Am Ende des letzten Luftweges bog der Transporter aus dem unterirdischen Tunnel und hielt sich an die Nebenlinie nach Lester. Sie führte durch alte Tunnels zum Wildnisreservat und zur Erholungsstätte der Zuchturlauber, vorbei an verlassenen alten Straßen. Hier gab es nur den Mond als Lichtquelle und die harten Lichtbänder der Scheinwerfer des Transporters.
Unter ihnen fuhr gelegentlich ein Omnibus mit schweigsamen, schlecht gelaunten Paaren vorbei, deren Zuchturlaub zu Ende war und die zur Hauptstadt zurückeilten. Bemerkte einer von ihnen den Transporter, so hielt er ihn für ein Nachschubfahrzeug des Reservates.
An einer überhöhten Kurve des Homish Resort Komplexes nahm der Cyborgfahrer einige Berichtigungen vor. Es wurde gefährlich. Die Turbinen heulten auf, gingen auf größte Leistung. Der Transporter schwenkte von der Straße ab.
In dem engen Behälter klammerte sich Harvey mit einer Hand an die Bank, mit der anderen an Lizbeth, als der Transporter über die Furchen und Buckel der alten Straße schoß, durch ein Erlengehölz brach und auf einen Wildwechsel einschwenkte, der durch Rhododendronbüsche bergauf führte.
»Was ist denn los?« jammerte Lizbeth.
»Wir haben die Straße verlassen«, kam die rauhe Stimme des Fahrers durch den Lautsprecher. »Kein Grund zur Angst.«
Kein Grund zur Angst, dachte Harvey. Der Gedanke erschien ihm so lächerlich, daß er zu kichern versucht war.
Der Fahrer hatte nun die Scheinwerfer abgeschaltet und verließ sich nur auf den Mond und sein Infrarot-Sehvermögen. Der Cyborg folgte einem schmalen, gewundenen Pfad durch den Busch und ließ eine lange, dicke Staubfahne hinter sich. Nach etwa zwei Kilometern kreuzte der Wildwechsel eine Forststraße; sie war kaum mehr als eine Lichtung, auf der die Patrouillenfahrzeuge eine dicke Matte von welken Farnen und Weidengestrüpp hinterlassen hatten. Hier bog der Transporter nach rechts ab und raste wie ein schnaubendes, prähistorisches Ungeheuer einen Hügel hinauf, die andere Seite hinab und den nächsten Hügel hinauf; dort hielt er an. Die heulenden Turbinen verstummten, und der Transporter senkte sich auf seine Raupenketten. Der Fahrer, eine stämmige, kurzbeinige Gestalt, stieg aus; seine für die gegenwärtige Aufgabe konstruierten Prothesenarme glitzerten. Er schob eine Seitenwand zurück, lud die Fracht aus und warf die einzelnen Stücke in einen tiefen Wasserlauf.
Drinnen im kleinen Abteil stand Igan auf und zischte in die Sprechmuschel: »Wo sind wir denn?«
Schweigen.
»Das war aber dumm«, meinte Harvey. »Woher wollen Sie wissen, weshalb er hier angehalten hat?«
Igan überhörte die Beleidigung, denn schließlich hatte ein ungebildeter Tölpel sie ausgesprochen. »Man hört doch, daß er ablädt«, sagte er und schlug mit der flachen Hand an die Abteilwand. »Was ist dort draußen los?«
»Ach, setzen Sie sich doch«, knurrte Harvey und versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, so daß der Arzt auf die Bank zurückfiel.
Igan, zornrot und die Augen voll Wut, wollte zurückschlagen. Boumour hielt ihn zurück. »Ein bißchen mehr Gelassenheit, Freund Igan«, riet er polternd.
Igan lehnte sich zurück. Langsam glätteten sich seine Züge wieder. »Ist doch komisch«, meinte er schließlich, »wie die Gefühle mit einem durchgehen können, obwohl …«
»Das geht vorüber«, unterbrach ihn Boumour.
Harvey tastete nach Lizbeths Hand. Igans Brust ist konvex, klopften seine Finger, und hart wie Plasmeld. Ich fühlte es deutlich unter seiner Jacke.
Du hältst ihn für einen Cyborg?
Er atmet normal.
Und er hat Gefühle. Ich lese Angst in ihm.
Ja, aber …
Wir müssen vorsichtig sein.
»Sie sollten etwas mehr Vertrauen zu uns haben, Durant«, sagte Boumour. »Dr. Igan hat angenommen, draußen ist alles sicher, sonst würde unser Fahrer nicht abladen.«
»Woher sollen wir denn wissen, wer sich an der Ladung zu schaffen macht?« fragte Harvey.
Eine Andeutung von Mißtrauen überflog Boumours ruhiges Gesicht. Harvey sah es und lächelte.
Harvey, signalisierte Lizbeth, glaubst du, daß …
Es ist unser Fahrer, versicherte Harvey. Ich rieche den Duft der Wildnis, und ich hörte kein Kampfgeräusch. Einen Cyborg überwältigt man nicht ohne harten Kampf.
Aber wo sind wir?
In den Bergen, mitten in der Wildnis. Wir müssen weit weg von den normalen Verkehrswegen sein.
Plötzlich hob sich ihr Abteil und wurde zur Seite geschoben. Die einzige Lampe erlosch. Die Wand hinter Harvey verschwand in der Dunkelheit. Er hielt Lizbeth umklammert und sah hinaus — Mondlicht, der stämmige Schatten des Fahrers vor dem Panorama der Hauptstadt mit ihrem Netzwerk von Glitzerlichtern. Der Mond schüttete Silber über die Wipfel der Bäume unter ihnen, und um sie war der scharfe, harzige Waldgeruch, vermischt mit dem moosigen Moderduft frisch aufgebrochenen Waldbodens. Schweigend lag die Wildnis unter ihnen, als versuche sie, die Eindringlinge zu erkennen.
»Raus!« befahl der Fahrer.
Der Cyborg wandte sich um. Harvey erkannte die vom Mondlicht übergossenen Züge.
»Glisson!« rief er.
»Ich grüße dich, Durant«, antwortete Glisson.
»Warum du?« fragte Harvey.
»Warum nicht?« erwiderte Glisson. »Kommt jetzt raus.«
»Aber meine Frau ist …«, wandte Harvey ein.
»Ich weiß, Durant. Die Behandlung ist schon lange her. Sie kann ganz gut gehen, wenn sie sich nicht überanstrengt.«
»Sie ist ganz in Ordnung«, flüsterte ihm Igan ins Ohr. »Helfen Sie ihr, sich aufzusetzen und stützen Sie sie beim Aussteigen.«
»Mir … mir geht es ganz gut«, versicherte Lizbeth. Sie legte einen Arm um Harveys Schulter und ließ sich zu Boden gleiten.
Igan folgte ihnen. »Wo sind wir eigentlich?« fragte er.
»Irgendwo, und auf dem Weg irgendwohin«, antwortete Glisson. »Und wie geht es unserem Gefangenen?«
»Er kommt wieder zu sich«, meldete Boumour aus dem Abteil. »Helft mir, ihn herauszubringen.«
»Wir haben einen Steilhang vor uns«, erklärte Glisson, »deshalb müssen wir abladen. Der Transporter schafft es nicht.«
Boumour und Igan schleppten Svengaard heraus und lehnten ihn an einen Baumstumpf neben der Fahrspur.
»Wartet hier, bis ich den Anhänger abkupple«, befahl Glisson. »Inzwischen könnt ihr euch überlegen, ob wir Svengaard aufgeben sollen.«
Svengaard hörte seinen Namen und öffnete die Augen. In der Ferne erkannte er die Lichter der Hauptstadt. Sein Kinn schmerzte von Harveys Schlag, und in seinem Kopf tobte es. Er fühlte, daß er hungrig und durstig war. Seine Hände fühlten sich unter den Fesseln taub an. Der trockene Geruch immergrüner Nadeln stieg ihm in die Nase; er mußte niesen.
»Vielleicht sollten wir Svengaard wirklich aufgeben«, meinte Igan.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Boumour. »Er hat Erfahrung und könnte unser Verbündeter werden. Leute mit Erfahrung werden wir noch bitter nötig haben.«
Svengaard wandte seinen Kopf den Stimmen zu. Sie standen neben dem Transporter, einem langen, silbrigen Schatten hinter einer gedrungenen Doppelkabine. Metall schlug aufeinander; der Anhänger rollte auf seinen Raupenketten etliche Meter rückwärts, bis ihn ein Erdhaufen aufhielt.
Glisson kam zurück und stellte sich neben Svengaard. »Töten — oder ihn leben lassen?« fragte er. »Wie habt ihr euch entschieden?«
Harvey schluckte, Lizbeth klammerte sich an seinen Arm.
»Behalten wir ihn noch für einige Zeit«, schlug Boumour vor.
»Wenn er uns keinen Ärger mehr macht«, ergänzte Igan.
»Wir könnten ihn immer noch teilweise verwerten«, antwortete Glisson, »oder einen neuen Svengaard heranziehen und ihn umerziehen. Es ist nicht nötig, daß ihr euch sofort entscheidet. Man kann sich’s noch überlegen.«
Svengaard schwieg; die Gefühllosigkeit dieser Worte ließ ihn erstarren. Das ist ein harter, brutaler Mann, dachte er, zu jeder Gewalttat bereit. Ein Mörder.
»Dann schafft ihn in die Kabine«, befahl Glisson. »Alle in die Kabine. Wir müssen …« Der Cyborg schwieg und sah zur Hauptstadt hinüber.
Auch Svengaard wandte sich um, sah die kalten, bläulich-weiß schimmernden Lichtstränge. Zu seiner Linken blitzte goldfarbenes, waberndes Licht auf, dahinter ein zweites — ein gigantisches Feuerwerk vor dem Hintergrund mondüberglänzter Berge. Immer mehr goldene Lichtgarben flammten auf. Das markerschütternde Rattern sonischer Waffen schüttelte ihn, brachte das Metall des Transporters zum klirrenden Mitschwingen.
»Was ist das?« hauchte Lizbeth.
»Ruhe!« gebot Glisson, »Ruhe und beobachten.«
»Ihr Götter allen Lebens«, flüsterte Lizbeth, »was ist das?«
»Das ist der Tod der Hauptstadt«, sagte Boumour.
Das Rattern sonischer Waffen dröhnte weiter.
»Oh, das tut weh!« wimmerte Lizbeth.
»Verdammt!« knurrte Harvey und zog sie näher an sich.
»Hier oben tut es weh«, murmelte Igan. »Unten tötet es.«
Etwa zehn Kilometer von ihnen entfernt stieg grüner Nebel aus der Wildnis auf. Er rollte wie eine gigantische Woge über die Hügel, die Diamantpunkte der Lichter, die goldgelben Blitze.
»Habt ihr damit gerechnet, daß sie den Todesnebel einsetzen?« fragte Boumour.
»Wir wußten, daß sie es tun würden«, antwortete Glisson.
»Wahrscheinlich«, pflichtete ihm Boumour bei. »Sie sterilisieren das ganze Gebiet.«
»Was soll das heißen?« fragte Harvey.
»Es kommt aus den Kanälen, durch die sie das empfängnisverhütende Gas leiten«, erklärte Boumour. »Ein winziges Teilchen auf der Haut genügt — dann ist es aus mit einem.«
Igan ging um Svengaard herum und sah ihn an. »Ja, das sind die, die uns lieben und für uns sorgen«, höhnte er.
»Was ist eigentlich los?« fragte Svengaard.
»Hörst du nicht?« spottete Igan. »Und siehst du nicht? Deine Freunde, die Regenten, sterilisieren Seatac. Hast du dort Freunde gehabt?«
»Freunde?« Svengaards Stimme klang wie erloschen. Er starrte in den grünen Nebel. Die Lichter in der Ferne waren alle tot. Immer wieder erschütterte das Rattern sonischer Waffen den Boden, brachte den Transporter zum Klirren.
»Und was denkst du jetzt von ihnen?« fragte Igan.
Svengaard schüttelte den Kopf. Warum konnte er nur sein Bewußtsein nicht vor diesen schrecklichen Tatsachen verschließen? Seine überwachen Sinne waren eine unlösbare Kette zu seinem Bewußtsein.
»Warum antwortest du nicht?« stichelte Igan.
»Lassen Sie ihn in Ruhe!« fauchte Harvey. »Wir haben genug Sorgen und Kummer. Haben Sie denn überhaupt kein Gefühl?«
»Er sieht es und glaubt es doch nicht«, stellte Igan fest.
»Wie konnten sie das nur tun?« klagte Lizbeth.
»Selbsterhaltungstrieb«, brummte Boumour. »Den scheint unser Freund Svengaard aber nicht zu haben. Vielleicht hat man den in ihm ausgemerzt.«
Svengaard starrte noch immer auf die rollende grüne Woge. Einmal waren dort Lichter gewesen, unzählige Lichter, und jetzt diese tödliche Finsternis. Plötzlich wurde er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewußt. Er dachte an seine Freunde dort unten, an die Hospitalangestellten, die Embryos, seine Gefährtin. Alle tot, alles zerstört. Er fühlte sich wie ausgeleert; nicht einmal Kummer und Schmerz empfand er. Welche Absicht steht dahinter? dachte er.
»In den Transporter mit ihm«, befahl Glisson, »hinten, auf den Boden.«
Boumour und Glisson hoben ihn nicht gerade zart auf; noch nie vorher hatte Svengaard ein so kaltes menschliches Wesen kennengelernt, und das verwirrte ihn. Man warf ihn auf den Boden des Transporters; die scharfe Kante eines Sitzes verletzte ihn. Jemand stellte einen Fuß auf seinen Magen. Eine Tür schlug zu, und die Turbinen heulten auf. Sie bewegten sich. Svengaard versank in Bewußtlosigkeit.
Lizbeth, die über ihm saß, stieß einen tiefen Seufzer aus. Er durchdrang Svengaards Ohnmacht, und er fühlte etwas wie Mitleid für sie — die erste Gefühlsregung, seit er die Hauptstadt hatte sterben sehen. Warum haben sie das getan? fragte er sich, warum nur?
Lizbeth griff nach Harveys Hand. Vor ihr saß Glisson, und manchmal fiel ein Fleckchen Mondlicht auf seinen Kopf. Die genau berechneten Bewegungen, der Ausdruck unheimlicher Kraft in jeder Handlung des Cyborg erfüllten sie mit Unruhe. Ihre Operationswunde juckte, doch sie wagte es nicht, daran zu scheuern, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zu ziehen. Der Kurierdienst hatte lange zum Aufbau seiner Organisation gebraucht, hatte sowohl die Cyborgs wie auch die Regenten hintergangen. Das war ihm nur gelungen, weil er seine Mitglieder zu äußerster Selbstbeherrschung erzogen hatte. Diese Erziehung machte sich nun in ihrer Angst geltend.
Jetzt kann ich Boumour und Igan lesen, signalisierte Harvey. Beide sind neue Cyborgs. Vielleicht die erste Verbindung mit überpflanzten Computern. Sie lernen erst, ihre normalen menschlichen Gefühle zu verleugnen.
Manchmal konnte Harvey die Menschen besser lesen als Lizbeth, und sie versuchte nun, mit Harveys Augen zu sehen. Ja, du hast recht, antwortete sie schließlich.
Das ist also der vollständige Bruch mit der Zentrale. Sie können niemals mehr zurückkehren.
Das erklärt auch Seatac. Lizbeth zitterte.
Und wir können ihnen nicht trauen. Harvey drückte sie beruhigend an sich.
Der Transporter überquerte weite, offene Wiesen, folgte alten Spuren und gelegentlich einem ehemaligen Flußlauf. Kurz vor Einbruch der Dämmerung durchpflügte er die Reste eines abgebrannten Waldes, erreichte ein Pinien- und Zederngehölz und durchfuhr eine schmale Lichtung. Eine dichte Duftwolke von zerquetschten Pflanzen mischte sich mit dem herben Waldgeruch. Endlich hielt Glisson hinter einem alten, moosbewachsenen Haus an. Neben dem Haus stand eine Anzahl uralter Amphibienfahrzeuge, die seit Jahren nicht mehr benützt worden waren, denn aus ihnen sprossen Unkräuter und Gras. Über den mit Vorhängen versehenen kleinen Fenstern, dicht unter dem Hausgiebel, hing eine einzelne Glühbirne. Das Heulen der Turbinen erstarb; nun hörten sie erst das Sirren eines Ventilatorturms, der silbern über die Baumwipfel ragte.
Eine Tür an der Hausecke öffnete sich, und ein wuchtig gebauter Mann trat heraus. Er schneuzte sich in ein großes, rotes Taschentuch. Er sah alt aus, und sein Gesicht trug eine Maske der Untertänigkeit.
»Das ist das Zeichen«, sagte Glisson, »hier ist alles sicher, im Augenblick wenigstens.« Er schlüpfte aus dem Transporter, ging auf den alten Mann zu und hustete.
»Viel Erkältungen gibt’s hier herum«, sagte der alte Mann, und seine Stimme klang so alt, wie sein Gesicht aussah.
»Du bist nicht der einzige, der Sorgen hat«, entgegnete Glisson.
Der alte Mann richtete sich auf und warf die Maske der Untertänigkeit ab. »Ihr braucht wahrscheinlich ein Versteck. Weiß nicht, ob es hier sicher ist. Weiß nicht einmal, ob ich euch verstecken soll.«
»Befehle erteile ich hier«, erwiderte Glisson, »und du gehorchst.«
Der alte Mann musterte Glisson einen Augenblick, dann spülte eine Welle von Zorn über sein Gesicht. »Ihr verdammten Cyborgs!« knurrte er.
»Halt den Mund«, befahl Glisson ruhig, »wir brauchen etwas zu essen und einen sicheren Platz für den Tag. Außerdem mußt du mir helfen, diesen Transporter zu verstecken, du kennst ja die Umgebung. Und dann wirst du uns eine andere Transportmöglichkeit besorgen.«
»Ihr zerlegt und vergrabt ihn am besten«, murrte der alte Mann. »Ihr habt ein Hornissennest aufgerührt. Wahrscheinlich wißt ihr das selbst.«
»Das wissen wir«, antwortete Glisson. Er wandte sich zum Transporter tun. »Kommt, und bringt Svengaard mit.«
Boumour und Igan führten Svengaard zu ihm. Man hatte ihm die Fußfesseln abgenommen, aber er vermochte kaum zu stehen. Lizbeth ging vorsichtig und ein wenig vornübergebeugt, als fürchte sie um ihre Operationsnarbe, die trotz der hohen Enzymgaben noch nicht verheilt sein mochte.
»Tagsüber bleiben wir hier«, erklärte Glisson; »dieser Mann führt euch in eure Quartiere.«
»Was hört man von Seatac?« fragte Igan.
Glisson sah den alten Mann an. »Antworte!«
Der Alte zuckte die Achseln. »Vor ein paar Stunden ist ein Kurier durchgekommen. Er sagte, es gibt keine Überlebenden.«
»Sagte er etwas von Dr. Potter?« krächzte Svengaard.
Glisson fuhr herum und starrte Svengaard an.
»Weiß nicht«, antwortete der Alte. »Welchen Weg hat er eingeschlagen?«
Igan räusperte sich, sah Glisson an, dann den alten Mann. »Potter? Ich glaube, der gehörte zu der Gruppe, die über die Energietunnels herauskommen sollte.«
Der alte Mann sah zum Ventilatorturm hinüber, der sich nun klar durch die Bäume abzeichnete, denn die Dämmerung hatte sich aufgehellt. »Keiner ist durch die Tunnels gekommen. Man hat gleich anfangs die Ventilatoren abgestellt und sie mit diesem Gas überflutet … Seit drei Stunden arbeiten die Ventilatoren wieder.«
»Was interessiert dich an Potter?« fragte Glisson.
Svengaard schwieg.
»Antworte!« befahl Glisson.
Svengaard versuchte zu schlucken. Seine Kehle schmerzte. Er fühlte sich in eine Ecke getrieben. Glissons Worte machten ihn wütend. Er warf sich nach vorne, zog Igan und Boumour mit und versuchte, Glisson einen Fußtritt zu versetzen. Der duckte sich zusammen, packte den Fuß, riß Svengaard von den Ärzten los, schwang ihn herum und ließ ihn fallen. Svengaard landete auf dem Rücken, schlitterte über den Boden, blieb liegen. Bevor er sich noch bewegen konnte, stand Glisson über ihm. Svengaard weinte.
»Was interessiert dich an Potter?« herrschte Glisson ihn an.
»Geh weg, geh weg!« schluchzte Svengaard.
Glisson richtete sich auf, sah Igan und Boumour an. »Versteht ihr das?«
Igan zuckte die Achseln. »Gefühle«, meinte er.
»Vielleicht eine Schockreaktion«, warf Boumour ein.
Er hat einen Schock erlitten, klopften Harveys Finger in Lizbeths Hand, aber er kommt jetzt raus. Das sind doch Mediziner. Können die denn überhaupt nichts lesen?
Glisson hat es gelesen, antwortete sie. Er hat sie getestet.
Glisson musterte Harvey. Der Cyborg schien verstanden zu haben. Ein Pfeil von Angst schoß durch Harveys Herz.
Vorsicht, mahnte Lizbeth, er hat Verdacht geschöpft.
»Bringt Svengaard hinein«, befahl Glisson.
Svengaard musterte den Fahrer. Die Durants hatten ihn ›Glisson‹ genannt, und der alte Mann hieß ihn einen Cyborg. War es möglich, daß diese Halbmenschen die Regenten von neuem herausforderten? War das der Grund dafür, daß Seatac sterben mußte?
Boumour und Igan hoben ihn auf; sie prüften seine Handfesseln. »Jetzt aber keine Dummheiten mehr«, mahnte Boumour.
Sind alle Cyborgs so wie Glisson? überlegte Svengaard. Und sind diese beiden so wie Glisson, halb Mensch, halb Maschine? Und was ist mit den Durants? Svengaard fühlte seine Augen feucht werden. Das ist der hysterische Zustand nach dem Schock, sagte er sich selbst vor. Plötzlich überkam ihn ein Schuldgefühl. Weshalb bedrückt mich Potters Tod mehr als der Untergang der Hauptstadt? fragte er sich. Warum trauere ich meiner Gefährtin, meinen anderen Freunden nicht nach? Was hat mir Potter bedeutet?
Die beiden Ärzte führten Svengaard durch einen engen Gang in einen spärlich erleuchteten, großen Raum mit einer Balkendecke. Sie ließen ihn auf eine staubige Kunststoffcouch fallen, deren Hydraulik sich nur widerwillig seinem Körper anpaßte. Hoch oben, dicht unter den Balken hingen zwei nackte Glühbirnen, in deren Schein er alte, schadhafte Möbel und komische Haufen sah, die mit zerschlissenem Stoff zugedeckt waren. Der Tisch links von ihm bestand aus rohbehauenen Stämmen. Holz! Neben ihm stand eine Art Feldbett, dahinter ein uralter Schreibtisch mit Rolladen, dem die Schubladen fehlten. Die wenigen Stühle paßten nicht zu den übrigen Möbeln. Ein uralter, verrußter Herd mit einem Kesselhalter darüber nahm fast die ganze gegenüberliegende Wand ein. Der ganze Raum roch dumpf und verrottet, und der Boden krachte bei jedem Schritt. Holzdielen!
Durch die winzigen Fenster fiel graues Tageslicht, das von Minute zu Minute heller wurde. Doch selbst um die Mittagszeit würde der Raum in halber Dämmerung liegen. Die triste Umgebung machte ihn traurig; er dachte an die zahllosen Toten, Vergessenen. Tränen rollten ihm über die Wangen. Was ist nur mit mir los? wunderte er sich.
Der Transporter draußen wurde angelassen, fuhr weg. Harvey und Lizbeth kamen herein. Sie sah Svengaard an, dann Boumour und Igan, der sich auf das Feldbett geworfen hatte. Gebückt ging sie zu Svengaard hinüber und berührte seine Schulter. Sie sah seine Tränen, den Ausdruck der Menschlichkeit, und sie wünschte, er wäre ihr Arzt. Vielleicht gab es hier eine Möglichkeit. Sie fragte Harvey.
»Bitte, vertrauen Sie uns«, bat sie Svengaard. »Wir werden Ihnen nichts zuleide tun. Die anderen sind es, die Ihre Frau und Ihre Freunde getötet haben, nicht wir.«
Svengaard drehte sich weg.
Wie kann sie es wagen, mich zu bemitleiden? dachte er, aber sie hatte eine verborgene Saite in ihm angerührt. Er fühlte, wie er zitterte. Bedrücktes Schweigen herrschte im Raum. Harvey führte seine Frau zu einem Stuhl.
»Das ist ja Holz«, stellte sie erstaunt fest und streichelte es. »Harvey, ich bin sehr hungrig.«
»Sie bringen etwas zu essen, sobald der Transporter versorgt ist«, versicherte er. Sie umklammerte seine Hand, und fasziniert beobachtete Svengaard die nervöse Beweglichkeit ihrer Finger.
Kurz darauf kehrte Glisson mit dem alten Mann zurück. Eine Tür schlug hinter ihnen zu.
»Für die nächste Etappe haben wir das Fahrzeug einer Forstpatrouille«, berichtete Glisson. »Viel sicherer. Es gibt hier etwas, das ihr alle wissen müßt.« Sein kalter Cyborgblick wanderte von Gesicht zu Gesicht »Oben auf der Ladung des Transporters war ein Markierungsgerät angebracht. Die Ladung haben wir vergangene Nacht abgeworfen.«
»Ein Markierungsgerät?« fragte Lizbeth.
»Ja, ein Gerät, das unsere Spur kennzeichnete. Man hat uns verfolgt.«
»Oh!« stöhnte Lizbeth und legte eine Hand über den Mund.
»Ich weiß nicht, wie nahe sie uns gekommen sind«, fuhr Glisson fort. »Man hat mich für diese Aufgabe geändert, und einige meiner Geräte blieben daher zurück. Vielleicht wissen sie, wo wir uns jetzt gerade aufhalten.«
Harvey schüttelte verständnislos den Kopf. »Weshalb sind …«
»Weshalb sie nicht gegen uns vorgegangen sind?« fragte Glisson. »Das ist doch klar. Sie hoffen, daß wir sie ins Zentrum unserer Organisation fuhren.« Etwas wie Wut erschien auf Glissons Gesicht. »Vielleicht können wir sie aber überraschen.«