Aus dem dahinjagenden Gyrocar heraus, konnte Lucky einige kurze Blicke auf die mächtige Kuppelkonstruktion hoch über ihnen werfen. Um eine Stadt unter Wasser zu bauen und funktionstüchtig zu erhalten, bedurfte es einer Anzahl technologischer Wunderleistungen, ging es Lucky durch den Kopf.
Im Sonnensystem gab es vielerorts überkuppelte Städte. Die ältesten und berühmtesten befanden sich auf dem Mars. Aber man mußte sich vergegenwärtigen, daß die Schwerkraft dort nur vierzig Prozent der Erdgravitation betrug, und daß über den Venuskuppeln riesige Wassermassen lagerten. Obwohl man darauf geachtet hatte, die Städte in den flachen Gewässerausläufen anzulegen, so daß die Kuppelspitzen bei Ebbe beinahe über den Wasserspiegel ragten, mußte dennoch ein Wasserdruck von mehreren Millionen Tonnen abgestützt werden.
Lucky neigte genau wie die meisten Erdbewohner (und wie die meisten Venusbewohner auch, wenn man es recht betrachtete) dazu, die technischen Errungenschaften auf diesem Gebiet als selbstverständlich anzusehen. Jetzt aber, wo Lou Evans wieder in seinen Arrest zurückgekehrt und die mit seiner Person verknüpften Probleme fürs erste auf die lange Bank geschoben worden waren, stellte Luckys beweglicher Verstand verschiedene Überlegungen an und verlangte begierig nach Informationen über dieses neue Problem.
»Wie wird die Kuppel abgestützt, Dr. Morriss?« fragte er.
Der fette Mann von der Venus hatte sich wieder etwas gefaßt. Das von ihm gelenkte Gyrocar eilte auf den bedrohten Sektor zu. Seine Stimme klang immer noch gepreßt und grimmig.
»Diamagnetische Kraftfelder in Stahlgerüsten«, sagte er. »Es sieht so aus, als ob Stahlträger die Kuppel stützen. Dem ist aber nicht so. Stahl ist einfach nicht stark genug. Die Kraftfelder tun die Arbeit.«
Lucky warf einen Blick nach unten auf die Stadt; die Straßen wimmelten vor Menschen und Betriebsamkeit. »Hat es früher schon einmal Vorfälle dieser Art gegeben?«
»Heiliger Weltraum«, stöhnte Morriss, »nicht so wie dieser hier. Wir sind in fünf Minuten da.«
»Gibt es für solche Fälle Vorkehrungen gegen Katastrophen?« fragte Lucky unbeirrt weiter.
»Natürlich. Wir haben ein Alarmsystem und automatische Feldjustierungen, die so narrensicher sind wie menschenmöglich. Außerdem ist die ganze Stadt in Abschnitten errichtet. Wenn es in einem Kuppelabschnitt nicht klappt, gehen Transitschotte nieder, die noch von Hilfsfeldern unterstützt werden.«
»Dann wird die Stadt also gar nicht vernichtet, selbst wenn es einen Wassereinbruch gibt. Habe ich recht? Weiß die Bevölkerung das auch?«
»Selbstverständlich. Die Leute wissen, daß sie geschützt sind, aber trotzdem, Mann, ein Gutteil der Stadt würde zerstört. Dabei wird es zwangsläufig Tote geben und der Sachschaden wird ungeheure Ausmaße annehmen. Und noch schlimmer ist, daß, wenn man erst einmal eine Person so steuern kann, so etwas zu tun, dann ist der Feind auch in der Lage, jemanden dazu zu bringen, es wieder zu tun.«
Der dritte Passagier im Gyrocar, Bigman, starrte Lucky gebannt an. Der große Erdbewohner war in Gedanken versunken, seine Brauen zu einem intensiven Stirnrunzeln zusammengezogen. Auf einmal grunzte Morriss: »Wir sind da!« Der Wagen verlor schnell an Geschwindigkeit und blieb schlagartig stehen.
*
Bigman sah auf seine Uhr, sie zeigte Zwei Uhr und fünfzehn Minuten, aber das hatte nichts zu sagen. Die Venusnacht betrug achtzehn Stunden, und hier unter der Kuppel gab es weder Tag noch Nacht.
Die künstliche Beleuchtung strahlte hell wie immer. Die Gebäude ragten gut sichtbar empor, wie immer. Wenn die Stadt anders als sonst wirkte, dann lag das am Verhalten der Einwohner. Sie wimmelten aus allen Himmelsrichtungen der Stadt in Richtung Unglücksstelle. Die Nachricht über den Zwischenfall hatte sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda mit rätselhafter Geschwindigkeit verbreitet, und die Menschen strömten von morbider Neugier getrieben, in Scharen herbei, als wollten sie zu einer Show oder Zirkusparade.
Polizeikräfte hielten die brodelnde Menge zurück und bahnten Morriss und seinen beiden Begleitern einen Weg. Ein milchiges Transitschott, das den von der drohenden Sintflut gefährdeten Stadtteil abtrennte, hatte man bereits herabgelassen.
Morriss geleitete Lucky und Bigman durch eine große Tür. Die Geräuschkulisse hinter ihnen klang nun gedämpfter und erstarb schließlich völlig. Im Inneren des Gebäudes trat ein Mann auf Morriss zu.
»Dr. Morriss.«, fing er an.
Morriss blickte auf und ließ eine schnelle Einführung vom Stapel. »Lyman Turner, Chefingenieur. David Starr vom Rat. Bigman Jones.«
Auf ein Signal vom anderen Ende des Raumes hin flitzte er los, wobei sein schwerer Körper sich erstaunlich schnell bewegte. Als er sich in Bewegung setzte, rief er noch über die Schulter: »Turner wird sich um Sie beide kümmern.«
Turner brüllte ihm hinterher: » Einen Augenblick noch, Dr. Morriss!« Der Dicke kümmerte sich nicht darum.
Lucky gab Bigman ein Zeichen, und der kleine Mann vom Mars schoß wie ein Pfeil hinter dem Ratsmitglied von der Venus her.
»Wird er Dr. Morriss zurückholen?« erkundigte Turner sich besorgt. Dabei streichelte er einen rechteckigen Kasten, der an einem Lederriemen von seiner Schulter baumelte. Turners Gesicht war eingefallen, er hatte rötlich-braune Haare, eine auffallend gebogene Hakennase, reichlich Sommersprossen und einen breiten Mund. Sein Gesicht spiegelte die Sorgen, die er sich machte, wider.
»Nein«, antwortete Lucky. »Vielleicht wird Morriss da draußen gebraucht. Ich habe meinen Freund nur zu verstehen gegeben, daß er sich in seiner Nähe halten solle.«
»Ich wüßte nicht, wozu das gut sein sollte«, murmelte der Ingenieur vor sich hin. »Ich wüßte nicht, wozu das gut sein sollte.« Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und hielt Lucky die Packung geistesabwesend hin. Luckys Ablehnung nahm er zunächst nicht wahr, so daß Turner einige Augenblicke hindurch mit der Schachtel in der ausgestreckten Hand dastand. Er war mit seinen Gedanken allein.
»Ich nehme an, Sie evakuieren den bedrohten Abschnitt?« erkundigte Lucky sich.
Aufgeschreckt zog Turner seine Packung zurück, um dann fest an seiner Zigarette zu ziehen. Er ließ sie zu Boden fallen und trat sie mit dem Absatz aus.
»Das ist er bereits«, sagte er, »aber ich weiß nicht.«, seine Stimme verlor sich.
»Das Trennschott ist doch in Position, oder nicht?« fragte Lucky.
»Ja, ja«, murmelte der Ingenieur.
Lucky wartete eine Sekunde, dann sagte er: »Aber Sie sind noch nicht zufrieden. Was wollten Sie Dr. Morriss unbedingt sagen?«
Der Ingenieur sah Lucky hastig an, hob die Schulter, um den schwarzen Kasten, der an dem Riemen hing, etwas höher zu rücken und antwortete: »Nichts, vergessen Sie's.«
Sie standen ganz allein in einer Ecke des Raumes. Jetzt betraten ihn Männer in Druckanzügen, die Helme unter dem Arm, sie wischten sich den Schweiß von der Stirn. Satzfetzen erreichten sie:
». nur noch dreitausend Leute. Wir nehmen jetzt alle Zwischenschleusen.«
». wir kommen nicht an ihn heran. Haben alles versucht. Seine Frau spricht jetzt über Funk mit ihm, bittet ihn, es sein zu lassen.«
»Verflucht noch mal, er hält den Hebel in der Hand. Er braucht nur zu ziehen, und wir sind. «
»Wenn wir doch nur nahe genug an ihn herankommen könnten, um ihn mit einem Blaster zu erwischen! Wenn wir nur sicher sein könnten, daß er uns nicht zuerst sieht und.«
Turner schien all dem mit einer grausigen Faszination zu lauschen, aber er blieb in der Ecke stehen. Er zündete sich noch eine Zigarette an und drückte sie prompt mit der Schuhsohle aus.
Wild brach es aus ihm hervor: »Sehen Sie sich nur mal den Pöbel da draußen an. Die haben ihren Spaß an der Sache. Wie aufregend! Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Ich sage Ihnen, ich weiß es nicht.« Er zog den schwarzen Kasten in eine bequeme Stellung hoch, indem er die Schulter anhob, und hielt ihn fest an sich gepreßt.
»Was ist das?« fragte Lucky mit Bestimmtheit.
Turner sah hinab, starrte den Kasten an, als sähe er ihn heute zum ersten Mal und sagte dann: »Mein Computer. Ein tragbares Modell, das ich selbst entwickelt habe.« Für einen kurzen Moment verdrängte ein gewisser Stolz die Sorge aus seiner Stimme. »Im ganzen Sonnensystem gibt es so etwas nicht noch einmal. Ich trage ihn immer bei mir. So weiß ich immer.« Er unterbrach sich erneut.
Mit harter Stimme sagte Lucky: »In Ordnung, Turner, was tun Sie jetzt? Reden Sie, sofort!«
Die Hand des jungen Ratsmitgliedes legte sich leicht auf Turners Schulter, dann wurde der Griff ein kleines bißchen fester, aber wirklich nur ein kleines bißchen.
Der Ingenieur hob die Augen, er war überrascht, aber die Augen seines Gegenübers hielten seinen Blick fest. »Wie war doch noch Ihr Name?« fragte er.
»Ich bin David Starr.«
Turners Augen leuchteten auf. »Der Mann, den sie >Lucky< Starr nennen?«
»Stimmt auffallend.«
»Na schön, ich werde es Ihnen sagen, aber ich muß leise sprechen. Es ist gefährlich.«
Er begann zu flüstern, und Lucky senkte den Kopf, um ihn besser verstehen zu können. Die hin und her eilenden Männer, die eintraten oder den Raum verließen, schenkten ihnen keinerlei Beachtung.
Turner redete jetzt wie am Schnürchen, ganz so, als wäre er froh, alles, was ihn bedrückte loszuwerden. »Die Kuppelwände sind doppelt, müssen Sie wissen. Alle Wandungen bestehen aus Transit, dem festesten und haltbarsten Kunststoffmaterial auf Silikonbasis, das wir kennen. Unterstützt wird es durch Kraftstreben. Die Konstruktion verträgt ungeheuren Druck. Transit ist absolut korrosionsfest. Es verwittert nicht. Es gibt keine Lebensform, die darauf wächst. Es kann sich auch nicht auf Grund von chemischen Abläufen im Venusmeer verändern. Zwischen den einzelnen Doppelwandungen befindet sich komprimiertes Kohlendioxyd. Das dient dazu, die Druckwelle abzuschwächen, falls die äußere Wand nachgeben sollte. Die Innenwandung ist selbstverständlich stark genug, den Druck allein auszuhalten. Und dann ist da noch eine Wabenunterteilung zwischen den Wandungen, so daß nur kleine Abschnitte des Zwischenraumes im Schadensfalle geflutet werden.«
»Ganz schön ausgeklügeltes System«, meinte Lucky.
»Zu ausgeklügelt«, erwiderte Turner bitter. »Ein Erdbeben, oder besser gesagt, ein Venusbeben könnte die Kuppel vielleicht zerreißen, sonst kann ihr nichts etwas anhaben. Und in dieser Venusgegend kommen keine Venusbeben vor.« Er hielt inne, um sich schon wieder eine Zigarette anzuzünden. Seine Finger zitterten. »Darüber hinaus ist jeder Quadratmeter der Kuppel mit Instrumenten verkabelt, die ständig den Feuchtigkeitsgrad zwischen den Wandungen messen. Beim kleinsten Haarriß irgendwo gehen die Nadeln hoch. Selbst wenn der Riß nur unter dem Mikroskop sichtbar wäre, zeigen die Instrumente es an. Dann läuten die Glocken und die Sirenen fangen an zu heulen. Alle Welt schreit dann: >Achtung, Wasser!<«
Er grinste falsch. »Achtung, Wasser! Das ist zum Lachen, ich bin zehn Jahre im Geschäft und während dieser Zeit haben die
Instrumente ganze fünf Mal ausgeschlagen. Jedesmal haben die Reparaturen nicht länger als eine Stunde gedauert. Sie kleben ganz einfach eine Taucherglocke an die betreffende Stelle der Kuppel, pumpen das Wasser raus, schweißen das Transit, klatschen noch eine Ladung von dem Zeug auf die Stelle und lassen das Ganze abkühlen. Danach ist die Kuppel fester als zuvor. Achtung, Wasser! Bisher ist nicht einmal ein Tropfen durchgesickert.«
»Ich habe mir ein Bild gemacht«, antwortete Lucky, »kommen Sie jetzt zur Sache.«
»Es geht um übersteigertes Selbstvertrauen, Mr. Starr. Wir haben den gefährdeten Abschnitt abgeschottet, aber die Frage ist, wie stark ist das Schott? Wir sind immer davon ausgegangen, daß die Außenwandung allmählich nachgibt und nur an einer Stelle etwas leckspringt. Das Wasser würde dann hereinrieseln und uns war immer klar, daß wir ausreichend Zeit hätten, uns darauf einzustellen. Kein Mensch hat damit gerechnet, daß eines Tages eine Schleuse sperrangelweit geöffnet würde. Das Wasser würde wie ein dicker Eisenträger mit zwei Kilometern pro Sekunde herunterkommen. Es würde den Transitabschnitt darunter mit der Wucht eines vollbeschleunigenden Raumschiffes treffen.«
»Sie meinen, die Wandung würde nicht halten?«
»Ich meine, daß niemand sich bisher mit dem Problem beschäftigt hat. Niemand hat die beteiligten Kräfte je in einen Computer eingegeben - bis vor einer halben Stunde. Dann habe ich mich mal damit befaßt, nur um mir die Zeit zu vertreiben, während rings um mich herum der Teufel losgewesen ist. Ich hatte ja meinen Computer, den habe ich immer dabei. So habe ich also ein paar Prämissen aufgestellt und mich an die Arbeit gemacht.«
»Die Kuppel hält also nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß nicht, wie gut einige meiner Annahmen sind, aber ich glaube nicht, daß sie halten wird, Aphrodite ist verloren. Die ganze Stadt, alles. Sie und ich plus einer Viertelmillion Menschen. Alle. Die Menge da draußen, die sich an dem Spektakel so begeistert und ergötzt, sie wird in dem Augenblick zum Tode verurteilt sein, in dem die Hand des Mannes den Hebel umlegt.«
Lucky starrte seinen Gesprächspartner schreckerfüllt an. »Wie lange wissen Sie das schon?«
Der Mann sprudelte die Worte in der Absicht, sich selbst zu verteidigen nur so hervor: »Eine halbe Stunde. Aber was soll ich denn machen? Wir können eine Viertelmillion Menschen nicht in Taucheranzüge stecken! Ich dachte daran, mit Morriss zu sprechen, vielleicht könnte man einige der wichtigen Leute in der Stadt schützen, oder aber auch ein paar Frauen und Kinder. Ich wüßte nicht, wen ich zum Überleben auswählten sollte, aber vielleicht sollte man etwas unternehmen. Was meinen Sie?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Mit gehetzter Stimme redete der Ingenieur weiter: »Ich habe mir schon überlegt, ob ich nicht selbst einen Taucheranzug anziehen und mich aus dem Staub machen könnte. Die Stadt regelrecht verlassen, meine ich. In Augenblicken wie diesen, sind sowieso keine richtigen Wachen an den Ausgängen postiert.«
Lucky wich von dem zitternden Ingenieur zurück, seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen: »Heilige Milchstraße, ich habe Tomaten auf den Augen gehabt!«
Er wandte sich ab und verließ eilig den Raum, sein Verstand kreiste um einen einzigen verzweifelten Gedanken.