagt Schadrach. »Ich dachte, es könnte so etwas sein. Darum habe ich beschlossen, vorzeitig zurückzukehren.« Er blickt Avogadro fest in die Augen. »Sie verstehen das, nicht wahr? Daß ich mich zum Abbruch meiner Urlaubsreise entschloß, sobald ich bemerkte, daß das Wohlbefinden des Vorsitzenden zu wünschen übrig läßt. Die Verantwortung für meinen Patienten verlangt es; sie hat immer mein Handeln bestimmt. Zu allen Zeiten. Das ist Ihnen sicherlich klar, oder?«
»Selbstverständlich«, sagt Avogadro.
23. Juni 2012
Wie, wenn ich gestorben wäre, ehe ich meine Arbeit getan hätte? Das ist durchaus keine müßige Frage. Ich bin eine wichtige geschichtliche Gestalt. Ich bin einer der großen Umformer der Gesellschaft. Wäre ich 1995, 1998 oder noch 2001 von der weltpolitischen Szene abgetreten, so wäre möglicherweise alles im Chaos untergegangen. Ich bin für diese neue Gesellschaft, was Augustus für das Römische Weltreich war, was Chin Shi Huang Ti für China war. Wie würde die Welt heute aussehen, wenn ich vor zehn Jahren zugrundegegangen wäre? Hätte die Revolution den Sieg davongetragen? Wahrscheinlich hätten sich die überlebten alten Kräfte da und dort noch länger an der Macht gehalten. Und weitere verlustreiche Kämpfe und Aufstände wären die Folge gewesen. Neue Ausbrüche biologisch-chemischer Kriegführung und zuletzt die Selbstausrottung der Menschheit. Alles das hätte leicht geschehen können, wenn meine Person in jenen kritischen Augenblicken aus der Geschichte entfernt worden wäre. Ich bin der Retter der Welt.
Es klingt unerträglich großspurig. Retter der Welt! Heros, Mythengestalt. Ich, Krischna, ich, Quetzalcoatl, ich, Dschingis Khan H. Mao. Und doch kann ich dies mit Recht von mir sagen, mit mehr Recht als irgendein anderer, denn ohne mich könnte die ganze Menschheit heute ausgelöscht sein, und das ist eine neue Qualität in der Geschichte der Erlöser-Mythen. Einigung der Menschheit, Aufbau der neuen Gesellschaft, Kampf gegen die Folgen des Viruskriegs — ja, dies könnte inzwischen sehr leicht ein toter Planet sein, wenn ich vor fünfzehn Jahren ins Grab gesunken wäre. Die Geschichte wird es anerkennen. Und doch, was macht es aus? Ich werde nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich sterbe — ich werde niemals in Vergessenheit geraten, aber ich werde sterben. Früher oder später werden meine Ausflüchte und Hinhaltemanöver sich erschöpfen. Weder Talos noch Phönix oder Vatara können mich für unbegrenzte Zeit erhalten. Irgend etwas wird versagen, oder der Überdruß wird mich bezwingen und bewirken, daß ich meinem Leben selbst ein Ende mache, und was wird es nach meinem Tode bedeutet haben, daß ich die Welt rettete? Was ich getan habe, ist für mich letztendlich bedeutungslos. Die Macht, die ich erlangt habe, ist letztendlich leer. Ich rede mir ein, die Einigung der Menschheit und die Verwirklichung der Ziele unserer Bewegung hätten eine Bedeutung, aber das ist nicht der Fall; nichts ist von Bedeutung. Das Leben des Menschen — und folglich das Leben der gesamten Menschheit — ist ohne tieferen Sinn. Diese Philosophie ist unter den jungen Leuten weit verbreitet, aber auch unter den sehr alten. Ich muß so tun, als sei mir die Macht wichtig. Ich muß vorgeben, daß der Sieg der fortschrittlichen Kräfte leuchtende Zukunftsperspektiven eröffne, muß den Anschein erwecken, als trügen die Geschichte und der Fortbestand der Menschheit ihren Sinn in sich selbst. Aber ich bin zu alt, als daß es mich noch kümmern könnte. Ich habe vergessen, warum mir wichtig war, was ich getan habe. Ich ziehe ein schal und albern gewordenes Spiel in die Länge, nicht bereit, es enden zu lassen, weil die Alternative das Nichts wäre. Und so mache ich weiter. Ich, Dschingis Khan II. Mao, Retter der Welt, muß vor meiner Umgebung die tiefe und lähmende Leere verbergen, die mich erfüllt. Ich bin müde. Ich bin des Lebens überdrüssig. Mein Kopf schmerzt. Mein Kopf schmerzt.
»Mordechai!« krächzt der Vorsitzende. »Diese Kopfschmerzen! Diese elenden Kopfschmerzen! Bringen Sie das in Ordnung!«
Der alte Mann sitzt aufrecht im Bett, im Rucken von drei Kissen gestützt, und bearbeitet Akten. Er sieht müde und zermürbt aus, mit verkrampfter Kinnlade und einem gepeinigten und gereizten Ausdruck in den Augen, die außerstande scheinen, sich längere Zeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Aus dieser Nähe kann Schadrach mit Leichtigkeit ein Dutzend verschiedener Symptome des Drucks ausmachen, der sich in den Höhlungen des Gehirns aufbaut. Verschiedene Anzeichen lassen bereits erste geringfügige Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen erkennen. An der Diagnose besteht jetzt kein Zweifel mehr.
»Sie waren zu lange fort, Doktor«, fährt der Vorsitzende ungnädig fort. »Sicherlich haben Sie sich gut amüsiert, ja. Aber die Kopfschmerzen, Doktor, diese elenden, scheußlichen Kopfschmerzen — ich hätte Sie nicht gehen lassen sollen. Ihr Platz ist hier, neben mir. Es war, als hätte ich meine rechte Hand auf Weltreise geschickt. Ein zweites Mal werde ich Sie nicht gehen lassen, das sollen Sie gleich wissen. Und nun kümmern Sie sich um meine Kopfschmerzen, die mich kaum noch arbeiten lassen. Ich bin am Verzweifeln. Dieser ständige Druck, das Pochen, und immer wieder dieser stechende Schmerz. Als ob etwas in meinem Schädel säße und herauszukommen suchte.«
»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Wir werden das bald in Ordnung bringen.«
Der alte Mann verdreht die Augen in einer gequälten Grimasse. »Wie denn? Wollen Sie ein Loch in meinen Schädel bohren? Den Dämon wie eine stinkende Gaswolke entweichen lassen?«
Schadrach lächelt. »Ich bin kein Schamane, und dies ist nicht das Neolithikum. Die Trepanation ist längst veraltet. Wir haben bessere Methoden.« Er legt die Fingerspitzen an die Wangen des Alten, tastet die Knochenstruktur ab. »Entspannen Sie sich, bitte. Lassen Sie die Muskeln erschlaffen.« Es ist später Abend, und Schadrach ist müde und erschöpft. Er ist seit San Francisco kaum zur Ruhe gekommen und hat sofort nach der Ankunft in Ulan Bator den Vorsitzenden aufgesucht, ohne sich auch nur umzuziehen. Sein Bewußtsein ist ein Durcheinander von Zeitzonen, und er weiß nicht genau, ob es Samstag, Sonntag oder Freitag ist. Aber im Kern seines Wesens ist ein Raum völliger Ruhe und kristallener Klarheit. »Entspannen Sie sich«, wiederholt er. »Versuchen Sie die Verkrampfung zu lösen, lassen Sie die Spannung aus dem Nacken und den Schultern abfließen. Ganz ruhig jetzt, überlassen Sie sich einfach meinen Händen…«
»Mit Massagen und beruhigenden Reden werden Sie das nicht heilen«, ächzt der Vorsitzende.
»Aber wir können damit die Symptome mildern.«
»Und dann?«
»Wenn nötig, gibt es chirurgische Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen.«
»Sehen Sie, Sie werden also doch ein Loch in meinen Schädel bohren! Wie im Neolithikum!«
»Wir werden es eleganter machen, das verspreche ich.« Schadrach bewegt sich um das Kopfende des Bettes, bis er hinter dem Vorsitzenden steht und nicht von der Notwendigkeit abgelenkt wird, Augenkontakt mit dem reizbaren alten Mann zu halten.
Während er ihm die Hals- und Nackenmuskulatur massiert, konzentriert er sich auf diagnostische Wahrnehmungen. Hydrostatisches Ungleichgewicht, ja; Hirnhauterweiterung, ja; eine Ansammlung von Flüssigkeit in den Hohlräumen des Gehirns, ja. Die Lage ist keineswegs kritisch, und ein Eingriff ließe sich ohne großes Risiko noch wochen- oder monatelang hinausschieben, aber Schadrach beabsichtigt das Problem sofort anzupacken. Und nicht nur um des Vorsitzenden willen.
Der alte Mann beginnt die wohltuende Wirkung der Massage zu verspüren. »Es ist gut, Sie wiederzuhaben.«
»Das freut mich.«
»Sie hätten an den Feierlichkeiten teilnehmen sollen. Sie hätten einen Sitz in der ersten Reihe der Tribüne bekommen. Es war großartig, Mordechai, großartig und bewegend. Haben Sie das Staatsbegräbnis im Fernsehen verfolgt?«
»Selbstverständlich«, lügt Schadrach. »In… ah… in Jerusalem. Ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt in Jerusalem. Ja, großartig. Außerordentlich eindrucksvoll, ja.«
»Eindrucksvoll, ja«, bekräftigt der Vorsitzende und schließt einen Augenblick die faltigen Lider. Ein leises Lächeln breitet sich über seine Züge aus. »Man wird dieses Staatsbegräbnis niemals vergessen. Es war eines der großen Schauspiele der Geschichte. Die Assyrer hätten dem alten Sardanapal kein prächtigeres Begräbnis ausrichten können.« Er lacht heiser auf. »Wenn man schon nichts von der eigenen Beerdigung hat, sollte man wenigstens nicht versäumen, für andere ein prächtiges Begräbnis zu veranstalten. Finden Sie nicht, eh? Eh?«
»Ich wünschte, ich hätte dabeisein können.«
»Aber Sie waren in Jerusalem. Oder war es Istanbul?«
»Jerusalem, denke ich.« Er legt die Fingerspitzen an die Schläfen seines Patienten und übt einen leichten Druck aus. Der alte Mann verzieht schmerzlich das Gesicht. Gleich darauf Grunzt er auf, als die Fingerspitzen des Arztes hinter den Ohren und etwas darunter zudrücken.
»Da tut’s weh«, sagt er.
»Ja.«
»Seien Sie ehrlich, Doktor. Wie schlimm ist es wirklich?«
»Es sieht nicht so gut aus. Keine unmittelbare Gefahr, aber es gibt da ein Problem.«
»Erklären Sie es mir.«
Schadrach geht um das Bett, bis der andere ihn wieder sehen kann. »Gehirn und Rückenmark«, sagt er, »schwimmen buchstäblich in einer Flüssigkeit, die wir cerebrospinale Flüssigkeit nennen. Sie wird in hohlen Kammern im Inneren des Gehirns erzeugt, die als Ventrikel bekannt sind. Diese Flüssigkeit schützt und nährt das Gehirn, und indem sie in den das Gehirn umgebenden Raum abfließt, transportiert sie die Abfallprodukte des Stoffwechsels ab, die von der Gehirntätigkeit herrühren. Unter bestimmten Umständen können die Passagen von den Ventrikeln zu diesen äußeren, von der Gehirnhaut umgebenen Räumen verstopfen, und die cerebrospinale Flüssigkeit sammelt sich in den Ventrikeln an.«
»Und das ist, was in meinem Kopf geschieht?«
»Es scheint so.«
»Wie kann es dazu kommen?«
»Normalerweise ist eine Infektion oder ein Tumor an der Gehirnbasis die Ursache. Gelegentlich kommt es sozusagen von selbst zu Behinderungen beim Abfließen der cerebrospinalen Flüssigkeit, ohne daß Anschwellungen oder Entzündungen zu erkennen sind. Das mag dann mit dem Alterungsprozeß zusammenhängen.«
»Und welches sind die Wirkungen?«
»Bei Kindern vergrößert sich der Schädel, wenn die Ventrikel anschwellen. Das ist der Zustand, der als Hydrocephalus oder Wasserkopf bekannt ist. Der Erwachsenenschädel ist natürlich nicht in der Lage, sich auszudehnen, also muß das Gehirn den ganzen Druck ertragen. Im allgemeinen sind schwere Kopfschmerzen das erste Symptom. Darauf folgen Gleichgewichtsund Koordinationsstörungen, Gesichtslähmungen, allmählicher Verlust des Augenlichts, Ohnmachtsanfälle, die allgemeine Schwächung der Gehirnfunktionen, Krampfzustände, wie man sie sonst bei Epileptikern antrifft…«
»Und dann kommt es zum Tode?«
»Ja. Schließlich tritt der Tod ein.«
»Wie lang dauert es von den ersten Symptomen bis zum Tode?«
»Das hängt vom Ausmaß der Stauung, von der Lebenskraft des Patienten und vielen anderen Faktoren ab. Manche Leute leben jahrelang mit leichten oder im Entstehen begriffenen hydrocephalischen Störungen und merken es nicht einmal. Selbst akute Fälle können sich über Jahre hinziehen, unterbrochen von längeren Perioden der Besserung. Auf der anderen Seite kann die Erkrankung in ungünstig gelagerten Fällen innerhalb weniger Monate zum Tod führen, gelegentlich sogar noch viel schneller, etwa wenn sich ein Ödem bildet, eine Anschwellung, die die autonomen Systeme unterbricht.«
Diese Vorträge über Symptome und Prognosen haben den Vorsitzenden immer fasziniert, und auch jetzt zeigt sein Blick gespannte Aufmerksamkeit. Aber da ist noch etwas, ein Ausdruck von Bestürzung, der an Schrecken grenzt und den Schadrach nie zuvor beobachtet hat.
»Und in meinem Fall?« fragt der Vorsitzende.
»Natürlich werden wir eine Serie von Tests machen müssen. Aber auf der Basis dessen, was ich den Überwachungsinstrumenten entnehme, neige ich zu einem raschen Eingriff.«
»Ich habe nie einen gehirnchirurgischen Eingriff gehabt. Die Idee gefällt mir nicht. Ich will Warhaftigs Laser nicht in meinem Kopf haben. Ich will nicht, daß er mir Stücke meines Verstandes herausschneidet. Das Gehirn ist eine andere Sache als eine Niere oder ein Lungenflügel.«
»Es ist nicht die Rede davon, daß so etwas geschehen sollte.«
»Was wollen Sie dann machen?«
»Es ist nichts als eine Dekompressionstherapie. Wir werden Ventilschläuche installieren, um die überschüssige Flüssigkeit direkt in den Kreislauf abzuleiten. Die Operation ist relativ einfach und viel weniger riskant als eine Organverpflanzung.«
»Aber ich bin Organverpflanzungen gewohnt«, entgegnet der alte Mann verdrießlich. »Ich glaube, daß ich Organverpflanzungen sogar mag. Gehirnchirurgie ist mir etwas Neues.«
»Vielleicht wird Ihnen die Gehirnchirurgie genauso gut gefallen«, sagt Schadrach aufmunternd, während er ein Beruhigungsmittel für den Patienten vorbereitet.
Am folgenden Morgen sucht er Franco Cifolia in der Nachrichtenabteilung auf. »Ich hörte, daß Sie zurückgekommen sind«, sagt Cifolia. »Ich hörte es, wollte es aber nicht glauben. Warum sind Sie wiedergekommen, in Gottes Namen?«
Schadrach sieht sich mißtrauisch um. »Kann man hier sprechen, ohne daß jedes Wort mitgeschnitten wird?«
»Allmächtiger! Glauben Sie, ich würde mein eigenes Büro verwanzen?«
»Jemand anderer könnte es getan haben, ohne Ihnen davon zu erzählen.«
»Sprechen Sie«, sagt Cifolia. »Hier ist es sicher.«
»Wenn Sie meinen…«
»Ich meine es wirklich. Warum sind Sie nicht geblieben, wo Sie waren?«
»Der Sicherheitsdienst wußte die ganze Zeit, wo ich war. Wo ich ging und stand, wurde ich von der Miliz beschattet. In Peking tauchte Avogadro persönlich in dem Hotel auf, wo ich abgestiegen war.«
»Was hatten Sie anderes erwartet? Mit Verkehrsmaschinen um die Welt fliegen, in Hotels absteigen… Es gibt Möglichkeiten, unterzutauchen und sich verborgen zu halten, aber das tut jetzt wohl nichts mehr zur Sache. Hat Avogadro Sie zur Rückkehr veranlaßt?«
»Ich hatte meine Flugkarte schon gekauft.«
»Um Himmels willen, warum?«
»Ich kam zurück, weil ich eine Möglichkeit sah, mich zu retten.«
»Wenn Sie sich retten wollen, müssen Sie in den Untergrund gehen.«
»Nein. Ich rette mich, indem ich zurückkomme und weiterhin meine Funktionen als Leibarzt des Vorsitzenden erfülle. Wissen Sie, daß er krank ist?«
»Er soll Kopfschmerzen haben, hörte ich.«
»Gefährliche Kopfschmerzen. Wir werden operieren müssen.«
»Gehirnchirurgie?«
»So ist es.«
Cifolia preßt die Lippen zusammen und mustert sein Gegenüber nachdenklich. »Ich sagte Ihnen mal, Sie wären nicht verrückt genug, um in dieser Stadt zu überleben. Vielleicht war ich im Irrtum. Vielleicht sind Sie durch und durch verrückt. Sie müssen es sein, wenn Sie denken, Sie könnten absichtlich eine Operation am Vorsitzenden verpfuschen und damit durchkommen. Meinen Sie nicht, daß Warhaftig Ihr Tun durchschauen und Sie an Ihrem Vorhaben hindern wird? Meinen Sie nicht, daß er Sie verpfeifen wird, sollte es Ihnen wirklich gelingen? Was nützt es, den Vorsitzenden umzubringen, wenn Sie nachher selbst in der Organfarm landen? Wie…«
»Ärzte bringen Ihre Patienten nicht um, Cifolia.«
»Aber…«
»Sie ziehen voreilige Schlüsse. Projizieren Ihre eigenen Fantasien, vielleicht. Ich werde einfach operieren und die Kopfschmerzen des Vorsitzenden heilen. Und dafür sorgen, daß er bei guter Gesundheit bleibt.« Schadrach lächelt. »Stellen Sie bitte keine Fragen. Helfen Sie mir einfach.«
»Wie?«
»Machen Sie Buckmaster ausfindig. Ich brauche eine Sonderanfertigung, und er ist der richtige Mann, der sie machen kann. Und danach brauche ich Ihre Hilfe beim Aufbau der telemetrischen Schaltung.«
»Warum Buckmaster? Es gibt hier genug tüchtige Fachleute für Mikroelektronik.«
»Für diese Arbeit brauche ich Buckmaster. Er ist der Beste auf seinem Gebiet, und außerdem ist er derjenige, der das telemetrische System konstruiert hat, dessen eine Hälfte ich mit mir herumtrage. Er ist der geeignete Mann, um dieses System zu ergänzen.« Schadrach faßt ihn fest ins Auge. »Können Sie mich mit Buckmaster in Verbindung bringen?«
Nach einem Augenblick nickt Cifolia. »Ich werde Sie zu ihm bringen«, sagt er. »Wann haben Sie Zeit?«
»Jetzt.«
»Jetzt gleich? In dieser Minute?«
»Wenn es geht«, sagt Schadrach. »Ist er sehr weit von hier?«
»Das kann man nicht sagen.«
»Wo ist er?«
»In Karakorum«, antwortet Cifolia. »Wir haben ihn bei den Transtemporalisten versteckt.«
2. Januar 2009
Ich bestand darauf, und so ließ man mich von der transtemporalen Erfahrung kosten. Viel Gerede von Risiken, von Nebenwirkungen und von meiner Verantwortung und Unentbehrlichkeit für das Gemeinwohl. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Es kommt nicht oft vor, daß ich auf etwas bestehen muß, aber dies war ein Kampf. Den ich natürlich gewann. Als ich Karakorum besuchte, war Mitternacht vorbei, und es schneite leicht. Das Zelt war von Besuchern geräumt worden, und man hatte Wachen postiert. Zuvor hatte Teixeira mich gründlich untersucht. Wegen der Drogen, die zur Erlangung der transtemporalen Erfahrung notwendig sind. Völlig gesund, lautete das Ergebnis: ich kann ihren stärksten Drogentrank vertragen. Also hinein ins Zelt. Ein düsterer Ort, übler Gestank. Er ist mir aus meiner Kindheit vertraut — verbrannter Kameldung und ungegerbte Ziegenfelle. Ein kleiner buckliger Mann in der Kleidung eines Lama kam auf mich zu, zeigte sich völlig unbeeindruckt von mir, keinerlei Ehrfurcht. Aber warum auch Ehrfurcht vor einem Lebenden, wenn man einen Trank schlucken und Caesar, den Buddha oder Dschingis Khan besuchen kann? Er mischt mir ein Gebräu, öle, verschiedene Pülverchen werden verrührt, und schließlich gibt er mir die Schale zum Trinken. Süß und klebrig, kein guter Geschmack. Er ergreift meine Hände, flüstert mir allerlei ein, und ich fühle, wie mich schwindelt, und auf einmal wird das Zelt zu einer Wolke und ist verschwunden, und ich finde mich in einem anderen Zelt wieder, geräumig und niedrig, mit weißen Gebetsfahnen und gestickten Wandbehängen, und ich stehe vor ihm. Er ist dick und nicht sehr groß, ein Mann vorgerückten Alters, mit einem langen Schnurrbart, kleinen Augen, einem kraftvollen Mund. Ein Schweißgestank geht von ihm aus, als habe er seit Jahren nicht gebadet, und zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich vor einem anderen Menschen auf die Knie sinken, denn dies ist sicherlich Temudschin, dies ist der Großkhan, dies ist der Gründer, der Eroberer.
Ich knie nicht nieder, allenfalls in mir selbst. Ich biete ihm meine Hand. Ich verneige mich.
»Vater Dschingis«, sage ich. »Aus der Ferne von neunhundert Jahren komme ich, dir die Ehre zu erweisen.«
Er betrachtet mich ohne sonderliches Interesse. Nach einer kleinen Weile reicht er mir eine Schale. »Nimm einen Schluck Airag, alter Mann.«
Wir trinken gemeinsam, ich zuerst, dann der Großkhan. Er ist einfach gekleidet, keine scharlachroten Gewänder, kein Hermelinbesatz, keine Krone, nur die Lederrüstung eines Kriegers. Sein Scheitel ist geschoren, doch hinten fällt ihm das Haar bis auf die Schultern. Er könnte mich mit einem Schlag der linken Hand töten.
»Was willst du?« fragt er.
»Dich sehen.«
»Du siehst mich. Was noch?«
»Dir sagen, daß du für immer leben wirst.«
»Ich werde wie jeder Mensch sterben, Alter.«
»Dein Körper wird sterben, Vater Dschingis. Aber dein Name wird jedes Zeitalter überdauern.«
Er denkt darüber nach. »Und mein Reich? Wie steht es mit ihm? Werden meine Söhne nach mir regieren?«
»Deine Söhne werden über die halbe Welt herrschen.«
»Die halbe Welt«, sagt Dschingis Khan leise. »Nur die halbe? Ist das die Wahrheit, alter Mann?«
»Kathay wird ihnen gehören…«
»Kathay gehört bereits mir.«
»Ja, aber sie werden es ganz beherrschen, bis hinunter zu den heißen Dschungeln des Südens. Und sie werden die hohen Gebirge und Turkestan beherrschen, Afghanistan und Persien und das russische Land, alles bis zu den Toren Europas. Die halbe Welt, Vater Dschingis!«
Der Großkhan grunzt.
»Und ich sage dir noch dies: In neunhundert Jahren wird ein Khan namens Dschingis über alles herrschen, von Meer zu Meer, von Küste zu Küste. Alle Menschen dieser Erde werden seinem Wort folgen.«
»Ein Khan von meinem Blut?«
»Ein echter Tatar«, versichere ich ihm.
Dschingis Khan versinkt in ein langes Stillschweigen. Es ist unmöglich, in seinen Augen zu lesen. Er ist kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und sein Geruch ist schlimm, aber er ist ein Mann von solcher Kraft und Bestimmtheit, daß ich gedemütigt bin, denn ich hatte mich für seinesgleichen gehalten, und in einer Weise bin ich es, und doch ist er mehr, als ich jemals sein kann. Es ist nichts Berechnendes an ihm; er ist völlig wahrhaftig und unbedenklich, ein Mann, der für den Augenblick lebt, der nie etwas ein zweites Mal überdenken muß, weil seine erste Überlegung immer richtig gewesen ist. Er ist nur ein barbarischer Stammeshäuptling, ein wilder Krieger und Nomadenführer aus der Gobi, dem jeder Aspekt meines gewohnten täglichen Lebens als verwirrende Magie erscheinen würde: doch wenn ich ihn mit mir nähme, würde er die Arbeitsweise des Kontrollraums in drei Stunden verstehen. Er ist ein Barbar, ja, aber nicht nur das, und obgleich ich ihm in mancher Hinsicht überlegen bin, obgleich mein Leben und meine Macht über sein Verstehen hinausgehen, ist er in all den Punkten, auf die es ankommt, mein Meister. Er flößt mir Ehrfurcht ein. Wie ich es erwartet hatte. Und in seiner Gegenwart komme ich einer Bereitwilligkeit nahe, all meine Autorität über andere Menschen aufzugeben, denn verglichen mit ihm bin ich nicht würdig. Ich bin nicht würdig.
»Neunhundert Jahre«, sagt er schließlich, und der Schatten eines Lächelns geht über sein Gesicht. »Gut. Gut.« Er klatscht nach einem Diener und läßt mehr Airag bringen. Wir teilen uns in eine weitere Schale. Dann sagt er, er müsse aufbrechen. Es sei Zeit, zum Lager seines Sohnes Tschagatai zu reiten, wo die königliche Familie heute ein Turnier abhalte. Er lädt mich nicht ein, ihn zu begleiten. Er hat kein Interesse an mir, obwohl ich aus dem Reich einer fernen Zeit komme, obwohl ich ihm Kunde vom Ruhm künftiger mongolischer Herrschaft bringe. Ich bin ihm unwichtig. Ich habe ihm alles gesagt, was er wissen will; jetzt bin ich vergessen. Nur das Turnier ist jetzt von Bedeutung. Er verläßt das Zelt, schwingt sich auf sein Pferd und reitet fort, gefolgt von den Kriegern seines Gefolges, und nur der Diener und ich bleiben zurück.