Sieben

Gut neun Stunden später stellte Geary sicher, dass er sich auf der Brücke der Dauntless befand, um mit anzusehen, wie die Handelsschiffe der Syndiks »heimkehrten«.

»Ein paar Schiffe konnten sie mit wirklich schweren Geschützen in Sternenstaub verwandeln«, ließ Desjani ihn wissen. »Zu schade, dass Sie das verpasst haben, aber die Aufnahmen sind im taktischen Archiv gespeichert, falls Sie sie sehen wollen.«

»Mit welcher Art von Raketen kann man denn solchen Schaden anrichten?«, wunderte sich Geary.

»Meine Waffentechniker sagen, es müsse sich um Waffen handeln, mit denen man eigentlich Planeten bombardiert. Ein Kriegsschiff kann man damit nicht treffen, aber die Handelsschiffe waren auf einem festen Kurs unterwegs und konnten nicht ausweichen.«

Waffen, mit denen man Planeten bombardiert? Was wollen die Syndiks mit derartigen Waffen in einem nutzlosen System wie Corvus? Die müssen auf einer der beiden Orbitalanlagen untergebracht gewesen sein, da es in diesem System keine großen Kriegsschiffe gibt. Und sie müssen aus einem ganz bestimmten Grund hier platziert worden sein. Geary rieb sich das Kinn und gab vor, sich einen Überblick über die Positionen der Schiffe innerhalb der Flotte zu verschaffen, doch in Wahrheit grübelte er über das Rätsel. Sie hätten die Waffen nur gegen einen der Planeten in diesem System richten können. Aber warum sollten sie… oh. Komm, schon, Geary, du weißt doch, wie die Syndiks die Kontrolle über alles wahren. Indem sie wirklich zu allen Mitteln greifen. Ich würde sagen, diese Waffen im Orbit dienten dazu, die Bevölkerung auf dem Planeten davon abzuhalten, auf dumme Gedanken zu kommen und Befehle zu verweigern.

Ich habe die Syndik-Führung noch nie gemocht, aber jetzt wird sie mir sogar richtig unsympathisch. Er betrachtete das Bild der bewohnten Welt. Nicht gerade der ideale Ort für Menschen, um sich dort niederzulassen. Zu wenig Wasser und die Atmosphäre ist ein bisschen dünn. Aber es genügt, um eine Bevölkerung von passabler Größe am Leben zu erhalten. Ich bin nur froh, dass ich keinen Vergeltungsschlag gegen diese Leute angeordnet habe. Die haben schon genug Sorgen, was die Bedrohung durch ihre eigenen Führer angeht. »Irgendetwas Neues von den Rettungskapseln aus den Handelsschiffen?«

»Sie nähern sich dem Planeten«, meldete Desjani und verzog den Mund, als hätte sie auf etwas Übelschmeckendes gebissen. »Die Or-bitalverteidigung der Syndiks hat ein paar von ihnen abgeschossen.«

»Verdammt.«

»Zweifellos gehen sie davon aus, dass unsere Behauptung, wir hätten die Kapseln nicht als Waffen gegen sie gerichtet, eine Lüge ist. Lieber bringen sie ihre eigenen Leute um, anstatt zu riskieren, dass wir ihnen eine Falle stellen. Sie wissen, wie die sind.«

»Ja, ich weiß.« Geary schüttelte den Kopf. »Aber ich musste es versuchen.«

Desjani zuckte mit den Schultern. »Die Syndik-Verteidigung war gezwungen, sich in erster Linie auf die Abwehr der Handelsschiffe zu konzentrieren. Daher können wir davon ausgehen, dass etwa die Hälfte von ihnen unversehrt landen wird.«

»Danke. Sobald sie gelandet sind, wird die Bevölkerung herausfinden, dass wir die Wahrheit gesagt haben.«

»Vermutlich werden sie sich schuldig fühlen, weil sie die Syndiks in den übrigen Kapseln getötet haben«, erklärte Desjani, klang aber nicht allzu überzeugt von ihren Worten.

»Vermutlich ja.« Geary beugte sich vor und betrachtete die Bilder, die auf dem Display vor seinem Platz angezeigt wurden. »Nicht mehr lange bis zur Kollision.«

»Richtig.« Nun hörte Desjani sich erfreut an. »Orbitaleinrichtun-gen befinden sich immer auf dem Präsentierteller.«

Auch wenn es ihn missmutig stimmte, weil einige der Rettungskapseln zerstört und ihre Besatzungen getötet worden waren, entlockte ihre Feststellung Geary beinahe ein Lächeln. Das Militär erbrachte ein ums andere Mal den Beweis, dass stationäre Objekte im Orbit gegen mobile Angreifer keine Chance hatten, und doch ließen Zivilregierungen nach wie vor orbitale Festungen bauen. »Das gibt der jeweiligen Planetenbevölkerung ein Gefühl von Sicherheit. Wenigstens hat man uns das erzählt, als ich mich das letzte Mal im Allianz-Gebiet aufhielt. Ich weiß nicht, ob das Argument heute immer noch das Gleiche ist.«

»Das ist es. Die Regierungen haben nach wie vor nichts dazuge-lernt. Vielleicht sollten wir ihnen von dem Vorgang hier ein Video schicken«, schlug Desjani ironisch vor.

Geary konzentrierte sich wieder auf das Display, wo eine stark vergrößerte Ansicht des Gebiets nahe der bewohnten Welt mit Sym-bolen übersät war, die die verschiedenen Objekte identifizierten. Allen Bemühungen der Syndiks zum Trotz befanden sich noch immer etliche Handelsschiffe auf Kollisionskurs zu den beiden Orbitalein-richtungen. Er war in gewisser Weise besorgt, der Planet könnte un-gewollt getroffen werden, aber die Schiffe waren von dort zur Allianz-Flotte geschickt worden, und nun kehrten sie dorthin zurück.

Aus diesem Winkel kommend teilten sich die Schiffe tatsächlich auf, um Ziele auf jeder Seite des Planeten zu treffen. Keines von ihnen flog jedoch in einem spitzen Winkel auf die Welt zu, sodass sie von der Atmosphäre abprallen sollten.

Er sah auf die Uhrzeit und die Entfernung und musste sich vor Augen halten, dass diese Ereignisse sich bereits vor rund eineinhalb Stunden abgespielt hatten. Aber die Bilder wirkten so direkt und unmittelbar, da vergaß man leicht, wie lange das Licht gebraucht hatte, um die Allianz-Flotte zu erreichen.

»Zehn Minuten bis zur Sichtung des ersten Einschlags«, meldete der Waffen-Wachhabende.

Kleine Lichtblitze zuckten nahe den hellsten Punkten auf, die die Handelsschiffe verkörperten. Da dies das Einzige war, was Geary sehen konnte, wählte er eine der beiden Orbitalstationen aus und vergrößerte den Ausschnitt immer weiter, bis aus einem der Licht-punkte ein richtiges Abbild des Schiffs wurde. Einen Augenblick später wurde das Schiff größer und größer, und Geary überprüfte seine Kontrollen, ob er das Bild nicht noch immer heranzoomte.

Das war aber nicht der Fall. »Das Handelsschiff, das die Orbitaleinrichtung Alpha zum Ziel hatte, wurde zerstört«, verkündete der Waffen-Wachhabende. Das Schiff wurde ständig größer, weil die Hülle zerrissen worden war und sich alles, was eben noch Bestandteil des Schiffs oder Frachtgut gewesen war, nun in alle Richtungen auszubreiten begann. Sein Schwung trug das Wrack jedoch weiter auf das Ziel zu, obwohl der Antrieb längst ausgefallen war.

Etwas in der Art von Höllenspeeren wurde von der Syndik-Basis abgefeuert und traf das Wrack, ohne es jedoch weit genug ablenken zu können. Noch während das Feuer der Syndiks auf die Überreste des ersten Schiffs zielte, erreichte das zweite mit noch höherer Geschwindigkeit die Trümmer. Geary spürte, wie er die Kiefer zusam-menpresste, als er sah, wie der Beschuss auf das noch unversehrte Schiff gerichtet wurde, auch wenn ihm der Sinn dieser Aktion nicht deutlich war. Die Anlage war ganz offensichtlich dem Untergang geweiht. Er konnte nur hoffen, dass es sich um automatische Verteidigungsanlagen handelte und kein Personal zurückgelassen worden war, um bei dem sinnlosen Versuch, die Station zu retten, das Leben zu verlieren.

Minuten später rammte das zweite Schiff einen Teil der Syndik-Station und hinterließ eine Spur der Verwüstung. Während Trümmer in alle Richtungen geschleudert wurden, prallten die Überreste des schwer demolierten Schiffs von der Orbitalstation ab und flogen in eine andere Richtung weiter.

Gleich dahinter befand sich die Trümmerwolke des ersten Handelsschiffs, die als Nächstes auf die Orbitaleinrichtung niederpras-selte. Gegen seinen Willen von dem Schauspiel fasziniert, beobachtete Geary, wie die Basis sich unter dem Aufprall von Hunderten Tonnen extrem schneller Wrackteile zu verformen begann und allmählich zerbrach. Es war ein sonderbarer Anblick, wie die Station nach und nach in Stücke gerissen wurde. Das Bild veränderte sich, als die Sensoren der Dauntless die Bewegung der Station nachzuvollziehen begannen. Unter der Wucht der Treffer wurde die Basis aus ihrem Orbit geschoben und entfernte sich allmählich weiter von dem Planeten, den sie wer weiß wie lange beschützt und zugleich bedroht hatte. Das Bild verlor an Klarheit, als sich die Trümmer der Kollisionen in alle Richtungen verteilten und den Blick der Allianz-Flotte auf die Verwüstungen behinderte.

Geary fuhr die Vergrößerung so weit zurück, dass er ein größeres Gebiet überblicken konnte. Dabei sah er mit an, wie die verbliebenen Handelsschiffe jene Punkte passierten, an denen sich zuvor noch ihre Ziele befunden hatten. Wie erwartet verlief der Kurs, auf dem die Schiffe auf den Planeten zuflogen, in einem zu spitzen Winkel, sodass sie keine Bedrohung darstellten. Eines der Schiffe tauchte in die oberste Atmosphäre ein und prallte ab, wobei die auf das Handelsschiff einwirkenden Kräfte so enorm groß waren, dass seine Hülle aufriss und das Wrack sowie die herausgeschleuderte Fracht ins All getragen wurden. Drei weitere Schiffe bohrten sich mit hoher Geschwindigkeit in die oberen Schichten der Atmosphäre und ver-ursachten weißglühende Löcher im Himmel, als eine Explosion sie in Plasma verwandelte. Die schlackeartigen Überreste der Schiffe und ihrer Fracht wurden zurück ins All geschleudert, während die freigesetzte Hitze sie rot erglühen ließ.

»Das muss von der Planetenoberfläche aus ein toller Anblick gewesen sein«, meinte Geary.

»Von der anderen Seite hat das noch viel faszinierender ausgesehen, Captain Geary«, ließ ihn Desjani wissen. »Die Seite des Planeten ist nämlich in Dunkelheit getaucht. Möchten Sie die Aufnahme sehen?«

»Ja, gern.« Die Unterschiede lagen darin, dass die ersten drei überlebenden Handelsschiffe ihr Ziel in verschiedenen Abständen ver-fehlten, aber das Ergebnis war das Gleiche, während das vierte Schiff einen direkten Treffer landete, einen tiefen Krater in die Syndik-Einrichtung riss und durch die Wucht des Aufpralls zweifellos sämtliche Ausrüstung zerstörte. Auf dieser Seite drangen nur zwei Schiffe in die Atmosphäre ein, von der sie dann abprallten, dennoch musste Geary Desjani zustimmen. Vor dem Hintergrund des dunklen Himmels waren die feurigen Spuren der toten Schiffe so grell, dass die optischen Systeme der Dauntless ihre Empfindlichkeit anpassen mussten, damit das Bild nicht einfach komplett weiß wurde.


Möchte wissen, was unsere Verfolger von dem kleinen Schauspiel halten.

Geary überprüfte deren Position. Sie werden es erst in zwei Stunden sehen, also dauert es noch mal mindestens acht Stunden, bis wir ihre Reaktion erleben werden. Allerdings werden sie sowieso nicht viel mehr unternehmen können, als uns Beleidigungen an den Kopf zu werfen.

»Warum hat man uns bloß nicht noch mal zur Kapitulation aufgefordert?«, wunderte sich Desjani, als hätte sie Gearys letzten Gedanken lesen können. »Die Syndik-Flotte hatte genug Zeit, uns noch einmal zur Aufgabe aufzufordern.«

»Gute Frage. Es würde schließlich nicht schaden, die Forderung zu wiederholen. Aber vielleicht wollen sie uns keine Gelegenheit mehr geben zu kapitulieren.«

Desjani lächelte schief. »Bei allem Respekt, Sir, glaube ich, die Syndiks haben niemals ernsthaft die Absicht verfolgt, uns tatsächlich die Möglichkeit einer Kapitulation zuzugestehen. Ganz gleich, welche Bedingungen sie genannt und was wir davon akzeptiert hätten, es wäre so oder so bedeutungslos gewesen.«

»Nach dem zu urteilen, wie sie mit Admiral Bloch und seinen Be-gleitern im Heimatsystem der Syndiks umgegangen sind, muss ich Ihnen in dem Punkt zustimmen.«

»Ich dachte auch an das, was sich in diesem System abgespielt hat.«

»Ein weiteres gutes Beispiel, Captain. Sie haben völlig recht.« Geary kratzte sich hinter dem Ohr. »Aber wenn sie niemals vorhatten, sich an irgendwelche Kapitulationsbedingungen zu halten, was hätten sie dann schon zu verlieren, wenn sie Angebote machen oder Forderungen stellen?«

Die Antwort auf diese Frage bekam er von Co-Präsidentin Rione.

»Sie wollen keine Schwäche erkennen lassen, indem sie Forderungen stellen, die sie nicht durchsetzen können.«

Geary schaute über die Schulter zu Rione, die sich auf den Beobachterplatz gesetzt hatte. »Es tut mir leid, Madam Co-Präsidentin, aber ich wusste nicht, dass Sie auf die Brücke gekommen waren.«

»Ich kam her, als die Handelsschiffe den bewohnten Planeten erreichten, Captain Geary.« Ein düsterer Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Wie ich hörte, wurde gegen die von mir ausgehandelte Vereinbarung verstoßen.«

»Das könnte man so sagen«, erwiderte Desjani tonlos.

»Aber es ist nicht Ihre Schuld«, ergänzte Geary und warf Desjani einen Seitenblick zu.

»Dennoch möchte ich mich entschuldigen.« Rione deutete mit einem Nicken auf die Displays vor den Plätzen von Geary und Desjani. »Wie ich bereits sagte, können die Befehlshaber der Syndikatwelten nicht weiter unsere Kapitulation verlangen. Es ist eine politische Frage und eine Frage des Images. Diese Flotte ist einer Falle entkommen, die ihr im Heimatsystem des Syndikats gestellt wurde, sie durchquert das Corvus-System, ohne sich von ihrem Weg abbringen zu lassen, und räumt alle Hindernisse aus dem Weg. Es wächst der Eindruck, dass die Befehlshaber des Syndikats uns nicht aufhalten können. Unter diesen Umständen müssen sie uns entweder vernichten oder uns zur Kapitulation zwingen, weil sie nur so ihre Macht unter Beweis stellen können.«

Geary rieb sich über die Wangen und dachte über Riones Worte nach. »Das klingt sehr plausibel.« Er sah zu Desjani, die widerstrebend nickte. »Es könnte noch einen anderen Grund geben. Ich möchte wetten, der Befehlshaber der Verfolgerflotte weiß, dass bei Yuon ein großes Empfangskomitee auf uns wartet. Er geht davon aus, dass er uns in den Rücken fallen und uns erledigen kann, wenn wir Yuon erreichen und versuchen, uns den Weg freizukämpfen. Er will uns also keine Möglichkeit bieten, dass wir uns ergeben, weil er sich bereits als der große Held von Yuon sieht.«

»Das ist ebenfalls durchaus denkbar«, stimmte Rione ihm zu.

Wieder betrachtete er das Display und veränderte die Darstellung so, dass fast das gesamte Sternensystem angezeigt wurde. Die Allianz-Flotte und die Verfolger waren auf winzige Punkte reduziert worden, die von einem Sprungpunkt zum nächsten krochen. Die Schiffe der Allianz hatten das System inzwischen fast durchquert und waren noch einen Tag von ihrem Sprung in die erhoffte Sicherheit des Kaliban-Systems entfernt. Da fällt mir ein, ich habe noch was zu erledigen. »Ich bin in meiner Kabine.«


Geary eilte an Rione vorbei, die das Misstrauen in ihrem Blick nur mit Mühe überspielen konnte. Nachdem er in seiner Kabine war, rief er die Liste mit den Namen auf, die ihm Captain Duellos gegeben hatte, und suchte nach einem neuen Commander für die Arrogant. Er hatte geschworen, dass Captain Vebos nicht länger dieses Schiff befehligen würde, wenn sie Corvus verließen, und das wollte er auch einhalten.

In der gesamten Flotte gab es mehr als genug Kandidaten für den Posten, aber Duellos hatte sich sogar die Mühe gemacht, einzelne Namen hervorzuheben. Geary ging sie durch, verglich sie mit ihrer Dienstakte und seiner Erinnerung an sie – sofern er sich überhaupt an sie erinnern konnte –, und dabei erkannte er, dass es sich um Frauen und Männer handelte, die ihre Arbeit gut machten, die jedoch nicht zu den Verehrern von Black Jack Geary gehörten.

Einer fiel ihm besonders ins Auge: Commander Hatherian, gegenwärtig Waffenoffizier der Orion. Einer von Numos’ Offizieren, was ihn in Gearys Augen sofort verdächtig gemacht hätte, denn aus seiner Erfahrung wusste er, dass sich Männer wie Numos gern mit solche Untergebenen umgaben, die zumindest bereit waren so zu tun, als sei ihr Boss der strahlendste Stern am Firmament. Aber Duellos war der Ansicht, Hatherian sei es wert, in Erwägung gezogen zu werden. Hatherians letzter Tauglichkeitsbericht von Numos war gut, jedoch nicht überragend ausgefallen. Er war offensichtlich keiner von Numos’ Lieblingen.

Hmmm, Hatherian ist ein Commander, Vebos ebenfalls. Ich hatte überlegt, was ich mit Vebos machen sollte.

Geary verfasste mit großer Sorgfalt einige Nachrichten, machte sie versandfertig und kehrte auf die Brücke zurück. Rione saß noch auf ihrem Platz, aber sie und Desjani schienen sich gegenseitig zu ignorieren. »Ich schicke Befehle an die Arrogant und die Orion«, teilte er Desjani mit.

»Ja, Sir.« Es war nicht zu übersehen, dass sie sich fragte, warum er sie das wissen ließ, dennoch las sie die Mitteilungen vor ihrem Versand und bemühte sich, eine neutrale Miene zu wahren. »Rechnen Sie mit Schwierigkeiten bei der Ausführung dieser Befehle?«


»Nicht vonseiten der Orion.« Wenn er Numos richtig einschätzte, dann hielt sich der Mann für eine Führungspersönlichkeit, die auf ihre Untergebenen inspirierend wirkte. Selbst wenn Captain Numos keine allzu hohe Meinung von Commander Hatherian hatte, würde er wohl davon ausgehen, dass Hatherians Loyalität in erster Linie Numos galt, nicht Geary. Da Geary aber unter Leuten von Numos’Schlag gedient hatte, wusste er, das war oftmals nicht der Fall. Vielmehr wurde es mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen, einem solchen Vorgesetzten zu entrinnen, und die Loyalität ihm gegenüber hielt sich in sehr engen Grenzen, sofern sie überhaupt existierte.

Geary setzte sich auf seinen Platz und wartete.

Keine Stunde später verließ ein Shuttle die Orion und flog in Richtung Arrogant. Desjani nahm einige Berechnungen vor. »Das Shuttle wird ungefähr zwei Stunden bis zur Arrogant benötigen.«

»Ich bin bald zurück«, erklärte Geary, verließ abermals die Brücke und zwang sich, erneut die Messe aufzusuchen, um scheinbar eine weitere Mahlzeit zu genießen und so zu tun, als sei die Rückkehr ins Allianz-Territorium eine sichere Sache. Anschließend versuchte er vergeblich, sich eine Weile auszuruhen, ehe er auf die Brücke zu-rückkehrte.

»Das Shuttle der Orion ist noch immer eine halbe Stunde von der Arrogant entfernt.«

»Danke, Captain Desjani. Hat die Arrogant bereits eine Nachricht an das Shuttle geschickt?«

»Nein, Sir. Soweit wir das erkennen können, hat die Arrogant von dem Shuttle noch gar keine Notiz genommen.«

Geary trommelte mit den Fingern auf die Sessellehne und überlegte, wie er vorgehen konnte, wenn sich Vebos weiter wie ein Idiot aufführen sollte. Es gab verschiedene Möglichkeiten, aber die Situation sollte nicht mehr als unbedingt nötig eskalieren. Schließlich wusste er, wie er vorgehen würde, und tippte eine Kommunikati-onsadresse ein, die ihm allmählich bestens vertraut war. »Colonel Carabali, ich habe ein Shuttle von der Orion zur Arrogant geschickt.«

»Ja, Sir.« Sie musterte ihn, sichtlich neugierig, warum sie das interessieren sollte.

»An Bord des Shuttles befindet sich Commander Hatherian, der Commander Vebos als befehlshabenden Offizier der Arrogant ablösen soll. Commander Vebos hat den Befehl, sich als der neue Waffenoffizier auf der Orion zu melden.«

»Ja, Sir.«

»Sind Sie mit der Flottentradition der Fallreepsgäste vertraut, Colonel Carabali?«

»Jawohl, Sir.«

»Mir kam der Gedanke, dass es wohl eine nette Geste wäre, wenn Ihre Abordnung an Marines an Bord der Arrogant den scheidenden Offizier auf diese Weise verabschiedet.«

Carabali hatte im Verlauf ihrer Karriere sicher schon die sonder-barsten Wünsche von vorgesetzten Offizieren zu hören bekommen, sodass sie sich davon abhalten konnte, eine verdutzte Miene zu machen. »Sir?«

»Ja.« Er lächelte sie an. »So wie Fallreepsgäste. Ich halte es für eine gute Sache, wenn sich Ihre Marines an Bord der Arrogant bei Commander Vebos melden und ihn davon in Kenntnis setzen, dass sie ihn zum Shuttle eskortieren werden.«

Colonel Carabali nickte bedächtig. »Alle meine Marines an Bord der Arrogant? Sie wollen, dass meine Leute zu Commander Vebos gehen und ihm erzählen, sie seien so etwas wie… wie eine Ehrengarde?«

»Ja, ganz genau. Eine Ehrengarde. Die ihn vom Schiff eskortieren soll.«

»Und wenn Commander Vebos diese Ehre nicht wahrnehmen möchte? Was sollen meine Marines dann machen?«

»Sollte es dazu kommen«, erklärte Geary, »dann sollen sie ihre Posten rings um Commander Vebos nicht verlassen und mit Ihnen Kontakt aufnehmen, damit Sie wiederum mich informieren können.

Wie Commander Vebos davon überzeugt werden kann, diese Ehre anzunehmen, wäre dann zu überlegen, wenn wir die genauen Um-stände der Situation kennen.«

»Jawohl, Sir. Ich werde die notwendigen Befehle erteilen, Sir. Ich nehme nicht an, dass Sie den Einsatz von Waffen autorisieren werden, oder?«

Geary musste sich ein Lächeln verkneifen. Colonel Carabali hatte nicht vergessen, dass Vebos derjenige war, der die Bombardierung ihrer Truppen befohlen hatte. »Keine Waffen, Colonel. Wenn es sein muss, werden wir ihn von der Arrogant tragen. Aber ich glaube, selbst ein Mann wie Commander Vebos wird einsehen, dass ihm nicht viele Alternativen bleiben, wenn er von Marines umzingelt ist.

Außerdem soll er auf die Orion wechseln.«

Carabalis Miene hellte sich auf, als ihr die Zusammenhänge klar wurden. »Ich verstehe. Ja, das sollte hilfreich sein. Ich halte Sie auf dem Laufenden, Captain Geary.« Sie salutierte, dann verschwand ihr Bild vom Schirm.

Geary lehnte sich zurück und bemerkte, dass Desjani ihn beobachtete und dabei versuchte, ernst zu bleiben. »Eine Ehrengarde?«, wunderte sie sich.

»Ja«, erwiderte Geary so würdevoll, wie er sich nur geben konnte.

»Warum die Orion, wenn ich fragen darf?«

Er sah sich um, weil er zunächst sicherstellen wollte, dass niemand sie belauschen konnte, dann erwiderte er mit gesenkter Stimme:

»Auf die Weise sollte es weniger kritische Stellen geben, die ich im Auge behalten muss. Außerdem bekommt Numos so die Möglichkeit, mit Vebos zusammenzuarbeiten. Und umgekehrt natürlich auch.«

»Verstehe. Die beiden haben sich gegenseitig verdient. Das Shuttle von der Orion ist im Anflug. Die Arrogant hat noch immer nicht reagiert.«

Die Arrogant, die kleiner war als die Orion, verfügte nicht über einen Shuttlehangar. Stattdessen musste das kleine Fahrzeug beidre-hen und sich der Hauptluftschleuse der Arrogant nähern, einen Ver-bindungsschlauch ausfahren und außen an dem Schiff festmachen.

»Laut unseren Anzeigen wurde die Luftschleuse der Arrogant bislang noch nicht geöffnet.«

Geary sah auf die Uhr. »Ich habe noch nichts von Colonel Carabali gehört. Warten wir noch ein paar Minuten.«


Fünf Minuten später meldete sich Carabali, ihre Miene zeigte keine Regung. »Commander Vebos und seine Ehrengarde sind unterwegs zur Luftschleuse der Arrogant

Geary nickte ernst. »Irgendwelche Probleme?«

»Nichts, was ein Dutzend Marines in Galauniform nicht in den Griff bekommen könnte. Ich muss jedoch zugeben, dass der entscheidende Faktor wohl das Desinteresse der Crew war, auf Commander Vebos’ Befehle in dieser Angelegenheit zu reagieren.«

»Selbstverständlich. Sie wissen, dass Commander Hatherian ihr neuer befehlshabender Offizier ist. Commander Vebos hat damit keine Befehlsgewalt mehr über sie.«

»Genau, Sir«, stimmte Carabali ihm zu. »Es scheint der Crew auch nichts auszumachen, auf Commander Vebos verzichten zu müssen.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mich das allzu sehr schockiert.«

Er schaute zu Desjani, als die ihn unterbrach. »Die Luftschleuse der Arrogant wurde geöffnet«, meldete sie ihm. »Commander Hatherian verlässt das Shuttle. Commander Vebos wird an Bord gebracht… verzeihen Sie… er wird von seiner Ehrengarde an Bord eskortiert.« Einige Augenblicke später ergänzte sie: »Die Ehrengarde verlässt das Shuttle. Die Luftschleuse der Arrogant wird geschlossen.«

Geary nickte Carabali zu. »Vielen Dank, dass Sie Ihre Marines zur Verfügung gestellt haben, Colonel.«

»Es war uns ein Vergnügen, Sir«, gab sie zurück und salutierte.

Das Shuttle legte von der Arrogant ab und machte sich auf den Rückweg zur Orion. Geary verspürte für ein paar Sekunden Mitleid mit der Shuttlebesatzung, die mit einem zweifellos sehr unglücklichen Commander Vebos auf engstem Raum auskommen musste, bevor sie ihn am Ziel abladen konnte. Er verkleinerte die Darstellung auf seinem Display, um einen Blick auf die Verfolger zu werfen, die sich sehr langsam der Allianz-Flotte näherten, dann sah er zu der Stelle, an der der Sprungpunkt auf sie wartete. Wenn doch nur alles so schnell und einfach zu erledigen wäre wie diese Angelegenheit mit Vebos.

In sieben Stunden sollte die Allianz-Flotte den Sprungpunkt erreichen und sich vom Corvus-System verabschieden – vorausgesetzt, es ging bis dahin nicht noch irgendwas schief. Und vorausgesetzt, die Antriebseinheit der Titan vollzog keine Schubumkehr, um sich dann von dem Schiff zu verabschieden und auf Nimmerwiederse-hen in einem winzigen schwarzen Loch zu verschwinden. Gleich zweimal spielte Geary dieses Szenario in Gedanken durch, wobei ihm klar wurde, dass er fast im Begriff war, es für bare Münze zu nehmen. Ein sicheres Zeichen, dass er übermüdet war. »Ich werde versuchen, ein paar Stunden zu schlafen.«

Mit diesen Worten stand er auf, um die Brücke zu verlassen.

Etwas überrascht stellte er fest, dass Co-Präsidentin Rione immer noch auf dem Beobachterplatz saß. Als er an ihr vorbeiging, zog sie die Augenbrauen hoch. »Interessante Darbietung, Captain Geary.«

»Meinen Sie die Sache mit Vebos?«

»Ja. Ich nehme an, das sollte die anderen ermutigen.«

Er stutzte und versuchte sich zu erinnern, wo er diesen Satz schon einmal gehört hatte. »Eigentlich nicht. Vebos hat lediglich bewiesen, dass er nicht intelligent genug ist, um ihm das Kommando über ein Schiff anzuvertrauen. Es geht hier nicht um mich. Es geht um das Wohl der Crew der Arrogant und das Wohl von allen, die sich in irgendeiner Weise auf die Arrogant verlassen müssen.«

Der Blick, mit dem Rione auf seine Ausführungen reagierte, machte keinen Hehl aus ihrer Skepsis. Geary lächelte daraufhin so kurz und knapp, wie es nur ging, und verließ die Brücke.

Einige Stunden später war er zurück auf der Brücke, da er veranlasst hatte, dass man ihn weckte, bevor die Allianz-Flotte zum Sprung aus dem Corvus-System ansetzte. Die Syndik-Flotte war nach wie vor weit abgeschlagen.

Eine Weile hatte er die fremdartigen Lichter im Sprungraum betrachtet, während er in seiner Kabine in einem Sessel zusammenge-sunken saß. Er wusste, vor ihm lagen einige Wochen im Sprungraum, bevor er und der Rest der Allianz-Flotte herausfand, ob sie bei Kaliban eine Überraschung erwartete – und wenn ja, welche. Ich muss noch so viel erledigen, und durch den Sprung bleibt mir der größte Teil verwehrt, da ich bis zur Rückkehr in den Normalraum nur über rudi-mentäre Kommunikationsmöglichkeiten verfüge. Ich sollte mich einfach ausruhen, damit ich endlich wieder zu Kräften komme, was mir nicht gelungen ist, seit die mich aus der Rettungskapsel geholt haben.

Die Flottenärzte nahmen Gearys körperliche Verfassung mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis und verordneten ihm bestimmte Medikamente, außerdem empfahlen sie ihm Sport und viel Ruhe. Versuchen Sie Stress zu vermeiden, lautete ihr Ratschlag, aber Geary konnte diese Leute nur anstarren, während er sich fragte, ob sie irgendeine Vorstellung davon hatten, wie lächerlich diese Empfehlung in seinem Fall war.

Was das Ganze umso schlimmer machte, war die Tatsache, dass er sich nicht sicher sein konnte, wie viel Schwäche er irgendwem gegenüber eingestehen durfte. Desjani betete den Raum an, den er durchreiste. Aber Geary wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn ihr klar wurde, dass er nicht der strahlende Held war, den die lebenden Sterne geschickt hatten. Anders wäre es gewesen, wenn er mit Desjani oder einem anderen Offizier schon seit langer Zeit eng zusammengearbeitet hätte. Doch er war buchstäblich aus der Vergangenheit in diese Zeit geschleudert worden und kannte niemanden hier gut genug.

Rione betete ihn nicht an, und sie hätte sich wohl nicht über die Sorgen gewundert, die ihn plagten. Möglicherweise könnte sie sogar mit einem guten Rat aufwarten, denn bislang war Geary von ihrer Denkweise durchweg beeindruckt gewesen. Doch er wusste noch immer nicht, inwieweit er der Co-Präsidentin der Callas-Republik vertrauen konnte. Das Letzte, was er brauchte, war eine in seine Ge-heimnisse eingeweihte Politikerin, die dieses Wissen an seine Gegner weitergeben konnte, wenn ihr das einen politischen Vorteil einbrachte.

Niemand, mit dem er reden konnte. Niemand, mit dem er die Last teilen konnte, die auf seinen Schultern ruhte.

Nein, das stimmte so nicht. Es gab jemanden, mit dem er längst hätte reden sollen. Da rede ich davon, unsere Vorfahren zu ehren, und dabei bin ich derjenige, der ihnen seit dem Erwachen aus dem künstlichen Tiefschlaf noch nicht einmal formal seinen Respekt erwiesen hat.

Er rief die Wegbeschreibung zum entsprechenden Bereich der Dauntless auf, war aber davon überzeugt, dass der allen Veränderungen zum Trotz noch immer dort war, wo er sich auch früher befunden hatte. Und da war er tatsächlich. Er sah auf die Uhr, weil er Gewissheit haben wollte, dass es in dem Bereich im Augenblick ruhig zuging, dann erhob er sich aus seinem Sessel und zog seine Uniform zurecht, atmete tief durch und machte sich auf den Weg zur Gedenkstätte für die Vorfahren.

Zwei Decks tiefer, nahe der Mittschiffslinie der Dauntless und damit in einem der am besten geschützten Bereich des Schiffs lag der Ort, den Geary zum Ziel hatte. Er blieb kurz vor der Luke zur Gedenkstätte stehen und war froh darüber, dass niemand sonst sich hier aufhielt, der ihn beim Eintreten beobachten konnte. Schließlich durchschritt er die Luke und fand sich vor einer angenehm vertrauten Reihe von kleinen Räumen wieder. Er wählte einen freien Raum aus, schloss hinter sich die schalldichte Tür und nahm auf der tradi-tionellen Holzbank vor dem kleinen Regal Platz, auf dem eine einzelne Kerze stand. Mit dem bereitgelegten Feuerzeug entzündete er die Kerze und saß eine Weile da, während er schweigend die Flamme betrachtete.

Schließlich musste er seufzen. »Geehrte Vorfahren. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigte sich Geary an die Geister gerichtet, die angeblich vom Licht und der Wärme der Flamme angezogen wurden. »Ich hätte meine Vorfahren bereits viel früher ehren sollen, aber ihr wisst sicher, ich hatte eine Menge Arbeit. Außerdem muss ich mich mit so vielen Dingen beschäftigen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich mich ihnen würde stellen müssen.

Das ist zwar eigentlich kein Argument, doch ich hoffe, ihr werdet meine Entschuldigung akzeptieren.«

Einen Moment lang schwieg er. »Vielleicht habt ihr euch gefragt, wo ich die ganze Zeit über war. Vielleicht wisst ihr das ja auch. Vielleicht hat Michael Geary euch inzwischen alles gesagt, falls er auf seinem Schiff gestorben ist, was ich sehr befürchte. Ich möchte euch sagen, ihr wärt auf ihn stolz gewesen. Lasst ihn bitte wissen, dass ich wünschte, ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen können.

Viel Zeit ist vergangen, seit ich das letzte Mal mit euch sprach.

Vieles hat sich seitdem verändert, und wie es scheint, hat sich vieles, wenn nicht sogar alles zum Schlechteren verändert. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Ich kann nicht so tun, als würde ich nicht jede Unterstützung und Hilfe gebrauchen können, die ich bekomme.

Ganz gleich, was ihr für mich tun könnt, ich bin für alles dankbar.

Und ich danke euch für alles, was ihr getan habt, damit wir es so weit schaffen konnten.«

Wieder machte er eine Pause und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum es ihm immer wieder Trost spendete, wenn er mit den Vorfahren reden konnte. Er hätte sich nicht als einen gläubigen Menschen bezeichnet, und doch kam es ihm so vor, als würde ihm in Zeiten wie diesen stets jemand zuhören. Und wenn ein Mann nicht einmal seinen Vorfahren etwas anvertrauen konnte, wem sollte er dann etwas anvertrauen? »Das ist für mich sehr schwierig. Ich gebe mein Bestes, aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch gut genug ist.

Das Wohl vieler Leute hängt von mir ab. Einige von ihnen werden sterben. Ich kann nicht so tun, als würde das nicht geschehen. Selbst wenn es mir irgendwie gelingen sollte, alles richtig zu machen, werden wir einige Schiffe verlieren, bevor wir wieder zu Hause sind.

Falls mir Fehler unterlaufen…«

Er hielt inne und musste an die Repulse denken. »Falls mir noch mehr Fehler unterlaufen, könnten viele Menschen ums Leben kommen. Bis ins Gebiet der Allianz ist es noch ein weiter Weg. Ich hoffe, ich kann die uns verfolgende Flotte der Syndikatwelten ausreichend anderweitig beschäftigen, damit sie keine Gelegenheit bekommt, aus unserer Niederlage in ihrem Heimatsystem Kapital zu schlagen.

Aber erst wenn wir der Heimat nahe genug gekommen sind und in den Besitz möglichst aktueller Informationen gelangen, werden wir wissen, ob die Syndiks unsere Niederlage und die Tatsache ausgenutzt haben, dass wir ihnen so weit von zu Hause entfernt in die Falle gegangen sind.«

Erneut schwieg er. »Es ist ja nicht so, dass ich mir Sorgen mache, was aus mir werden wird. Mir kommt es ohnehin so vor, als hätte ich bereits vor einem Jahrhundert sterben sollen. Aber von dem Ge-fühl kann ich mich nicht vereinnahmen lassen, weil mir wichtig ist, was mit diesen Menschen geschieht, die so großes Vertrauen in mich setzen. Helft mir bitte, die richtigen Entscheidungen zu treffen und das Richtige zu tun, damit ich so wenige Schiffe und Leute wie möglich verliere. Ich schwöre, ich werde mein Bestes versuchen, um euch und den Lebenden gerecht zu werden.«

Geary saß noch eine Weile da, beobachtete die brennende Kerze, bis er schließlich die Hand ausstreckte und die Flamme mit den Fingern ausdrückte. Dann stand er auf und verließ den Raum.

Als er aus dem Bereich trat, wurde er von mehreren Matrosen bemerkt. Er nickte ihnen zu, während sie ihn mit ehrfürchtigen Mienen anschauten. Verdammt, ich sollte eigentlich einer von den toten Vorfahren sein, mit denen die Leute reden, anstatt hier auf diesen Decks unterwegs zu sein. Und das wissen die auch.

Doch die Matrosen verhielten sich nicht so, als hätten sie jemanden gesehen, der hier fehl am Platz war. Ein paar von ihnen salutierten auf die steife, ungelenke Art, die man bei jedem beobachten konnte, der diese Geste gerade erst erlernt hatte. Unwillkürlich musste er lächeln, als er den Salut erwiderte. Dann jedoch bemerkte er einen Anflug von Zurückhaltung in den Blicken der beiden anderen Matrosen, und er wurde wieder ernst. »Stimmt irgendetwas nicht?«

Der angesprochene Matrose wurde bleich. »N-nein, Sir.«

Geary musterte den Mann eindringlich. »Ganz sicher? Sie scheint etwas zu bedrücken. Wenn Sie unter vier Augen darüber reden möchten? Ich hätte Zeit für Sie.«

Der Matrose suchte noch nach einer Antwort, da räusperte sich seine Kameradin. »Sir, das geht uns nichts an.«

»Tatsächlich?« Geary sah sich um und bemerkte deutlich das Unbehagen der beiden anderen. »Ich würde trotzdem gern wissen, was Ihnen so zusetzt.«

Die Frau wurde ebenfalls etwas blasser, dann antwortete sie sto-ckend: »Es ist nur, dass wir Sie hier unten zu sehen bekommen. Es gab Gerede.«


»Gerede?« Er versuchte, eine neutrale Miene zu wahren. Es gefiel ihm nicht, seinen Glauben zu einem öffentlichen Spektakel zu machen, doch das hier schien über diesen Punkt hinauszugehen. »Über was?«

Einer der Matrosen, die salutiert hatten, warf den anderen einen verärgerten Blick zu. »Sir, niemand hat Sie hier gesehen, seit… ähm… seit wir Sie gefunden haben. Und seit wir das Heimatsystem der Syndiks verlassen haben… Nun, Sir, einige Leute meinen, es könnte etwas mit dem zu tun haben, was dort passiert ist.«

Geary hoffte, dass er nicht so wütend dreinblickte, wie ihn diese vage Aussage stimmte. »Was genau meinen Sie damit?« Dann wurde es ihm klar. »Sie reden von der Repulse, richtig?« Die Gesichter der Matrosen machten jede in Worte gefasste Antwort überflüssig.

»Sie meinen, weil mein Großneffe vermutlich auf der Repulse gestorben ist.«

Er senkte den Blick, weil er für den Moment niemanden ansehen wollte, und schüttelte den Kopf. »Dachten Sie, ich habe Angst herzukommen und mich ihm zu stellen? Mich dieser Sache zu stellen?«

Geary hob den Kopf und las erneut die Antwort an ihren Gesichtern ab. »Ich habe keine Ahnung, wie viel jeder von Ihnen weiß, jedenfalls meldete sich Captain Michael J. Geary freiwillig, um mit der Repulse zurückzubleiben und die Syndiks aufzuhalten. Hätte er das nicht gemacht, hätte ich es vermutlich befehlen müssen, weil es meine Verantwortung gewesen wäre. Aber ich gab nicht den Befehl, und ich musste ihn nicht geben. Er und seine Crew opferten sich, damit wir alle entkommen konnten.«

Ihre Gesichter verrieten ihm, dass diese Tatsache für sie neu war.

Na, wunderbar. Die haben gedacht, ich hätte meinen Großneffen in den Tod geschickt. Das Üble daran ist nur, dass ich es unter Umständen tatsächlich hätte machen müssen. »Ich habe nichts zu befürchten, wenn ich meinen Vorfahren gegenübertrete. Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch. Es gab nur zu viel zu erledigen, deshalb war ich bislang noch nicht hier unten gewesen.«

»Natürlich, Sir«, erwiderte einer der Matrosen.

»Sie fürchten sich doch vor nichts, richtig, Sir?«, wollte ein anderer wissen.

Einer von denen, die mich anbeten, ging es Geary durch den Kopf.

Wie soll ich darauf antworten? »So wie jeder andere auch bin ich besorgt, ich könnte vielleicht nicht mein Bestes geben. Es hilft mir, immer auf der Hut zu sein.« Er grinste, um ihnen zu zeigen, dass es als Scherz gemeint war, und die Matrosen lachten wie auf ein Stichwort hin. Jetzt musste er sich nur noch so schnell wie möglich aus dieser Unterhaltung verabschieden, ohne seine Flucht zu offensichtlich zu gestalten. »Es tut mir leid, dass ich Sie von Ihren eigenen Ehrerbie-tungen abgehalten habe.«

Die Matrosen setzten zu einem Stimmengewirr an, sie seien diejenigen, denen es leid tue, und dann machten sie ihm auch schon den Weg frei. Im Vorbeigehen bemerkte Geary, dass sich die zwei besorgten Matrosen in seiner Gegenwart prompt viel wohler fühlten.

Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass ihm seinerseits in deren Gesellschaft auch etwas wohler zumute war. Vielleicht hatte er auf seine Art einen Bogen darum gemacht, sich mit dem Verlust der Repulse auseinanderzusetzen, doch indem er anderen gegenüber seine Gefühle aussprach, war es ihm möglich geworden, diesen Verlust wenigstens zum Teil zu akzeptieren.

Er begab sich zu seiner Kabine und fand, dass die Last auf seinen Schultern nicht mehr so schwer wog.

»Captain Geary, darf ich unter vier Augen mit Ihnen reden?« Geary schloss die Simulation, an der er gearbeitet hatte und die die Flotte als Vorbereitung auf ein Gefecht üben sollte, sobald sie Kaliban erreicht hatten. Es handelte sich um ein älteres Programm, mit dessen uraltem Vorgänger er vor langer Zeit vertraut gewesen war. Aber auch diese neuere Version war seit einer Weile nicht mehr aktualisiert worden. Die Simulationsparameter sollten dem gegenwärtigen Zustand seiner Flotte entsprechen und jene Fähigkeiten berücksichtigen, über die die Syndiks inzwischen verfügten. Doch ihm blieb noch genug Zeit, um das zu erledigen, bevor die Flotte in Kaliban ankam. Captain Desjani musste sich dagegen Zeit von ihren vielfältigen Pflichten als befehlshabender Offizier der Dauntless abknap-sen, um jetzt zu ihm zu kommen. »Ja, natürlich.«

Desjani hielt kurz inne, als müsse sie erst ihre Gedanken ordnen.

»Ich weiß, das ist jetzt bereits fast eine Woche her, aber ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, warum Sie entschieden haben, die Besatzungen der Syndik-Handelsschiffe in die Rettungskapseln zu setzen. Ich verstehe Ihre Einstellung, was die Behandlung von Gefangenen angeht, aber diese Individuen trugen keine Uniformen, sondern Zivilkleidung. Das macht sie bestenfalls zu Saboteuren, und die fallen nicht unter den Schutz des Kriegsrechts.« Sie schien fertig zu sein, doch dann schob sie noch rasch einen Satz nach: »Natürlich stelle ich damit nicht Ihre Entscheidung infrage.«

»Captain Desjani, ich zähle sogar darauf, dass Sie meine Entscheidungen infrage stellen, wenn Sie nicht verstehen, warum ich etwas mache. Sie könnten etwas Maßgebliches wissen, das mir nicht bekannt ist.« Er kniff einen Moment lang die Augen zu und rieb seine Stirn, um die Spannung zu lindern, die ihn auf einmal überkommen hatte. »Selbstverständlich haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass wir nicht verpflichtet waren, diese Leute am Leben zu lassen. Wir hätten sie sogar hinrichten können, und niemand hätte uns einen Vorwurf machen dürfen.« Er grinste schief. »Sie haben danach nicht direkt gefragt, dennoch werde ich Ihnen antworten. Ich bin mir sicher, Ihre und meine Vorfahren hätten uns nicht schief angesehen, wenn wir mit diesen Syndiks gröber und endgültiger umgesprungen wären.«

Ihm entging der verwirrte Ausdruck in ihren Augen nicht.

»Warum also, Sir? Diese Leute hatten vor, viele unserer Matrosen zu töten und einige unserer Schiffe zu zerstören oder wenigstens unbrauchbar zu machen, indem sie sich als Zivilisten getarnt an uns heranschlichen. Warum ließen Sie Gnade walten?«

»Eine berechtigte Frage.« Er seufzte und deutete auf die Sternenlandschaft, die immer noch an einem Schott zu sehen war. »Ich könnte erwidern, dass es manchmal gut für die Seele ist, wenn man Gnade walten lässt, auch wenn die nicht erforderlich ist oder nicht erwartet wird. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber meine Seele braucht alle Hilfe, die sie bekommen kann.« Desjani sah ihn einen Moment lang irritiert an, dann jedoch begann sie zu lächeln, als sei sie zu dem Schluss gekommen, er müsse wohl scherzen. »Ich hatte einige sehr praktische Gründe, diese Leute am Leben zu lassen.«

»Praktische Gründe?« Sie sah von Geary zur Sternenlandschaft.

»Ja.« Geary beugte sich vor und zeigte auf die dargestellten Sterne.

»Was hier passiert ist, darüber wird man früher oder später in jedem anderen Syndik-System reden. Oh, natürlich wird es eine offizielle Version geben, in der man behauptet, dass die Allianz-Flotte vorhatte, jede Stadt im Corvus-System in Schutt und Asche zu legen, und dass nur die tapferen Syndiks uns davon abhalten konnten. Irgendein Unsinn in dieser Art wird auf jeden Fall behauptet, ganz egal was wir machen.

Aber nicht mal die Syndiks können verhindern, dass sich inoffizielle Meldungen herumsprechen. Was ist, wenn man auf Syndik-Welten in anderen Systemen Gerüchte zu hören bekommt? Dass wir überhaupt keine Stadt bombardiert haben? Natürlich könnten sie denken, dass wir keine Zeit dafür hatten. Aber sie werden auch erfahren, dass wir gut mit ihren Leuten umgegangen sind, als wir sie zu unseren Gefangenen machten. Obwohl wir die Macht hatten, alles zu tun, was uns in den Sinn kam, behandelten wir jeden Syndik in unserer Gewalt mit Respekt.«

Desjani machte keinen Hehl aus ihren Zweifeln. »Das wird die Syndiks nicht kümmern. Die werden es vermutlich als ein Zeichen von Schwäche auslegen.«

»Werden sie das machen?« Geary zuckte mit den Schultern. »Es wäre möglich. Und genauso kann es sein, dass jede unserer Handlungen als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt wird. Ich erinnere mich, dass man mir sagte, die Misshandlung von Gefangenen erwecke den Eindruck, wir seien nicht stark genug, um uns an die Spiel-regeln zu halten. Wir hätten Angst, einen möglichen Vorteil auszu-nutzen.«

»Tatsächlich?« Desjani sah ihn überrascht an.

»O ja.« Seine Gedanken begannen durch Raum und Zeit zu schweifen, zurück an einen Ort und eine Strafpredigt. »Damals brachte man mir bei, wenn man sich an die Regeln hält, vermittelt das ein Gefühl von Stärke und Zuversicht. Ich nehme an, darüber lässt sich streiten. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation heißt das, dass als Folge davon vielleicht irgendjemand irgendwo einen Gefangenen der Allianz besser behandeln wird. Und was unmittelbar für uns noch viel wichtiger ist: Jemand, mit dem wir uns ein Gefecht liefern, wird daraufhin keine Angst haben, sich zu ergeben, anstatt bis zum Tod zu kämpfen. Man wird hören, dass wir Kämpfer gut behandelt haben, die kapitulierten, dass wir es vermieden haben, Zivilisten Schaden zuzufügen, und dass wir im Corvus-System keine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, obwohl man uns provo-ziert hat. Wir haben uns nur unmittelbar gegen die zur Wehr gesetzt, die uns in einen Hinterhalt locken wollten. Irgendwann und irgendwo wird sich vielleicht jemand, von dem wir etwas benötigen, an diese Dinge erinnern.«

Wieder schaute Desjani ihn zweifelnd an. »Ich kann nachvollziehen, inwieweit uns das weiterhelfen könnte, wenn wir das nächste Mal ein Syndik-System durchfliegen und wiederum Vorräte benötigen. Aber wir haben es auch dann wieder mit den Syndiks zu tun, Captain Geary, und die werden ihre Vorgehensweise nicht verändern, nur weil wir uns anders verhalten.«

»Meinen Sie? Ich vermute, ihre Führer werden sich nicht ändern.

Unter uns gesagt, ich verabscheue die Syndik-Führer, die ich bislang kennengelernt habe.« Desjani grinste ihn an, da Gearys Äußerung sie zweifellos in ihrem Glauben bestärkte. »Aber ich bin mir sicher, niemand, der von dieser Flotte hört oder sie sieht, wird sie für schwach halten. Man wird wissen, dass wir gewisse Dinge nicht getan haben, obwohl wir dazu in der Lage gewesen wären.« Geary betrachtete die Sterne und spürte wieder die Kälte, als er daran dachte, dass die Zeit und die Ereignisse von einem Jahrhundert zwischen ihm und Desjani lagen. »Die Vorfahren mögen mir beistehen, Tanya, aber die Syndik-Bevölkerung setzt sich auch aus Menschen zusammen. Die müssen ebenfalls den Druck spüren, den dieser Krieg auf sie ausübt. Sie werden gleichermaßen genug davon haben, ihre Söh-ne und Töchter, ihre Ehemänner und Ehefrauen in einen anschei-nend unendlichen Krieg zu schicken.« Er sah Desjani an. »Seien wir doch ehrlich. Wir haben nicht viel zu verlieren, wenn wir den durchschnittlichen Syndik wissen lassen, dass wir ihn gut behandeln werden.«

»Und was ist mit den Fanatikern, die für ihre Sache zu sterben bereit sind? Ganz bestimmt werden die einen neuen Versuch unternehmen.«

»Das mag sein«, stimmte Geary ihr zu. »Aber sie sind losgezogen und haben einen glorreichen Tod erwartet. Stattdessen kehrten sie bewusstlos nach Hause zurück, und ihre Schiffe zerstörten ihre eigenen Orbitalbasen. Das hat nichts Glorreiches. Einigen von ihnen hat es sogar den Tod aus den eigenen Reihen eingebracht. Vielleicht bewirkt das, dass die nächste Runde an Selbstmordkandidaten nicht mehr so enthusiastisch ans Werk geht. Wenn jemand zum Sterben bereit ist, dann hilft es ihren Absichten, wenn man sie tötet. Ich werde ihnen den Wunsch erfüllen, wenn es unbedingt sein muss, doch dann geschieht es zu meinen Bedingungen. Ich möchte nicht, dass sich irgendwer von ihrem Tod inspiriert fühlt.«

Desjani lächelte flüchtig. »Sie haben den Plan der Syndiks vereitelt, einen Schlag gegen unsere Flotte zu führen, und Sie haben einigen Fanatikern einen Strich durch die Rechnung gemacht, die bereit waren, für ihre Sache zu sterben. Keiner von ihnen hat sein Ziel erreicht.«

»Richtig.« Abermals schaute Geary die Sterne an und fragte sich, wo sich der Großteil der Syndik-Streitkräfte derzeit befand und wohin er unterwegs war, um die Allianz-Flotte ausfindig zu machen und zu vernichten. »Wenn sie unbedingt von uns getötet werden wollen, dann müssen sie auf die nächste günstige Gelegenheit warten. Und wenn es so weit ist, werden wir ihnen den Wunsch erfüllen. Zu unseren Bedingungen.«

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