XIII Begegnung der Geister

Die Hilda tanzte auf den hohen Wogenkämmen des Venusozeans. Das Prasseln des starken, anhaltenden Regens trommelte in wildem Rhythmus auf die Außenhaut. Bigman, dem Marsbewohner, waren Regen und Meere fremd, aber in Lucky erweckten sie Erinnerungen an zu Hause.

»Schau dir den V-Frosch an, Lucky, schau' ihn dir an!«

»Ich sehe ihn«, antwortete Lucky ruhig.

Bigman putzte die Scheibe mit dem Ärmel blank und ertappte sich plötzlich selbst dabei, wie er, um besser sehen zu können, mit plattgedrückter Nase am Glas hing.

Dann dachte er bei sich, he, ich sollte besser nicht so nahe herangehen. Er machte einen Satz zurück und steckte mit Bedacht die kleinen Finger beider Hände in die Mundwinkel und zog sie in die Breite. Er streckte die Zunge heraus, schielte und wackelte mit den Fingern in der Luft.

Der V-Frosch sah ihn ernst an. Seit er zum erstenmal aufgetaucht war, hatte er noch keinen Muskel bewegt. Er schwang nur würdig mit dem Wind. Ihm schien das Wasser, das um ihn herum aufspritzte, nichts auszumachen, er schien es nicht einmal wahrzunehmen.

Bigman verzog sein Gesicht zu einer noch furchterregenderen Grimasse und machte »A-ah-ah« zu dem Wesen.

Luckys Stimme sagte hinter ihm: »Was machst du da, Bigman?«

Bigman fuhr erschreckt zusammen, ließ die Hände sinken und sein Gesicht bekam wieder den ihm eigenen koboldhaften Ausdruck. Grinsend meinte er: »Habe dem V-Frosch nur mal gezeigt, was ich von ihm halte.«

»Und er hat dir nur mal eben gezeigt, was er von dir hält!«

Bigmans Herz setzte einen Schlag aus. Die eindeutige Mißbilligung in Luckys Worten war unüberhörbar. In einer kritischen Situation wie dieser, in einem dermaßen gefährlichen Augenblick, schnitt er, Bigman, Grimassen wie ein Clown. Er schämte sich.

»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, Lucky«, maulte er.

»Sie schon«, erwiderte Lucky vorwurfsvoll. »Versteh' das endlich. Die V-Frösche suchen bei dir nach schwachen Stellen. Sie werden jede Möglichkeit ausnützen, um in dein Gehirn zu kriechen, und wenn sie sich erst mal dort eingenistet haben, dann ist es gut möglich, daß es deine Kräfte übersteigt, sie wieder aus deinem Kopf zu vertreiben.«

»Ja, Lucky«, murmelte Bigman.

»Was kommt als nächstes?« Lucky sah sich an Bord um. Evans schlief, er warf sich auf seiner Koje hin und her, als hätte er einen Anfall, das Atmen schien ihm schwerzufallen. Luckys Augen ruhten nur einen kurzen Augenblick auf ihm, dann sah er woanders hin.

Beinahe furchtsam sagte Bigman: »Lucky?«

»Was ist?«

»Willst du die Raumstation nicht anrufen?«

Einen Augenblick lang starrte Lucky seinen kleinen Partner verständnislos an. Dann glätteten sich die Falten zwischen seinen Augen langsam und er flüsterte: »Heilige Milchstraße! Ich habe es vergessen, Bigman, ich hatte es völlig vergessen! Ich habe nicht ein einziges Mal daran gedacht.«

Bigman deutete mit dem Daumen über die Schulter, er zeigte auf das Bullauge, durch das der V-Frosch immer noch wie eine Eule hineinsah. »Willst du damit sagen, der da...?« »Ich meine sie alle. Beim All, da draußen sind vielleicht Tausende!«

Bigman schämte sich etwas für seine Gefühle. Er war nämlich beinahe froh darüber, daß Lucky den Wesen genauso wie er auf den Leim gegangen war.

Das nahm ihm einiges von der Schuld, die sonst an ihm hängengeblieben wäre. Wenn man es recht betrachtete, dann hatte Lucky keinen Grund, Bestürzt gebot Bigman seinen Gedanken Einhalt. Er steigerte sich selbst in eine Aversion gegen Lucky. Das war nicht er. Sie waren das!

Brutal verbannte er alle Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf Lucky, dessen Finger jetzt mit der Wählscheibe des Sendegerätes beschäftigt waren. Er stellte sie mit der Sorgfalt ein, die nötig war, um den Weltraum trennscharf zu erreichen.

Und dann flog Bigmans Kopf unter dem Eindruck des plötzlich einsetzenden neuen Klangs zurück. Es war eine tonlose Stimme, ohne Ausdruck. Sie sagte: »Spiele nicht mit deiner Maschine des weitreichenden Klangs. Wir wünschen es nicht.«

Bigman drehte sich um. Die Kinnlade sackte ihm herunter und sein Mund blieb eine Weile offen stehen. »Wer hat das gesagt? Wo kommt das her?«

»Ganz ruhig, Bigman. Das ist in deinem Kopf.«

»Nicht der V-Frosch!« sagte Bigman verzweifelt.

»Heilige Milchstraße, was soll es sonst sein?«

Bigman wandte sich wieder um, und starrte erneut aus dem Bullauge die Wolken, den Regen und den sich wiegenden V-Frosch an.

*

Schon einmal in seinem Leben hatte Lucky gefühlt, wie der Wille fremder Wesen sich seinen Gedanken aufzwangen. Das war damals gewesen, als er die körperlosen Energiewesen, die in den Tiefen unter der Marsoberfläche lebten, getroffen hatte. Dort hatte seine Gedankenwelt offen wie auf einem Präsentierteller gelegen, aber der Gedankeneinbruch war schmerzlos, ja sogar angenehm gewesen. Ihm war seine eigene Hilflosigkeit bewußt gewesen, aber gleichzeitig war ihm alle Furcht genommen worden.

Womit er es nun zu tun hatte, war etwas anderes. Die geistigen Fühler in seinem Schädel hatten sich den Weg mit Gewalt gebahnt, und er empfand sie als schmerzhaft. Es erfüllte ihn mit Haß und Widerwillen.

Luckys Hand war vom Sender geglitten und er verspürte keinen Drang, sie wieder auf die Tastatur zu legen. Er hatte es wieder vergessen.

Die Stimme ließ sich ein zweites Mal vernehmen. »Vibriere mit dem Mund.«

»Du meinst, ich soll sprechen?« sagte Lucky. »Kannst du unsere Gedanken hören, wenn wir den Mund halten?«

»Nur sehr schwach und undeutlich. Es ist sehr schwierig, es sei denn, wir haben euren Geist sorgfältig erforscht. Wenn ihr sprecht, sind eure Gedanken deutlicher und wir können sie hören.«

»Wir verstehen euch ohne Schwierigkeiten.«

»Ja, wir können unsere Gedanken kräftig und mit Nachdruck übermitteln. Ihr könnt das nicht.«

»Habt ihr alles, was ich bisher gesagt habe, verstanden?«

»Ja.«

»Was wollt ihr von mir?«

»Wir haben in deinen Gedanken eine Organisation deiner Mitlebewesen entdeckt, sie ist weit weg von hier, auf der anderen Himmelseite. Du nennst es den Rat. Wir wollen mehr darüber wissen.«

Lucky fühlte innerlich einen kleinen Funken Befriedigung. Jetzt war wenigstens eine Frage beantwortet.

Solange er nur er selbst, also ein Individuum war, gab der Feind sich damit zufrieden, ihn zu töten. Aber während der letzten Stunden hatte der Feind entdeckt, daß er der Wahrheit schon viel zu nahe gekommen war, und das beunruhigte sie.

Wären andere Mitglieder des Rates ebenso leicht in der Lage, der Wahrheit auf die Spur zu kommen? Was war das für eine Organisation?

Lucky konnte die Neugier des Feindes gut verstehen, eine neue Vorsicht, ein plötzlich aufgeflammtes Verlangen, etwas mehr in Erfahrung zu bringen, bevor man ihn tötete. Kein Wunder, daß der Feind Evans daran gehindert hatte, ihn zu erschießen, selbst als er hilflos gewesen und der Blaster auf ihn gerichtet war, sie hatten einen Augenblick zu lange gewartet.

Aber Lucky begrub weitere Gedanken zu dem Thema. Sie könnten, so hatten sie jedenfalls gesagt, unausgesprochene Gedanken vielleicht nicht deutlich verstehen. Aber es war ebenso möglich, daß sie logen.

Plötzlich sagte er: »Was habt ihr gegen mein Volk?«

Die ton- und gefühllose Stimme antwortete: »Was nicht stimmt, können wir nicht beantworten.«

Lucky reagierte darauf, indem er die Zähne fester zusammenbiß. Hatten sie seinen letzten Gedanken über ihr Lügen mitbekommen? Er würde vorsichtig, sehr vorsichtig sein müssen.

»Wir haben keine gute Meinung von deinem Volk«, fuhr die Stimme fort. »Ihr beendet Leben. Ihr eßt Fleisch. Es ist schlecht, intelligent zu sein und Fleisch zu essen. Jemand, der Fleisch ißt, muß Leben beenden, und ein intelligenter Fleischfresser richtet mehr Schaden als ein dummer an, da ihm mehr Wege einfallen, um Leben zu beenden. Ihr habt kleine Röhren, die im Stande sind, das Leben von vielen auf ein Mal zu beenden.«

»Wir töten aber keine V-Frösche.«

»Ihr würdet es tun, wenn wir euch ließen. Ihr tötet euch sogar selbst in großer Anzahl, oder einzeln.«

Lucky vermied es, zu der letzten Bemerkung etwas zu sagen. Statt dessen sagte er: »Was wollt ihr eigentlich von meinem Volk?«

»Ihr werdet auf der Venus immer zahlreicher«, antwortete die Stimme. »Ihr breitet euch aus und nehmt Platz weg.«

»Das geht aber nur in begrenztem Umfang«, argumentierte Lucky. »Wir können Städte nur in Küstennähe bauen. Die Tiefe wird euch immer gehören, das sind neun Zehntel des Meeres. Außerdem könnten wir euch helfen. Wenn ihr das Wissen über den Geist habt, dann haben wir das Wissen über die Materie. Ihr habt doch unsere Städte und die Maschinen aus glänzendem Metall gesehen, die durch die Luft und durch das Wasser zu Welten auf der anderen Seite des Himmels gelangen können. Denkt doch mal, wie wir euch mit diesen Fähigkeiten helfen können.«

»Wir brauchen nichts. Wir leben und denken. Wir haben keine Angst und kennen keinen Haß. Was sollten wir sonst noch haben wollen? Was sollten wir mit euren Städten, eurem Metall und den Schiffen anfangen? Wie sollte sich unser Leben dadurch verbessern?«

»Dann habt ihr also vor, uns alle zu töten?«

»Wir haben kein Verlangen, Leben zu beenden. Es genügt uns völlig, wenn wir euren Willen beherrschen und wissen, daß ihr keinen Schaden anrichten könnt.«

Lucky hatte plötzlich die Vision (war es seine eigene, oder von draußen hervorgerufen?) einer auf der Venus lebenden Menschenrasse, die unter der Herrschaft der überlegenen Ureinwohner stand und allmählich von der Verbindung mit der Erde abgeschnitten wurde, deren Nachkommen mehr und mehr zu selbstzufriedenen geistigen Sklaven wurden.

Mit einer Zuversicht, von der er selbst nicht restlos überzeugt war, sagte er: »Menschen können es nicht zulassen, daß man sie geistig manipuliert.«

»Es ist die einzige Lösung, und du mußt uns dabei helfen.«

»Das werde ich nicht.«

»Dir bleibt keine Wahl. Du mußt uns von diesen Ländern jenseits des Himmels erzählen, von der Art und Weise, wie dein Volk organisiert ist, davon, was sie gegen uns unternehmen werden, und wie wir uns dagegen schützen können.«

»Es gibt keine Methode, mit der ihr mich dazu zwingen könnt.«

»Es gibt sie nicht?« fragte die Stimme. »Überlege einmal. Falls du uns die Informationen, die wir benötigen, nicht gibst, werden wir dich bitten, mit deiner Maschine aus glänzendem Metall wieder in die Tiefe hinabzutauchen, und dort auf dem Meeresboden wirst du deine Maschine dem Wasser öffnen.«

»Und sterben?« erkundigte sich Lucky grimmig.

»Die Beendigung eurer Leben wäre notwendig. Wir wären nicht sicher, wenn du dich mit dem Wissen, das du hast, unter deine Brüder mischt. Du könntest mit ihnen reden und sie dazu veranlassen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das wäre nicht gut.«

»Dann habe ich nichts zu verlieren, wenn ich euch nichts sage.«

»Du hättest sehr viel zu verlieren. Solltest du dich weigern, uns unsere Frage zu beantworten, würden wir uns gewaltsam zu deinem Geist Zugang verschaffen müssen. Das wäre nicht die beste Lösung. Dabei könnten uns wertvolle Informationen entgehen. Um diese Gefahr so gering wie möglich zu halten, wären wir gezwungen, deinen Verstand Stück für Stück auseinanderzunehmen, und das wäre unangenehm für dich. Es wäre für dich und für uns viel besser, wenn du uns aus freien Stücken helfen würdest.«

»Nein.« Lucky schüttelte den Kopf.

Eine Pause trat ein. Dann fing die Stimme wieder an: »Obgleich dein Volk die Tendenz hat, Leben zu beenden, fürchtet es sich davor, sein eigenes Leben beendet zu bekommen. Diese Furcht werden wir dir ersparen, wenn du uns hilfst. Wenn du auf den Meeresboden hinabsinkst, um dein Leben zu beenden, werden wir alle Furcht von deinem Geist nehmen. Solltest du dich hingegen entschließen, uns nicht zu helfen, dann werden wir dein Lebensende trotzdem erzwingen, die Furcht davor aber nicht wegnehmen, sondern sie sogar noch verstärken.«

»Nein«, sagte Lucky jetzt lauter.

Wieder trat eine Pause ein, diesmal dauerte sie länger. Dann sagte die Stimme: »Wir brauchen dein Wissen nicht, weil wir um unsere eigene Sicherheit fürchten, sondern um nicht unangenehme Maßnahmen ergreifen zu müssen. Wenn wir nur in den Besitz ungenauen Wissens über die Methoden, mit denen wir uns gegen dein Volk jenseits des Himmels schützen können, gelangen sollten, dann werden wir gezwungen sein, die Bedrohung dadurch zu beenden, daß wir das Leben aller deiner Brüder auf dieser Welt zu Ende bringen. Wir werden den Ozean in alle ihre Städte lassen, wie wir es bereits einmal fast getan haben. Das Leben deines Volkes wird wie eine Kerze verlöschen. Es wird ausgeblasen werden, und das Lebenslicht wird nie wieder brennen.«

»Bringt mich dazu!« Lucky lachte wild auf.

»Wozu sollen wir dich bringen?«

»Bringt mich zum sprechen. Bringt mich dazu, das Schiff zu tauchen. Bringt mich zu irgendwas.«

»Glaubst du etwa, wir könnten das nicht?«

»Ich weiß ganz bestimmt, daß ihr es nicht könnt.«

»Dann schau dich einmal um, und sieh', was wir schon zu Stande gebracht haben. Das gefesselte Wesen ist in unserer Hand. Das Wesen, das neben dir gestanden hat, befindet sich in unserer Hand.«

Lucky fuhr herum. Während der ganzen Zeit, die gesamte Unterhaltung hindurch, hatte er Bigmans Stimme nicht ein einziges Mal vernommen. Es war so, als habe er Bigmans Vorhandensein völlig vergessen. Und jetzt mußte er mitansehen, wie der kleine Marsbewohner mit verzerrten Gliedmaßen zusammengesunken zu seinen Füßen lag.

Lucky ließ sich auf die Knie fallen; ein ungeheures, mit Furcht vermischtes Gefühl der Verzweiflung dörrte ihm die Kehle aus. »Habt ihr ihn getötet?«

»Nein, er lebt. Er hat noch nicht einmal große Schmerzen. Aber wie du siehst, sind wir nun allein. Es gibt niemanden, der dir helfen könnte. Sie konnten uns nicht widerstehen, und du kannst es auch nicht.«

Lucky war kalkweiß im Gesicht, als er jetzt sagte: »Nein. Ihr werdet mich nicht dazu kriegen, etwas zu tun.«

»Deine letzte Chance. Triff deine Wahl. Entscheidest du dich dafür, uns zu helfen, damit dein Leben ruhig und friedlich für dich zuende gehen kann? Oder wirst du dich weigern, uns behilflich zu sein, so daß es in Schmerz und Kummer enden muß, und später folgt vielleicht doch noch das Ende des Lebens für alle deine Brüder in den Städten unter dem Meer. Was soll es sein? Antworte!«

Während er sich allein und ohne Freunde darauf vorbereitete, gegen die Hammerschläge einer geistigen Macht anzutreten, die er nicht kannte und von der er nicht wußte, wie sie zu bekämpfen war, außer ihr mit unbeugsamer Sturheit zu begegnen, hallten diese Worte wie ein sich vielfach wiederholendes Echo durch seinen Kopf.

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