17

»Sie ist krank, ich sage es Ihnen doch!« Harvey beugte sich über Igan und rüttelte ihn wach. Sie waren in einem engen Raum mit Wänden aus Erde und einer Decke aus Plasmeldbalken; in einer Ecke glomm eine gelbe Lampe. An den Wänden standen Schlafpolster; auf einem lag der gefesselte Svengaard, auf zwei anderen Igan und Boumour. Zwei Polster waren leer.

»Schnell!« flehte Harvey, »sie ist krank!«

Igan knurrte etwas und setzte sich auf. Er sah auf die Uhr. Draußen mußte bald die Sonne untergehen. Sie waren erst kurz vor der Morgendämmerung hier angekommen und hatten einen beschwerlichen Fußmarsch über endlose Waldwege hinter sich. Ein Forstaufseher hatte sie geführt. Igan schmerzten noch jetzt die Muskeln von der ungewohnten Anstrengung.

Lizbeth krank? Es war erst drei Tage her, seit man den Embryo in sie verpflanzt hatte. In ähnlichen Fällen war die Heilung immer sehr rasch erfolgt, aber die Patientinnen mußten auch nicht eine Nacht lang über rauhe Waldwege stolpern.

»Bitte, beeilen Sie sich«, drängte Harvey.

»Ich komme ja schon«, antwortete Igan.

»Soll ich dir helfen?« fragte Boumour und setzte sich auf.

»Warte hier auf Glisson«, bat Igan.

»Sagte er, wohin er ging?«

»Er sucht einen neuen Führer. Es wird bald Nacht sein.«

»Schläft er denn niemals?« wunderte sich Boumour.

»Bitte, rasch«, bettelte Harvey.

»Ja! Was fehlt ihr denn?« fragte Igan ungeduldig.

»Erbrechen … grundlos.«

»Ich brauche nur noch meine Tasche.« Igan zog die Tasche über den Fußboden und warf einen Blick auf Svengaard. Sein Atem ging regelmäßig; man hatte ihm ein Schlafmittel gegeben, bevor sie sich selbst zur Ruhe legten. Man mußte auf ihn aufpassen; er behinderte sie.

Igan folgte Harvey durch ein Loch am Ende des Raumes und erreichte einen anderen, der dem ersten glich. Lizbeth lag auf einem Polster neben einer Lampe. Sie stöhnte.

»Ich bin ja da«, flüsterte Harvey und kniete neben ihr nieder.

»Harvey, oh, Harvey«, stöhnte sie.

Igan nahm ein Pulmo-Sphagnomometer aus seiner Tasche und preßte es an ihren Nacken. Er las die Skala ab. »Wo tut es weh?«

»Oh«, stöhnte sie.

»Bitte, tun Sie doch etwas«, flehte Harvey.

»Gehen Sie mir aus dem Weg«, knurrte Igan. Er schloß einen Enzymographen an Lizbeths Handgelenk an und studierte die Skala.

»Was fehlt ihr denn?« fragte Harvey.

Igan nahm die Instrumente ab. »Nichts fehlt ihr«, erklärte er bestimmt. »Alles ist absolut normal. Den meisten anderen ging es genauso. Das ist nur die Umstellung ihres Enzymhaushalts.«

»Gibt es denn nicht …«

»Beruhigen Sie sich nur wieder!« Igan stand auf. »Sie braucht nur ein paar Medikamente. Nur ein paar Tage lang. Sie ist bei besserer Gesundheit als Sie. Ginge sie jetzt in eine Apotheke, würde der Verschreibungsidentifikator sie nicht einmal kennzeichnen.«

»Aber weshalb dann …«

»Ach, das ist nur der Embryo. Er nimmt sich ganz automatisch das, was er braucht. Anpassungsschwierigkeiten der Drüsenfunktion, sonst nichts.« Igan nahm seine Tasche auf. »Das ist alles nur ein Teil des alten Vorganges. Der Embryo kommandiert, erzeuge dies, produziere das, und die Mutter produziert es. Das belastet natürlich im Moment ihr System.«

»Läßt sich sonst nichts für sie tun?«

»Natürlich kann ich etwas tun. Manchmal wird sie einen Heißhunger verspüren. Wir geben ihr etwas, das ihren Magen beruhigt, und dann bekommt sie zu essen. Vorausgesetzt, natürlich, daß man in diesem Loch etwas zu essen findet.«

»Harvey«, jammerte Lizbeth, »mir geht es furchtbar schlecht.«

»Sie werden dir bald etwas geben«, versicherte er.

»Sobald wir können«, versprach Igan. »Keine Sorge. Das ist ganz normal.« Er wandte sich um und kroch zurück durch das Loch.

»Was ist denn los?« fragte Lizbeth.

»Es ist nur der Embryo«, antwortete Harvey. »Hast du es nicht gehört?«

»Ja, doch. Der Kopf tut mir weh.«

Igan kehrte mit einer Kapsel und einem Becher Wasser zurück und beugte sich über Lizbeth. »Hier, nehmen Sie das. Es beruhigt den Magen.«

Harvey stützte sie, als sie sich aufsetzte, um die Kapsel zu schlucken. Sie trank das Wasser und gab den Becher zurück. »Es tut mir so leid, daß ich soviel …«

»Oh, das geht schon in Ordnung«, antwortete Igan und sah Harvey an. »Sie bringen sie am besten in den anderen Raum hinüber. Glisson wird bald zurückkommen. Er wird einen Führer und etwas zu essen mitbringen.«

Harvey half seiner Frau, als sie Igan in den vorderen Raum folgte. Svengaard war inzwischen erwacht und starrte auf seine gefesselten Hände.

»Hast du zugehört?« fragte Igan.

»Ja«, antwortete er und sah Lizbeth an.

»Hast du über Seatac nachgedacht?«

»Ja, das habe ich.«

»Sie denken ja gar nicht daran, ihn freizulassen«, sagte Harvey.

»Er hält uns zu sehr auf, und freilassen können wir ihn nicht«, erwiderte Igan.

»Dann müßte ich seinetwegen etwas tun«, meinte Harvey.

»Was schlagen Sie vor, Durant?« fragte Boumour.

»Er ist eine Gefahr für uns«, erklärte Harvey.

»Ah«, machte Boumour, »dann werden wir ihn Ihnen überlassen.«

»Harvey!« bat Lizbeth. War er denn plötzlich verrückt geworden? War das die Antwort auf ihre Bitte, Svengaard möge ihr Arzt sein?

»Wenn es um ihn und um meinen Sohn geht«, antwortete Harvey, »dann fällt mir die Wahl leicht.«

Lizbeth griff nach Harveys Hand. Was tust du? Das ist doch nicht dein Ernst?

Warte. Gib acht, signalisierte er. »Was ist er denn eigentlich?« wandte er sich an Igan.

Lizbeth las nun ihren Mann und drehte sich um.

»Er ist Genchirurg«, fuhr Harvey fort. »Er hat ihnen gedient. Er ist unfruchtbar, ein Nichts. Er hat keine Zukunft.«

»Ist das Ihre Wahl?« fragte Boumour.

Svengaard sah Harvey an. »Heißt das, daß Sie mich ermorden wollen?« fragte er. Seine Stimme klang unbewegt, und das erstaunte Harvey.

»Sie protestieren gar nicht?«

»Warum streiten?« fragte Svengaard. »Vieles, was er sagt, stimmt, und er hat sich ja bereits entschieden.«

»Wie soll es geschehen?« fragte Harvey.

»Strangulieren«, meinte Boumour. Harvey erkannte in seiner Stimme schon die klinische Gefühllosigkeit der Cyborgs.

»Ein rascher Schlag in den Nacken ist besser«, riet Igan. »Oder eine Injektion. Ich habe etwas in meiner Tasche.«

Harvey fühlte, wie Lizbeth zitterte. Er tätschelte ihr beruhigend den Arm. »Harvey!« bat sie. Er schüttelte den Kopf und trat zu Svengaard.

Igan zog sich zu Boumour zurück und wartete.

Harvey kniete neben Svengaard nieder und legte seine Hände um die Kehle des Chirurgen. Er beugte sich zu seinem Ohr hinab. »Denen ist es gleich, wie ich Sie umbringe«, flüsterte er. »Was meinen Sie dazu?«

Svengaard fühlte die Hände an seiner Kehle. Er konnte versuchen, mit seinen gefesselten Händen diese Finger zu lösen, doch er wußte, es würde ihm nicht gelingen. Harvey war zu stark.

»Und Ihre eigene Wahl?« flüsterte Harvey.

»Tu es endlich!« rief Boumour.

Vor wenigen Sekunden noch hatte Svengaard seinen Tod herbeigesehnt. Jetzt wußte er ganz plötzlich, daß er leben wollte, leben …

»Ich will leben«, röchelte er.

»Ist das Ihre Wahl?«

»Ja.«

»Und warum wollen Sie leben?« fragte Harvey laut. Der Druck seiner Hände ließ nach; es war eine geheime Verständigung. Selbst ohne Training konnte man das lesen.

»Ich habe niemals wirklich gelebt«, antwortete Svengaard. »Ich will es jetzt versuchen.«

»Und wie wollen Sie Ihre Existenz rechtfertigen?« Seine Finger drückten kaum merklich auf Svengaards Kehle. Der sah Lizbeth an und erriet schließlich die Richtung von Harveys Gedanken. Dann warf er Boumour und Igan einen Blick zu.

»Was reden Sie da mit unserem Gefangenen?« protestierte Boumour.

»Sind diese beiden Cyborgs?« fragte Svengaard.

»Unwiderruflich«, erklärte Harvey. »Ohne menschliche Gefühle, oder so nahe daran, daß es nichts mehr ausmacht.«

»Wie können Sie ihnen dann Ihre Frau anvertrauen?«

Harveys Finger lockerten sich.

»So könnte ich meine Existenz rechtfertigen«, sagte Svengaard.

Harvey nahm die Hände von Svengaards Kehle und drückte die Schultern des Mannes. Das war mehr als Worte, als ein Versprechen. Svengaard wußte, daß er nun einen Verbündeten hatte.

Boumour trat zu ihnen. »Bringst du ihn jetzt endlich um oder nicht?«

»Niemand hier wird ihm ein Haar krümmen«, erklärte Harvey bestimmt.

»Was tust du dann noch?«

»Ich löse ein Problem.« Harvey legte eine Hand auf Svengaards Arm. Der verstand sofort die Bedeutung des unmerklichen Druckes: Warte. Verhalte dich ruhig. Laß mich handeln.

»Und was geschieht jetzt mit dem Gefangenen?« fragte Boumour.

»Ich werde ihn befreien und meine Frau seiner Fürsorge anvertrauen«, antwortete Harvey.

»Und wenn wir damit nicht einverstanden sind?« knurrte Boumour.

»Welche Idiotie!« schrie Igan. »Wie kann man ihm vertrauen, solange wir da sind?«

»Das ist ein Mensch«, erwiderte Harvey. »Was er für meine Frau tut, das tut er aus Menschlichkeit; er behandelt sie nicht mechanisch wie eine Maschine, die einen Embryo trägt.«

»Unsinn!« fauchte Igan. Aber er wußte nun, daß Harvey sie beide als Cyborgs erkannt hatte.

Boumour hob eine Hand. »Du hast noch nicht gesagt, was du tun wirst, wenn wir dagegen sind«, warf er ein.

»Ihr seid noch keine ganzen Cyborgs. Das erkenne ich an eurer Unsicherheit, an eurer Angst. Ihr ändert euch noch, und für euch ist noch alles neu. Wahrscheinlich seid ihr noch sehr verletzlich.«

»Und Glisson?« fragte Boumour und trat ein paar Schritte zurück.

»Glisson braucht vertrauenswürdige Verbündete«, antwortete Harvey, »und ich gebe ihm einen.«

»Wie weißt du, daß du Svengaard vertrauen kannst?« fragte Igan.

»Mit euren Fragen beweist ihr nur, daß ihr noch nicht fertig seid.« Harvey löste Svengaards Fesseln, erst an den Händen, dann an den Füßen.

»Ich sehe mich nach Glisson um«, erklärte Igan und ging hinaus.

Harvey stand auf und sah Svengaard in die Augen. »Was weißt du über den Zustand meiner Frau?« fragte er.

»Ich habe Igan zugehört«, antwortete er. »Jeder Arzt studiert die Geschichte der genetischen Ursprünge. Ich habe einiges akademische Wissen über ihren Zustand.«

Boumour knurrte verächtlich.

»Hier ist Igans Tasche«, sagte Harvey. »Nun erkläre mir, weshalb meine Frau sich krank fühlte.«

»Bist du nicht zufrieden mit Igans Erklärung?« grollte Boumour. Der Gedanke schien ihn wütend zu machen.

»Er behauptete, das sei ganz natürlich. Aber wie kann Krankheit natürlich sein?«

»Sie hat Medikamente erhalten«, sagte Svengaard. »Weißt du, was es war?«

»Es scheint ein Beruhigungsmittel gewesen zu sein.«

Svengaard trat zu Lizbeth, besah sich ihre Augen, betastete ihre Haut. »Bring die Tasche«, bat er und nickte Harvey zu. Er führte Lizbeth zu einem leeren Polster. Der Gedanke an diese Untersuchung faszinierte ihn. Früher einmal hatte er sie ekelhaft gefunden; jetzt, da Lizbeth auf uralte Art einen Embryo in ihrem Leib trug, war er von diesem Geheimnis gefesselt.

Gehorsam ließ sich Lizbeth auf das Polster fallen. Sie hatte Angst — nicht vor Svengaard, denn seine Hände wirkten beruhigend auf sie, sondern sie fürchtete die Wirkung der Droge, die Igan ihr gegeben hatte.

Svengaard öffnete die Tasche und rief sich seine Studienjahre ins Gedächtnis zurück; er prüfte nach, was man ihn zu prüfen gelehrt hatte: Blutdruck, Enzyme, Hormonproduktion, Körpersekrete. Dann setzte er sich zurück und runzelte die Brauen.

»Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Harvey.

Boumour stand mit gekreuzten Armen hinter Harvey. »Ja, sag es uns.«

»Der Komplex der Menstrualhormone ist viel zu hoch«, erklärte Svengaard.

»Der Embryo steuert diesen Wechsel«, knurrte Boumour.

»Ja. Aber warum stimmt dann die Hormonproduktion nicht?«

»Du weißt ja mehr, also kannst du es uns sagen«, murmelte Boumour.

Svengaard überhörte den Spott darin und sah ihn an. »Du hast das doch schon öfter gemacht. Hattest du dabei Fälle von spontanen Fehlgeburten?«

»Ja«, gab Boumour zögernd zu.

»Ich vermute, der Embryo ist mit dem Endometrium noch nicht fest verbunden«, erläuterte Svengaard seine Überlegungen. »Mit der Wand des Uterus«, fügte er für Harvey hinzu. »Der Embryo klammert sich an die Uteruswand, nistet sich dort ein. Zyklushormone bereiten den Uterus darauf vor.«

Boumour zuckte die Achseln. »Nun ja, wir rechnen immer mit dem Verlust eines gewissen Prozentsatzes.«

»Meine Frau ist nicht ein gewisser Prozentsatz«, knurrte Harvey. Er warf Boumour einen so wütenden Blick zu, daß dieser drei Schritte zurücktrat.

»Aber das kommt vor«, antwortete Boumour. »Und was tust du jetzt?« fragte er, als Svengaard eine Ampulle aus Igans Tasche aufzog.

»Ich gebe ihr ein Anregungsmittel zur Hormonproduktion«, erklärte er. Auf Durants Gesicht spiegelte sich Unruhe. »Das ist das Beste, was wir jetzt tun können, Durant. Es wird auch wirken, wenn all dies das ganze System nicht schon zu sehr durcheinandergebracht hat.« Mit einer Handbewegung deutete er Flucht, Gefühlsbelastung und Anstrengung an.

»Tu nur, was du für gut hältst«, meinte Harvey, »ich weiß, du tust dein Bestes.«

Svengaard setzte die Spritze an und tätschelte Lizbeths Arm. »Versuchen Sie jetzt zu schlafen. Entspannen, bitte. Nicht herumlaufen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

Lizbeth nickte. Sie konnte Svengaard und seine echte Sorge um sie genau lesen. Sein Versuch, Harvey zu beruhigen, hatte sie gerührt, doch ihre Angst vermochte sie nicht zu verbergen.

»Glisson«, flüsterte sie.

Svengaard wußte, was sie meinte. »Ich werde ihm nicht erlauben, Sie zu transportieren, bevor Sie ganz in Ordnung sind«, versprach er. »Er und sein Führer müssen solange warten.«

»So? Du wirst es nicht erlauben?« schnaubte Boumour.

Als sollten diese Worte unterstrichen werden, begann die Erde unter ihnen zu rumpeln und zu zittern. Staub fegte durch den niederen Eingang herein; es war wie ein Zaubertrick: als sich der Staub verzog, stand Glisson da.

»Keine sonischen Waffen«, erklärte Glisson. Seine sonst fast ausdruckslose Cyborgstimme war ein näselnder Singsang.

»Er hat keine Arme«, bemerkte Harvey.

Dann erst sahen es auch die anderen. Von den Schultern baumelte, da wo früher Glissons Arme waren, nur das leere Verbindungsglied zu den Prothesen.

»Die haben uns hier eingesperrt«, fuhr Glisson fort; irgend etwas schien in ihm zerbrochen zu sein. »Wie ihr seht, habe ich keine Arme mehr. Belustigt euch das nicht? Versteht ihr jetzt, warum wir sie niemals offen angreifen konnten? Wenn sie wollen, dann können sie alles zerstören, alles und jeden …«

»Igan?« flüsterte Boumour.

»Igans sind leicht zu zerstören, das habe ich gesehen. Ihr müßt die Tatsachen akzeptieren.«

»Was werden wir jetzt tun?« fragte Harvey.

»Tun?« wunderte sich Glisson und sah ihn an. »Wir werden warten.«

»Gewalttaten sind nicht meine Aufgabe«, sagte Glisson. »Ihr werdet sehen.«

»Was werden sie jetzt tun?« flüsterte Lizbeth.

»Was immer sie wollen«, antwortete Glisson.

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