Seit mehr als dreißigtausend Jahren, als die Debatte über die Legalisierung der Cyborgexperimente stattfand, hatte man die Ratshalle nicht mehr so gedrängt voll gesehen. Die Regenten-Übermenschen hatten sich auf regenbogenfarbenen Kissen auf den langen Plasmeldbänken niedergelassen. Einige waren nackt erschienen, doch die meisten trugen Kleider im Bewußtsein, daß eine solche Versammlung ein historisches Geschehen war. Es gab Togas, Kilts, Saris und Gewänder, Dreispitze und Derbyhüte, Felle und gelegentlich einen Lendenschurz. Material und Stil reichten bis in prähistorische Zeiten zurück.
Der Tag war noch kaum angebrochen, aber keiner der Regenten schlief mehr. Die Kontrollkugel war zur Seite geschoben worden, und die Tuyère hatten in der Mitte der vordersten Bank an der Stirnseite der Halle Platz genommen. Diener hatten die Gefangenen in einem Schwebewagen hereingebracht. Sie hockten unbeweglich auf dem Gefährt unter dunkelblauen Plasmeldplastrons, die ihnen kaum zu atmen gestatteten. Calapine erlaubte sich eine fast unmerkliche Gefühlsregung, als sie die fünf Gestalten so bewegungslos dort unten zusammengekauert sah. Diese Frau hatte so erschreckte Augen. Auf Harvey Durants Gesicht las sie Wut. Glisson und Boumour schienen resigniert zu haben. Und Svengaard zeigte einen Ausdruck bedrückten Erwachens.
Doch Calapine fehlte etwas; sie wußte nicht, was es war, doch sie fühlte eine Leere in sich. Nourse hat recht, dachte sie, diese fünf sind wichtig.
Trotz ihrer Angst sah sich Lizbeth um. Sie hatte noch niemals einen Regenten leibhaftig gesehen, immer nur deren Bilder auf den Schirmen des staatlichen Informationsamtes. Sie waren so verschieden voneinander, so bunt gekleidet, so weit weg. Sie hatte das bedrückende Gefühl, daß nichts in diesem Augenblick dem Zufall überlassen blieb, daß eine erschreckende Berechnung dahinter lag, daß sie nun hier war.
»Sie sind völlig unbeweglich«, sagte Schruille, »es ist daher nichts zu befürchten.«
»Aber sie haben Angst«, meinte Nourse. Plötzlich erinnerte er sich eines Augenblicks aus seiner Jugendzeit. Man hatte ihn in das Haus eines Antiquars mitgenommen, der stolz auf die Plasmeldkopien alter Statuen war. Es gab da einen riesigen Fisch, eine kopflose Gestalt auf einem Pferd — die war sehr rührend —, einen Mönch in Kutte und Kapuze und ein Paar, das sich angstvoll umklammert hielt. Die Gesichter dieses Paares erinnerten ihn an Lizbeth und Harvey Durant. Auf irgendeine Weise sind die beiden unsere Eltern, überlegte er, denn wir sind aus dem Volk hervorgegangen.
Plötzlich wußte auch Calapine, was ihr hier fehlte. Es gab keinen Max hier. Sie wußte, daß er verschwunden war, doch sie überlegte, was mit ihm wohl geschehen sein mochte. Er hat die Zeit seiner Nützlichkeit überlebt, dachte sie schließlich; der neue Max mußte noch nicht fertig sein.
»Gib auf den Cyborg Glisson acht«, riet Schruille. »Ist es nicht komisch, daß unsere Instrumente bei ihm keine Gemütsbewegungen verzeichnen?«
»Vielleicht hat er keine«, antwortete Calapine.
»Ha!« lachte Schruille, »sehr gut!«
»Ich traue ihm nicht«, meinte Nourse. »Mein Großvater sprach von Cyborgtricks.«
»Er ist aber doch tatsächlich ein Roboter«, wandte Schruille ein, »dafür programmiert, daß er unter allen Umständen überlebt. Seine derzeitige Unterwürfigkeit gibt mir zu denken.«
»Wollten wir sie nicht vernehmen?« fragte Nourse.
»Einen Augenblick noch«, sagte Schruille. »Wir legen sie bloß bis aufs nackte Gehirn und öffnen ihr Gedächtnis für unsere Prüfung. Es ist aber gut, sie zuerst noch zu studieren.«
»Du bist so hart, Schruille«, tadelte Calapine. Ein zustimmendes Murmeln erfüllte die Halle. Schruille sah sie an. Calapines Stimme hatte so seltsam geklungen. Unruhe erfüllte ihn.
Glissons Cyborgaugen glitzerten kalt unter den schweren Lidern, suchten und prüften. Die Linsen erweiterten sein Gesichtsfeld beträchtlich. »Siehst du’s, Durant?« fragte er, von der spärlichen Atemluft behindert.
»Ich … ich kann … es nicht … glauben«, antwortete Harvey mühsam.
»Sie sprechen«, bemerkte Calapine mit heller Stimme. Sie sah Harvey an und stellte überrascht einen Ausdruck Von Mitleid in seinen Augen fest. Mitleid? Weshalb? Wie kann er mich bemitleiden? dachte sie.
»Harvey«, flüsterte Lizbeth.
Angstvolle Wut verzerrte Harveys Züge. Er bewegte die Augen, konnte den Kopf aber nicht soweit drehen, daß er sah. »Liz«, murmelte er, »Liz, ich liebe dich.«
»Jetzt ist die Zeit für Haß, nicht für Liebe«, mahnte Glisson, und seine Stimme klang unwirklich. »Haß und Rache«, ergänzte er.
»Was hast du gesagt?« fragte Svengaard. Mit wachsendem Staunen hatte er ihm zugehört. Er hatte kurz daran gedacht, sich bei den Regenten zu beklagen, daß man ihn gegen seinen Willen gefangenhielt, doch sein sechster Sinn hatte ihm eingegeben, daß dies unnütz wäre.
»Sieh sie doch mit Arztaugen an«, riet Glisson, »sie sterben.«
»Das stimmt«, bestätigte Harvey.
Lizbeth hatte die Augen zugekniffen, um nicht weinen zu müssen. Jetzt öffnete sie sie weit, sah die Leute an, sah sie durch Harveys und Glissons Augen.
»Sie sterben«, keuchte sie.
Die geschulten Augen eines Untergrundkuriers konnten das erkennen. Sterblichkeit auf den Gesichtern der Unsterblichen! Auch Glisson hatte es erkannt, denn seine Augen hatten die Fähigkeit, den winzigsten Reflex aufzunehmen.
»Manchmal ist das Volk direkt widerlich«, sagte Calapine.
»Das kann doch nicht sein«, wandte Svengaard ein. Der Ausdruck seiner Stimme war nicht zu deuten, und Lizbeth dachte darüber nach. Sie hatte Verzweiflung erwartet, doch sie klang ganz anders.
»Ich sage, sie sind wirklich ekelhaft!« wiederholte Calapine. »Kein Nur-Pharmazeut wird mich mehr behandeln.«
Boumour erwachte aus seiner Lethargie. Die in ihn eingepflanzte Computerlogik hatte die Unterhaltungen festgehalten, sie wiedergegeben, widersprechende Meinungen und Bedeutungen abgewogen. Als neuer Teil-Cyborg konnte auch er in den Gesichtern der Regenten lesen. Ja, das Zeichen war da! Bei den Ewiglebenden war etwas schiefgegangen. Der Schock erzeugte die Leere eines halbgeformten Gefühls in ihm, denn er hatte die Fähigkeit verloren, das eine oder andere Gefühl zu erleben.
»Ich finde keinen Sinn in ihrer Unterhaltung«, sagte Nourse, »was sagen sie denn überhaupt, Schruille?«
»Jetzt fragen wir sie einmal über die Lebensfähigen und den Ersatzembryo«, schlug Calapine vor. »Vergeßt aber nicht den Ersatzembryo.«
»Schau zur obersten Reihe hinauf«, riet Glisson, »der Große dort. Siehst du die Falten in seinem Gesicht?«
»Er sieht so alt aus«, flüsterte Lizbeth. Es war seltsam. Solange es die Regenten gab, die ewigen und unveränderlichen Übermenschen, solange hatte die Welt eine unerschütterliche Grundlage. Auch als sie sich gegen sie stellte, hatte sie dieses Gefühl der Sicherheit und Beständigkeit noch gehabt. Cyborgs starben. Das Volk starb. Aber Regenten lebten ewig.
»Was ist mit ihnen?« fragte Svengaard, »was ist mit ihnen passiert?«
»Zweite Reihe links«, sagte Glisson, »die rothaarige Frau. Siehst du die eingesunkenen Augen, den starren Blick?«
Boumour drehte den Kopf, um die Frau zu sehen. Der Makel im Aussehen der Regentin sprang nur allzu deutlich ins Auge.
»Was sagen sie denn?« fragte Calapine, und sie selbst hörte den streitsüchtigen Ton in ihrer Stimme. Sie fühlte sich gereizt, von unklaren Schmerzen belästigt.
Ein unzufriedenes Murmeln ging durch die Bänke. Da und dort hörte man Kichern, Zornesausbrüche, Gelächter.
Wir müssen diese Verbrecher doch ausfragen, überlegte Calapine. Muß ich damit anfangen? Und wann? Sie sah zu Schruille hinüber. Der hatte sich auf seinem Sitz zusammengekauert und beobachtete Harvey Durant. Sie wandte sich zu Nourse um, der sie verschwörerisch anlächelte, doch sein Blick schweifte wieder ab. An seinem Hals spürte er einen bisher unbekannten, tobenden Schmerz, auf seinen Wangen zeichnete sich ein Fleck dicker, roter Adern ab.
Sie überlassen doch alles mir, dachte Calapine mürrisch.
Sie zuckte ärgerlich die Achseln und berührte dabei ihre Kontrollkette. Flackerndes purpurnes Licht wusch über die riesige Kugel an der Seite der Halle. Ein Lichtstrahl schoß aus der Kugel, als sei er zu Boden gezogen und spielte über die Gefangenen. Schruille beobachtete das Geflacker. Bald mußten sie zu ängstlichen, kreischenden Kreaturen werden, die alles Wissen von sich gaben, damit die Instrumente der Tuyère es analysieren konnten. Nichts würde von ihnen übrigbleiben als ein Bündel zukkender Nerven, wenn das gleißende Licht sich ausbreitete und ihr Gedächtnis, ihr Wissen und ihre Erfahrungen aus ihnen sog.
»Warte!« befahl Nourse.
Er prüfte das Licht. Auf seinen Befehl hin hatte es sich nicht mehr auf die Gefangenen zubewegt. Er wußte, sie machten einen großen Fehler, der nur ihm bekannt war. In der Halle herrschte gespanntes Schweigen. Sahen ihn die anderen auch, oder würden sie ihn sogar aussprechen? Hier war die geheime Maschinerie ihrer Regierung, die alles plante, alles bestimmte. Doch jetzt war unerwartet das nackte Leben aufgetreten. Das war ein Fehler.
»Warum warten wir noch?« drängte Calapine.
Nourse versuchte sich zu erinnern. Er wußte, er war dagegen gewesen. Aber warum? Schmerz! »Wir dürfen keine Schmerzen bereiten«, sagte er. »Sie müssen die Möglichkeit haben, frei und ohne Druck zu sprechen.«
»Die sind verrückt geworden«, flüsterte Lizbeth.
»Und wir haben gewonnen«, stellte Glisson fest. »Durch meine Augen sehen es alle meine Kameraden, daß wir gewonnen haben.«
»Sie werden uns vernichten«, warnte Boumour.
»Aber wir haben gewonnen«, beharrte Glisson.
»Wie?« fragte Svengaard laut.
»Wir haben ihnen Potter als Köder angeboten und ihnen den Geschmack für Gewalttaten eingegeben«, antwortete Glisson. »Wir wußten, daß sie darauf hereinfallen würden.«
»Wieso?« fragte Svengaard flüsternd.
»Wir haben die Umgebung geändert«, erklärte Glisson. »Kleinigkeiten. Hier ein fast unmerklicher Druck, dort ein furchterregender Cyborg. Wir haben ihnen einen Vorgeschmack von Krieg vermittelt.«
»Wie?« fragte Svengaard.
»Instinkt«, antwortete Glisson. Das Wort hatte eine computergesteuerte Endgültigkeit, eine nichtmenschliche Logik, vor der es kein Entrinnen gab. »Krieg ist ein menschlicher Instinkt. Kampf. Gewalt. Aber man hat geschickt durch viele tausend Jahre die Systeme im Gleichgewicht gehalten. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war hoch: Unbeweglichkeit, Einsamkeit, Langeweile. Ihre Anpassungsfähigkeit ist verkümmert. Sie entfernen sich immer weiter von der Linie ewigen Lebens. Bald werden sie sterben.«
»Aber Krieg?« Svengaard hatte die Geschichten über Gewalttaten gehört, vor denen die Regenten das Volk bewahrten. »Das kann doch nicht sein. Vielleicht eine neue Krankheit oder …«
»Ich habe nur die Tatsache festgestellt, die vom Computer bis zur letzten Dezimalstelle errechnet wurde«, erklärte Glisson.
Calapine schrie auf. »Was reden sie denn immer?«
Sie konnte jedes einzelne Wort der Gefangenen hören, doch sie verstand den Sinn nicht. Ein Wort hatte keine Verbindung zum nächsten, es war zusammenhangloses Gerede. »Was sagen sie?« wandte sie sich an Schruille.
»Gleich werden wir sie verhören, dann wissen wir es.«
»Ja«, sagte Calapine, »die reine Wahrheit, den Kern der Dinge.«
»Wie ist das möglich?« fragte Svengaard und atmete schwer. Hoch oben tanzte ein Paar auf einer der Bänke. Andere umarmten sich, zwei Regenten brüllten einander an.
»Beobachte sie!« riet Glisson.
»Können sie diesen Wandel denn nicht mehr … gutmachen?«
»Diese Fähigkeit ist verkümmert«, erklärte Glisson. »Und Anpassung ist in sich selbst eine neue Umwelt, und die stellt höhere Anforderungen. Schau sie an! Sie geraten außer Rand und Band.«
»Die sollen den Mund halten!« schrie Calapine, sprang auf und rannte auf die Gefangenen zu. Harvey beobachtete sie fasziniert und erschreckt zugleich. Ihre Bewegungen waren voll Disharmonie, in ihren Augen brannte Wut; sie zitterte vor Haß.
»Du!« kreischte sie und deutete auf Harvey. »Du! Warum schaust du mich immer an und murmelst dabei etwas? Antworte!«
Harvey war keines Wortes fähig — nicht vor Angst oder Zorn, sondern vor fassungslosem Staunen über die Anzeichen von Alter auf Calapines Gesicht.
Wie alt sie wohl war? Dreißig- oder vierzigtausend Jahre? Oder war sie eines der Originale und achtzigtausend?
»Sag, was du willst!« befahl Calapine. »Zeig, daß du Ehre im Leib hast, und vielleicht sind wir dann gnädig.«
Harvey starrte sie stumm an. Er schien den Aufruhr um sich herum gar nicht zu bemerken.
»Durant«, wandte sich Glisson an ihn, »du mußt wissen, daß es etwas wie Instinkt gibt. Er ist wie die unaufhaltsame Flut eines Stromes. Das ist die Unbeständigkeit. Sie ist das einzig Beständige.«
»Aber sie stirbt«, antwortete Harvey.
Calapine verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber der Ton des Mitleids in seiner Stimme rührte sie an. Sorge? Er sorgte sich um sie, Calapine, und nicht um seine Frau oder sich selbst!
Dunkelheit schloß sie ein, sie brach zusammen und lag ausgestreckt vor den Bänken. Glisson lachte freudlos.
»Wir müssen etwas für sie tun«, mahnte Harvey, »sie müssen doch verstehen, was sie sich selbst antun!«
Schruille rutschte unruhig hin und her, blickte zur gegenüberliegenden Wand, sah dunkle Flecke dort, wo die Spione waren und von den Regenten, die nicht mehr in der Halle Platz gefunden hatten, besetzt gewesen waren. Die Menge wurde unruhig, sie wankte, trieb, rannte, lachte und kicherte. Wir wollten doch die Gefangenen verhören, dachte er.
Die Hysterie in der Halle drang nur langsam in Schruilles Bewußtsein. Er sah Nourse an. Er saß mit geschlossenen Augen da und murmelte vor sich hin. »Kochendes Öl«, flüsterte Nourse, »aber es kam zu plötzlich. Wir brauchen etwas Klügeres, Dauerhaftes.«
Schruille beugte sich vor. »Ich habe eine Frage an den Mann Harvey Durant.«
»Was?« fragte Nourse und öffnete die Augen.
»Was hoffte er mit dieser Aktion zu gewinnen?« fragte Schruille.
»Sehr gut«, sagte Nourse. »Beantworte die Frage, Harvey Durant.«
Nourse berührte seine Kette. Der Purpurstrahl kroch auf die Gefangenen zu.
»Ich wollte nicht, daß Ihr sterbt«, antwortete Harvey, »nicht so.«
»Beantworte die Frage!« brüllte Schruille.
Harvey schluckte. »Ich wollte …«
»Wir wollten eine Familie haben«, fiel Lizbeth ein. Sie sprach klar und vernünftig. »Sonst nichts. Nur eine Familie.« Tränen standen in ihren Augen, und sie dachte an ihr Kind. Wie mochte es einmal sein? Ob sie all diese Verrücktheit überleben würden?
»Was ist mit diesem Unsinn von einer Familie?« fauchte Schruille.
»Wo habt ihr den Ersatzembryo her?« fragte Nourse. »Antworte, und wir werden gnädig sein.« Der Purpurstrahl rückte weiter vor.
»Wir haben Lebensfähige, die immun sind gegen das empfängnisverhütende Gas«, antwortete Glisson, »viele, sehr viele.«
»Wo sind sie?« verlangte Nourse zu wissen. Seine rechte Hand zitterte.
»Direkt unter Euren Nasen«, lachte Glisson, überall über die ganze Bevölkerung verstreut. Und verlangt nur nicht, ich solle sie identifizieren. Ich kenne sie nicht alle, niemand kennt sie.«
»Aber keiner wird uns entkommen«, knirschte Schruille.
»Keiner!« bekräftigte Nourse.
»Und wenn wir müssen, werden wir alles bis auf die Zentrale sterilisieren und von vorne anfangen«, knurrte Schruille.
»Womit wollt Ihr wieder anfangen?« fragte Glisson. »Wo wollt Ihr eine Genbank finden, um wieder zu beginnen? Ihr seid steril — und geht dem Ende zu.«
»Wir brauchen nur eine einzige Zelle, um das Original zu kopieren«, fauchte Schruille.
»Warum habt Ihr Euch dann nicht selbst kopiert?« spottete Glisson.
»Du wagst es, Fragen an uns zu richten?«
»Dann will ich sie für Euch beantworten. Ihr habt Euch nicht kopiert, weil diese Doppelgänger labil sind. Sie degenerieren, neigen zum … Aussterben.«
Calapine hörte einzelne Worte — steril — dem Ende zu — labil — Aussterben. Sie drangen stückweise in ihr Bewußtsein, waren wie strahlende Samenkörner auf einem Hintergrund von schwarzem Samt. Samen, eingekapseltes Leben, behütet, Brücke über eine lebensfeindliche Periode. Sie waren das Leben … Leben …
»Wir brauchen keine genetische Bank«, behauptete Schruille.
Calapine hörte seine Stimme ganz klar, konnte seine Gedanken lesen: Wir sind Millionen in der Zentrale, wir genügen uns selbst.
»Ich weiß, was wir mit diesen Verbrechern tun«, sagte Nourse. Er sprach laut, damit seine Stimme die Unruhe in der Halle übertönte. »Wir extrahieren ihre Nerven, ganz langsam, immer nur ein Mikron. Der Schmerz kann über Jahrhunderte gehen.«
»Aber du wolltest doch Schmerzen verhindern?« schrie Schruille.
»Habe ich das nicht getan?« wunderte sich Nourse.
Mir ist übel, dachte Calapine, ich brauche einen Pharmazeuten. Dieser Gedanke brachte sie wieder voll zu Bewußtsein. Sie lag auf dem Boden, und sie fühlte Schmerz und Feuchtigkeit an ihrer Nase.
»Dein Vorschlag ist gar nicht so übel«, gab Schruille zu. »Die Strafe können wir unendlich lang ausdehnen. Großartig!«
»Die sind verrückt genug, es auch zu tun«, keuchte Svengaard. »Wie können wir sie daran hindern?«
»Glisson!« bat Lizbeth, »tu etwas!«
Aber der Cyborg schwieg.
»Damit hast du nicht gerechnet, was, Glisson?« fragte Svengaard.
Er schwieg noch immer.
»Antworte!« herrschte Svengaard ihn an.
»Sie sterben ja doch«, sagte Glisson gleichmütig.
»Aber sie können in ihrem Irrsinn so weit gehen und alle sterilisieren, uns für ewige Zeiten foltern!«
»Nicht für ewige Zeiten. Sie sterben.«
Ganz hinten in der Halle wurden Rufe laut. Keiner der Gefangenen konnte die Ursache dafür erkennen, aber sie fühlten die Unruhe wachsen.
Calapine erhob sich. Nase und Mund schmerzten. Sie wandte sich dem Fahrzeug zu, auf dem die Gefangenen hockten, sah die Regenten dahinter. Die sprangen auf die Bänke, um etwas zu sehen, was in ihrer Mitte vorging. Ein nackter Körper wurde plötzlich hochgehoben und plumpste zurück. Ein Schrei erschütterte die Halle. Was tun sie denn? überlegte Calapine, sie gehen ja aufeinander los. Sie wischte mit der Hand über Nase und Mund. Blut. Ihr Blut, und sie roch es. Sie war fasziniert, ging zu Harvey hinüber, zeigte ihm die Hand.
»Blut!« sagte sie und berührte ihre Nase. »Sie tut weh. Warum tut sie weh, Harvey Durant?« Sie sah ihm in die Augen. Welches Mitgefühl stand darin! Er war ein Mensch. Er sorgte sich um sie.
Harvey fühlte tatsächlich Mitleid mit ihr. Sie war Lizbeth; sie war Calapine; sie war ein Sinnbild für alle Frauen. Er sah ihre gespannte Aufmerksamkeit, ihr auf den Augenblick ausgerichtetes Bewußtsein, das alles ausschloß — ausgenommen das Verlangen nach seinen Worten.
»Mir tut es auch weh, Calapine«, antwortete er, »aber Euer Tod würde mich noch mehr schmerzen.«
Einen Moment lang dachte Calapine, die Halle um sie sei totenstill, doch dann merkte sie, daß der Lärm weiterging. Sie hörte Nourses »gut, gut«, Schruilles »ausgezeichnet«, und nun wurde ihr klar, daß sie als einzige Harveys Worte vernommen hatte. Sie waren eine Blasphemie. Sie hatte Tausende von Jahren erlebt, den Gedanken an einen persönlichen Tod von sich weggeschoben; doch sie hatte die Worte gehört. Sie wünschte, sie niemals gehört zu haben. Aber etwas an Harvey zwang sie, sich diesem Gedanken zu stellen.
»Bitte«, flehte Lizbeth, »befreit uns. Ihr seid eine Frau. Ihr müßt doch mit uns fühlen. Was haben wir Euch zuleide getan? Ist es böse, zu lieben und zu leben? Wir wollten Euch nichts Böses tun.«
Calapine schien nicht zugehört zu haben, denn Harveys Gedanken und Worte kreisten in ihrem Gehirn. Tod … Euer Tod … Euer Tod …
Wellen von Hitze und Kälte liefen über ihren Körper. Sie hörte die Rufe der Menge, fühlte Übelkeit in sich aufsteigen, wußte, daß sie in einer Sackgasse gefangen war. Zorn überkam sie. Sie beugte sich über die Armaturen des Fahrzeuges und drückte einen Knopf neben Glisson.
Die Schale, die den Cyborg hielt, begann sich zu schließen. Glisson riß erstaunt die Augen auf; er keuchte stöhnend. Calapine kicherte und drückte einen weiteren Knopf. Die Schale öffnete sich. Glisson holte tief Atem. Sie legte einen Finger auf einen Knopf neben Harvey. »Erkläre deine schlechten Manieren!« befahl sie.
Harvey schwieg. Sie wollte ihn also zerschmettern?
Svengaard begann zu lachen. Er wußte, wie es um ihn, den erstklassigen Zweitklassigen stand. Warum war gerade er ausersehen worden, Glisson und Boumour wortlos zu sehen, Nourse und Schruille Unsinn reden zu hören, zu erleben, daß die Regenten aufrührerisch und gewalttätig wurden, daß Calapine in einem Augenblick bereit war, ihre Gefangenen zu töten, im nächsten Moment das aber schon wieder vergessen hatte? Er lachte hemmungslos.
»Hör zu lachen auf!« kreischte Calapine.
Svengaard zitterte vor Erregung; er holte keuchend Atem. Ihr Schrei hatte ihn zwar wieder einigermaßen zur Besinnung gebracht, doch erschien ihm der ganze Vorgang noch immer äußerst absurd.
»Du Narr!« fuhr Calapine ihn an, »erkläre dein Benehmen!«
Svengaard starrte sie an. Jetzt fühlte er nur noch Mitleid mit ihr. Jetzt verstand er plötzlich, weshalb die Regenten ihren Sitz so weit vom Ozean gewählt hatten: Die See erzeugte Wellen, eine Brandung — eine ständige Erinnerung daran, daß sie sich ununterbrochen gegen die Wellen der Ewigkeit stemmten. Diesen Gedanken ertrugen sie nicht.
»Antworte!« herrschte Calapine ihn an. Ihre Hand hob sich über die Knöpfe seiner Hülle.
Doch Svengaard konnte nur sie und die verrückten Regenten hinter ihr anstarren. Sie haben Seelen mit einer einzigen, großen Wunde, dachte er.
»Du willst also nicht reden?« stellte Calapine fest.
»Wartet«, bat Svengaard, als sich ihre Hand auf die Knöpfe senkte. »Wenn Ihr alle Lebensfähigen getötet habt und nur Ihr allein übrigbleibt, wenn Ihr seht, wie einer der Eurigen nach dem anderen dahinstirbt — was dann?«
»Wie kannst du es wagen?« tadelte sie. »Du glaubst, du kannst einem Regenten Fragen stellen, dessen Lebenserfahrung die deine zu einem Nichts werden läßt?«
Er sah ihre verschrammte Nase an, das Blut.
»Regenten«, sagte Svengaard. »Sterries, deren Konstitution die Enzymgaben für eine Lebensverlängerung ins Unendliche annimmt, bis … bis die Zerstörung von innen heraus erfolgt? Ich glaube, Ihr wollt sterben.«
Calapine richtete sich auf und funkelte ihn böse an. Doch plötzlich kam ihr das seltsame Schweigen in der Halle zu Bewußtsein. Sie sah sich um, erkannte eine intensive Wachsamkeit in jedem auf sie gerichteten Auge. Die Erkenntnis kam langsam: Sie sehen das Blut auf meinem Gesicht …
»Ihr hattet ein unendliches Leben«, fuhr Svengaard fort. »Macht Euch das weiser, intelligenter? Nein. Ihr habt nur länger gelebt, hattet mehr Zeit, Euch zu bilden. Wahrscheinlich sind die meisten von Euch weit über ihre Intelligenz hinaus gebildet, sonst hättet Ihr schon lange sehen müssen, daß dieser Augenblick unvermeidlich war, daß die Ausgewogenheit zusammenbrechen muß, daß Ihr alle sterben werdet.«
Calapine trat einen Schritt zurück. Seine Worte schnitten wie brennende Messer in ihre Nerven.
»Seht Euch doch an! Alle seid Ihr krank. Und was tun Eure unbezahlbaren Pharmazeuten? Das weiß ich, ohne daß man es mir sagen muß: immer mehr Medikamente, immer größere Dosen. Das wird immer so weitergehen, solange es Ihr erlaubt, aber es wird Euch nicht retten.«
»Bring ihn zum Schweigen!« rief jemand hinter ihr. Der Ruf pflanzte sich durch die ganze Halle fort, Füße trampelten, Fäuste trommelten. »Er soll schweigen … schweigen … schweigen …«
Calapine preßte die Hände auf ihre Ohren, doch ihre Haut fühlte das Geschrei. Und jetzt kamen die Regenten von ihren Bänken herab auf die Gefangenen zu. Sie wußte, die nächste Minute konnte die grausamsten Gewalttaten auslösen.
Sie hielt inne.
Calapine wußte nicht weshalb und ließ die Hände fallen. Schreie hagelten auf sie nieder. Die Namen halbvergessener Gottheiten wurden angerufen. Augen starrten auf etwas, das an der Stirnseite der Halle am Boden lag. Calapine wirbelte herum, sah, daß Nourse sich mit Schaum vor dem Mund dort wand. Seine Haut war von roten, gelben und purpurnen Flecken verunstaltet, seine Hände tasteten über den Boden, krallten sich in ihn.
»Tut doch etwas!« schrie Svengaard. »Er stirbt!« Noch als er schrie, wurde ihm die Fremdheit dieses Wortes bewußt. Etwas tun — seine medizinische Schulung war stärker als die Gewohnheit und kümmerte sich nicht darum, was dann mit ihm geschah.
Calapine trat ein paar Schritte zurück und hob die Hände zu einer beschwörenden Geste. Schruille sprang auf und stieg auf die Bank. Sein Mund bewegte sich lautlos.
»Calapine«, sagte Svengaard, »wenn Ihr ihm nicht helfen wollt, dann laßt mich frei, damit ich es tun kann.«
Sie lief herzu, um ihn zu befreien, dankbar dafür, daß sie diese schreckliche Verantwortlichkeit an einen anderen abgeben konnte. Die einengende Hülle fiel. Svengaard fiel beinahe, denn seine Arme und Beine waren fast taub. Er humpelte auf Nourse zu. Sein Geist arbeitete fieberhaft. Gelbe Flecke auf der Haut — höchstwahrscheinlich eine Immunreaktion auf Pantothensäure und ein Versagen der Adrenalinsteuerung.
Das rote Dreieck einer pharmazeutischen Zapfstelle leuchtete links von ihm an der Wand über den Bänken. Svengaard bückte sich und hob Nourses verkrampften Körper auf, schleppte ihn zum Zapfhahn. Der Mann wog unendlich schwer in seinen Armen; er bewegte sich nicht, nur die Brust hob sich in flachen, mühsamen Atemzügen.
Die Regenten drängten zurück, als ginge die Pest an ihnen vorbei. »Laßt mich hinaus!« kreischte eine Stimme über ihm. Die Menge drängte hinaus. Füße stampften über den Plasmeldboden. Sie drängten zu den Ausgängen, überrannten einander, trampelten über die Gefallenen. Schreie, Flüche, gellendes Kreischen.
Svengaard schmerzten die Arme, so schwer war die Last. Er taumelte und fiel fast die beiden letzten Stufen vor dem Zapfhahn hinauf. Dort ließ er Nourse zu Boden gleiten. Hinter ihm klangen Stimmen auf. Durant und Boumour riefen, man solle sie befreien.
Später, dachte Svengaard. Er legte die Hand auf die Kontrolltür zum Zapfhahn. Sie öffnete sich nicht. Natürlich — er war ja kein Regent. Er hob Nourse auf und legte dessen Hand auf den Kontrollknopf. Die Tür glitt zur Seite. Hinter ihr lag all das, was für den Notfall vorgesehen war: Pyrimidine, Aneurin …
Aneurin und Inositol, dachte er. Ich muß die Immunreaktion bekämpfen. Rechts von der Tür sah er die vertraute Schalttafel für die Dosierung der Zufuhren mit einer Höhlung, die einen Arm aufnehmen konnte und den gebrauchsfertigen Injektionsnadeln. Svengaard drückte den Hebel zum Haupthahn und öffnete ein Fach. Dort fand er die Anschlüsse für Aneurin und Inositol, sperrte die anderen Anschlüsse und legte Nourses Arm unter die Nadeln; sie suchten automatisch die Venen, stachen ins Fleisch. Das Meßgerät begann zu arbeiten, schaltete endlich ab.
Vorsichtig löste er die Nadeln aus Nourses Arm und bettete den Mann auf den Boden. Sein Gesicht war nun von leichenhafter Blässe, aber die Atmung hatte sich vertieft. Die Lider flatterten; die Haut fühlte sich kalt und feucht an.
Schockwirkung, überlegte Svengaard. Er zog seine Jacke aus, legte sie Nourse um die Schultern und begann ihn zu massieren, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
Calapine kam nun und setzte sich neben Nourse auf den Boden. Sie hatte die Hände so krampfhaft verschränkt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck seltsamer Klarheit, und ihre Augen starrten in weite Fernen. Sie hatte das Gefühl, von viel weiter hergekommen zu sein als vom Boden der Halle, getrieben von Erinnerungen, die sie am liebsten verleugnet hätte. Sie wußte, daß sie durch Wahnsinn zu einer eigenartig losgelösten Vernunft gelangt war.
»Wird er sterben?« fragte sie und ließ Svengaard nicht aus den Augen.
»Nicht sofort«, antwortete Svengaard, »aber dieser hysterische Ausbruch hat seinem System einen irreparablen Schaden zugefügt.« Gedämpftes Stöhnen und ruhige Befehle hörte er nun aus der Halle. Einige der Diener hatten sich zur Hilfe zusammengefunden.
»Ich habe Boumour und die Durants freigelassen und um mehr … medizinische Hilfe gebeten«, berichtete Calapine. »Es gibt eine Anzahl von … Toten … Viele sind verletzt.«
Tote? dachte sie, ein seltsames Wort für einen Regenten. Tot … tot … tot …
Nun näherte sich Boumour, der eine schlaffe Frauengestalt in den Armen hielt. Über Wange und Kinn hatte sie eine blaue Schramme.
»Ist der Zapfhahn frei?« fragte Boumour. Seine Stimme klang kalt wie die eines Cyborg, doch in seinen Augen stand nackter Schrecken.
»Du mußt die Apparatur mit der Hand bedienen«, erklärte Svengaard, »denn ich habe das automatische System abgeschaltet.«
Boumour trug die Frau heran. Wie zerbrechlich sie doch aussah. An ihrem Hals klopfte eine Ader.
»Ich muß etwas zur Muskelentspannung geben, bevor wir sie ins Hospital bringen können«, sagte Boumour. »Sie brach sich die Arme — kontramuskuläre Spannung.«
Svengaard setzte die Massage bei Nourse fort. Er warf einen Blick in die Halle, auf das Fahrzeug. Glisson saß armlos und teilnahmslos unter seiner Hülle. Lizbeth lag seitlich von ihm auf dem Boden und Harvey kniete neben ihr.
»Mrs. Durant!« rief Svengaard, als er sich seiner Pflicht erinnerte.
»Es geht ihr ganz gut«, berichtete Boumour. »Für sie war es das Beste, was man sich wünschen konnte, daß sie sich in den letzten Stunden nicht bewegen konnte.«
Das Beste, dachte Svengaard. Durant hatte recht: Diese Cyborgs waren gefühllos wie Maschinen.
»Bring ihn zum Schweigen«, flüsterte Nourse. Svengaard sah in das blasse Gesicht, sah die geborstenen Adern auf den Wangen, fühlte das matte, schlaffe Fleisch. Nourses Lider flatterten. Er öffnete die Augen.
Calapine hob seinen Kopf an. »Überlaßt ihn mir«, bat sie. Er versuchte den Kopf zu drehen, sie anzusehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie legte seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte seine Stirn. »Das hat er einmal sehr geliebt«, sagte sie. »Und jetzt geh und hilf den anderen, Doktor.«
»Cal«, sagte Nourse, »oh, Cal, ich … es tut weh …«