Die Abwasserpumpstation der Hauptstadt Seatac lag fast vierhundert Meter unter der Oberfläche und nahm deren Abfallprodukte auf, um sie in das Grand-Coulee-System zu leiten. Die vier mit Trennröhren, Computertischen und Laufgängen angefüllten Stockwerke dröhnten vom Rumpeln der riesigen Turbinen und wurden von den Bojenleuchten nur schwach erhellt.
Die Durants waren während des Schichtwechsels am Abend durch den Personalschacht gekommen; sie wanderten scheinbar ziellos herum, um sicherzugehen, daß niemand ihnen folgte und daß sie selbst keine Spuren hinterließen. Fünf Inspektionstunnels hatten sie bereits als unverdächtig passiert, doch sie musterten unauffällig die Gesichter der Vorbeihastenden. Die meisten waren nichtssagend, nur gelegentlich tauschten sie mit einem anderen Kurier einen raschen Erkennungsblick aus oder erkannten einen Unterbeamten, der ängstlich hastend einen Botengang für die Regenten besorgte. Niemandem fiel das Paar in der braunen Arbeitskleidung auf, das mit verschränkten Händen dahinschlenderte und den Laufgang Neun der Pumpstation betrat.
Hier blieben die Durants stehen, um sich mit ihrer Umgebung vertraut zu machen. Sie waren müde und ein wenig besorgt, weil man sie zur obersten Leitung des Elternuntergrundes gerufen hatte. Der üble Geruch von Kohlenwasserstoffen erfüllte die Luft. Lizbeth nieste.
Ihre lautlose Verständigung durch die ineinanderverschränkten Hände drückte Spannung aus. Harvey versuchte Lizbeth zu beruhigen.
Wahrscheinlich werden wir unseren Glisson treffen, signalisierte er.
Es könnte aber noch andere Cyborgs gleichen Namens geben, antwortete sie.
Nicht wahrscheinlich, klopfte er.
Können wir sicher sein, daß uns niemand beobachtet? fragte sie.
Das muß einer unserer Plätze sein, antwortete er, du weißt doch.
Wieso?
Die Sucher der Spione werden durch manipulierte Computer gelenkt, erklärte er, so daß die Regenten nur das sehen, was wir sie sehen lassen wollen.
Es ist aber gefährlich, zu sehr darauf zu vertrauen, warnte sie. Aber warum hat man uns gerufen?
Das werden wir bald erfahren.
Ihr Weg führte sie nun durch eine staubdichte Schleuse in einen Werkzeugbunker, dessen graue Wände mit Ventilen für Transmissionsrohre gespickt waren; überall die unvermeidlichen Computerkontrollampen, Ticken, Rütteln und Sirren. Es roch süßlich nach Öl.
Als die Tür hinter den beiden Durants zuschlug, kam von links eine Gestalt und setzte sich auf eine niedere Polsterbank gegenüber von ihnen. Die Durants blieben schweigend stehen. Die Umrisse der Gestalt verrieten nichts über ihr Geschlecht. Sie sah aus, als sei sie mit der Bank verwachsen; schließlich zog sie dünne Kabel aus den Taschen des grauen Arbeitsanzuges und verband sie mit der Computerwand.
Harvey beobachtete aufmerksam das eckige, von tiefen Furchen durchzogene Gesicht und die hellgrauen, scharfen Augen, deren abwägendes Beobachten ein Kennzeichen der Cyborgs war.
»Glisson«, sagte Harvey, »du hast uns gerufen?«
»Ich habe euch gerufen«, antwortete der Cyborg. »Nach vielen Jahren, Durant. Fürchtest du uns noch immer? Ich sehe, du fürchtest uns noch. Und du bist spät gekommen.«
»Dieses Gebiet hier ist uns nicht vertraut«, erwiderte Harvey.
»Wir mußten vorsichtig sein«, fügte Lizbeth hinzu.
»Dann war ich ein guter Lehrer«, erklärte Glisson, »und ihr wart ziemlich vernünftige Schüler.«
Sie sind schwer zu lesen, signalisierte Lizbeth, aber irgend etwas stimmt hier nicht. Sie fröstelte unter dem kalten Blick des Cyborgs. Zwar versuchte sie immer wieder, sie sich als Fleisch und Blut vorzustellen, doch gelang es ihr kaum, das Wissen davon zu unterdrücken, daß deren Körper Miniaturcomputer enthielten; die direkt mit dem Gehirn verbunden waren, daß deren Arme keine Arme, sondern getarnte Werkzeuge und Waffen waren. Und die Stimmen — immer waren sie unpersönlich und kalt.
»Sie sollten uns nicht fürchten, Madame«, sagte Glisson, »außer Sie sind nicht Lizbeth Durant.«
»Wage es nicht, so mit ihr zu sprechen!« fuhr Harvey auf, »wir sind nicht dein Eigentum.«
»Wie hieß die erste Lektion, die ich euch lehrte, als ihr rekrutiert wurdet?« fragte Glisson.
Harvey zwang sich zur Ruhe und lächelte. »Unser Temperament im Zaum zu halten«, antwortete er. Lizbeths Hand zitterte in der seinen.
»Du hast diese Lektion nicht besonders gut gelernt«, tadelte Glisson, »ich sehe, daß du fehlbar bist.«
Man hat Gewalt gegen uns vor, klopften Lizbeths Finger, und Harvey bestätigte es.
»Zuerst einmal«, forderte Glisson, »wirst du mir über die genetische Operation berichten.« Der Cyborg wechselte einen Steckkontakt an der Computerwand aus. »Laß dich nicht von meiner Arbeit ablenken. Ich verteile Werkzeuge, so daß dieser Raum hier, der auf ihren Bildschirmen als Werkzeugbunker erscheint, niemals kontrolliert wird.«
Rechts von Durant glitt eine Bank aus der Wand. »Wenn ihr müde seid, setzt euch.« Der Cyborg deutete auf die Kabelverbindung zum Wandcomputer. »Ich setze mich nur deshalb, damit ich meine Arbeit hier weiterführen kann, während ich mit euch spreche.« Der Cyborg lächelte; das war eine steife Grimasse, die zu bedeuten hatte, daß ein Glisson sich niemals müde fühlte.
Harvey drückte Lizbeth auf die Bank. Vorsicht, signalisierte er, man führt etwas im Schild.
Glisson wandte sich ihnen zu. »Ich brauche einen genauen, ausführlichen, den Tatsachen entsprechenden Bericht. Laßt nichts aus, ganz gleichgültig, wie unbedeutend es euch erscheint. Ich habe ein unbegrenztes Aufnahmevermögen für Daten.«
Sie erzählten, was sie während der genetischen Operation beobachtet hatten; beide ergänzten einander lückenlos, wie man es guten Kurieren beigebracht hatte.
»Es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, daß wir einen lebensfähigen Keimling haben, der gegen das Gas immun ist«, sagte Glisson schließlich. »Eure Beweise runden das Bild ab. Du mußt wissen, wir haben noch andere Daten.«
»Ich wußte nicht, daß der Chirurg einer der Unsrigen war«, sagte Lizbeth.
»Der Chirurg gehört nicht zu uns«, antwortete Glisson, »aber das wird sich bald ändern.«
Welche strategische Formel mochte diese Antwort hervorgebracht haben? überlegte Harvey und sagte: »Und was ist mit dem Computerband von der Operation?«
»Das ist gelöscht«, erwiderte Glisson. »Gerade im Augenblick wird euer Embryo an einen sicheren Platz gebracht. Ihr werdet ihn bald sehen.« Der Cyborg kicherte mechanisch.
Lizbeth zuckte zusammen. Harvey fühlte ihre Spannung durch die verschränkten Hände. »Ist unser Sohn in Sicherheit?« fragte er.
»In Sicherheit«, bestätigte Glisson. »Unsere Pläne verbürgen diese Sicherheit.«
»Wie?« wollte Lizbeth wissen.
»Das werdet ihr bald verstehen«, erklärte Glisson. »Es ist eine uralte Art sicheren Verbergens, der ihr vertrauen könnt. Seid versichert: Lebensfähige Keimlinge sind wertvolle Waffen. Unsere wertvollen Waffen riskieren wir nicht.«
Die Formung, signalisierte Lizbeth, frag jetzt wegen der Formung.
Harvey fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Wenn ein Chirurg der Zentrale zugezogen wird, dann bedeutet das gewöhnlich, daß ein Embryo zum Regenten geformt werden kann. Haben sie … ist unser Sohn …«
Glissons Nasenflügel zuckten. Das Gesicht nahm einen Ausdruck von Hoheit an, der besagte, daß Unwissenheit eine Beleidigung für einen Cyborg sei. »Wir müßten ein vollständiges Band einschließlich der Enzymdaten haben, um auch nur vermuten zu können. Das Band ist zerstört. Nur der Chirurg kennt das Ergebnis der Operation mit Sicherheit. Wir müssen ihn noch befragen.«
»Svengaard oder die Computerassistentin konnten etwas gesagt haben, das …«, warf Lizbeth ein.
»Svengaard ist ein Dummkopf«, erklärte Glisson, »und die Computerassistentin ist tot.«
»Hat man sie getötet?« flüsterte Lizbeth.
»Es ist nicht wichtig, wie sie starb«, antwortete Glisson. »Sie hat ihren Zweck erfüllt.«
Die Cyborgs haben etwas mit ihrem Tod zu tun, signalisierte Harvey.
Das habe ich gesehen, klopften ihre Finger.
»Bist du … wird man uns erlauben, mit Potter zu sprechen?« fragte Harvey.
»Potter bekommt den vollen Status der Cyborgs eingeräumt«, erwiderte Glisson. »Es liegt bei ihm, ob er redet … hernach.«
»Wir möchten etwas über unseren Sohn wissen!« flehte Lizbeth.
»Madame«, belehrte Glisson sie, »darf ich daran erinnern, daß die sogenannte Regentenformung kein Zustand ist, den wir anstreben. Erinnert euch eures Gelübdes!«
Sie drückte Harveys Hand, um seine Signale zu unterbrechen. »Es tut mir leid. Es war solch ein Schock für mich, die Möglichkeit …«
»Der Gefühlsausbruch wird als mildernder Umstand in Betracht gezogen werden«, antwortete Glisson. »Ich muß euch deshalb warnen: ihr könntet Dinge über euren Sohn hören, von denen ihr euch nicht aufregen lassen dürft.«
»Welche Dinge?« flüsterte Lizbeth.
»Eine Macht unbekannten Ursprungs schaltet sich gelegentlich von außen her ein, um den Plan einer genetischen Operation zu beeinflussen. Es gibt Gründe, daran zu glauben, daß das bei eurem Sohn geschehen ist.«
»Was meinst du damit?« fragte Harvey.
»Meinen?« fauchte Glisson. »Du stellst Fragen, auf die es keine Antwort gibt.«
»Und was tut dieses … dieses Ding?« warf Lizbeth ein.
Glisson sah sie an. »Es benimmt sich etwa so wie ein geladenes Teilchen, durchdringt den Zellkern und ändert dessen Struktur. Ist das bei eurem Sohn geschehen, dann könnt ihr euch beglückwünschen, denn es verhindert offensichtlich die Regentenform.«
Die Durants schluckten das. »Brauchst du noch mehr Einzelheiten von uns, oder dürfen wir jetzt gehen?« fragte Harvey schließlich.
»Ihr bleibt hier«, befahl Glisson.
Sie starrten ihn an.
»Ihr wartet hier auf Befehle«, fuhr Glisson fort.
»Aber man wird uns vermissen«, wandte Lizbeth ein, »unsere Wohnung, man wird …«
»Wir haben für Doppelgänger gesorgt, die eure Rolle so lange spielen, bis ihr aus Seatac geflohen seid«, erklärte Glisson. »Ihr könnt niemals mehr zurückkehren. Das hättet ihr wissen sollen.«
»Fliehen?« stammelte Harvey. »Was ist … warum sind …?«
»Gewalt«, sagte Glisson. »Gerade jetzt. Die Todeswunschkulte werden ihren großen Tag haben.« Der Cyborg hob seinen Blick zur Decke. »Krieg … Blut … Töten. Es wird so sein wie damals, als die Himmel flammten und die Erde schmolz …«
Harvey räusperte sich. Kriege … damals … Glisson erweckte den Eindruck, daß Kriege erst kürzlich stattgefunden hatten. Für diesen Cyborg mochte das stimmen. Man sagte, daß Glissons Urahn im Krieg zwischen den Regenten und den Cyborgs gekämpft habe. Keiner aus dem Untergrund wußte, wie viele Leben Glisson eigentlich gelebt hatte.
»Wohin werden wir gehen?« fragte Harvey. Er signalisierte Lizbeth, sie möge ihn nicht unterbrechen.
»Es wurde etwas vorbereitet«, antwortete Glisson. Er stand auf und unterbrach seine Verbindung mit der Computerwand. »Ihr werdet hier warten. Man wird für euch sorgen.«
Glisson ging durch die Schleusentür hinaus, die mit einem Knall zuschlug.
Die sind genauso schlecht wie die Regenten, klopfte Lizbeth.
Der Tag wird kommen, wo wir sie und die Regenten loshaben, klopfte Harvey.
Das wird niemals geschehen.
Sag das nicht, gab er zu verstehen.
Wenn wir nur einen gutherzigen Chirurgen wüßten, dann könnten wir unseren Sohn nehmen und davonlaufen. — Das ist doch Unsinn! Wie sollten wir dann den Bruttank ohne Maschinen für …
Die Maschinen habe ich in mir selbst, antwortete sie. Ich wurde damit … geboren.
Harvey starrte sie an und war sprachlos vor Staunen.
Ich will nicht, daß die Cyborgs oder die Regenten das Leben unseres Sohnes kontrollieren, signalisierte sie, seinen Geist mit Hypnosegas regulieren, für ihre Zwecke Duplikate von ihm machen, ihn herumschieben und gängeln …
Steigere dich in nichts hinein, bat er.
Du hast ihn doch gehört. Doppelgänger! Die können alles regulieren, unser ganzes Wesen verändern. Sie können uns dazu bringen, alles, aber auch alles zu tun! Sie haben uns auch dazu gebracht, hier zu sein!
Liz, du bist unvernünftig!
Unvernünftig? Schau mich an! Sie können ein Stück meiner Haut nehmen und damit eine Kopie von mir herstellen. Von mir! Woher weißt du eigentlich, daß ich … ich bin? Weißt du, daß ich das Original bin? Woher weißt du es?
Er packte ihren Arm und war unfähig, darauf zu antworten; doch er zwang sich zur Ruhe und schüttelte den Kopf. Du bist du, Liz. Du bist nicht Fleisch, das aus einer Zelle entstanden ist. Du bist … Alles, was wir miteinander geteilt haben … was wir sind, was wir miteinander getan haben … Sie können keine Duplikate von uns machen, von unseren Erinnerungen … Nein, nicht mit Doppelgängern!
Sie preßte ihre Wange an den rauhen Stoff seiner Jacke, sehnte sich nach seiner beruhigenden Berührung, die ihrem Körper sagte: Hier bin ich, und ich bin wirklich.
Sie werden von unserem Sohn Doppelgänger machen, klopfte sie. Das planen sie, und du weißt es.
Wir werden viele Söhne haben.
Wofür? Sie sah ihn an, und ihre Augen waren feucht von ungeweinten Tränen. Du hast gehört, was Glisson sagte. Etwas von außen her hat unseren Embryo beeinflußt. Aber was?
Wie soll ich das wissen?
Jemand muß es wissen.
Ich kenne dich. Du möchtest denken, daß es Gott war.
Wer sonst sollte es sein?
Irgend etwas. Zufall, Glück, ein hoher Befehlsmanipulator. Vielleicht hat jemand etwas entdeckt, was sie nicht wissen.
Einer von uns? Nein!
Vielleicht die Natur. Die Natur, die sich selbst im Interesse der Menschheit behauptet.
Manchmal redest du wie ein Kultist.
Die Cyborgs sind es nicht, erklärte er bestimmt. Das wissen wir.
Glisson sagte, es sei ein gütiges Schicksal gewesen.
Es war genetische Formung. Für sie ist es Blasphemie. Sie wollen, daß man von physikalischer Änderung des biologischen Rahmens spricht.
Wie Glisson. Dieser Roboter mit Fleisch. Sie preßte ihre Wange an seine Schulter. Das ist es ja, was ich fürchte. Sie werden es mit unserem Sohn machen … unseren Söhnen.
Der Kurierdienst ist hundertmal stärker als die Cyborgs, beruhigte er sie. Solange wir zusammenhalten, werden wir gewinnen.
Aber wir sind nur schwaches Fleisch, klagte sie.
Wir können etwas tun, was alle Sternes zusammen nicht vollbringen können, erinnerte er sie. Wir können unsere Art fortpflanzen.
Und was hilft das schon? fragte sie. Die Regenten sterben nie.