»Warum hilfst du ihnen?« fragte Glisson. »Ich verstehe dich nicht, Boumour. Du bist nicht logisch. Was nützt es uns, wenn du ihnen hilfst?«
Er sah hinauf durch das offene Segment der Kontrollkugel; Calapine saß allein auf der Tribüne der Tuyère. Die Lichter spielten langsam über ihr Gesicht. Vor ihr tanzte eine glühende Pyramide von Doppelprojektoren.
Man hatte Glisson zwar befreit, doch er saß noch immer auf dem Fahrzeug und die Prothesenverbindungen seiner Arme baumelten leer herab. Für Lizbeth Durant hatte man eine Spezialliege gebracht, und Harvey kniete neben ihr. Boumour stand mit dem Rücken zu Glisson und sah zur Kugel hinauf.
Svengaard kam langsam hinter der Kugel hervor, eine dunkle Gestalt vor roten Schatten. Plötzlich flutete Licht durch die Halle. Die großen Lampen schalteten sich bei Einbruch der Dunkelheit draußen automatisch ein. Svengaard blieb bei Lizbeth stehen, sah sie an, klopfte Harvey kräftig auf die Schulter. »Sie ist kräftig. Sie erholt sich schon wieder«, beruhigte er ihn.
Lizbeths Augen folgten ihm, als er um die Kugel herumging, um einen Blick hineinzuwerfen. Svengaards Schultern trugen die Last unendlicher Müdigkeit, aber sein Gesicht drückte Zuversicht aus. Er war ein Mann, der sich selbst gefunden hatte.
»Calapine«, meldete Svengaard, »der letzte ist nun ins Hospital gebracht worden.«
»Ich sehe es«, antwortete sie und blickte zu den Spionen hinauf, die alle besetzt waren. Mehr als die Hälfte der Regenten hatte man festgesetzt — sie waren wahnsinnig geworden. Tausende waren gestorben. Einige tausend hatten schwere Verletzungen erlitten. Die restlichen überwachten die Kontrollkugel. Sie seufzte, wunderte sich über ihre Gedanken, wie sie sich dem Schicksal stellten, daß der Traum von Unsterblichkeit ausgeträumt war. Ihre eigenen Empfindungen verwirrten sie. Irgendwie fühlte sie sich erleichtert.
»Und was ist mit Schruille?« fragte sie.
»An einer Tür zerschmettert«, antwortete Svengaard. »Er ist … tot.«
Sie seufzte wieder. »Und Nourse?«
»Spricht gut auf die Behandlung an.«
»Versteht Ihr nicht, was mit Euch geschehen ist?« fragte Glisson. Seine Augen glitzerten, als er zu Calapine hinaufblickte.
Calapine sah auf ihn hinunter. »Wir haben eine gefühlsmäßige Anstrengung durchgestanden«, antwortete sie mit klarer Stimme, »und sie hat die ausgewogene Balance unseres Stoffwechsels verändert. Ihr habt uns durch Tricks dazu getrieben. Das Ergebnis ist eindeutig — es gibt keine Rückkehr.«
»Dann habt Ihr also verstanden«, stellte Glisson fest. »Jeder Versuch, Euer System in die alten Formen zurückzuzwingen, wird nur Langeweile erzeugen und das allmähliche Versinken in Apathie.«
Calapine lächelte. »Ja, Glisson. Das wollen wir nicht. Wir sind nun begierig nach einer neuen Lebendigkeit, von der wir nicht wußten, daß es sie gibt.«
»Dann habt Ihr also verstanden«, wiederholte Glisson, und Groll klang in seiner Stimme mit.
»Wir haben den Rhythmus des Lebens gebrochen«, fuhr Calapine fort. »Jedes Leben hat seinen Rhythmus, aber wir sind aus dem Gleichschritt gekommen. Ich vermute, daß es dieser Eingriff von außen bei jenen Embryos war, der den Rhythmus bei ihnen wiederherstellte.«
»Nun denn«, meinte Glisson, »je eher Ihr uns die Dinge überlassen werdet, desto eher wird sich alles …«
»Euch?« fragte Calapine erzürnt. Sie sah hinaus in das gleißende Licht der Halle. »Eher würde ich uns alle verurteilen …«
»Aber Ihr sterbt!«
»Du auch«, stellte Calapine fest.
Svengaard schluckte. Es würde nicht leicht sein, die alte Feindschaft beizulegen. Er wunderte sich über sich selbst — er, der zweitklassige Chirurg, der plötzlich zum Arzt geworden war, der sich um Menschen sorgte, die ihn brauchten. Durant hatte das erkannt: Man mußte gebraucht werden.
»Vielleicht habe ich einen Plan, den man akzeptieren könnte, Calapine«, sagte Svengaard.
»Dich werden wir anhören«, antwortete sie, und in ihrer Stimme schwang Zuneigung. Sie musterte Svengaard, als er nach Worten suchte und dachte daran, daß dieser Mann Nourses Leben und das vieler anderer gerettet hatte.
»Die Cyborgs verfügen über eine Technik, Emotionen zu einer mehr oder weniger leitbaren Stasis zu bringen«, erklärte Svengaard. »Ist das einmal geschehen, so glaube ich zu wissen, wie sich die Enzym-Oszillationen bei den meisten von Euch dämpfen lassen.«
Calapine schluckte. Die Spione oben flackerten, als die Beobachter verlangten, in die Verbindungskanäle eingeschaltet zu werden. Natürlich wollten sie Fragen stellen. Sie selbst hatte auch Fragen bereit, aber sie wußte nicht, ob sie diese aussprechen konnte. In einem der Prismen sah sie ihr Spiegelbild, und es erinnerte sie an Lizbeths Augen, als sie flehend auf dem Fahrzeug hockte.
»Unendlich langes Leben kann ich nicht versprechen«, fuhr Svengaard fort, »aber ich glaube, viele von Euch können noch einige tausend Jahre leben.«
»Warum sollten wir ihnen helfen?« widersprach Glisson. Es klang fast eigensinnig.
»Auch ihr seid Versager«, stellte Svengaard fest. »Seht ihr das nicht ein?« Er bemerkte, daß er die letzten Worte geschrien hatte.
»Schrei mich nicht an!« knurrte Glisson.
Also haben sie doch Gefühle, dachte Svengaard. Stolz … Wut …
»Leidest du immer noch unter der Illusion, die Lage in der Hand zu haben?« fragte Svengaard und deutete auf Calapine. »Diese Frau hier könnte noch immer jeden Nicht-Regenten auf der Erde vernichten.«
»Hör auf ihn, du Cyborgnarr«, riet Calapine.
»Wir wollen das Wort ›Narr‹ nicht allzu freizügig anwenden«, schlug Svengaard vor.
»Hüte deine Zunge, Svengaard«, tadelte Calapine, »unsere Geduld ist nicht unerschöpflich.«
»Auch nicht Eure Dankbarkeit, eh?« fragte Svengaard.
Sie lächelte bitter. »Wir reden doch vom Überleben, nicht wahr?«
Svengaard seufzte. Konnte es wirklich gelingen, ihnen diese Illusion von ewigem Leben zu nehmen?
»Also Überleben«, sagte Svengaard.
»Wir wollen doch versuchen, einander zu verstehen«, schlug Calapine vor. »Es gibt viele unter uns, die darauf bestehen, es sei eure Pflicht gewesen, uns zu helfen. Ihr seid immer noch unsere Gefangenen. Es gibt andere, die verlangen, daß ihr eure ganze Untergrundbewegung aufdeckt und uns ausliefert.«
»Ja, wir wollen einander doch verstehen«, pflichtete ihr Svengaard zu. »Wer sind Eure Gefangenen? Ich — kein Mitglied des Untergrunds, der wenig davon weiß; Glisson, der mehr weiß, aber sicher nicht alles; Boumour, einer der entkommenen Pharmazeuten, der noch weniger weiß als Glisson; dann die Durants, deren Wissen möglicherweise ein wenig über ihre Zelle hinausreicht. Was wollt Ihr damit erreichen, wenn Ihr uns aussaugt?«
»Deinen Plan, uns zu retten«, gab Calapine zur Antwort.
»Mein Plan verlangt Zusammenarbeit, keinen Zwist«, entgegnete Svengaard.
»Und er wird uns nur ein Fortleben garantieren, nicht aber den ursprünglichen Zustand, nicht wahr?« fragte Calapine.
»Das sollte Euch doch genügen«, meinte Svengaard. »Es würde Euch die Möglichkeit zur Reife, zur Nützlichkeit geben.« Er deutete auf ihre Umgebung. »Ihr seid hier in Eurer Unreife erstarrt! Ihr habt nur gespielt — und ich biete Euch eine Chance, wirklich zu leben.«
Ist dieses neue Lebensgefühl eine Folge des Wissens, daß wir sterben müssen? überlegte Calapine.
»Ich bin nicht sicher, daß wir mitarbeiten werden«, warf Glisson ein.
Das genügte Harvey. Er sprang auf und funkelte Glisson an. »Du Roboter möchtest wohl, daß die menschliche Rasse ausstirbt? Ihr seid ebenso eine Sackgasse.«
»Leeres Geschwätz!« fauchte Glisson.
»Hört mal«, forderte Calapine sie auf und begann die Sprechkanäle zu öffnen. Satzfetzen waren in der Halle zu vernehmen:
»Wir können mit eigenen Möglichkeiten unser Enzymgleichgewicht erhalten … Löscht diese Kreaturen aus … Was plant er? … Wie lange haben wir Zeit, wenn … Zweifellos können wir …«
Calapine schaltete die Stimmen ab. »Wir müssen abstimmen lassen, denkt daran.«
»Und Ihr werdet sterben, und das bald, wenn wir nicht mittun«, drohte Glisson, »ich möchte, daß das absolut klar ist.«
»Kennst du Svengaards Plan?« fragte Calapine.
»Seine Gedanken sind durchsichtig für mich«, erklärte Glisson.
»Ich glaube nicht. Ich sah ihn, als er sich um Nourse kümmerte. Er verabreichte ihm eine Überdosis Aneurin und Inostol. Ich frage mich nun selbst, wie viele von uns bei dem Versuch, diesen Prozeß aufzuhalten, sterben müssen? Hätte ich an mir selbst eine solche Überdosis versucht? Will jemand von uns, der diese Erregung kennengelernt hat, in Langeweile zurückfallen? Das sind meine Fragen.« Sie sah Svengaard an.
»Ich kenne seinen Plan«, knurrte Glisson. »Eure Gefühle sollen aufgeschwemmt werden, jeder von Euch soll eine ganze Enzymapotheke eingepflanzt bekommen. Er will Cyborgs aus Euch machen.« Er fletschte grinsend die Zähne. »Das ist Eure einzige Hoffnung. Akzeptiert Ihr sie, dann habt Ihr am Ende gegen uns verloren.«
Calapine sah ihn erschreckt an.
Der schneidende Wahnsinn in Glissons Worten ließ Harvey aufhorchen. Vom Untergrund her wußte er, daß die Cyborgs zu berechnend, zu engstirnig waren, als daß sie menschliche Entscheidungen hätten begreifen können. Noch niemals hatte er einen so klaren Beweis dafür erhalten.
»Ist das dein Plan, Svengaard?« fragte Calapine.
»Nein!« rief Harvey und sprang auf.
»Du glaubst zu wissen, was ich, ein Cyborg, nicht weiß?« höhnte Glisson.
Svengaard hob die Brauen und sah Harvey an.
»Embryos«, sagte Harvey.
Svengaard nickte. »Ich schlage vor, ständig lebende Embryos in Euch eingepflanzt zu erhalten«, sagte er, »denn lebende Monitore werden für Eure eigenen Bedürfnisse sorgen. Ihr werdet Eure Emotionen wiederfinden, Eure Lebenslust, die Aufregung, die Ihr so preist.«
»Dann willst du uns also zu lebenden Bruttanks für Embryos machen?« staunte Calapine.
»Der Entwicklungsprozeß kann auf Jahrhunderte verzögert werden«, erklärte Svengaard. »Selbst bei Männern läßt er sich durchführen, gibt man entsprechende Hormone. Selbstverständlich Kaiserschnitt — er braucht nicht oft zu erfolgen und auch nicht schmerzhaft zu sein.«
Calapine überlegte. Weshalb stieß dieser Vorschlag sie nicht ab? Früher einmal hatte die Vorstellung, Lizbeth trage in ihrem Leib einen lebenden Embryo, sie angewidert. Jetzt fühlte sie Eifersucht auf sie.
»Calapine!« rief Glisson, »Ihr werdet doch diesen verrückten Vorschlag nicht annehmen?«
Dieser Roboter lehnt jede lebensnahe Lösung ab, dachte sie. Sie wandte sich an Boumour. »Was sagst du dazu?«
»Ja, Boumour, sprich!« forderte Glisson, »beweise, wie unlogisch dieser Vorschlag ist.«
Boumour musterte Glisson, sah Svengaard an, die Durants, dann Calapine. Sein Gesicht drückte verborgenes Wissen aus. »Ich erinnere mich, wie es war … einmal … und ich glaube, es war besser, bevor ich mich … änderte.«
»Boumour!« mahnte Glisson.
Triff seinen Stolz, dachte Svengaard.
Glisson blickte mit mechanischer Eindringlichkeit zu Calapine hinauf. »Es ist noch lange nicht sicher, daß wir Euch helfen werden.«
»Wer braucht euch schon?« fragte Svengaard. »Ihr habt kein Monopol für eure Techniken. Ihr würdet uns ein bißchen Zeit und Mühe sparen, das ist alles. Embryos finden wir selbst.«
»Aber so ist der Computer nicht programmiert!« antwortete Glisson. Dann schwieg er. Seine Augen wurden glasig.
»Doktor Svengaard«, sagte Calapine, »kannst du uns gesunde, lebensfähige Embryos besorgen — so wie das der Durants? Du hast doch die Argininintrusion gesehen. Nourse glaubt, das sei möglich.«
»Es ist möglich«, erklärte Svengaard und überlegte. »Ja, wahrscheinlich.«
Calapine sah zu den Spionen hinauf. »Wenn wir dieses Angebot annehmen, werden wir weiterleben. Fühlt ihr, daß wir jetzt leben? Vor kurzem haben wir noch nicht gelebt.«
»Wenn wir müssen, werden wir helfen«, antwortete Glisson mürrisch.
Nur Lizbeth erkannte aus ihrem Zustand der Schwangerschaft heraus den logischen Grund für den Meinungsumschwung Glissons. Fügsame Menschen konnte man unter Kontrolle halten, dachte er. Sie las es in ihm und verstand seinen Gedankengang, nun, da sie wußte, daß auch er Zorn und Stolz kannte.
Calapine setzte die Analogatoren auf Antwort; sie ließ nicht auf sich warten: »Dieser Prozeß kann nicht nur uns, sondern auch dem Volk zehn- bis zwölftausend zusätzliche Lebensjahre bringen.«
»Auch dem Volk«, flüsterte Calapine. Einen Sicherheitsdienst brauchte man nicht mehr. Auch die Kontrollkugel hatte Mängel und Grenzen, und Glisson wußte das. Svengaard mußte sich darüber klar sein, vielleicht wußten es sogar die Durants. Nun wußte sie auch, was sie zu tun hatte. Es würde leicht sein, in diesem Augenblick zu verlieren — ganz und gar.
»Wenn es getan wird«, bestimmte Calapine, »dann für jeden, der es wünscht — Volk oder Regenten.« Das ist Politik, so würde die Tuyère es machen, selbst Schruille. Besonders Schruille. Kluger Schruille. Toter Schruille. Sie hörte ihn fast kichern.
»Kann es auch für das Volk getan werden?« fragte Harvey.
»Für jeden«, bestätigte sie und lächelte Glisson an, da sie nun gewonnen hatte. »Ich denke, wir können darüber abstimmen.«
Sie sah hinauf zu den Spionen. Mancher von denen dort oben würde die Rückkehr zu alten Zeiten vorziehen, sich an die Erhaltung des Enzymgleichgewichtes klammern. Doch sie wußte es besser.
»Grün für Doktor Svengaards Vorschlag — Gold dagegen«, bestimmte sie.
Langsam wechselten die Lichter der Spione. Grün … grün … grün … nur vereinzelt ein goldener Flekken. Es war eine überwältigende Zustimmung zu Svengaards Plan, und gerade dieser Umstand machte sie mißtrauisch. Sie zog ihre Instrumente zu Rate und las die Antwort: Die Cyborgs lassen sich manövrieren mit ihrem Glauben an die Allgewalt der Logik.
Calapine nickte. Und das Leben kann nicht ganz und gar gegen die Interessen der Lebenden ausgespielt werden, überlegte sie.
»Der Vorschlag ist angenommen«, verkündete sie. Doch sie fand, daß der Ausdruck auf Glissons Gesicht ihr nicht gefiel. Wir haben etwas übersehen — aber was? fragte sie sich. Wir werden es herausfinden, haben wir uns erst einmal umgewöhnt.
Svengaard drehte sich zu Harvey Durant um; er lachte ihn breit an. Das war wie in einem Operationsraum. Man machte sich einen Plan und führte ihn dann aus. Hier wie dort konnte man mit derselben Präzision arbeiten, die eine winzige Zelle verlangte.
Harvey wog Svengaards Lachen ab; sein Gesicht konnte die Gefühle nicht verbergen, die ihn beherrschten. Alle Gesichter um ihn herum lagen offen vor ihm, dem im Untergrund geschulten Kurier. Es war wie ein Waffenstillstand zwischen zwei Mächten. Das Volk hatte die Chance für Jahrtausende — falls man Calapine glauben konnte, und sie glaubte selbst daran. Die genetische Zukunft hatte zu neuen Formen gefunden. Es war eine Form, die sich fortsetzte und fortzeugte, unendlich, ohne zeitliche Begrenzung. Heisenberg hätte diese Form gutgeheißen. Die Bewegenden wurden bewegt und durch die Bewegung umgewandelt.
»Wann kann ich mit Lizbeth hier weggehen?« fragte Harvey.