Mehr als eine Woche vergeht, bis Schadrach Nikki Crowfoot wiedersieht. Sie habe im Laboratorium sehr viel zu tun — Umstellungsprobleme beim Avatara-Projekt zur Persönlichkeitsverpflanzung, nachdem der Spenderkörper nicht mehr von Mangu gestellt werden kann —, und darum sei sie abends zu müde, um Gesellschaft zu suchen. Aber er argwöhnt, daß sie ihn meidet. Nicki Crowfoot ist immer am umgänglichsten gewesen, wenn sie am meisten zu tun hatte und überarbeitet war; der Kontakt zu anderen ist ihr Ausweichen vor dem Druck. Schadrach kann sich nicht vorstellen, warum sie ihn meiden sollte. Die Nacht, die er mit Katja Lindman verbrachte, hat sicherlich nichts damit zu tun. Er hat früher schon mit Katja Lindman geschlafen und mit anderen; auch Nicki Crowfoot hat andere Partner gehabt; solche Dinge haben zwischen ihnen nie eine Rolle gespielt. Es verwirrt ihn. Wenn sie am Telefon miteinander sprechen, ist Nicki distanziert und auf der Hut. Zweifellos ist in ihrer Beziehung zueinander irgend etwas schiefgegangen, aber er hat keine Ahnung, was es sein könnte.
Eine neuerliche Krise des Vorsitzenden lenkt ihn von diesen Fragen ab. In den vergangenen Tagen hat der alte Mann das Bett verlassen, um in seinem Büro zu arbeiten und an Sitzungen des Revolutionsrates teilzunehmen. Seine Wiederherstellung machte so rasche und ermutigende Fortschritte, daß es keinen Grund zu geben schien, ihm weiterhin Bettruhe zu verordnen. Außerdem hätte Dschingis Khan II. Mao sich über solche Vorschriften hinweggesetzt. Aber nun registrieren die empfindlichen Signalgeber unter Schadrach Mordechais Haut Frühwarnungen bevorstehender Komplikationen — epigastrische Unregelmäßigkeiten, schwache systolische Nebengeräusche, allgemeine Kreislaufschwächen. Zuviel und zu frühe Aktivität? Schadrach sucht den Vorsitzenden in seinem Büro auf, um das Problem anzusprechen. Aber der alte Mann, bis über die Ohren in Regierungsgeschäften und seiner Jagd auf Feinde der Gesellschaftsordnung, hat keine Zeit, um mit dem Leibarzt über seine Gesundheit und mögliche Symptome zu diskutieren. Er wischt Schadrachs Fragen mit der brüsken Erklärung vom Tisch, daß er sich selten besser gefühlt habe als jetzt. Dann wendet er sich wieder seiner Arbeit zu. Inzwischen, so bemerkt er selbstzufrieden, sei die Zahl der Verhaftungen auf zweihundertzweiundachtzig angestiegen. Von den Verhafteten seien neunundsiebzig für schuldig befunden und in die Organfarmen geschickt worden. »So werden diese kriminellen Elemente der Gesellschaft doch noch einen nützlichen Dienst erweisen«, sagt der Vorsitzende. »Liegt darin nicht eine tiefe Gerechtigkeit? Symbolisiert es nicht auf das treffendste das dialektische Prinzip These, Antithese, Synthese?«
»Zweihundertzweiundachtzig Verschwörer?« fragt Schadrach. »Waren so viele nötig, um einen Mann aus dem Fenster zu stoßen?«
Der Alte wirft ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Wer weiß? Das Verbrechen selbst konnte vielleicht von zwei oder drei Eindringlingen verübt werden. Aber für die Vorbereitungen muß ein weitgespanntes Netz von Helfern und Zuarbeitern benötigt worden sein. Sicherheitseinrichtungen mußten verändert, Wachen abgelenkt, Kameras lokalisiert und durch Zudecken der Objektive unschädlich gemacht werden. Wir glauben, daß ungefähr ein Dutzend Verschwörer benötigt wurde, um die Körper der Mörder aus dem Hof fortzuschaffen, nachdem sie hinuntergesprungen waren.«
»Gesprungen waren?«
Der Vorsitzende lächelt. »Wir glauben«, sagt er, »daß die Meuchelmörder, nachdem sie Mangu aus dem Fenster gestoßen hatten, aus demselben Fenster hinterher sprangen, um nicht im Gebäude gefaßt zu werden. Helfershelfer, die unten auf dem Hof gewartet hatten, schafften ihre Körper sofort beiseite, während andere alle Spuren der zerschmetterten Leichen vom Pflaster entfernten.«
Schadrach starrt ihn an. »Horthy sah nur einen Mann fallen, und das war Mangu.«
»Horthy blieb nicht auf dem Hof, um die weiteren Ereignisse zu beobachten.«
»Trotzdem…«
»Wenn Mangus Mörder ihrem Opfer nicht nachgesprungen wären«, sagt der alte Mann ungeduldig, »was wurde dann aus ihnen? Im Gebäude wurden nach dem Verbrechen keine verdächtigen Personen entdeckt.«
Schadrach ist unfähig, darauf eine passende Antwort zu finden. Kein Kommentar, den er geben könnte, würde im Sinne des Vorsitzenden konstruktiv sein. Nach einer Pause räuspert er sich und sagt: »Wäre es möglich, daß wir eine Minute über Ihre Gesundheit sprechen würden?«
»Ich sagte Ihnen doch, daß ich mich wohl fühle.«
»Die Symptome, die ich ausgemacht habe, sind ziemlich ernster Natur«, sagt Schadrach. »Ich…«
»Symptome wovon?« fragt der Vorsitzende ungnädig.
Schadrach befürchtet, daß sich im Körper seines Patienten ein Aneurysma entwickeln könnte, eine Schlagadererweiterung. Er fragt den Vorsitzenden, ob er irgendwelche ungewöhnlichen Beschwerden verspürt habe, und der gibt widerwillig zu, daß er wiederholt ein scharfes Stechen im Rücken und in den Seiten gefühlt habe. Schadrach macht ihn nicht auf den Widerspruch zwischen dieser Auskunft und dem behaupteten Wohlbefinden aufmerksam; aber das Eingeständnis gibt ihm die Oberhand, und er verordnet dem Patienten Bettruhe.
Der Blick durch eine Kathetersonde in die Bauchschlagader bestätigt die erste Diagnose. Der jüngste Eingriff hat dort offenbar ein Blutgerinnsel hinterlassen, das sich in der Bauchschlagader festgesetzt und eine Infektion verursacht hat. Vielleicht trifft letzteres auch nicht zu, jedenfalls bildet sich eine Geschwulst, die einen neuen Eingriff notwendig macht. Wäre es ein anderer Patient, so würde Schadrach die Risiken einer Operation so bald nach einer größeren Organverpflanzung für noch größer halten als das Risiko einer Ausdehnung des Aneurysmas. Aber mittlerweile macht es ihm kaum noch etwas aus, seinen hochgestellten Patienten dem Messer auszuliefern. Der Körper des alten Mannes ist so oft geöffnet worden, daß er häufige chirurgische Eingriffe als natürlichen Zustand zu akzeptieren scheint. Überdies ist das Aneurysma nicht weit von der Leber entfernt, und Warhaftig wird es durch den zuletzt ausgeführten Schnitt erreichen, der erst zu verheilen beginnt.
Die Nachricht verdrießt den Vorsitzenden. »Ich habe jetzt keine Zeit für Chirurgie«, sagt er irritiert. »Es gibt eine Menge Akten und Entscheidungen aufzuarbeiten. Außerdem werden täglich neue Verschwörer entdeckt. Dieses Problem verdient meine volle Aufmerksamkeit. Schließlich soll nächste Woche Mangus Staatsbegräbnis stattfinden, bei dem ich persönlich zugegen sein möchte. Ich…«
»Es besteht ernste Gefahr, und ich empfehle…«
»Das sagen Sie immer, Doktor. Ich glaube, es macht Ihnen Spaß, mir das zu erzählen. Ich habe den Verdacht, daß Sie sich zu unsicher fühlen, Doktor. Selbst wenn es Ihnen nicht gelänge, alle paar Wochen eine neue Krise zu finden, würde ich Sie nicht von der Gehaltsliste streichen. Sie sind mir sympathisch, Doktor.«
»Mit Verlaub, ich erfinde die Krisen nicht.«
»Trotzdem. Hat das nicht noch einen oder zwei Monate Zeit?«
»Dann müßten wir einen frischen Schnitt in geheiltes Gewebe machen.«
»Was ist schon dabei? Auf einen Schnitt mehr oder weniger kommt es nicht an.«
»Abgesehen davon, das Risiko…«
»Ja«, sagt der Vorsitzende. »Das Risiko. Wie sieht es aus, wenn ich dieses Ding lasse, wie es ist?«
»Wissen Sie, was ein Aneurysma ist, Herr Vorsitzender?«
»Mehr oder weniger.«
»Es ist eine Arterienerweiterung, an deren Wand sich ein Blutgerinnsel festgesetzt hat und das umliegende Gewebe durch infektiöse Vorgänge schädigt. Was ich gesehen habe, gleicht einer Geschwulst. Wenn eine Geschwulst zu groß wird, blockiert sie entweder die Schlagader, oder sie durchbricht die Außenwand.«
»Ah.«
»Eine weitere Möglichkeit ist, daß Teile des Blutgerinnsels oder des befallenen Gewebes losgelöst werden und, vom Blutkreislauf mitgenommen, anderswo eine Embolie oder einen Infarkt erzeugen. Es gibt noch andere Möglichkeiten. Alle sind tödlich.«
»Tödlich?«
»Unweigerlich. In den meisten Fällen führen sie innerhalb von Minuten unter großen Schmerzen zum Tode.«
»Ich verstehe.«
»Eine solche Situation tödlicher Gefahr könnte sich praktisch jederzeit ergeben.«
»Hm.«
»Ohne Vorwarnung.«
»Ich sehe.«
»Käme es zu einem Durchbruch oder zu einer Embolie, wären wir hilflos. Dann gäbe es keine Möglichkeit mehr, Sie zu retten.«
»Ah. Ich sehe.«
Sieht er wirklich? Ja. Gewiß zeigen sich dem Basiliskenblick des Vorsitzenden jetzt Visionen durchbrechender Adergeschwüre. Die hageren, lederigen Wangen ziehen sich in tiefer Nachdenklichkeit zusammen; düstere Falten durchfurchen die bronzefarbene Stirn. Der Vorsitzende ist in Sorge. Er hatte nicht erwartet, diesen Morgen mit der Möglichkeit eines plötzlichen Todes konfrontiert zu werden. Nun überdenkt er offenbar das Dahinscheiden Dschingis Khans II. Mao von dieser Welt, und die Vorstellung scheint ihm weniger denn je zuzusagen. Die permanente Revolution, die das Gesicht der gequälten Welt bereits durchgreifend verändert hat, benötigt einen permanenten Führer; obwohl der Vorsitzende oft gesagt hat, daß die Teilnahme an der Revolution dem aktiven Revolutionär Unsterblichkeit verschaffe, weil ein solcher revolutionärer Kämpfer über den Tod des Individuums hinaus in dem revolutionären Geist weiterlebe, den er mitgeschaffen hat, wird deutlich, daß er vor sich selbst die andere, weniger metaphorische Art der Unsterblichkeit vorzieht. Er starrt finster vor sich hin und seufzt. Er gibt seine Zustimmung zu der neuen chirurgischen Unterbrechung seiner Amtsgeschäfte.
Warhaftig wird hinzugezogen. Es gibt Konferenzen; Termine werden eingeplant; Einzelheiten des Eingriffs werden dem Vorsitzenden erläutert. Die Bauchschlagader wird über und unter dem Aneurysma abgeklemmt werden müssen, um den Blutkreislauf vorübergehend zu unterbrechen, während Warhaftig das Aneurysma entfernt und eine Kunststoffprothese einsetzt.
»Nein«, widerspricht der Vorsitzende. »Keine Prothese. Sie können ein Stück Schlagader übertragen, nicht wahr? Bei Arteriengewebe ist die Unverträglichkeit kein großes Problem. Es ist wie das Flicken einer Schlauchleitung.«
Warhaftig sagt: »Aber Kunststoffarterien haben sich als völlig…«
»Nein, ich habe schon genug Plastik in mir. Und die Organfarmen sind voll von neuem Material. Geben Sie mir eine richtige Bauchschlagader.« Ein spitzbübisches Lächeln blitzt in den Augen des alten Mannes. »Geben Sie mir eine Bauschschlagader von einem der in jüngster Zeit überführten Verschwörer.«
Warhaftig blickt zu Schadrach Mordechai, der die Achseln zuckt.
»Wie Sie wünschen«, sagt der Chirurg.
Bald darauf ißt Schadrach mit Katja Lindman zu Mittag. Nach dem Essen schlendern sie über den Sukhe Bator-Platz. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug nach Karakorum hat er mehr Zeit als üblich mit Katja verbracht, wenn er auch nicht mehr mit ihr geschlafen hat. Er findet sie jetzt sanfter, weniger bedrohlich und ist sich nicht klar darüber, ob sie sich geändert hat oder nur seine Einstellung zu ihr; daß er aufwachte und sie schluchzen sah, mag etwas damit zu tun gehabt haben. Jedenfalls ist sie so warm und freundlich geworden, daß er befürchtet, sie könne sich sogar in ihn verliebt haben. Andererseits fühlt er bei ihr eine verborgene innere Reserve, eine undurchdringliche Zone, die den Kern ihres Wesens umschließt und ihm als die Feindin wahrer Liebe erscheint. In der Blütezeit seiner Beziehung zu Nicki Crowfoot hatte es in ihr keine solchen unzugänglichen Räume gegeben.
Die Mittagssonne strahlt, die Luft ist mild, der Tag warm; gelbe Blüten leuchten in den Terrakottavasen mit Stauden und Büschen, die den Platz schmücken. Katja geht neben ihm, aber ohne Tuchfühlung. Sie hat bereits von der neuen Krise gehört. Neuigkeiten aller Art machen im Regierungspalast schnell die Runde, besonders aber solche, die die Gesundheit des Vorsitzenden betreffen. »Erkläre mir, was ein Aneurysma ist«, sagt sie. Er gibt ihr eine umständliche Beschreibung und schildert die bevorstehende Operation. Inzwischen sind sie in den Hof des Regierungspalastes gekommen und stehen nicht weit von der Stelle, wo Mangu aus dem Fenster stürzte. Als er fertig ist, blickt Schadrach an der Fassade hinauf und versucht sich vorzustellen, wie zwei oder drei Meuchelmörder hinter Mangu in die Tiefe springen, wo wartende Mitverschwörer herbeieilen, um die zerschmetterten Leichen aufzusammeln und fortzuschaffen. Wahnsinn, denkt er. Und das ist die Theorie, die der Vorsitzende allen Ernstes vertritt. Heller Wahnsinn.
Er sagt: »Bisher soll es fast dreihundert Verhaftungen gegeben haben. Siebenundneunzig Personen wurden zu den Organfarmen geschickt. Letzte Woche war Roger Buckmaster noch gesund und lebendig, so sehr sein eigener Herr wie jeder von uns. Morgen werden wir vielleicht ein Stück aus seiner Bauchschlagader nehmen, um die des Vorsitzenden damit zu flicken. Und die Verhaftungen gehen weiter.«
»Ich weiß. Avogadros Leute bringen die Verhafteten bei Tag und Nacht. Wann wird dieser alte Mann sich zufrieden geben?«
»Wahrscheinlich erst dann, wenn er beschließt, daß alle Verschwörer gefaßt worden sind.«
»Verschwörer!« sagt Katja beißend. Für einen Moment hat sie wieder die alte, beängstigende Heftigkeit. »Welche Verschwörer? Welche Verschwörung? Die ganze Geschichte ist doch verrückt. Mangu hat sich selbst das Leben genommen.«
»Dann glaubst du auch, daß es Selbstmord war?«
»Glaube? Ich weiß es«, sagt sie und wirft ärgerlich den Kopf zurück.
»Du redest, als wärst du dabei gewesen, als er sprang.«
»Sei nicht albern.«
»Wie kannst du wissen, daß es Selbstmord war?«
»Ich weiß es eben.«
»Warst du da, als er aus dem Fenster fiel, oder warst du nicht da?«
»Natürlich nicht«, sagte Katja.
»Warum bist du dann so überzeugt davon?«
»Aus gutem Grund. Hinreichenden Gründen.«
»Weißt du etwas, was die Sicherheitsleute nicht wissen?«
»Ja.«
»Warum sagst du es dann nicht in aller Öffentlichkeit, bevor Avogadro die ganze Welt verhaftet?«
Sie schweigt einige Sekunden lang. »Nein«, sagt sie dann. »Ich kann nicht. Es würde mich zerstören.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Du könntest, wenn ich dir die Geschichte erzählte.« Sie mustert ihn. »Wenn ich es täte, würdest du sie für dich behalten?«
»Wenn du es von mir verlangtest.«
»Ich habe schon oft gedacht, daß ich es jemandem erzählen sollte. Dir würde ich es gern erzählen, denn ich vertraue dir, Schadrach. Aber ich habe Angst.«
»Wenn du es lieber nicht sagen möchtest…«
»Nein, nein. Ich werde es dir erzählen. Komm, gehen wir noch einmal über den Platz. Es könnte sein, daß eine Kamera auf uns gerichtet ist und später jemand meine Lippenbewegungen abliest.«
»Kameras sind überall. Es spielt keine Rolle, in welche Richtung wir uns bewegen. Aber alles können sie nicht aufnehmen, vermute ich.«
Sie verlassen den Innenhof und gehen langsam über den Platz. Katja hebt die Hand vor das Gesicht, als wolle sie sich die Nase kratzen, und sagt mit bedecktem Mund: »Ich sah Mangu am Abend vor seinem Tod. Wir sprachen über das Projekt Avatara. Ich sagte ihm, daß er zum Spender ausersehen sei.«
»Allmächtiger! Das hast du getan?«
Sie nickt grimmig. »Ich konnte es nicht länger für mich behalten. Es war ein Montagabend, der Abend vor der Leberverpflanzung, nicht wahr? Mangu hatte am selben Abend eine Rede gehalten. Danach gingen er und ich ins Kasino und tranken etwas. Er befürchtete, der Vorsitzende könne während der Operation sterben, und er müßte die ganze Regierungsverantwortung auf sich nehmen. Er äußerte immer wieder die Befürchtung, daß er der Aufgabe nicht gewachsen sein werde. Und dann fingen wir an, über die drei Projekte zu sprechen, und er erging sich in Spekulationen über Avatara. Wie sich eine erfolgreiche Übertragung vom Bewußtsein des Vorsitzenden in einen fremden Körper auf die Regierungsverantwortung im allgemeinen und auf seine, Mangus Stellung, im besonderen auswirken würde. Er war so anständig, daß er keinen Augenblick für möglich gehalten hätte, er selbst könne zum Körperspender ausersehen sein. Ich konnte es schließlich nicht mehr aushallen, und weil er mir leid tat und ich ihm helfen wollte — ich dachte, er könnte vielleicht einen Staatsstreich versuchen oder wenigstens Gegenmaßnahmen vorbereiten —, sagte ich ihm, er brauche sich deswegen keine Gedanken zu machen und verschwende nur seine Zeit, denn nach der Persönlichkeitsübertragung werde es ihn nicht mehr geben, weil der Vorsitzende ihn zum Körperspender machen wolle.«
Schadrach ist von dieser Beichte wie vor den Kopf geschlagen. »Das hast du getan?«
»Die Worte kamen mir wie von selbst. Da war dieser anständige und verdiente Mann, der über seine Zukunft nachdachte, und ich wußte, daß er keine hatte, daß er praktisch schon zum Tode verurteilt war. Wenn das Projekt Avatara zum Erfolg geführt würde. Wir alle wußten es, alle bis auf ihn. Ich fand es unmenschlich, ihn nichtsahnend in sein Verderben laufen zu lassen.«
»Wie reagierte er?«
»Er wurde aschfahl. Sein Gesicht schien einzufallen. Ein leerer, glanzloser Ausdruck kam in seine Augen. Lange saß er so da und sagte kein Wort. Dann fragte er mich, woher ich es wüßte. Ich sagte, viele wüßten es. Er fragte, ob du davon wüßtest, und ich sagte, daß es wahrscheinlich sei. Ich will mit Nicki Crowfoot sprechen, sagte er. Ich antwortete ihm, daß sie mit dir in Karakorum sei. Dann wollte er mein Urteil über das Projekt Avatara hören, und ich sagte, ich wüßte es nicht, ich hätte großes Vertrauen in mein eigenes Projekt, und mit einigem Glück könne Talos eher zum Erfolg gebracht werden als Avatara. Es sei alles eine Frage der Zeit, sagte ich. Avatara habe gegenwärtig einen Vorsprung, und wenn dem Vorsitzenden in den nächsten Monaten etwas Ernstes zustoße, dann werde man vermutlich Avatara aktivieren müssen, weil der Talos-Automat wenigstens ein weiteres Jahr Entwicklungsarbeit benötige und das Projekt Phönix keine Fortschritte mache. Er dachte darüber nach. Schließlich sagte er mit tonloser Stimme, es mache ihm nichts aus, ob er tatsächlich der Körperspender sein werde oder nicht, entscheidend sei für ihn der Vertrauensbruch. Der Vorsitzende habe ihn glauben machen, er sei sein erklärter Nachfolger, während er insgeheim ein Projekt vorantreibe, das auf seine, Mangus, Ermordung hinauslaufe. Das sei das Schmerzliche daran, sagte er, nicht der Gedanke an den Tod, nicht die Vorstellung, seinen Körper zugunsten des Vorsitzenden aufzugeben. Er werde dem alten Mann niemals vergeben, daß er ihn getäuscht und wie einen Tölpel behandelt habe. Und dann stand er auf, sagte gute Nacht und ging. Was danach war, weiß ich nicht. Ich nehme an, er grübelte die ganze Nacht darüber nach, dachte daran, wie er getäuscht worden war. Gut möglich, daß er keine Chance für einen Putschversuch sah, weil er erkennen mußte, daß viele wichtige Leute seit längerer Zeit von dem ihm zugedachten Schicksal wußten, ohne für ihn eingetreten zu sein. Und als es Tag wurde, stürzte er sich aus dem Fenster.«
»Ja. Ja«, sagt Schadrach. »Das leuchtet ein. Es gibt Wahrheiten, die man nicht ertragen kann.«
»Also gibt es keine Verschwörer. Die Verschwörung existiert nur im paranoiden Geist des alten Mannes. Diese dreihundert Verhafteten sind unschuldig. Gewiß, sie sind Gegner des Systems und insofern vielleicht mit Recht als Staatsfeinde zu bezeichnen, aber am Tode Mangus sind sie alle unschuldig. Wie viele von ihnen sind bisher zu den Organfarmen geschickt worden? Siebenundneunzig? Lauter Unschuldige. Ich sehe, was geschieht, aber ich kann nichts tun. Ich kann nicht den Mund aufmachen und die Wahrheit sagen. Es heißt, der Vorsitzende sei nicht bereit, die Selbstmordhypothese auch nur in Erwägung zu ziehen.«
»Er will, daß es eine Verschwörung war, ja«, sagt Schadrach. »So kann er aus dem Tod Mangus noch politisches Kapital schlagen. Die Verfolgung und Bestrafung dieser Leute macht ihm Spaß.«
»Und wenn ich öffentlich erzählte, was ich gerade dir gesagt habe, würde der alte Mann mich töten lassen.«
Schadrach nickt. »Ja, du würdest morgen in der Organfarm sein. Oder vielleicht würde er dich als den neuen Körperspender für das Projekt Avatara auswählen.«
»Das ist kaum wahrscheinlich«, sagt Katja.
»Ich würde es seinem skurrilen Humor zutrauen. Dein loses Mundwerk hat ihn um Mangus Körper gebracht, also wirst du Mangus Ersatz. Sehr passend.«
»Sei nicht albern, Schadrach. Das ist unvorstellbar. Er ist ein Mann, und er ist Mongole. Er sieht sich als die Reinkarnation des Dschingis Khan. Nie würde er seine Persönlichkeit in den Körper einer Frau verpflanzen lassen.«
»Warum nicht? Die alten Mongolenkhans waren keine sturen Verfechter des Patriarchats, Katja. Soviel ich weiß, ließen die Mongolen sich dann und wann von Regentinnen beherrschen, wenn die männliche Linie ausstarb. Natürlich würde er Anpassungsschwierigkeiten haben. Die Veränderung des Geschlechts mit allen körperlichen Reflexen, den ungezählten kleinen männlichen Gewohnheiten, die er sich würde abgewöhnen müssen…«
»Hör auf, Schadrach. Daß der alte Mann meinen Körper nehmen würde, ist keine ernstzunehmende Möglichkeit.«
»Aber es ist eine amüsante Vorstellung.«
»Ich finde sie nicht amüsant.« Sie bleibt stehen und sieht ihn an. Ihr Gesicht ist blaß und gespannt. »Was können wir tun? Wie können wir diesen Verhaftungen ein Ende machen?«
»Es gibt keine Möglichkeit. Man muß den Dingen ihren Lauf lassen.«
»Angenommen, dem Vorsitzenden wird ein anonymes Papier zugeschickt, in dem ihm lediglich gesagt wird, Mangu habe erfahren, was für ein Schicksal ihm zugedacht gewesen sei, eine ungenannte Person habe ihm enthüllt, daß er als Körperspender für den Vorsitzenden dienen solle…«
»Nein. Entweder würde der alte Mann dieses Papier ignorieren oder eine großangelegte Vernehmungsaktion starten, in deren Verlauf jeder durch die Mangel gedreht würde, der Kenntnis vom Avatara-Projekt gehabt haben könnte.«
»Gut, das ist wahrscheinlich richtig. Aber was soll geschehen, wenn die Verhaftungen nicht aufhören?«
Schadrach zuckt die Achseln. »Avogadro findet bald keine Verdächtigen mehr. Was es in der Mongolei an aktiven politischen Gegnern gibt, hat er allmählich beisammen. Die Aktion nähert sich ihrem Ende.«
»Und die Gefangenen, die noch nicht verurteilt sind?«
Schadrach Mordechai seufzt. »Denen können wir nicht helfen. Sie sind verloren. Da ist nichts zu machen, Katja. Auf diese oder jene Weise erwarten wir alle unser Urteil.«
Den ganzen Nachmittag verfolgt ihn die Vision des armen, getäuschten Mangu, wie er die letzten Stunden seines Lebens verbringt, aller Selbsttäuschungen ledig, konfrontiert mit einer kalten, unbarmherzigen Wirklichkeit. Warum hatte Katja Lindman ihn aufgeklärt? Glaubte sie wirklich, ihm helfen zu können? Hatte sie gehofft, durch ihn den alten Tyrannen stürzen zu können? Nein. Sie muß gewußt haben, daß ein Mann wie Mangu, dem Verläßlichkeit und Loyalität immer höchstes Gebot gewesen waren, an einer solchen schnöden Täuschung persönlich zerbrechen mußte.
Das hätte sie sehen müssen.
Eine Stunde nach der Begegnung mit Katja Lindman verfällt Schadrach auf eine weitere Möglichkeit. Katja Lindman hatte als die gute Schachspielerin, die sie ist, alle Konsequenzen ihres Tuns vorausgesehen. Erfährt Mangu die Wahrheit, so reagiert er, indem er seinen Körper auf diese oder jene Weise dem Zugriff des Vorsitzenden entzieht. Kein Mangu, und das Projekt Avatara erleidet einen schweren Rückschlag. Nicki Crowfoot, Katja Lindmans Rivalin, ist besiegt und entmutigt. Ihr Projekt, um viele Monate zurückgeworfen, verliert das Primat an Katja Lindmans Projekt Talos. Schadrach Mordechai, der sich auf unerklärliche Weise bereits von Nicki entfremdet hat, wird zwangsläufig ganz zu Katja hinübergezogen, deren Stern im Aufsteigen begriffen ist. Natürlich. Und der ganze Rest, Katjas vorbildliches Mitgefühl mit den glücklosen Opfern der Massenverhaftungen, Katjas Schaustellung von Kummer um den armen, betrogenen Mangu — alles Teil des Spiels. Schadrach schaudert. Selbst im rauen und unberechenbaren Klima, das in der Umgebung des Vorsitzenden herrscht, scheint ihm dies monströs, und Katja Lindman steht als eine verderbenbringende und fremdartige Gestalt vor seinem inneren Auge, hinreichend bösartig und verschlagen, um eine geeignete Partnerin für Dschingis Khan II. Mao abzugeben. Oder, wenn nicht eine Partnerin, dann jedenfalls ein passendes Gehäuse für den fintenreichen und brutalen Verstand des alten Ungeheuers. Ja! Einen Augenblick lang spielt Schadrach ernstlich mit dem Gedanken, dem Vorsitzenden Katja Lindmans Körper als Ersatz vorzuschlagen. Doch ein noch immer dunkles Motiv bereitet ihm weiter Kopfzerbrechen: Warum hat Katja Lindman ihm alles das enthüllt? Wenn sie ein so berechnendes Ungeheuer ist, würde sie dann nicht die Wahrscheinlichkeit einkalkuliert haben, daß er sie früher oder später als das erkennen würde, was sie ist? Könnte das am Ende ihr Ziel gewesen sein? Aber warum? Die Vielfalt der Spekulationen macht ihn schwindeln.
Er möchte sich Nicki zuwenden, aber sie zeigt sich weiterhin abweisend, und er hat seit zwei oder drei Tagen nicht mit ihr telefoniert. Nun ruft er sie unter dem Vorwand an, daß er sich über die Fortschritte des Projekts Avatara ins Bild setzen lassen möchte, aber auf der Mattscheibe der Sprechanlage erscheint einer ihrer Assistenten, ein Doktor Eis aus Frankfurt. Eis, ein klassischer Teutone mit blaßblauen Augen und weichem, goldblondem Haar, zeigt bei Schadrachs Anblick eine seltsame kleine Reaktion von Überraschung, Schrecken oder Abneigung, erholt sich aber rasch und begrüßt ihn mit kühler Höflichkeit.
»Kann ich Doktor Crowfoot sprechen?« fragt Schadrach.
»Ich bedaure, Doktor Crowfoot ist nicht hier. Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«
»Wird sie am Nachmittag erreichbar sein?«
»Doktor Crowfoot kommt heute nicht mehr ins Labor, Doktor Mordechai.«
»Ich muß sie dringend sprechen.«
»Sie ist in ihrer Wohnung, Doktor. Eine Unpäßlichkeit. Sie hat darum gebeten, daß man sie nicht stört.«
»Sie ist krank? Was fehlt ihr denn?«
»Möglicherweise eine leichte Grippe. Fieber, Kopfschmerzen. Sie beauftragte mich, Ihnen zu sagen, wenn Sie anriefen, daß wir noch immer das Problem der Rekalibrierung studieren, und daß es darüber hinaus gegenwärtig nichts zu melden gibt.«
»Danke, Doktor Eis.«
»Bitte, Doktor Mordechai«, erwidert Eis knapp.
Schadrach unterbricht die Verbindung und wählt die Nummer von Nickis Wohnung. Nein. Er hat genug von Ausflüchten, Entschuldigungen und Verzögerungen. Er wird einfach zu ihr gehen und uneingeladen läuten.
Sie läßt ihn lange im Korridor stehen, bevor sie reagiert, obwohl sie wissen muß, wer draußen steht. Dann sagt sie: »Was willst du, Schadrach?«
»Eis sagte mir, du seist krank.«
»Es ist nichts Ernstes. Nur eine kleine Grippe oder eine Erkältung.«
»Darf ich hereinkommen?«
»Ich versuche ein bißchen zu schlafen, Schadrach.«
»Ich werde nicht lange bleiben.«
»Aber ich fühle mich wirklich nicht gut. Ich möchte lieber keine Besucher.«
Er ist im Begriff, sich von der Tür abzuwenden, doch obwohl er weiß, daß seine dickköpfige Beharrlichkeit ihm bei Nicki nicht weiterhilft, findet er es allzu schmerzlich, wieder fortzugehen, ohne sie gesehen zu haben. Er hört sich in die Türsprechanlage sagen: »Laß mich wenigstens sehen, ob ich dir was verschreiben kann, Nicki. Schließlich bin ich Arzt.«
Eine lange Stille folgt auf seine Worte. Er hofft verzweifelt, daß niemand vorbeikommen wird, der ihn kennt, damit sich nicht herumspricht, daß er wie ein liebeskranker Romeo draußen auf dem Korridor gestanden und um Einlaß gebettelt hat.
Endlich ertönt der Summer, und die Tür läßt sich aufdrücken.
Nicki liegt im Bett und sieht wirklich krank aus. Das Gesicht ist gerötet und fiebrig, die Augen sind trübe. Die Luft im Schlafzimmer ist muffig und verbraucht, eine typische Krankenzimmeratmosphäre. Er geht sofort zum Fenster, um es zu öffnen. Nicki zieht fröstelnd die Decke bis ans Kinn und bittet ihn, es nicht zu tun, aber er beachtet sie nicht. Als sie sich auf einen Ellbogen stützt, sieht er, daß sie unter der Decke nackt ist. »Ich werde dir einen Schlafanzug heraussuchen, wenn dich friert«, sagt er.
»Nein. Ich trage nicht gern Schlafanzüge.«
»Darf ich dich untersuchen?«
»Ich bin nicht so krank, Schadrach.«
»Trotzdem, ich würde mich gern vergewissern.«
»Denkst du vielleicht, ich hätte Organzersetzung?«
»Es kann nicht schaden, eine Diagnose zu stellen, Nicki. Das dauert nicht lange.«
»Ein Jammer, daß du meine Leiden nicht so diagnostizieren kannst, wie du es bei jenen des Vorsitzenden tust, indem du deine inneren Signalgeber abliest. Ohne mich stören zu müssen.«
»Das kann ich leider nicht«, sagt er. »Aber es dauert nur eine Minute.«
»Also gut.« Während dieses Gesprächs hat sie ihm nicht ein einziges Mal in die Augen gesehen, und das beunruhigt ihn. »Mach schon. Spiel Doktor mit mir, wenn du mußt.«
Er schlägt die Decke zurück und findet, daß es ihm seltsam peinlich ist, ihren Körper bloßzulegen, als habe ihre jüngste Entfremdung ihn irgendwie des traditionellen ärztlichen Vorrechts beraubt. Aber er hatte nie eine eigene Praxis; vom Krankenhausdienst trat er direkt in den Dienst des Vorsitzenden, so daß sich mit einigem Recht sagen läßt, daß er in seiner Karriere nur einen einzigen Patienten gehabt hat. Die Stellung eines Leibarztes bekam er seinerzeit durch den Umstand, daß er sich von Anfang an auf Gerontologie spezialisiert hatte. So ist es gekommen, daß er nie die professionelle Gleichgültigkeit des praktischen Arztes gegenüber menschlichem Fleisch entwickelt hat. Dies ist keine anonyme Patientin, dies ist Nicki Crowfoot, die er liebt, und ihr nackter Körper ist ihm mehr als ein Studienobjekt. Trotzdem gelingt es ihm, eine gewisse Unpersönlichkeit zu gewinnen, während er ihr den Puls fühlt, sie abhört, den Bauch abtastet und die übrigen Verrichtungen macht, die zur Routineuntersuchung gehören. Ihre Selbstdiagnose erweist sich als richtig: nur eine kleine Infektionsgrippe mit Fieber, nichts Besonderes. Viel Flüssigkeit, Ruhe, ein paar Pillen, und in einem oder zwei Tagen wird sie es überstanden haben.
»Zufrieden?« fragt sie spöttisch.
»Fällt es dir so schwer, dich mit der Tatsache abzufinden, daß ich mir Sorgen um dich mache, Nikki?«
»Ich sagte dir, daß mir nichts weiter fehlt.«
»Trotzdem machte ich mir Sorgen.«
»Also war die Untersuchung in Wahrheit eine Therapie für dich?«
»So kann man es auch sehen«, gesteht er zögernd.
»Und wenn du nicht herübergeeilt wärst, um mich der Wohltat deiner bedeutenden medizinischen Kenntnisse teilhaftig werden zu lassen, würde ich jetzt vielleicht schlafen.«
»Tut mir leid.«
»Mir auch, Schadrach.«
Sie wendet sich von ihm ab, zieht die Decke bis zu den Ohren und will nichts mehr von ihm wissen. Er steht stumm vor dem Bett, bedrängt von tausend Fragen, möchte wissen, welcher Schatten auf ihr Verhältnis gefallen ist, warum sie so kühl und abweisend geworden ist, warum sie ihn nicht einmal ansehen will, wenn er zu ihr spricht.
Nach einer kleinen Weile fragt er statt dessen: »Wie geht das Projekt voran?«
»Du hast doch mit Eis gesprochen. Wir müssen rekalibrieren. Es dauert eine Weile, bis alles auf einen neuen Spender umgestellt ist. Die ganze Sache ist äußerst lästig.«
»Wie groß ist der Rückschlag tatsächlich? Ich meine, um wie viel Zeit ist das Projekt durch Mangus Tod zurückgeworfen worden?«
Sie zuckt unter der Decke die Achseln. »Um einen Monat, wenn wir Glück haben. Oder drei. Vielleicht auch sechs. Es kommt eben darauf an.«
»Worauf?«
»Herr im Himmel! Hör zu, Schadrach, ich will jetzt nicht über berufliche Dinge sprechen. Ich fühle mich nicht gut. Weißt du, was es heißt, Fieber und Kopfschmerzen zu haben? Ich will ausruhen. Ich will schlafen. Jedenfalls will ich nicht meine derzeitigen Forschungsprobleme diskutieren.«
»Tut mir leid«, sagt er wieder.
»Wirst du jetzt endlich gehen?«
»Ja. Ja. Ich werde morgen früh anrufen, um zu hören, wie es dir geht, in Ordnung?«
Sie murmelt etwas ins Kissen.
Er wendet sich zum Gehen. Doch ehe er die Tür öffnet, unternimmt er einen letzten Versuch, zu ihr durchzudringen, und sagt etwas lahm: »Übrigens — hast du das neueste Gerücht über Mangus Tod gehört?«
Sie ächzt. »Ich habe nichts gehört. Aber rede schon. Was ist damit?«
Er überlegt sich die Worte sorgfältig, um sich nicht vorwerfen zu müssen, er sei Katja Lindman gegenüber wortbrüchig geworden. »Das Gerücht will wissen, Mangu habe Selbstmord begangen, weil jemand aus dem Umkreis des Talos-Projekts ihm verraten hätte, daß er der Körperspender für das Avatara-Projekt sei.«
Das hilft. Nicki wirft sich im Bett herum, sitzt auf und starrt ihn groß an.
»Was? Was? Das ist mir neu!«
»Es ist bloß ein Gerücht.«
»Und wer ist Mangus angeblicher Informant?«
»Das wurde nicht gesagt.«
»Lindman selbst, nicht wahr?« sagt Nicki.
»Es ist nur ein Gerücht, Nicki. Namen wurden nicht genannt. Außerdem würde Katja so etwas nicht tun.«
»Ach. Wirklich nicht?«
»Ich glaube es nicht. Wenn es so gewesen ist, dann wurde Mangu wahrscheinlich von irgendeinem ehrgeizigen Untergebenen informiert, einem Programmierer oder was. Falls es so gewesen ist. Gut möglich, daß an dem Gerücht nichts Wahres ist.«
»Aber es hört sich einleuchtend an«, sagt sie. Sie atmet heftig, frischer Schweiß glänzt auf ihrer Stirn. »Welche bessere Möglichkeit könnte die Lindman finden, um meine Arbeit zu sabotieren? Oh, warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen! Wie konnte ich das übersehen haben…!«
»Beruhige dich, Nicki. Du bist nicht gesund.«
»Wenn ich die zu fassen kriege…«
»Bitte«, sagt Schadrach. »Leg dich wieder hin. Ich wollte, ich hätte nichts gesagt. Du weißt, wie viele unsinnige Gerüchte in diesem Haus ständig im Umlauf sind. Ich glaube ganz und gar nicht, daß Katja imstande wäre…«
»Das werden wir sehen«, sagt sie unheilvoll. Sie wird ruhiger. »Vielleicht hast du recht. Trotzdem, wir hätten viel strengere Sicherheitsvorkehrungen treffen sollen. Zu viele Leute wußten, daß Mangu der Spender sein sollte. Viel zu viele. Beim nächsten Spender…« Nicki Crowfoot hustet, wendet sich wieder von ihm weg, läßt den Kopf ins Kissen zurückfallen. »Hör zu, Schadrach, ich fühle mich elend. Geh jetzt. Bitte, laß mich allein! Nun hast du mich mit dieser neuen Sache ganz durcheinandergebracht, und ich brauche nichts so sehr wie ein paar Stunden Ruhe! Kannst du das nicht verstehen? Nun steh nicht so herum…«
»Tut mir leid«, murmelt er noch einmal. »Ich wollte nicht…«
»Geh jetzt, Schadrach!«
»Auf Wiedersehen, Nicki.«
Er verläßt die Wohnung, geht wie blind durch den Korridor. Im Treppenhaus angelangt, bleibt er aufs Geländer gestützt stehen, um zur Ruhe zu kommen. Der Besuch bei Nicki hat seine Gemütsverfassung kaum verbessert. Ihre Haltung zu ihm schwankte zwischen Gleichgültigkeit und Gereiztheit; nicht ein einziges Mal gab sie Freude über seinen Besuch zu erkennen. Sie hatte seine Anwesenheit bestenfalls geduldet.
Und nun bleibt ihm nichts anderes übrig, als noch einmal Katja aufzusuchen.
Sie scheint überrascht, ihn so bald wiederzusehen, und begrüßt ihn liebevoll. Ihm ist jedoch nicht nach Zärtlichkeiten zumute, und sobald es ihm möglich ist, löst er sich aus ihrer Umarmung und stellt mit sanfter Entschiedenheit körperliche Distanz zwischen ihnen her. Dann berichtet er von seinem Gespräch mit Nicki, nicht ohne zu betonen, daß das ›Gerücht‹ in keiner Weise Katja selbst als Mangus Informantin nenne.
»Aber die Crowfoot vermutete natürlich sofort, ich sei diejenige gewesen, stimmt’s?«
»Ich fürchte, ja. Ich sagte ihr, es sei unvorstellbar, daß du so etwas tun würdest, aber sie…«
»Jetzt weiß sie, daß ich es war, und sie wird für immer meine Feindin sein und alles in ihrer Macht stehende tun, um es mir heimzuzahlen. Vielen Dank.«
»Wenn sie wütend ist«, sagt Schadrach ruhig, »kannst du es ihr nicht verdenken. Du mußt zugeben, daß die Benachrichtigung Mangus durch dich einen Aspekt hat, der auf Sabotage des Avatara-Projekts hindeutet.«
»Ich sagte Mangu die Wahrheit, weil er mir leid tat«, sagte Katja.
»Nur aus Mitleid? Du dachtest überhaupt nicht daran, daß er in einer Weise reagieren könnte, die das Avatara-Programm über den Haufen werfen und Nicki Crowfoot in Bedrängnis bringen würde?«
Katja bleibt eine Weile still.
Schließlich sagt sie in einem etwas nachgiebigeren Ton: »Ich nehme an, daß mir diese Überlegung durch den Kopf gegangen ist, aber durchaus sekundär. Sehr, sehr sekundär. Der wesentliche Punkt war, daß ich es nicht mehr aushielt, Mangu in die Augen zu sehen und zu hören, wie er über seine Zukunftspläne sprach, während ich dabei wußte, was ihm vorbestimmt war. Ich mußte ihn warnen, sonst wäre ich selbst für sein Schicksal verantwortlich geworden. Kannst du dir das vorstellen, Schadrach? Für wie schlecht hältst du mich? Glaubst du, mein Leben beginne und ende mit diesen krankhaften Projekten des Vorsitzenden? Meinst du vielleicht, die einzigen Motivationen, die mich bewegen, wären mit dem Projekt Talos verknüpft, mit Überlegungen, wie ich meine eigene Karriere fördern und Nicki Crowfoots Karriere ruinieren könnte? Ist es das, was du denkst?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«
»Du glaubst nicht?«
»Nein, ich denke nicht, daß du so bist.«
»Fein. Großartig. Danke. Und was geschieht jetzt? Wird sie mich beim Vorsitzenden anschwärzen?«
»Es gibt keinerlei Beweis dafür, daß du Mangu jemals etwas über diese Pläne sagtest«, erwidert Schadrach Mordechai. »Sie weiß das. Sie weiß auch, daß alle etwaigen Anschuldigungen, die sie gegen dich vorbringt, als berufliche Eifersucht abgetan werden. Ich bin tatsächlich nicht der Meinung, daß sie irgend etwas unternehmen wird. Sie machte lediglich klar, daß sie im Hinblick auf die Identität des nächsten Avatara-Spenders für schärfere Sicherheitsvorkehrungen sorgen werde, um zu verhindern, daß so etwas noch einmal…«
»Schon zu spät«, sagt Katja Lindmn.
»Du meinst, der nächste Spender sei bereits ausgewählt?«
»Ja.«
»Und du weißt seinen Namen?«
»Ja.«
»Und du möchtest ihn mir nicht sagen?« fragt Schadrach.
»Ich finde nicht, daß ich es sollte.«
»Hast du vor, es dem Betreffenden zu sagen?«
»Würdest du wieder sagen, es sei Sabotage, wenn ich es täte?«
»Das hängt von den Umständen ab, würde ich sagen. Wer ist es?«
Katja Lindman blickt zur Seite. Ihre Lippen beben.
»Du«, sagt sie.