10

Gegen acht Uhr morgens waren die Straßen und Schnellbahnen des Industrieviertels von Seatac von lebhaftem Fußgänger- und Fahrzeugverkehr überfüllt. Eine riesige Menschenmenge ließ ihre privaten Sorgen und Liebhabereien hinter sich und strebte der Arbeit zu. Die Wetterkontrolle hatte einen angenehm warmen, wolkenlosen Tag angesetzt. Dr. Potter kannte den Trubel des Schichtwechsels, doch er hatte sich noch niemals von ihm treiben lassen. Eine Stunde später würde der Verkehr wieder dünner fließen.

Er wußte, daß der Elternuntergrund gerade diese Zeit für seine Geheimtätigkeit gewählt hatte. Er und sein Führer waren nur unpersönliche Bestandteile dieser Menschenmasse. Wer würde sie schon bemerken? Dieses Gewühle war neu für ihn, faszinierend sogar.

Eine große Sterriefrau in der grün-weiß gestreiften Uniform einer Preßmaschinenarbeiterin der Schwerindustrie schob sich an ihm vorbei. Mit ihrer cremefarbenen Haut und den groben Gesichtszügen sah sie für Potters geschultes Auge aus wie eine B2022419kG8-Form. In ihrem rechten Ohr baumelte ein winziger Fruchtbarkeitsfetisch.

Hinter ihr trottete ein kleiner Mann einher, der auf seinen hochgezogenen Schultern einen kurzen, dikken Messingstab trug. Er grinste Potter an.

Potters Begleiter schwenkte in einen abwärts führenden Fußweg ein und zog Potter mit sich; sie kamen in eine Seitenstraße. Der Führer gab ihm Rätsel auf; er konnte dessen Genform nicht feststellen. Der Mann trug eine einfache braune Uniform ähnlich einem Overall. Abgesehen von seiner fast krankhaft bleichen Haut schien er normal zu sein. Die sehr tief sitzenden Augen glitzerten wie Linsen. Auf dem Kopf trug er eine Kappe, die nur ein paar braune Strähnen freigab, und die sahen künstlich aus. Seine Hände fühlten sich, wenn sie Potter berührten, kalt und widerlich an.

Ein stämmiger Mann hastete an ihnen vorbei, und Potter war überrascht, als er einen flüchtigen Blick auf dessen Hände warf — dicke Knöchel, plumpe Gelenke, verhornte, schwielige Haut. Er konnte sich nicht vorstellen, welche Art Arbeit eine solche Deformation hervorrufen konnte.

Endlich kamen sie über mehrere nach abwärts führende Fußgängersteige in eine Gasse.

Der Schwarm blieb zurück. Ein Gefühl der Verlassenheit überkam Potter. Ihm war, als erlebe er von Neuem etwas Vertrautes, lange Gekanntes. Warum bin ich nur dieser Person gefolgt? überlegte er.

Der Führer trug das Radwappen eines Transportarbeiters auf der Schulter, doch er hatte offen gesagt, daß er dem Elternuntergrund angehöre.

»Ich weiß, was Sie für uns getan haben«, hatte er gesagt. »Jetzt werden wir etwas für Sie tun. Kommen Sie.« Sie hatten sich danach nur kurz unterhalten, aber Potter wußte vom ersten Augenblick an, daß sein Führer ihn kannte. Das war kein Trick.

Die Gasse mündete auf einen abgelegenen Platz der Hauptstadt, in dessen gepflasterter Mitte ein Brunnen stand, der fast wie aus echtem altersgrünem Stein aussah, Die Regenten kennen diesen Platz nicht, dachte Potter. Stein mochten sie nicht, denn er verwitterte während ihrer Lebenszeit. Für sie gab es nur das regenerative Plasmeld; es hielt ewig und alterte nicht.

Sie traten auf den offenen Platz hinaus. Potter bemerkte jetzt, daß sein Führer nach Chemikalien und Öl roch; eine feine Narbe lief quer über seinen Nakken.

Warum hat er mich nicht gezwungen, ihm zu folgen? fragte sich Potter. War er seiner Sache so sicher? Kennt er mich so gut?

»Wir haben eine Aufgabe für Sie«, hatte er gesagt, »Sie müssen eine Operation durchführen.«

Neugier ist nun eben meine Schwäche, sagte Potter zu sich selbst. Deshalb bin ich ja auch hier.

Der Führer legte eine Hand auf Potters Arm. »Halt. Rühren Sie sich nicht«, bat er.

Sein Ton war ruhig, fast nebensächlich, und doch fühlte Potter die Spannung dahinter. Er sah sich um. Die Gebäude waren ohne Fenster, ohne Gesichter. Ein breites Tor führte von der einen Ecke in eine weitere Gasse. Sie waren fast um den ganzen Brunnen herumgegangen, ohne jemandem zu begegnen. Nichts bewegte sich, nur aus der Ferne hörte man das Rumpeln von Maschinen.

»Weshalb warten wir?« flüsterte Potter.

»Nichts. Warten Sie.«

Potter zuckte die Achseln. Seine Gedanken schweiften zurück zum Augenblick der ersten Begegnung mit diesem Wesen. Wie konnte er wissen, was ich bei diesem Embryo erreicht habe? überlegte er. Das muß ihm die Computerassistentin verraten haben. Sie gehört zu ihnen.

Sein Führer hatte nichts verraten.

Ich kam, dachte er, weil ich hoffte, sie könnten mir helfen, das Geheimnis dieses Embryos zu lösen. Sie waren die Quelle der Argininflut, das vermute ich wenigstens.

Er rief sich Svengaards Bericht ins Gedächtnis — eine Intrusion, die Kondensstreifen ähnlich sah. Argininreiche Spermprotamine hatten sich in den zusammengerollten Alphaschleifen der Embryozellen niedergelassen. Dann war die Operation erfolgt mit der Festlegung der Cysteine, deren Neutralisation mit Sulfhydryl und die ATP-Phase …, Oligomycin und Azid … die Hemmung der Austauschreaktion …

Potter sah hinauf zu dem Fleck blauen Himmels über dem von den hohen Gebäuden eingerahmten Platz. In seinem Gehirn hatte sich eine neue Idee festgesetzt. Er sah den Himmel nicht mehr, denn sein ganzes Bewußtsein konzentrierte sich auf die Zellstruktur, folgte dem Zellkernsystem wie ein Tiefseejäger seiner Beute.

»Es ließe sich wiederholen«, flüsterte Potter.

»Scht«, zischte der Führer.

Potter nickte. An jedem beliebigen Embryo läßt es sich wiederholen, dachte Potter. Der Schlüssel dazu ist die Argininflut. Auf der Basis von Svens Beschreibung kann ich das selbst machen. Oh, ihr Götter! Man könnte Millionen, Milliarden von Durantembryos zustande bringen! Und jeder von ihnen wäre lebens- und zeugungsfähig.

Er holte tief Atem; nur eines befürchtete er: Nachdem das Band gelöscht war, hatte allein sein Gedächtnis die ganze Operation mit all ihren Komplikationen festgehalten. Svengaard und die Computerassistentin wußten nur einen Teil davon, denn sie waren nicht in die Zelltiefen hinabgedrungen. Ein brillanter Chirurg konnte sich vielleicht zusammenreimen, was geschehen war und die Operation nach den zur Verfügung stehenden Teilberichten wiederholen, aber nur dann, wenn ihm eine bestimmte Aufgabe gestellt wurde. Doch wer würde sie stellen? Die Regenten bestimmt nicht. Auch nicht dieser Tölpel Svengaard.

Der Führer berührte Potters Arm. »Wir werden beobachtet«, sagte er in gänzlich unpersönlichem Ton. »Hören Sie mir aufmerksam zu. Ihr Leben hängt davon ab.«

Potter schüttelte den Kopf und blinzelte.

»Sie gehen jetzt durch das vor uns liegende Tor«, befahl der Führer.

Potter sah zum Tor hinüber. Zwei Männer, die in Papier eingewickelte Pakete trugen, kamen aus der Gasse hinter dem Tor und eilten um den Platz herum. Der Führer beachtete sie nicht. Auch das Plappern sich nähernder junger Stimmen überhörte er.

»In diesem Gebäude werden Sie durch die erste Tür links gehen«, befahl er. »Dort sehen Sie eine Frau, die an einem Sprechgerät arbeitet. Zu ihr sagen Sie: ›Mein Schuh drückt‹, und sie antwortet: ›Jeder hat seine Sorgen.‹ Sie wird sich von da an um Sie kümmern.«

»Und … wenn sie nicht da ist?« fragte Potter.

»Dann gehen Sie durch die Tür hinter ihrem Tisch in das angrenzende Büro und die Halle dahinter; dann nach links zur Rückseite des Gebäudes. Dort finden Sie einen Mann in der Uniform eines Ladeinspektors, grau und schwarz gestreift. Gleiche Prozedur wie vorher.«

»Und was ist mit Ihnen?«

»Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Schnell jetzt!« Der Führer schob ihn vorwärts. Potter stolperte auf das Tor zu, als eine junge Frau in der Uniform der Lehrerinnen mit einer Anzahl Kinder heraustrat. Er drückte sich durch die Kinderschar. Hinter ihm schrie jemand. Potter drückte die Türklinke und sah zurück.

Sein Führer war nun hinter dem Brunnen; sein Unterkörper war nicht mehr zu sehen. Aber das, was Potter noch von ihm sah, ließ ihn erstarren. Die Kinder weinten und schrien und rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren, doch Potter gab nicht auf sie acht, denn der Anblick der Maschine, die er für ein menschliches Wesen gehalten hatte, faszinierte ihn. Einer der beiden Arme seines Führers zeigte nach oben. Aus den Fingern schossen Blitze, und wo das Licht sich verlor, fielen Flugwagen taumelnd zu Boden. Die Luft um ihn herum war zu einem ozonknisternden Inferno geworden mit Explosionen, Schreien und heiserem Kreischen.

Potter war keiner Bewegung fähig; seine Hand lag noch immer auf der Türklinke. Nun wurde auch der Führer unter Feuer genommen. Seine Kleidung schrumpfte zusammen, löste sich in Qualm auf und enthüllte einen gepanzerten Körper mit Muskeln, die aus Plasmeld zu bestehen schienen. Noch immer sandten Finger und Brust sengende Strahlen aus.

Den Anblick konnte Potter nun nicht länger mehr ertragen, klinkte die Tür auf und taumelte in einen düsteren Vorraum. Er schlug die Tür hinter sich zu. Im selben Augenblick erschütterte eine gewaltige Explosion das Gebäude. Links von ihm sah er eine offene Tür. Eine zierliche, blauäugige, blonde Frau starrte ihn an. Instinktiv stellte Potter ihren Gentyp fest. Hinter ihr erkannte er ein Sprechgerät. Erleichtert atmete er auf.

»Mein Schuh drückt«, sagte er.

Sie schluckte. »Jeder hat seine Sorgen«, erwiderte sie.

»Ich bin Dr. Potter«, erklärte er. »Ich glaube, mein Begleiter wurde soeben getötet.«

»Hier herein«, forderte sie ihn auf und trat zur Seite.

Potter betrat ein Büro mit Reihen von leeren Schreibtischen. Sein Gehirn war in Aufruhr, er war zutiefst erschüttert von der Gewalttat, die er eben miterlebt hatte.

Die Frau griff nach seinem Arm und führte ihn zu einer anderen Tür. »Hier durch«, sagte sie. »Wir müssen in die Kanäle, das ist die einzige Möglichkeit. In wenigen Minuten werden sie das ganze Gebäude eingekreist haben.«

Potter blieb stehen. »Wohin gehen wir?« fragte er. »Wozu braucht man mich?«

»Sie wissen es nicht?«

»Er … er hat nie davon gesprochen.«

»Alles wird Ihnen erklärt werden«, versprach sie. »Jetzt aber beeilen Sie sich.«

»Ich gehe keinen Schritt weiter, bevor Sie es mir nicht erzählt haben«, erklärte er bestimmt.

Sie stieß einen ordinären Fluch aus. »Wenn ich muß, dann muß ich eben«, seufzte sie. »Sie müssen den Embryo der Durants in die Mutter verpflanzen. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn von hier herauszukriegen.«

»In die Mutter?«

»Ja, auf die alte Art. Ich weiß, das ist ekelhaft, aber es ist wirklich die einzige Möglichkeit. Jetzt aber rasch!« Sie schob Potter durch die Tür.

Загрузка...