»Soll das etwa heißen, daß wir in der Falle sitzen?« fragte Bigman zu Tode erschreckt.
»So kann man es ausdrücken«, meinte Lucky kühl. »Du könntest auch sagen, daß wir in Sicherheit sind, wenn dir das lieber ist. Bestimmt sind wir hier sicherer, als irgendwo sonst auf der Venus. Niemand kann uns physisch etwas zu Leide tun, mit dem toten Fleischberg über uns. Und wenn wir die Generatoren repariert haben, werden wir uns einfach hindurchfräsen. Bigman, mach', daß du an die Generatoren kommst, Evans, wir wollen uns mal einen Kaffee eingießen und die ganze Angelegenheit durchgehen. Es ist gut möglich, daß sich die Gelegenheit zu einem ruhigen Plausch nicht noch einmal bietet.«
*
Lucky begrüßte diese Erholungspause, diesen Augenblick, in dem es nichts weiter zu tun gab, als zu reden und nachzudenken.
Aber Evans machte einen verstörten Eindruck. Rings um seine porzellanblauen Augen hatten sich Falten gebildet.
»Du siehst besorgt aus«, meinte Lucky.
»Ich mache mir auch Sorgen. Was, beim All, stellen wir jetzt an?«
»Darüber habe ich mir schon so meine Gedanken gemacht. Mir scheint, die einzige Möglichkeit ist, die V-Frosch-Story jemandem zu erzählen, der nicht von ihnen kontrolliert werden kann.«
»Und wer sollte das sein?«
»Niemand auf der Venus, das ist sicher.«
Evans starrte seinen Freund an. »Willst du damit etwa sagen, daß jeder auf der Venus kontrolliert wird?«
»Das nicht, aber jeder könnte kontrolliert werden. Schließlich gibt es verschiedene Wege, wie ein menschlicher Verstand von diesen Wesen beherrscht werden kann.« Lucky ließ einen Arm über die Rückenlehne des Drehstuhls, der für den Piloten gedacht war, herabbaumeln und legte die Beine übereinander. »Einmal gibt es die völlige Kontrolle über einen Menschen, die für kurze Zeit aufrechterhalten werden kann. Völlige Kontrolle! In dieser Zeit kann ein Mensch dazu gebracht werden, Dinge zu tun, die im krassen Widerspruch zu seinen natürlichen Regungen stehen, Dinge, die das eigene und das Leben anderer gefährden: die Piloten des Küstenkreuzers zum Beispiel, als Bigman und ich auf der Venus gelandet sind.«
»Das ist nicht die Art, mit der ich zu kämpfen hatte«, bemerkte Evans grimmig.
»Ich weiß. Das hat Morriss nicht gesehen. Er dachte, daß du nicht manipuliert warst, einfach, weil du keinerlei Anzeichen von Bewußtseinstrübung gezeigt hast. Aber es gibt da noch eine zweite Form der Kontrolle, und unter der hast du gelitten. Sie ist weniger intensiv, der Betreffende behält sein Erinnerungsvermögen. Da der Zustand weniger stark ausgeprägt ist, kann die Person nicht gezwungen werden, gegen seine Natur zu handeln; du konntest zum Beispiel nicht zum Selbstmord gezwungen werden. Die V-Frösche machen mit Dauer wett, was sie an Intensität verlieren. Nun, es muß noch eine dritte Form der Kontrolle geben.«
»Und das wäre?«
»Eine Kontrolle, die noch weniger intensiv als die zweite Variante ist. Eine Manipulation, die derartig schwach ausgeprägt ist, daß das Opfer sie gar nicht merkt, aber trotzdem intensiv genug, um es den V-Fröschen zu gestatten, den Verstand des Betreffenden zu durchstöbern und Informationen daraus abzuzapfen. Da wäre zum Beispiel Lyman Turner.«
»Der Chefingenieur von Aphrodite?«
»Stimmt genau. Der ist so ein Fall. Siehst du auch, warum? Überleg' mal, da saß gestern ein Mann in der Kuppel, mit dem Schleusenhebel in der Hand, der die ganze Stadt gefährdete, und dabei war er auf allen Seiten derartig gut geschützt, dermaßen von Alarmeinrichtungen umgeben, daß sich niemand nähern konnte, ohne daß er es gemerkt hätte, bis Bigman sich einen Weg durch die Luftschächte gebahnt hatte. Ist das nicht seltsam?«
»Nein, wieso ist das seltsam?«
»Der Mann hatte den Posten erst seit ein paar Monaten. Er war noch nicht einmal ein richtiger Ingenieur. Seine Aufgabe war mehr die eines Büroangestellten oder Laufburschen. Woher hatte er das nötige Wissen, um sich so verschanzen zu können? Wie war es nur möglich, daß er das Kraftfeldsystem in dem Kuppelabschnitt so von Grund auf kannte?«
Evans spitzte die Lippen und pfiff unhörbar. »He, da ist etwas dran.«
»Turner ist nichts aufgefallen. Kurz bevor wir an Bord der Hilda gingen, habe ich ihn genau darüber befragt. Ich habe ihm natürlich nicht gesagt, worauf ich hinauswollte. Er hat mir von sich aus über die mangelnde Erfahrung dieses Burschen berichtet, aber die Ungereimtheit an der Sache ist ihm nicht aufgefallen. Aber wer würde über die notwendigen Informationen verfügen? Wer sonst, als der Chefingenieur. Wer sollte besser Bescheid wissen als er?«
»Stimmt. Stimmt!«
»Na gut, mal angenommen, Turner stand unter sehr leichter Kontrolle. Die Informationen könnten aus seinem Kopf genommen worden sein. Er könnte auch ganz sanft dazu gebracht werden, in der Situation keinen Ausweg sehen zu können. Siehst du, worauf ich hinaus will? Und dann Morriss.«
»Morriss auch?« Evans war entgeistert.
»Möglicherweise. Er ist felsenfest davon überzeugt, daß die Sirianer hinter den Hefekulturen her sind, eine andere Erklärung hat er nicht. Handelt es sich dabei jetzt um eine echte Fehlbeurteilung, oder wird er raffiniert dazu überredet? Er war bereit, dich zu verdächtigen, Lou - ein bißchen zu schnell bereit. Ein Ratsmitglied sollte etwas weniger bereit sein, ein anderes zu verdächtigen.«
»Beim All! Wer ist dann sicher, Lucky?«
Lucky musterte seine leere Kaffeetasse und sagte: »Auf der Venus keiner. Darauf will ich ja gerade hinaus. Wir müssen die Geschichte und die Wahrheit von hier wegbringen.«
»Und wie sollen wir das anstellen?«
»Da sagst du was, wie sollen wir es anstellen?« Lucky brütete vor sich hin.
»Wir können von hier nicht weg. Die Hilda ist ein Wasserfahrzeug, dafür ist sie gebaut. Sie kann nicht in der Atmosphäre fliegen, vom Weltraum mal ganz zu schweigen. Wenn wir zur Stadt zurückkehren, um uns was Passendes zu suchen, lassen die uns nie mehr raus.«
»Ich denke, du hast Recht«, pflichtete Lucky bei, »aber wir brauchen die Venus gar nicht selbst zu verlassen. Nur unser Wissen muß von hier weg, das reicht völlig.«
»Wenn du auf unseren Bordfunk anspielst, das kannst du getrost vergessen. Der Apparat auf diesem Pott funktioniert ausschließlich nur auf der Venus. Das ist kein Subäthergerät, die Erde können wir also nicht erreichen. Wir kämen noch nicht einmal über die Wasseroberfläche damit. Alles ist so konstruiert, daß die Trägerwelle an der Unterseite der Oberfläche reflektiert wird, dadurch bekommen sie eine größere Reichweite. Aber selbst wenn wir gerade nach oben senden könnten, kämen wir nicht bis zur Erde.«
»Ich glaube nicht, daß wir das müßten«, meinte Lucky. »Zwischen hier und der Erde befindet sich etwas, das völlig genügt.«
Einen kurzen Moment lang rätselte Evans herum, dann sagte er: »Meinst du die Raumstationen?«
»Na klar. Zwei Raumstationen umkreisen die Venus. Die Erde mag ja zwischen dreißig und vierzig Millionen Meilen entfernt sein, aber von uns bis zu den Stationen sind es höchstens zweitausend Meilen. Ich bin sicher, daß es dort auch keine V-Frösche gibt. Morriss hat gesagt, daß sie Sauerstoff in der Luft nicht mögen, und es ist unwahrscheinlich, wenn man die wirtschaftlichen Gesichtspunkte, unter denen Raumstationen unterhalten werden, einmal berücksichtigt, daß man spezielle Kohlendioxyd Kammern für V-Frösche eingerichtet hat. Wenn es uns also gelingt, eine Nachricht an die Stationen abzusetzen und die sie dann an unser Hauptquartier auf der Erde weiterfunken, haben wir es geschafft.«
»Genau, Lucky«, rief Evans begeistert. »Das ist der Ausweg. Ihre geistigen Kräfte reichen unmöglich zweitausend Meilen durch das All.« Aber dann verfinsterten sich seine Züge wieder. »Nein, es geht doch nicht. Unser Sender reicht nicht über die Wasseroberfläche.«
»Von hier vielleicht nicht. Aber mal angenommen, wir tauchen auf und senden von da direkt nach oben.«
»An die Oberfläche willst du?«
»Ja, na und?«
»Aber sie sind da. Die V-Frösche.«
»Das weiß ich.«
»Wir werden kontrolliert werden.«
»Werden wir das?« fragte Lucky. »Bisher haben sie noch niemanden angegangen, der über sie Bescheid wußte, der gewußt hat, was er zu erwarten hat und der sich entschlossen hat, sich dagegen zu wehren. Die meisten Opfer hatten nicht den geringsten Verdacht. Was dich angeht, du hast sie richtiggehend eingeladen, in deinen Verstand zu kommen, um deine eigenen Worte zu benutzen. Also was mich betrifft, so bin ich nicht ahnungslos und ich habe auch nicht die Absicht, ihnen eine Einladung zu schicken.«
»Du schaffst es nicht, hör' auf mich. Du hast keine Ahnung, wie das ist.«
»Hast du einen anderen Vorschlag?«
Ehe Evans antworten konnte, trat Bigman durch die Tür und rollte sich die Ärmel herunter. »Alles fertig«, meinte er. »Ich garantiere, daß die Generatoren funktionieren.«
Lucky nickte und ging an die Instrumente, während Evans, den Blick immer noch voller Zweifel, auf seinem Platz sitzenblieb.
*
Da war das Summen der Turbinen wieder. Es klang voll und wie Musik in ihren Ohren. Das gedämpfte Geräusch war herrlich, und unter den Füßen konnten sie dieses seltsame Gefühl von Spannung und Bewegung spüren, das es auf Raumschiffen nie gab. Die Hilda lief durch die Wasserblase, die unter dem zusammengesunkenen Körper des
Riesenlappens gefangen worden war, und nahm Geschwindigkeit auf.
Bigman war nicht wohl in seiner Haut. »Wieviel Platz haben wir?« wollte er wissen.
»Ungefähr einen Kilometer«, gab Lucky zur Antwort.
»Was ist, wenn wir es nicht schaffen?« murmelte Bigman. »Was ist, wenn wir einfach hineinrasseln und wie eine Axt im Baum stecken bleiben?«
»Wir legen den Rückwärtsgang ein und versuchen es noch einmal«, versicherte Lucky ihm.
Es war eine Zeitlang still an Bord, dann sagte Evans mit leiser Stimme: »Hier unter dem Lappen eingeschlossen zu sein, ist, als ob man in einer Kammer sitzt.« Er murmelte halb zu sich selbst.
»In einer was?« fragte Lucky.
»In einer Kammer«, wiederholte Evans abwesend. »Auf der Venus bauen sie welche. Es sind kleine Kuppeln aus Transit, Kammern genannt, die unterhalb des Meeresbodens liegen, so ähnlich, wie Atombunker auf der Erde. Falls die Kuppel bei einem Venusbeben zum Beispiel zu Bruch geht, sollen sie angeblich gegen die eindringenden Wassermassen Schutz bieten. Diese Kammern sind meines Wissens noch nie benutzt worden, aber die besser ausgestatteten Appartementhäuser werben immer damit, daß sie über Bunker für den Notfall verfügen.«
Lucky hörte ihm zu, sagte aber nichts.
Die Tonlage der Maschinen wurde schriller.
»Haltet euch fest!« schrie Lucky.
Die Hilda erzitterte in allen Nähten, und die plötzliche, fast unwiderstehliche Geschwindigkeitsabnahme zwang Lucky mit aller Gewalt gegen die Instrumentenkonsole. Bei Bigman und Evans färbten sich die Knöchel weiß, und sie zerrten sich die Handgelenke, als sie sich mit aller ihnen zu Gebote stehender Kraft festklammerten.
Das Schiff wurde langsamer, kam aber nicht zum Stillstand. Die Motoren gaben ihr Letztes und die Generatoren protestierten quietschend, was Lucky ihnen gut nachfühlen konnte, aber die Hilda pflügte durch Haut, Muskeln, Sehnen und leere Blutgefäße und nutzlose Nervenstränge, die sechzig Zentimeter dicken Kabeln ähneln mußten. Lucky hielt, das Kinn vorgestreckt und mit grimmiger Miene, den Geschwindigkeitsknüppel fest am Anschlag, um gegen den zerreißenden Widerstand anzukommen.
Die Minuten zogen sich endlos hin, doch dann waren sie durch, und die Maschinen jubelten auf. Sie waren durch das Monster hindurch und befanden sich wieder im offenen Meer.
*
Geräuschlos gleitend stieg die Hilda durch das trübe, kohlensäurehaltige Wasser des Venusozeans empor. Sie schwiegen alle drei. Dieses Schweigen schien ihnen durch die Kühnheit, mit der sie die wirkliche Bastion der feindlichen Lebensform auf der Venus in Angriff nahmen, auferlegt worden zu sein. Seit sie durch den Lappen hindurch waren, hatte Evans noch kein Wort gesagt. Lucky hatte die Schiffsinstrumente auf Automatik gestellt und saß auf dem Drehstuhl für den Piloten; seine Finger trommelten leise gegen die Kniescheibe. Selbst der unbändige Bigman hatte sich finster zum Heckbullauge mit seinem bauchigen, weitwinkeligen Blickfeld zurückgezogen. Plötzlich rief er: »Lucky, sieh' mal da.«
Mit wenigen Schritten stand Lucky neben ihm. Sie schauten gemeinsam hinaus, keiner sagte ein Wort. Die Hälfte des Sichtfeldes bestand aus dem Widerschein kleiner phosphorisierender Lebewesen, aber in einer anderen Richtung stand eine Wand, eine monströse Wand, die in wechselnden Farben aufleuchtete.
»Glaubst du, daß ist der Lappen, Lucky?« fragte Bigman. »Als wir herkamen, hat es nicht so geleuchtet, und überhaupt, jetzt wo er tot ist, würde er doch sowieso nicht mehr leuchten, oder?«
»In gewisser Weise ist es schon der Lappen«, sagte Lucky nachdenklich. »Ich glaube, der halbe Ozean findet sich hier ein, um am Festmahl teilzunehmen.«
Bigman schaute noch einmal hin, und ihm wurde ein wenig schlecht. Natürlich! Da unten lagen hundert Millionen Tonnen Fleisch herum, man brauchte sich nur zu bedienen. Das Licht, das sie sehen konnten, mußte von den kleinen Lebewesen des Küstengebietes ausgehen, die gekommen waren, um sich an dem toten Monster gütlich zu tun.
Wesen flitzten an den Bullaugen vorbei, sie schwammen alle in dieselbe Richtung. Von allen Seiten kamen sie sternförmig auf den Kadaver zu, den die Hilda zurückgelassen hatte und der wie ein Gebirge aussah.
Pfeilfische aller Größen waren besonders zahlreich vertreten. Sie hatten eine weiße Phosphorlinie auf dem Rücken, der die Wirbelsäule kennzeichnete (in Wirklichkeit handelte es sich dabei gar nicht um eine richtige Wirbelsäule, sondern bloß um einen glatten Stab, der aus einer hornartigen Substanz bestand). An einem Ende der weißen Linie befand sich ein blaßgelbes V; dort befand sich der Kopf. Für Bigman schien es, als schwärte ein nicht zu zählender Schwarm beweglicher Pfeile am Schiff vorbei, aber vor seinem geistigen Auge konnte er ihre gierigen, riesigen nadelgesäumten Kiefer sehen.
»Heilige Milchstraße!« entfuhr es Lucky.
»Bei allen Marswüsten!« murmelte Bigman. »Der übrige Ozean wird bald leer sein. Jedes vermaledeite Vieh im Meer kommt hierher geschwommen.«
»So wie sich diese Pfeilfische vollschlagen, ist der Lappen in zwölf Stunden verschwunden«, bemerkte Lucky.
Vom anderen Ende hörten sie Evans Stimme. »Lucky, ich muß mir dir reden.«
»Klar, was gibt es, Lou?« Lucky wandte sich um.
»Als du das erste Mal den Vorschlag machtest, zur Oberfläche aufzutauchen, hast du mich gefragt, ob ich einen besseren Vorschlag hätte.«
»Ich weiß. Du hast mir keine Antwort gegeben.«
»Jetzt tue ich es. Wenn man will, dann halte ich sie sozusagen in der Hand; wir fahren zur Stadt zurück.«
»He, was soll das denn?« rief Bigman.
Lucky brauchte diese Frage nicht zu stellen. Seine Nasenflügel bebten, und innerlich tobte er vor Wut über sich selbst. Statt sich an das Bullauge zu stellen, hätte er sich mit Herz und Seele auf das konzentrieren sollen, was vor ihnen lag.
Denn in Evans geballter Faust befand sich Luckys eigener Blaster, und in Evans zusammengekniffenen Augen stand eiserne Entschlossenheit.
»Wir kehren in die Stadt zurück«, wiederholte Evans.