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Allein in seinem Arbeitszimmer, umgeben von den Schätzen seiner medizinischen Bücher und alten Instrumente, und nun diesem Stück in Spiritus eingelegter Bauchschlagader, fühlt Schadrach sich auf eine behagliche Art und Weise eingegraben und in Sicherheit. Diese Avatara-Geschichte wird vorübergehen. Der Vorsitzende ist in Fragen der persönlichen Lebensführung konservativ; er wird an seinem eigenen Mongolenkörper festhalten, so lange er kann, mag die Verlockung noch so groß sein, in Schadrachs kräftige junge Gestalt zu schlüpfen. Darum hat Schadrach kein überstürztes Ende zu befürchten, und in den kommenden Monaten oder vielleicht Jahren kann er versuchen, die Fantasien und Wunschvorstellungen des alten Mannes völlig vom Projekt Avatara abzubringen und auf das Talos-Projekt zu lenken. Das würde Nicki Crowfoots Forschung zunichte machen, aber Avatara ist ethisch ohnedies fragwürdig, und in Anbetracht aller Umstände kann er sich deswegen nicht allzu schuldig fühlen.

Er gibt dem Spiritusglas mit der Aorta einen Ehrenplatz auf seinen Regalen. In späteren Jahrhunderten wird man den weißlich-schlaffen Schlauch vielleicht wie eine Art Reliquie verehren und nicht versäumen, bei der Gelegenheit des verdienstvollen Schadrach Mordechai zu gedenken, der dafür sorgte, daß dieser Schatz der Nachwelt erhalten wurde. Wer weiß? Vor einiger Zeit gab es ein Gerücht, demzufolge verschiedene Originalorgane des Vorsitzenden an unbekanntem Ort in Tiefkühlung verwahrt werden, um später einmal zur Duplizierung des Vorsitzenden mittels Zellkernverschmelzung zu dienen. Schadrach bezweifelt es. Wäre der alte Mann ernsthaft daran interessiert, ein Duplikat von sich selbst heranzuzüchten, so hätte er längst ein entsprechendes Forschungsprogramm eingeleitet und Mittel dafür bereitgestellt; aber soweit Schadrach weiß, geht auf diesem Gebiet nicht viel vor sich.

Schadrach Mordechai hat des öfteren daran gedacht, eine wissenschaftliche Monographie über seinen Patienten zu verfassen, eine vollständige medizinische Biographie, in der alle Organverpflanzungen, Eingriffe und Behandlungen beschrieben werden, die für die Langlebigkeit und vielleicht auch für die furchterregende Vitalität des Vorsitzenden verantwortlich sind. In der ganzen Fachliteratur würde es nichts Vergleichbares geben, nicht einmal die Abhandlung Beaumonts über Alexis St. Martins Verdauungstrakt, von Lord Morans Aufzeichnungen über Churchill gar nicht zu reden: hatte es jemals ein so umfassendes und langdauerndes medizinisches Programm mit dem Ziel gegeben, einen einzelnen Menschen gesund und am Leben zu erhalten?

Es gibt eine weitere, noch größere Verlockung — nicht nur eine medizinische Studie zu schreiben, sondern eine breit angelegte, alle Aspekte einbeziehende Biographie Dschingis Khans II. Mao. Abgesehen von vagen, zurechtfrisierten und allein auf Verherrlichung angelegten Lebensbeschreibungen des Vorsitzenden für den öffentlichen Gebrauch in Schulen und politischen Fortbildungskursen, in denen alle Einzelheiten über sein Privatleben fehlen, gibt es nichts, was die Bezeichnung Biographie verdiente. Es ist, als sei der alte Mann von einer abergläubischen Furcht erfüllt, daß sein wahres Selbst zutage gefördert, analysiert und auf Papier ausgebreitet werden könnte. Eben das bezweckt Schadrachs impulsive Fantasie: den alten Teufel literarisch zu beschwören und so eine Art Herrschaft über ihn zu erlangen.

Die Schwierigkeit dabei ist, daß kein Quellenmaterial zur Verfügung steht. Die Archive von Polizei und Einwohnerbehörden sind vollgestopft mit Personalakten und Unterlagen über jeden lebenden Menschen, Unterlagen, in denen alle nennenswerten Daten über jede beliebige Person festgehalten sind. Nur über Dschingis Khan II. Mao gibt es nichts. Die Fakten seines Lebens sind weitgehend unbekannt, sieht man von den elementaren Meilensteinen seines politischen Wirkens ab. Alle Detailinformationen sind unterdrückt, sogar ausgelöscht worden. Wann genau wurde er geboren? In welchem obskuren Dorf? Wie sah seine Kindheit aus, von welcher Art waren seine Jungenträume? Wie war der Name seiner Eltern? Von welcher Art war seine Erziehung und Ausbildung? Wie war das Frühstadium seiner politischen Karriere? War er jemals ins Ausland gereist, war er je verheiratet gewesen? Hatte er Kinder? Ja, das ist eine gute Frage, denkt Schadrach: gibt es irgendwo in der Mongolei oder in den Weiten Ostasiens Männer und Frauen mittleren Alters, die den Vorsitzenden zum Vater haben, und wenn es so ist, wissen sie, wer ihr Vater ist? Niemand kann diese Fragen beantworten. Der alte Mann hat seine Spuren sehr sorgfältig verwischt, so sorgfältig, daß es auf eine totale Geheimhaltung hinausläuft, die als Indiz für eine Art Geisteskrankheit angesehen werden könnte.

Aber ist jemand wirklich bereit und entschlossen, alle Spuren seiner privaten Persönlichkeit zu tilgen? Verbrecher, so heißt es, kehren zwanghaft zum Schauplatz ihres Verbrechens zurück; möglicherweise neigen auch jene, die sich gern in Geheimnistuerei hüllen, dazu, daß sie zum Ausgleich ihrer eigenen Mystifikationen der Nachwelt zuliebe einen vollständigen Bericht alles dessen vergraben, was sie ihr Leben lang zu verbergen suchten. Gibt es keinen Ort, wo der alte Mann Unterlagen über alles das verwahrt, was er der Öffentlichkeit vorenthält? Vielleicht ein Tagebuch, ein persönliches und Hintergründe enthüllendes Tagebuch, ein Zufluchtsort für die maskierte Seele eines einsamen Menschen? Schadrach stellt sich vor, wie er durch Zufall auf ein solches Dokument stößt, mit dessen Hilfe er den ersten wahrheitsgetreuen Bericht über die seltsame und düstere Gestalt verfassen wird, welche die sterbende Zivilisation des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts beherrschte.

Natürlich gibt es kein solches Tagebuch. Gewöhnliche Diebe und Gauner gefährden mit solchen sentimentalen Eitelkeiten zuweilen ihre eigene Sicherheit, aber Schadrach kennt den alten Mann gut genug, um zu wissen, daß dieser keine verborgenen Memoiren hinterlassen wird, damit andere sie finden. Er ist als Privatmann so undurchschaubar wie als Mann des öffentlichen Lebens. Aber das macht nichts. In seiner Fantasierolle als Biograph des Vorsitzenden wird Schadrach auch die Memoiren des Alten erfinden, das Quellenmaterial, das bisher nicht veröffentlicht wurde. Er schließt die Augen und läßt seiner Einbildungskraft freien Lauf. Im Schmelztiegel seines Gehirns entsteht das Tagebuch des alten Tyrannen.


11. November 2010

Mein Geburtstag. Dschingis Khan II. Mao ist heute fünfundachtzig. Nein, das ist nicht richtig. Dschingis Khan II. Mao ist — ungefähr zwanzig Jahre alt. Es ist Dashijin Choijamtse, der heute fünfundachtzig ist. Dashijin Choijamtse, den ich wie einen inneren Zwilling mit mir trage. Wer erinnert sich noch an ihn, den fetten kleinen Kerl in den Armen des stolzen Vaters? So lang ist es her, daß es einem selbst unwirklich erscheint. Im Dorf Dalan-Dsadagad, in einer schneereichen Winternacht des Jahres 1925. Dalan-Dsadagad, im Distrikt Süd-Gobi. Seit fünfzehn Jahren bin ich nicht mehr dort gewesen. Mein Heimatort, aber wer weiß das schon. Wer weiß überhaupt etwas? Nun, ich weiß es, und das genügt. Dashijin Choijamtse ist heute fünfundachtzig. Wie viele von den anderen, die am elften November 1925 geboren wurden, sind noch am Leben? Nicht viele, nein. Und jene, die wie ich überdauert haben, sind altersschwache, tapernde Wracks. Wogegen ich noch immer im besten Mannesalter bin, ich, Dashijin Choijamtse, aus DalanDsadagad, Sohn des Yumshaghijin Choijamtse, zu seiner Zeit Direktor der Kamelzuchtstation in Bogdo-Gum. O ja, ich fühle mich kräftig, robust und bei vollem Verstand. Und das nicht allein wegen der verpflanzten Organe. Es ist das Erbe, das gute alte Nomadenblut. Als der bakteriologische Krieg ausbrach, war ich beinahe siebzig, aber niemand sah es mir an, so kräftig und zäh war ich: noch alle Zähne im Mund, pechschwarzes Haar, jede Woche Zwanzigkilometermärsche. Damals hatte ich meine Organe noch alle beisammen; damals fühlte ich mich noch als Dashijin Choijamtse. Seltsame Silben, die inzwischen fremdartig klingen, obwohl sie sechzig Jahre lang mein Name gewesen sind. Und ich überlebte den Viruskrieg, unberührt von der inneren Fäulnis. Um mich her starben die Menschen wie Fliegen. Eine schreckliche Erinnerung. Die Zeit der Organverpflanzungen kam erst viel später, nachdem die Macht mir zugefallen war und die jahrzehntelangen revolutionären Kämpfe und Mühseligkeiten ihren Tribut forderten. Und nun unterstützen geschickte Ärzte meine natürliche nomadische Lebenskraft. Vielleicht werde ich weitere fünfzig Jahre leben.

Vielleicht noch viel länger.

Wie oft gedenke ich meiner Kindheit! Wie viel Schnee türmt sich in vierundachtzig Jahren auf! Ich sehe meines Vaters Gesicht vor mir, schmal und hager wie das meinige, dichte Augenbrauen, starke Backenknochen. Yumshaghijin Choijamtse von der Kamelzuchtstation in Bogdo-Gum, später Träger des Leninordens. 1939 in der Schlacht am ChalkinGöl verwundet, später Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium… siehst du, Vater, ich erinnere mich gut! 1948 kamst du bei einem Flugzeugabsturz zwischen Moskau und Ulan Bator ums Leben, auf der Heimreise von einer Weizenkonferenz. So lange her. Nun bist du schon zweiundsechzig Jahre tot, Yumshagijin Choijamtse. Kinder, die in der Nacht geboren wurden, als dein Flugzeug abstürzte, sind heute alte Männer und Frauen. Und ich bin noch immer da, Vater. Ich bin der zweite Dschingis Khan. Wie gut entsinne ich mich der Kindheitstage in der Kamelzuchtstation! Ich stehe im Neuschnee, und du hältst ein Kamel am Zaumzeug. Das Kamel ragt wie ein Berg über mir auf, ein langes, gutmütiges Gesicht, die Schnauze wie aus warmem Gummi, geduldige dunkle Augen mit einem Ausdruck feiner Geringschätzung. Das Kamel neigt den Kopf zu mir, und seine riesige Zunge streicht mir rau und feucht und mit dem sauren Geruch gegorenen Heus übers Gesicht. Du lachst, hebst mich auf, nimmst mich in die Arme und drückst mich, daß mir die Luft wegbleibt. Wie riesig du bist! Für mich größer als das Kamel. Ich bin drei, vier Jahre alt.

Und meine Mutter? Ich kannte sie nie. Draußen bei der Yakherde im Schneesturm erfroren, als ich ein Säugling war. Ich habe sogar deinen Namen vergessen, Mutter. Ich könnte nachschlagen, aber wo… wo…?

Schadrach hält inne, denkt nach, überlegt noch einmal. Ist es plausibel? Wie steht es mit der inneren Schlüssigkeit? Der Ton ist ungefähr richtig, aber was ist mit den Tatsachen? Soll er bedeutsame Einzelheiten ändern? Würde das einen Unterschied machen? Es käme auf einen Versuch an…


17. Oktober 2012

Mein Geburtstag. Dschingis Khan II. Mao ist heute zweiundneunzig, obgleich mein offizielles Alter erst siebenundachtzig beträgt. Doch gibt es ma nche, die glauben, ich sei über hundert Jahre alt. Das würde bedeuten, daß ich um 1905 geboren wäre. Kann jemand im Ernst so etwas glauben? Ist 1920 nicht schon schlimm genug? Lenin, Trotzki, Sukhe Bator, Lloyd George, Clemenceau, Wilson… meine Zeitgenossen. Und ich bin noch immer am Leben, in diesem Jahr 2012, ich, der frühere Namsan Gombojab, geboren in Sain-Shanda, jüngster Sohn des Yaktreibers Khorlogijin Gombojab, der…

Nein. Die Veränderung der Einzelheiten ist trivial. Mag er ursprünglich Choijamtse, Gombojab, Ochirbal oder wie immer geheißen haben; mag er 1925, 1920, 1915 oder sogar 1910 geboren sein; mag er seine Karriere im Verteidigungsministerium, in der Behörde für die Landreform, im Kommissariat für Volksaufklärung gemacht haben: alles das macht keinen Unterschied. Die tiefwurzelnden Wesenszüge des alten Mannes, seine Ansichten und sein Weltbild sind dein Thema, Schadrach. Nicht die Belanglosigkeiten von Jahreszahlen und Orten.


14. Mai 2012

Vor kaum zwei Stunden wurde die Leberverpflanzung beendet, und hier liegt der zweite Dschingis Khan, alt und lederig, aber noch nicht tot, weit gefehlt; er ist wach, voll Energie, aufmerksam. Ich bin stolz auf ihn, auf seine unauslöschbare Lebenskraft, seine niemals erlahmende Spannkraft. Ich grüße dich, alter Freund! Ha! Ich fühle Schmerzen in meinem Leib, aber es ist nichts, worüber zu ächzen sich lohnte. Schmerz ist das Zeichen dafür, daß wir leben und Zeichen dafür, daß wir leben und fühlen, daß wir auf Reize reagieren. Die Müdigkeit und die Schwere, die mich überkamen, als die alte Leber zu versagen begann, beginnen bereits zu weichen. Ich fühle, wie mein Körper sich selbst reinigt. Mir ist, als schwebte ich zwei Meter über meinem Bett, über all den komplizierten und schönen Apparaten, die heilende und nährende Flüssigkeiten in meine irdische Hülle pumpen. Wie gesund und schön ist der Schmerz, dieses langsame, tiefe Pochen… wie eine Glocke, die im alten Körper läutet und ihn zum Weiterleben ruft. Meine geschickten Ärzte haben einen weiteren Triumph errungen.

Meine Ärzte. Warhaftig langweilt mich, aber er ist die Vollkommenheit in Person. Es beruhigt mich, wenn ich seine Hände in meiner Bauchhöhle verschwinden sehe. Dann weiß ich, daß sie irgendeinen schlaffen roten Klumpen voller Krankheit zum Vorschein bringen und beiseite werfen und an seiner Stelle ein neues, gesundes Organ einsetzen. Warhaftig versagt nie. Aber er ist ein häßlicher Mensch, mit dieser fleischigen Judennase, den Hängebacken und den genießerischen Lippen. Dazu diese leichenhaft weiße Haut! Ein Genie, aber häßlich und langweilig im Umgang. War er jemals jung? Kauerte er jemals hinter einem Busch, um nackte Frauen beim Baden im Fluß zu beobachten? Er nicht. Nein, bestimmt nicht. Ob er sich jemals ins Gras geworfen und zum blauen Himmel hinaufgelacht hat, die Lerchentriller im Ohr? Warhaftig? Niemals!

Mordechai ist interessanter. Anmutig, immer höflich, ein klarer, kühler Verstand in einem kräftigen Körper. Man sieht ihn gern um sich. Und diese schwarze Haut! Als ich vierzig war und eine Delegation aus Guinea meine Abteilung besuchte, sah ich das erste Mal in meinem Leben Schwarze. Die glänzenden Gesichter, das büschelartige, wollige Haar, die langen Gewänder. Dazu erschreckend weiße Augäpfel, rosa Handflächen wie Gorillas, tiefe Stimmen, sehr fremdartig. Sie sprachen Französisch. Mordechai ist nicht ganz wie jene Afrikaner; er ist womöglich noch schwärzer als sie, aber sehr groß und sehr zivilisiert, und vom Dschungel haftet ihm nichts mehr an. Manchmal macht er mir Vorhaltungen, als ob ich ein Kind wäre, ein ungezogener Dreikäsehoch. Und immer ist er um meine Gesundheit besorgt. Ja, ein gewissenhafter Mensch, das muß man ihm lassen, ernst und immer in Sorge wegen diesem oder jenem. Er wirkt zuweilen allzu verständig, allzu vernünftig. Man fragt sich, wo die Dämonen in ihm stecken. Niemand ist ohne Dämonen, auch Mordechai nicht. Mir gefällt, daß er jung ist, wenigstens fünfzig Jahre jünger als ich. Dennoch sind wir Zeitgenossen, Männer des gegenwärtigen Augenblicks, beide vor relativ kurzer Zeit noch unbekannt. Aber während ich lange warten mußte, um zu werden, was ich bin, hat er es schon in jungen Jahren zu etwas gebracht. Sein Lächeln ist gutmütig; der Zynismus älterer Ärzte geht ihm noch ab. Er hat den Viruskrieg und die schlimmen Zeiten danach überlebt, und alles konnte seiner inneren Ruhe nichts anhaben, er hat Vertrauen in die Zukunft, geht in seinem Heilberuf auf. Er würde sogar jene heilen, die seine Vorfahren versklavten und verschleppten. Wogegen ich mich tausendfach an den Unterdrückern rächen würde. Nun, schließlich stamme ich aus einem harten Kriegervolk, während er Abkömmling sanftmütiger Urwaldbauern und Fischer ist. Jeden Morgen sucht er den Kontrollraum auf und sieht sich die kranken und sterbenden Menschen in allen Teilen der Welt an. Denkt, ich wüßte es nicht. Aber ich beobachte ihn. Er empfindet tiefes Mitgefühl für die Leidenden. Ein mitleidiger Mensch, in ma ncher Weise wie ein Kind. Kein Heiliger, aber manchmal fühlt man, daß er das Zeug zum Märtyrer hat.


23. Januar 2012

Plenarsitzung des erweiterten Revolutionsrates. Einige der vertrauten Gesichter fehlen, lassen sich von den Untergebenen vertreten, die nun gewichtig tun und vor Stolz beinahe platzen. Horthy, Ionigylakis, Eyuboglu, Lapostolle, Farinosa, Pariatore, Blount. Lauter subalterne Bürokraten. Feine Revolutionäre! Lapostolle wirft sich in die Brust; Farinosa zuckt ständig mit seiner langen Nase; Ionigylakis kann sich nicht konzentrieren, weil er ständig auf stoßen muß. Ich hätte nicht zulassen sollen, daß Ratsmitglieder sich vertreten lassen, schon gar nicht von solchen Typen; diese weißen Ausländer haben kein Feuer. Aber ich brauche meine alten Kämpfer anderswo. Draußen schneit es wieder. Am liebsten würde ich mir ein Pferd geben lassen und ausreiten, ohne Sattel, die Hufschläge lautlos in der weißen Weite, Mann und Pferd allein über endlose Steppe, eine Brotrinde für mich, ein Ziegenfell mit vergorener Stutenmilch, um unterwegs davon zu trinken… ja, ich bin noch immer jung, ich, der vor ihnen allen war, und sie sind alte Männer! Aber mein Leibarzt würde es natürlich nicht erlauben. Ich beherrsche die Welt, er beherrscht mich. Wie, wenn ich darauf bestünde? Muß ich diese gravitätischen Esel ertragen, wenn Neuschnee auf der Steppe liegt? Ihr Ärzte könnt eine funktionsunfähige Niere ersetzen, werde ich ihm sagen; sicherlich könnt ihr dann auch die erfrorene Nase eines alten Mannes reparieren. Ja, ich werde es tun. Ich werde dieser Langeweile entfliehen.

Hatte ich vielleicht an so etwas gedacht, als ich die Zügel ergriff?

Was hatte ich mir vorgestellt? Alles fiel in Stücke, und es war meine Aufgabe, aus dem Chaos eine neue Welt zu schaffen. Ich glaube, das war es. Wie verabscheute ich die Unordnung, die Verwirrung, das Durcheinander der Nachkriegszeit! Die sterbenden Menschen, die verwüsteten, entvölkerten Länder, der Verfall der revolutionären Moral! Horden verwilderter Menschen, die plündernd und mordend das Land durchstreiften, Hungersnöte, Versorgungsschwierigkeiten und Seuchen. Dazu kam der revolutionäre Kampf in anderen Weltteilen, der unterstützt, gelenkt und zum Sieg geführt werden mußte. Alle Einfachheit schien aus der Welt verschwunden, wohin man sah, stellten sich einem unüberwindlich scheinende Probleme entgegen. Ich liebe Einfachheit, eine straff organisierte Verwaltung, harmonische und klare Strukturen, eine Nation, eine Regierung, ein Gesetzbuch. Ich war dreiundsiebzig Jahre alt und stark. Die Zivilisation war Jahrtausende alt und schwach. Ich konnte das Chaos nicht ertragen. Ich bin überzeugt, daß all jene, die in der Weltgeschichte Großes leisteten und Staaten gründeten, mehr die Unordnung und das Chaos haßten, als daß sie die Macht an sich liebten. Napoleon, Attila, Alexander der Große, Dschingis Khan, Hitler — alle strebten sie nach Einfachheit und Vereinheitlichung. Sie hatten eine Vision von Ordnung und sahen keinen anderen Weg, diese Ordnung zu erreichen, als sie der Welt aufzuzwingen. Wie wir es taten. Natürlich scheiterten die meisten von ihnen und schufen mit ihrem Scheitern mehr Chaos, als sie zuvor hatten aus der Welt schaffen können. Hitler, zum Beispiel. Ich gehöre zu den wenigen, die nicht scheiterten; dennoch ringe ich bis heute um eine einfache, klar gegliederte Verwaltung, um Einheit im Großen wie im Kleinen. Zu diesem Zweck habe ich mich selbst zum Symbol der Einheit gemacht, zum Brennpunkt der ganzen Welt, zu dem Kristall, dessen Facetten das Bild der Welt zusammenfassen. Aber ach, Vater Dschingis, diese Plenarsitzungen, diese endlosen Vorträge, diese Dungfliegen! Vater Dschingis, würdest du müßig sitzen und einem Pariatore und einem Blount zuhören, während du von einem schnellen Pferd und eisig pfeifendem Wind träumtest? Ach! War es dies, wofür ich es auf mich nahm, Ordnung in das Chaos der zerfallenden, verfaulenden Zivilisation zu bringen?

Schadrach steht auf und reckt sich. Er kann nicht länger hier herumsitzen und seinen Tagträumen nachhängen; er hat Verpflichtungen, die er nicht vernachlässigen darf. Zunächst muß er die Krankenakte des Vorsitzenden um einen präzisen Bericht über die heutige Aorta-Transplantation ergänzen, wozu er eine Unmenge gespeicherter Informationen und Daten sichten und aus dieser Masse die bedeutsamen Umrisse eines brauchbaren medizinischen Profils herausschälen muß. Also an die Arbeit. Er setzt sich an den Computeranschluß und fordert das Datenmaterial über die Operation dieses Morgens an. Doch während er arbeitet, wird sein Bewußtsein immer wieder von der aufdringlich krächzenden Stimme des alten Mannes abgelenkt, die ihm unzusammenhängende Fetzen imaginärer Memoiren diktiert.


27. Mai 1998

Die Volksrepublik ist wieder einmal führerlos, und alles spricht dafür, daß die Regierung noch am Vormittag zurücktreten wird. Schirendyb, der fünfte Ministerpräsident in den vergangenen sechs Monaten, erlag am gestrigen Abend der Organzersetzung. Politbüro und Parteipräsidium sind dezimiert; die Straßen Ulan Bators sind voll von kranken und sterbenden Flüchtlingen aus dem Umland, die mit der unbestimmten Hoffnung auf Hilfe und Heilung in die Hauptstadt gekommen sind. Nun müssen sie feststellen, daß es hier nicht besser, sondern womöglich noch schlimmer aussieht als auf dem Land. Und so sieht es überall aus. Die Pest des Viruskriegs hat drei Milliarden Menschen dahingerafft, und in den Ländern ohne straff zusammengefaßte Parteikader und Massenorganisationen brechen die bankrotten staatlichen und ökonomischen Strukturen zusammen wie morsche Gemäuer unter den Stößen eines Erdbebens. Ich werde Ulan Bator nicht verlassen. Ich glaube, unsere Zeit ist endlich angebrochen. Jetzt kommt alles darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.


16. November 2008

Zur Feier des zehnten Jahrestags des Sieges der Weltrevolution reiste ich an der Spitze des Revolutionsrates nach Karakorum und weihte dort den neuen Vergnügungspark ein. Man lud mich ein, die bewußtseinserweiternden Erfahrungen kennenzulernen, die unter den Bezeichnungen ›Traumtod‹ und ›Transtemporalismus‹ angeboten werden. Ich entschied mich für Traumtod. Die unwiderstehliche Faszination des Morbiden. Die Sache findet in einer großen Jurte statt, die mit pseudoägyptischen Motiven vollgestopft ist. Die häßlichen alten Tiergötter starren allenthalben wie Wasserspeier von den Wänden. Man glaubt den Gestank des NilSchlamms zu riechen und das Summen ungezählter Fliegen zu hören. Das Personal trägt Masken, alles ist in blendende Helligkeit getaucht. Man machte ein großes Aufheben um mich. Natürlich war ich zu dem Zeitpunkt der einzige, der dieser drogenerzeugten Illusion teilhaftig wurde. Ich ließ mich hinter einer Phalanx ausgesuchter Sicherheitsbeamter hypnotisieren. Die erste Empfindung war die des Sterbens, sehr überzeugend, glaube ich, aber was wissen wir davon? Und dann folgte ein Traum. Aber in meinem Traum war die Welt genauso wie sie ist, wenn ich wach bin. Man hatte mir farbenprächtige Illusionen und surrealistische Fantasien versprochen. Nichts davon. Hat man mich getäuscht? Oder getraute man sich nicht, mich von der echten bewußtseinserweiternden Erfahrung kosten zu lassen?


4. Juni 2010

Heute trat der neue Leibarzt seinen Dienst an. Schadrach Mordechai. Wie kommt ein Neger zu einem jüdischen Namen? Er ist jung und nimmt sein Amt sehr ernst. Es fällt ihm schwer, die Furcht und das Entsetzen zu verbergen, die ich ihm einflöße, aber das mag vorübergehen. Wenn er in meiner Nähe ist, hält er sich stocksteif. Er hat sich auf Gerontologie spezialisiert und seit mehreren Jahren am Projekt Phönix mitgearbeitet. Als er seinen Antrittsbesuch machte, sagte ich zu ihm: »Wir treffen ein Abkommen, Sie und ich. Sie erhalten mich gesund, und ich erhalte Sie gesund. Einverstanden?« Er lächelte, aber hinter dieser Fassade blickte die nackte Angst hervor. Zu plump von mir, fürchte ich.


Irgendwie gelingt es Schadrach, das Profil herauszuarbeiten und seinen Bericht zu diktieren. Nun wendet er sich der nächsten Aufgabe zu, der Durchsicht eines Arbeitspapiers von Irina Sarafrazi. Es steht nicht viel Neues darin; das Projekt ringt nach wie vor mit dem Problem des fortschreitenden Zerfalls der Gehirnzellen, und wie Schadrach vorausgesehen hat, sind auf diesem entscheidenden Gebiet keinerlei Fortschritte erkennbar. Trotzdem muß er den Bericht durchlesen und sich einen ermutigenden Kommentar dazu ausdenken. Unterdessen meldet sich in seinem Kopf wieder die hartnäckige Geisterstimme zu Wort und versucht ihn mit sprunghaften Fantasien abzulenken. Verbissen arbeitet er weiter, bemüht, die geistigen Funkstörungen zu ignorieren.


10. Mai 2012

Eine Schreckensbotschaft! Meuchelmörder haben Mangu getötet. Gerade kommt Horthy herein und blökt hysterisch von aus dem Fenster stürzenden Körpern. Wie konnte das geschehen? Still und heimlich in Mangus Schlafzimmer, ihn überwältigen, zum Fenster schleppen und hinaus! Ich bin vor Zorn und Kummer außer mir. Was werde ich jetzt tun? Meine Pläne für Mangu sind zunichte gemacht. Mordechai erzählt mir, das Projekt Phönix sei wegen unüberwindlicher biologischer Schwierigkeiten blockiert, möglicherweise für immer. Projekt Talos kommt langsam voran, aber Talos wollte mir noch nie recht gefallen. Damit bleibt mir noch Avatara, und ohne Mangu ist es…

Ah. Ich werde Mordechai verwenden. Ein kräftiger, junger und gesunder Körper. Ich werde glücklich darin sein. Und schwarz. Eine Neuheit. Ich sollte alle Erscheinungsformen der Menschheit ausprobieren. Wenn Mordechais Körper alt geworden ist, sollte ich vielleicht in einen weißen umziehen. Vielleicht sogar in eine Frau. Oder in einen Riesen, einen Zwerg — das sind alles Möglichkeiten…

Mordechai ist ein guter Arzt und ein angenehmer Gesellschafter gewesen, ein Mann, der weiß, wann er den Mund zu halten hat. Aber es gibt andere Ärzte, und die Gesellschaft von Mitmenschen wird mir immer unwichtiger. Sollte ich ein Schuldbewußtsein entwickeln, daß ich ihn auslösche? Mag sein, daß ich eine Weile unter Gewissensbissen leiden werde, ein paar Tage vielleicht. Aber ich muß über solche Empfindungen hinauswachsen.


16. Mai 2012

Weitere Überlegungen zu der Wahl Mordechais als Ersatz für Mangu. Offenbar halten sich im Unterbewußtsein noch Reste von Schuldgefühlen. Aber warum? Ich denke ja nicht daran, ihn zu ermorden, sondern ich will ihn ehren, indem ich seinen Körper zum Träger enormer Machtvollkommenheit mache. Natürlich mag er einwenden, daß meine Pläne für ihn wenn auch nicht auf direkten Mord, so doch bestenfalls auf eine Form von Sklaverei hinauslaufen, und seinesgleichen habe genug Sklaverei ertragen. Aber nein: Mordechai ist mit seinen unglücklichen Vorfahren nicht identisch, und alle alten Schulden sind vom Viruskrieg beglichen worden, der Sklaven und Herren ohne Unterschied dahinraffte, vor Generälen sowenig haltmachte wie vor Säuglingen und die Überlebenden in einen geschichtslosen Zustand ohne Vergangenheit entließ, in eine neue Welt, worin die Geschichte jeden Tag neu geboren wird. Was haben uns Heutigen die Verbrechen der Sklaventreiber zu sagen? Die alte Gesellschaft, deren Ausbeutungscharakter unter anderem die Sklaverei als einfachste und lohnendste Aneignungsmethode hervorbrachte, besteht nicht mehr. Und ich habe meinen Teil dazu beigetragen. Ich habe es nicht nötig, mich mit der Schuld anderer zu beladen. Ich bin kein Deutscher; wenn es notwendig wird, kann ich Juden in den Verbrennungsofen schicken, ohne mich für vergangene Sünden zu entschuldigen. Ich bin kein Weißer; darum macht es mir nichts aus, einen Schwarzen zu versklaven. Die Vergangenheit ist tot. Die Geschichte besteht jetzt aus leeren Seiten. Außerdem — falls historische Imperative noch fortbestehen sollten — bin ich Mongole: meine Vorfahren unterwarfen die halbe Welt. Soll ich mich in Kleinlichkeiten verlieren? Ich werde seinen Körper haben.


27. Mai 2012

Der Sicherheitsdienst meldet mir, die Überprüfung der Tonaufzeichnungen dieser Woche habe ergeben, daß Katja Lindman Mordechai verraten hat, er sei der nächste Avatara-Spender. Diese Frauenzimmer reden zuviel. Es war nicht meine Absicht, ihn die Wahrheit darüber erfahren zu lassen, aber nun ist es geschehen. Ich werde ihn in Zukunft genauer beobachten müssen. Das Leiden der Menschheit hat mich die Regierungskunst gelehrt. Ich habe den Mitmenschen mein Leben und die Arbeitskraft von mehr als fünfundsechzig Jahren gewidmet. Ich habe mir kaum etwas gegönnt. Ich war kein Caligula, kein Nero. Das alles gibt mir ein Recht auf ein wenig Kurzweil und Erheiterung: als Ausgleich für die schwere Last der Verantwortung, die ich zu tragen habe. So bereitet es mir ein gewisses — und eingestandenermaßen unmoralisches — Vergnügen, zu beobachten, welche Auswirkungen die neue Erkenntnis auf Doktor Mordechais Verhalten zeitigt. Das Seltsame ist, daß man ihm noch nichts anmerkt. Er gibt sich völlig ruhig. Wahrscheinlich glaubt er noch nicht daran. Will nicht daran glauben. Vermutlich hält er sich für unentbehrlich. Warten wir ab. Er wird noch darauf kommen. Früher oder später wird es ihn wie ein Keulenschlag treffen.

Schadrach findet das Spiel plötzlich nicht mehr amüsant. Diese Experimente in psychologischer Perspektive sind um so weniger spaßig, je mehr die Distanz zwischen ihm selbst und seiner erfundenen Geschichte schrumpft. Und mehr noch, das Spiel ist auf einmal sehr schmerzhaft geworden, es hat einen bloßliegenden Nerv getroffen und schmerzt mit verblüffender Intensität. In den vergangenen zehn Minuten ist es ihm gelungen, seine gleichmütige Gelassenheit selbst zu unterminieren, und nun windet er sich nicht nur, er blutet. Schmerz, Furcht und Zorn überwältigen ihn. Er hat den Eindruck, alle hätten sich gegen ihn verschworen. Er, der freundliche, umgängliche, gutaussehende, humane, seiner Arbeit ergebene Schadrach Mordechai ist, wie sich herausstellt, bloß ein weiterer entbehrlicher Nigger. Wenn wahr ist, was Katja ihm erzählt hat. Wenn. Schadrach ist in größter Unruhe. Dies also ist sein Feuerofen, und er steckt schon darin. Der schwere Schatten des Vorsitzenden liegt über ihm. Eines Tages werden sie ihn holen, werden ihm die Elektroden ansetzen und sein einzigartiges und unersetzliches Selbst auslöschen, und kurz darauf werden sie die Persönlichkeit dieses schlauen alten Mongolen in seinen Schädel pumpen. Wird es wirklich dahin kommen? Katja sagt es. Aber kann er ihr glauben? Sollte er ihr glauben? Er zittert auf einmal. Das Entsetzen geht ihm wie ein Frosthauch durch alle Glieder. Er braucht Ruhe; er könnte eine Dosis vom Beruhigungsmittel des alten Teufels vertragen, eine ordentliche Ladung Pordenone 9 oder vielleicht etwas Stärkeres. Aber Schadrach hält nichts davon, sich in einer Krise unter Drogen zu setzen. Er braucht jetzt seinen klaren Verstand.

Was soll er tun?

Der erste Schritt ist einer, den er schon gestern hätte tun sollen. Er wird wieder zu Nicki Crowfoot gehen. Und ihr ein paar Fragen stellen.

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