Der Stern, der von den Menschen Kaliban genannt wurde, war um etliche Objekte in seinem Orbit reicher geworden. Bei den meisten dieser Objekte handelte es sich um jene Trümmer, die von den letzten Syndik-Kriegsschiffen übrig geblieben waren. Die überlebenden Schiffe, bei denen nicht ihre Crew die Selbstzerstörung veranlasst hatte, waren von den Außenteams der Allianz auf die gleiche Weise vernichtet worden, um zu verhindern, dass der Feind sie barg und wieder einsetzte. Inmitten der Überreste der Schlacht fand sich auch ein ganzer Schwarm Syndik-Rettungskapseln, an Bord die Überlebenden, die noch rechtzeitig ihre Schiffe hatten verlassen können.
Die kleinen unbewaffneten Kapseln, deren Reichweite eben genügte, um einen sicheren Platz im Kaliban-System zu erreichen, stellten für die siegreiche Allianz-Flotte keine Bedrohung dar.
»Diese Besatzungen könnten wieder kämpfen, und das werden sie auch machen«, beharrte Desjani. »Ich will damit nicht sagen, dass wir mit den Kapseln Zielschießen üben sollten, aber es wäre sicher eine gute Idee, diese Leute gefangen zu nehmen.«
Geary ließ sie merken, dass er über ihren Vorschlag nachdachte, erst dann schüttelte er den Kopf. »Wo sollen wir sie unterbringen?
Mit ihnen wäre jede Arrestzelle auf jedem Schiff überfüllt, und dann wären noch immer etliche von ihnen nicht untergebracht. Außerdem müssten wir sie durchfüttern.«
Obwohl sie verstehend nickte, verzog sie den Mund. »Sicherheit und Logistik. Diese beiden Argumente stehen immer so vielen guten Ideen im Weg.«
»Das sehen Sie ganz richtig.« Geary grinste sie an. »Allerdings gibt es auch eine Menge Pläne, bei denen die Realität völlig außer Acht gelassen wird, und das scheint die Leute gar nicht zu stören, die diese Pläne entwickelt haben.«
»Natürlich nicht. Warum sollte man sich einen großartigen Plan von der Realität zunichtemachen lassen?«, gab sie amüsiert zurück.
»Das ist ein wundervoller Sieg, Captain Geary.«
»Vielen Dank. Aber da ist noch etwas, das erledigt werden muss.
Wie finden wir heraus, in welcher dieser Kapseln der ranghöchste Syndik-Offizier steckt?«
Es dauerte eine Weile, da zwischen den verschiedenen Kapseln die Anfrage hin und her geleitet wurde, bis der ranghöchste Offizier gefunden und eine Kommunikationsverbindung hergestellt worden war. Wie das Schicksal es wollte, handelte es sich bei ihm zugleich um den Befehlshaber der gesamten Flotte. Allerdings fragte sich Geary, ob der Offizier noch lange dafür dankbar sein würde, dass er die Schlacht überlebt hatte.
Die sorgfältig geschneiderte Uniform des Syndik-CEO hatte einige hässliche Risse und Brandflecken abbekommen. Sein wie vor Schock bleiches Gesicht zeigte den Ausdruck eines Mannes, der noch nicht begriffen hatte, was eigentlich geschehen war. Geary kannte den Mann nicht, doch der CEO starrte ihn voller Unglauben an. »Dann ist es also wahr«, flüsterte er.
»Was ist wahr?«, fragte Geary, obwohl er in Wahrheit die Antwort längst kannte.
Anstatt darauf zu antworten, schien der Syndik-CEO sich stählen zu wollen. »Meine Streitmacht wird sich nicht e-ergeben«, stammel-te er.
Erstaunt zog Geary die Augenbrauen hoch. »Das ist eigentlich gar kein Thema mehr. Da ist nichts zu ergeben. Ihre Flotte hat aufgehört zu existieren. Alle Ihre Schiffe wurden vernichtet.«
»Wir k-können immer noch kämpfen.«
»Meinen Sie Mann gegen Mann? Nun, Sie sollen wissen, dass wir keine Lust haben, noch länger gegen Sie zu kämpfen«, machte Geary ihm klar. »Ihr vormaliges Kommando besitzt keinerlei militärische Fähigkeiten mehr, und um ehrlich zu sein, wir sind nicht daran interessiert, für eine große Gruppe Gefangene die Verantwortung zu übernehmen. Ich muss Ihnen zwei Dinge sagen: Erstens habe ich immer noch Leute auf einem Asteroiden sitzen, die abgeholt werden müssen. Ich sende Ihnen die Orbitaldaten für den bewussten Asteroiden zu, und falls Sie danach noch Zweifel haben sollten, welcher Asteroid damit gemeint ist, nehmen Sie mit uns Kontakt auf. Versuchen Sie sicherzustellen, dass keine Rettungskapsel Ihrer Flotte dort landet. Ich werde meine Leute abholen, und ich habe keine Lust, dabei Überlebenden aus Ihrer Flotte zu begegnen, weil das nur zu wei-terem Blutvergießen führen könnte.«
Der Syndik-CEO nickte und schwieg immer noch.
»Zweitens haben wir uns alle verlassenen Einrichtungen der Syndikatwelten im Kaliban-System gründlich angesehen, und Sie sollen wissen, dass die Städte an den Standorten, deren Positionen ich Ihnen jetzt sende, noch in gutem Zustand sind. Ihre Leute werden keine Probleme haben, die Lebenserhaltung wieder in Betrieb zu nehmen. Ich bedauere, Ihnen erklären zu müssen, dass wir uns bei den Lebensmittelvorräten bedient haben, aber es sollte noch genug für Ihre Leute übrig sein, bis Einheiten von anderen Syndikatwelten hier eintreffen, um nach dem Verbleib Ihres Kommandos zu suchen.
Um sicherzustellen, dass man von Ihrer Anwesenheit in diesem System erfährt, werden wir bei unserem nächsten Kontakt mit Planeten oder anderen Vertretern der Syndikatwelten darauf hinweisen, dass Sie hier auf Rettung warten.«
Wieder ein Nicken. Der Syndik-CEO wirkte mit jedem Satz verwirrter, als warte er darauf, dass Geary endlich die Bombe platzen ließ.
»Bedauerlicherweise kann meine Flotte nicht länger in diesem System bleiben«, fuhr Geary fort, »daher können wir Ihnen nicht anbieten, Ihre Verletzten medizinisch zu versorgen. Aber die stillgelegten medizinischen Einrichtungen im System, die wir uns angesehen haben, sind zwar von ihrer Kapazität her begrenzt und technisch lange überholt, trotzdem scheinen sie voll einsatzfähig zu sein und über angemessene medizinische Vorräte zu verfügen.«
Endlich war der CEO wieder in der Lage, etwas zu sagen.
»Warum erzählen Sie mir das alles?«
»Ich komme den Pflichten nach, die mir das Kriegsrecht vorschreibt«, machte Geary ihm mit ruhigen, eindringlichen Worten klar. »Außerdem fühle ich mich bei meiner eigenen Ehre und der Ehre meiner Vorfahren dazu verpflichtet. Eine letzte Sache noch.«
Geary beugte sich vor. »Sobald Sie wieder Kontakt mit Ihren Vorgesetzten aufgenommen haben, lassen Sie sie wissen, dass jede Streitmacht der Syndikatwelten, die sich dieser Flotte in den Weg stellt, das gleiche Schicksal erleiden wird wie die Ihre.«
Sekundenlang sah der CEO ihn nur an. »Wer sind Sie?«, fragte er schließlich mit so krächzender Stimme, dass er fast nicht zu verstehen war.
»Sie wissen, wer ich bin. Ich sah, dass Sie mich erkannt haben.«
»Sie sind… er ist tot!«
»Nein, das bin ich nicht.« Geary deutete mit dem Zeigefinger auf das Bild des CEO. »Mein Name ist John Geary. Vor langer Zeit war ich als Black Jack Geary bekannt. Jeder, der diese Flotte aufhalten will, bekommt es mit mir zu tun.«
Geary bemerkte, wie mehrere Syndiks im Hintergrund abrupt Gesten auf ihrer Brust beschrieben. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, dass es sich um ein altes Schutzzeichen gegen die Mächte der Finsternis handelte. Glaubt daran, wenn ihr wollt. Hauptsache, es jagt euch genug Angst ein, um diese Flotte in Ruhe zu lassen.
Dabei sollte es mich viel mehr stören, so etwas zu sehen. Stimmt es, was Co-Präsidentin Rione gesagt hat? Sieht man in mir mehr als nur einen normalen Menschen?
Glaube ich nach einem solchen Sieg vielleicht selbst schon daran? Er nickte dem Syndik-CEO zu. »Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich hoffe, wir werden uns nicht wiedersehen, solange dieser Krieg nicht vorüber ist.« Dann unterbrach er die Verbindung und starrte auf die Stelle, an der sich das Gesicht des CEO befunden hatte.
Vielleicht würde es mir ganz guttun, mir mal die Wirklichkeit vor Augen zuführen. Geary bediente die Kontrollen auf seinem Display, bis er eine Übersicht der Verluste angezeigt bekam, die die Allianz-Flotte erlitten hatte. Er betrachtete den Bericht, dann tippte er erneut etwas ein. »Gehen noch Verlustmeldungen ein?«
Captain Desjani reagierte überrascht auf seine Frage. »Die Berichte werden kontinuierlich aktualisiert, sobald die Schiffe ihre Statusberichte senden.«
»Da kann etwas nicht stimmen.«
Sie rief die Daten ebenfalls auf. »Ich sehe keinen Hinweis darauf, dass der Datenfluss manipuliert wurde. Komm-Wachhabender, überprüfen Sie die Feeds für die Statusmeldungen, damit wir Gewissheit haben, dass alles bei uns ankommt.«
»Ja, Ma’am.« Eine Minute später erstattete der Wachhabende Bericht. »Keine Probleme mit den Statusübertragungen, Captain. Alle Feeds sind aktiv, ausgenommen die, die wegen des verlorenen Schiffs ausgefallen sind.«
Desjani musterte Geary eindringlich. »Es war ein erstaunlich einseitiges Gefecht«, merkte sie an. »Ich habe selbst Schwierigkeiten, das Ergebnis zu glauben, aber das ist eine exakte Zusammenstellung der Verluste und Schäden innerhalb unserer gesamten Flotte.«
»Den lebenden Sternen sei Dank.« Geary ging die Liste erneut durch, die erfreulich kurz war und aufführte, welche Schiffe die Allianz-Flotte verloren hatte. »So soll es auch laufen, jedenfalls in der Theorie. Indem wir unsere zahlenmäßige Überlegenheit genutzt und die Schwächen der feindlichen Formation ausgenutzt haben, und indem wir das Feuer auf die entscheidenden Punkte konzentrierten, konnten wir die Syndiks schlagen und sie gleichzeitig davon abhalten, uns das Gleiche anzutun. Dass der Syndik-Commander wie ein Trottel gekämpft hat, kam uns nur zugute.«
»Er nahm wohl an, wir würden genauso kämpfen wie bisher«, meinte Desjani und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hätte nie geglaubt, dass es einen solchen Unterschied machen würde.«
»Wenn Mut allein Schlachten entscheiden würde, dann wäre die Menschheitsgeschichte deutlich anders verlaufen.« Geary zwang sich, die Liste der verlorenen Schiffe langsam zu lesen. Einseitig mag dieses Gefecht zwar gewesen sein, aber der Sieg hat trotzdem seinen Preis gehabt. »Verdammt.« Er starrte auf den Namen des Kriegsschiffs an erster Stelle auf der Liste und fühlte sich innerlich wie betäubt. Die Arrogant. Mit ihrer gesamten Besatzung verloren. Tut mir leid, Commander Hatherian.
»Sir?« Captain Desjani schaute zu ihm. »Oh, die Arrogant. Überladung des Antriebs.«
Geary konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Wissen wir, was sich zugetragen hat?«
»Das steht alles in der Zusammenfassung, Sir. Sehen Sie? Beim ersten Durchflug von Fox Five Two durch die Syndik-Formation befand sich die Arrogant in der Nähe mehrerer leichter Einheiten, die von den schweren Syndik-Kriegsschiffen unter massiven Beschuss genommen wurden. Die Arrogant veränderte ihre Position, um die anderen Schiffe zu schützen, und steckte alle Treffer ein.« Sie nickte ernst. »Commander Hatherian hat sich als guter befehlshabender Offizier erwiesen.«
»Ja.« Mehr traute sich Geary nicht zu sagen. Er wusste, wenn er Hatherian nicht auf die Arrogant versetzt hätte, wäre er weiter ein Offizier der Orion gewesen und würde jetzt noch leben. Aber dann hätte er das Kommando über Fox Five Two nicht an Captain Numos übergeben. Und hätte Numos nicht seinen Vorteil verspielt und so-mit verhindert, dass einige seiner Schiffe unter massiven Feindbeschuss gerieten, dann hätte sich die Arrogant nicht opfern müssen, um andere Schiffe zu beschützen. Das ist auch meine Schuld. Ich gab Numos das Kommando, obwohl ich ihm nicht vertraute. »Wir haben auch einige leichte Einheiten verloren. Dagger, Swift, Venom.
Und noch einen schweren Kreuzer, die Invidious.«
»Ja, das ist sehr bedauerlich. Wir brauchen jede Eskorte, die uns zur Verfügung steht. Aber wir haben wenigstens einige Crewmitglieder retten können.«
Geary sah sie an und versuchte zu verstehen, wie ein Offizier der Flotte und Bürger der Allianz den Verlust von Schiffen und Menschen so ruhig und gelassen hinnehmen konnte. Die Verluste schienen zwar ein wenig auf Desjanis Stimmung zu drücken, doch zugleich freute sich ein Teil von ihr. Ist mein Volk wirklich so barbarisch geworden, dass es egal ist, wenn Schiffe und ihre Besatzungen sterben?
Dann zeigte Desjani plötzlich auf die Verlustliste, und ihr Gesicht nahm einen traurigen Ausdruck an, der bei Geary Erleichterung auslöste. »Jeder Sieg hat seinen Preis, sogar Ihr Sieg, Sir. Aber keiner von denen, die wir heute verloren haben, müssen sich fürchten, den Vorfahren gegenüberzutreten.« Sie schüttelte den Kopf, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. »Nach der Schlacht bei Easir wussten wir nicht, was wir denken sollten. Wir ergriffen von dem System Besitz, doch der Preis dafür war sehr hoch. Jeden Schlachtkreuzer im System und die Hälfte aller Schlachtschiffe hatten wir verloren, und die leichten Eskorten waren stark dezimiert worden. Wir hatten fast jede Zerstörung eines Syndik-Schiffs mit dem Verlust eines eigenen Schiffs bezahlt. Ob wir unseren Vorfahren tatsächlich eine Ehre dadurch erwiesen haben, dass wir so viele Leben verloren, kann man in einem solchen Fall nie mit Gewissheit sagen.« Wieder hielt sie inne. »Damals war ich Junior-Lieutenant. Am nächsten Tag wurde ich zum Lieutenant Commander befördert. Sie brauchten dringend viele Offiziere.«
O verdammt, ich habe überhaupt nichts begriffen. Geary nickte tonlos und versuchte zu überspielen, dass er geglaubt hatte, Desjani und die anderen würden die Verluste mit einem Schulterzucken wegste-cken. Es kümmert sie sehr wohl. Aber sie haben sich daran gewöhnt. Sie haben so viele sterben sehen, sie haben das so oft erlebt. Es gehört für sie zum Leben dazu, darum lassen sie sich davon nicht beeindrucken.
Er fragte sich, wie viele Schiffe und Matrosen bei Easir gestorben waren. Und er fragte sich, ob er je den Mut aufbringen würde, sich mit der Geschichte dieser Schlacht zu beschäftigen und diese Zahlen zu erfahren. Du wusstest das, Geary. Du wusstest, dass sie schreckliche Verluste erlitten hatten, jahraus, jahrein. Aber du hast es nicht wirklich gefühlt. Und du hast nicht verstanden, wie es für sie sein muss. Sie sind so sehr daran gewöhnt, ihre Freunde und Kameraden sterben zu sehen, wie sich ein Mensch nur an etwas Derartiges gewöhnen kann. Ich bin nicht daran gewöhnt. Der Krieg, dieser Krieg ist für mich noch etwas Neues, auch wenn er bereits hundert Jahre alt ist. Wieder verspürte er die Kälte in seinem Inneren, und er dachte an die Crew, die vor langer Zeit in jener Schlacht bei Grendel umgekommen war. In diesem Moment fragte er sich zum allerersten Mal, ob Desjani wohl auch diese Kälte in sich verspürte, wenn sie an ihre toten Kameraden dachte.
Er streckte die Hand aus und drückte Desjanis Schulter, was die mit einem überraschten Blick quittierte. »Sie haben allen Ehre erwiesen, Tanya. Sich selbst gegenüber, ihren Vorfahren gegenüber und uns gegenüber, die wir überlebt haben, um diese Schlacht zu gewinnen. Ich danke Ihnen.«
Jetzt war sie völlig verwirrt. »Wofür, Sir?«
»Dass Sie deren Andenken durch Ihre eigenen Bemühungen ehren. Dass Sie die Aufgabe weiterführen, für die sie ihr Leben gaben.«
Desjani schaute weg und schüttelte den Kopf. »Ich bin nichts Außergewöhnliches, Captain Geary.«
»Ich weiß.« Er zog seine Hand zurück. »Aber es ist mir eine Ehre, Sie und jeden anderen Matrosen dieser Flotte zu kennen.«
Abermals ging er die Aufstellung durch und wandte sich der langen Liste von Schäden zu, die die anderen Schiffe gemeldet hatten.
Diese Liste war erheblich länger, aber keines der Schiffe hatte wirklich schwere Schäden davongetragen. Dennoch waren auch dort Männer und Frauen gestorben, als feindliches Feuer die Schiffshülle durchbrach. Ihm wurde bewusst, dass Desjani ihn eindringlich beobachtete. »Was ist?«
»Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, was hier geschehen ist, Captain Geary. Ich erzählte Ihnen von Easir. Diejenigen, die dort nicht gefallen sind, bezeichnen sich einfach nur als Überlebende. Damit ist kein Stolz und auch kein Ruhm verbunden. Aber Sie haben bei Kaliban etwas bewirkt.« Sie zeigte auf die Liste der Toten. »Deren Nachfahren werden stolz darauf sein, dass ihre Vorfahren hier gestorben sind, und genauso wird jeder in dieser Flotte für den Rest seines Lebens stolz sein, dass er dabei sein konnte.«
Geary schüttelte jedoch den Kopf. »Es war kein Konflikt zwischen annähernd gleichen Parteien. Wir waren den Syndiks von Anfang an zahlenmäßig deutlich überlegen. Selbst wenn man das lausige taktische Vermögen des Syndik-Commanders außer Acht lässt, war das hier kein großartiger Sieg.« Er fügte nicht auch noch an, dass einige Leute seiner Meinung nach gar nicht beeindruckt sein würden.
Geary hielt einen Moment lang inne, sah nach unten, schloss die Augen und atmete tief und langsam durch, um zur Ruhe zu kommen.
Ich hasse diese Flottenkonferenzen mit jedem Mal mehr. Er hob wieder den Kopf und betrachtete nacheinander die Anwesenden.
Die meisten der anwesenden Offiziere schienen zumindest nach außen hin Desjanis Erleichterung über den Sieg zu teilen. Das krasse Gegenteil stellte ein Block aus Befehlshabern zu beiden Seiten von Captain Numos und Captain Faresa dar, die mit versteinerter Miene dasaßen und finstere Blicke in die Runde warfen. Geary sah von einem zum anderen, las die Namen ihrer Schiffe und erkannte, dass sie alle während des Gefechts zur Formation Fox Five Two gehört hatten. Einige der Offiziere erwiderten seinen Blick, als er sie anschaute, die meisten sahen allerdings zur Seite.
Geary lehnte sich zurück und nahm sich einen Moment Zeit, um die übrigen Offiziere zu betrachten, die am Tisch »saßen«, während Captain Desjani außer ihm als Einzige körperlich anwesend war.
»Wir werden in Kürze das Kaliban-System verlassen. Unsere Arbeit hier ist getan, und wir haben den Syndiks eine blutige Nase geschlagen. Ich möchte jedem Schiff in der Flotte persönlich für die Mitwir-kung an diesem Sieg danken.« Die Worte ließen viele Anwesende lächeln, während Numos’ Gruppe noch abweisender reagierte. »Meine Absicht ist es, dass wir morgen von Kaliban aufbrechen. Wir nehmen den Sprungpunkt, der uns zu einem System namens Sutrah bringt. Sutrah ist vermutlich nicht verlassen, und es gibt dort eine gute bewohnbare Welt, aber wohl keine massive Streitmacht.«
Schließlich meldete sich Numos in eisigem Tonfall zu Wort.
»Warum fliegen wir nicht nach Cadez?«
Geary sah Numos lange und eindringlich an. »Weil Cadez ein zu offensichtliches Ziel ist. Es liegt auf einer geraden Linie zurück in Allianz-Gebiet, und es ist dem Syndik-Hypernet angeschlossen.«
Mit ihrem gewohnten bissigen Tonfall warf Faresa ein: »Wir können von dort auf das Hypernet zugreifen und sehr schnell nach Hause zurückkehren. Warum wollen Sie das nicht?«
»Selbstverständlich will ich so schnell wie möglich nach Hause zu-rückkehren, so wie jeder von Ihnen«, konterte Geary, der vor Verärgerung zu kochen begann.
»Tatsächlich?«, forderte Faresa ihn heraus.
»Ja. Darf ich Sie daran erinnern, Captain, dass die Syndiks in jedes an das Hypernet angeschlossene System binnen kürzester Zeit Verstärkung schicken können? Wäre ich ein Syndik-Commander und wüsste, diese Flotte hier befindet sich im Kaliban-System, dann hät-te ich längst eine große Streitmacht nach Cadez geschickt, um uns dort in Empfang zu nehmen und zu verhindern, dass wir das dorti-ge Hypernet-Portal benutzen.«
Commander Cresida gab mit übertriebener Lässigkeit zu bedenken: »Da die Syndiks bei Cadez ein Portal haben, können sie die Sprungpunkte auf Teufel komm raus verminen.«
»Richtig«, pflichtete Captain Tulev ihr zu.
Numos reagierte mit einer abweisenden Geste. »Ich für meinen Teil habe keine Angst davor, einer starken Syndik-Streitmacht gegenüberzutreten.« Seine Worte sollten zweifelsfrei andeuten, dass der Sieg bei Kaliban für ihn nicht weiter zählte, da die Syndik-Flotte von vornherein deutlich unterlegen gewesen war.
Captain Duellos schaute in die Ferne und bemerkte sachlich: »Und trotzdem haben Sie in der jüngsten Schlacht keine beeindruckende Leistung in der Form erbracht, dass Sie den Syndiks gegenüberge-treten wären.«
Numos’ Gesicht lief vor Zorn rot an, doch es war Captain Faresa, die an seiner Stelle antwortete. »Captain Numos trifft keine Schuld, wenn die seinem Kommando unterstellten Schiffe absichtlich so po-sitioniert wurden, dass sie in der Schlacht keine angemessene Rolle spielen konnten.«
»Der Befehlshaber der Flotte ließ allen Formationen eine angemessene Rolle zukommen«, widersprach Tulev. »Ich konnte die entsprechenden Befehle genauso deutlich hören wie Sie.«
»Sie waren von meiner Formation weit entfernt, und Sie waren zu dem Zeitpunkt auch weit von den Syndiks entfernt!«, herrschte Numos ihn an.
Nun lief Tulev vor Zorn rot an. »Die Schiffe unter meinem Kommando haben gegen mehr feindliche Einheiten gekämpft als Ihre.«
Geary schaltete sich laut genug ein, um die beiden Streithähne zum Verstummen zu bringen: »Ladys und Gentlemen, wir sind nicht hier zusammengekommen, um irgendjemandes Tapferkeit anzuzweifeln.«
Wieder wandte sich Numos an Geary, als hätte er dessen Zwi-schenruf gar nicht wahrgenommen. »Hätte man mir eine passende Gelegenheit gegeben, um mich dem Feind zu stellen, dann gäbe es jetzt keinen Grund, mir zu unterstellen, es würde mir an Tapferkeit mangeln!«
»Wären Sie Ihren Befehlen entsprechend gefolgt, hätten Sie mehr als genug Gelegenheit bekommen«, gab Geary zurück und versuchte, sein Temperament in Schach zu halten.
»Sie waren viele Lichtsekunden vom Geschehen entfernt, und trotzdem beharrten Sie darauf, die komplette Kontrolle über die Bewegungen meiner Schiffe zu behalten.«
»Bei keiner anderen Formation dieser Flotte hat das für Probleme gesorgt, Captain Numos. Jeder hat den ihm gegebenen Befehl strikt befolgt.«
Numos beugte sich vor und wurde lauter: »Wollen Sie damit sagen, die Pflicht des Captains eines Allianz-Schiffes besteht ausschließlich darin, die gegebenen Befehle eins zu eins umzusetzen?
Wollen Sie sagen, uns steht nicht das Recht zu, unsere Schiffe so einzusetzen, wie es uns viele Jahre Gefechtserfahrung vorschreiben?«
Geary hatte Mühe, Numos nicht anzuknurren, daher ließ er sich mit seiner Antwort so lange Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Sie wissen ganz genau, dass zu Ihren Anweisungen für diese Schlacht auch die Erlaubnis gehörte, Flugbewegungen zu ändern, falls die taktische Situation das aus Ihrer Sicht erforderte. Sie hatten diese Möglichkeit, Captain Numos, also versuchen Sie nicht, mir oder sonst jemandem die Schuld für die Folgen Ihres eigenen Handelns zu geben.«
Numos starrte Geary mit versteinerter Miene an. »Wollen Sie mir Inkompetenz unterstellen? Wollen Sie andeuten, ich sei für die erlit-tenen Verluste verantwortlich? Sind Sie…«
» Captain Numos«, platzte Geary heraus und bemerkte erst an den Reaktionen der anderen, wie sich seine Stimme angehört haben musste. »Die Verantwortung für alle Verluste in dieser Schlacht trage ich. Ich hatte das Kommando, und ich scheue nicht davor zurück, die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen!« Numos wollte zum Reden ansetzen, doch Geary fuhr ihm über den Mund.
»Und was Sie angeht, Sir, stehen Sie gefährlich dicht davor, von Ihrem Kommando und von all Ihrer Autorität entbunden zu werden, wenn Sie weiter ein solches aufsässiges und unprofessionelles Verhalten an den Tag legen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Numos knirschte sichtlich mit den Zähnen, aber er schwieg. Neben ihm warf Captain Faresa Geary einen so hitzigen Blick zu, dass man meinen konnte, er müsste eine schwere Panzerung zum Schmelzen bringen.
Wieder sah sich Geary am Konferenztisch um. Er war eigentlich davon ausgegangen, dass Numos’ Anhänger weiter auf dessen Seite stehen würden, doch zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass auch viele andere Offiziere wenig Gefallen an Gearys Drohung fanden. Als er in ihre Gesichter schaute, entdeckte er etwas, das ihm einen Schock versetzte. Sie sind über den Sieg gar nicht so ganz glücklich, wie? Es gefällt ihnen nicht, dass wir den Sieg auf eine andere Weise errungen haben. Sie wollten siegen, aber nicht auf Kosten ihrer gewohnten Art zu kämpfen. Sie wollten durch individuelle Tapferkeit und hemmungs-losen Kampf siegen. Und jetzt gefällt es ihnen nicht, wenn ich einem von ihnen den Kopf wasche und mehr Disziplin einfordere.
Es gab auch Ausnahmen, so zum Beispiel Captain Desjani, die vor Stolz und Freude über den Sieg immer noch strahlte. Dann endlich wurde ihm klar, dass sich die Anhänger von Black Jack Geary in zwei Lager aufteilten. Die kleine Gruppe aus Offizieren wie Desjani war bereit, auf jedes Wort von Geary zu hören, weil sie fest daran glaubten, er könne einfach nichts verkehrt machen. Das größere Lager dagegen wollte von Geary zum Sieg geführt werden, ohne dass es irgendwelche Veränderungen gab. Sie erwarteten, von einem legendären Helden auf genau die tollkühne Art in die Schlacht geschickt zu werden, wie sie es gewohnt waren. Und es bereitete ihnen große Schwierigkeiten, sich mit der Tatsache abzufinden, dass ihr Held von ihnen eine Kampfstrategie forderte, bei der einzelne Schiffe tatsächlich als Teil eines großen Ganzen agierten.
Sie wollen einen Helden haben, der nur das bestätigt, was sie schon immer so gemacht haben, und der es irgendwie noch etwas besser macht. Aber jetzt wird ihnen klar, dass ich nicht diese Art von Held bin.
Das Schweigen zog sich hin, und schließlich wurde Geary klar, dass alle darauf warteten, was er als Nächstes sagen würde. »Ich möchte Sie alle wissen lassen, dass ich noch keine mutigere Gruppe von Offizieren gesehen habe als Sie. Jeder von Ihnen ist ein tapferer und aggressiver Offizier.« Und wie! Jemand, der zu bereitwillig seinen Tod in Kauf nimmt, ist genauso schlimm wie jemand, der zu große Angst vor dem Tod hat. Wie kann ich ihnen das klarmachen? »Ich hoffe, das jüngste Gefecht hat bewiesen, wie der Einsatz von guten Taktiken…« Nein, verdammt. Dann unterstellen sie mir, dass ich ihre bisherigen Taktiken für schlecht halte. Das stimmt zwar auch, aber ich will es ihnen so nicht an den Kopf werfen. »…wirkungsvollen Taktiken uns ins die Lage versetzen kann, dem Gegner wesentlich schwerere Verluste zuzufügen, als wir selbst hinnehmen müssen. Wir sind eine Flotte, eine Gefechtsorganisation. Das verleiht uns beträchtliche Schlagkraft, wenn wir sie nur richtig einsetzen. Ich möchte keinem meiner Captains das Gefühl geben, er dürfe nur strikt seine Befehle befolgen. Eigeninitiative ist sehr wichtig. Auf veränderte Gegebenheiten zu reagieren, ist sehr wichtig. Commander Hatherian, mögen seine Vorfahren ihn ehren, verhielt sich exakt so, wie ich es von ihm erwartet hätte, als er mit der Arrogant seine zugewiesene Position verließ und andere Schiffe beschützte, die in Gefahr waren.«
Er vermochte nicht zu erkennen, wie die Anwesenden auf seine Worte reagierten, und allmählich begann er sich zu fragen, ob er diese Allianz-Matrosen jemals richtig verstehen würde, deren Denkweise und Gewohnheiten ein Jahrhundert von seinen eigenen entfernt waren, ein Jahrhundert, das viele Veränderungen mit sich gebracht hatte.
»Wir werden nach Sutrah fliegen. Wir werden feststellen, welche Verhältnisse dort herrschen und was wir über die Syndik-Flottenbewegungen herausfinden können, um über unser nächstes Ziel zu entscheiden.« Einige nickte zustimmend, aber niemand sagte ein Wort. »Das wäre alles. Ich spreche Ihnen noch einmal meinen Glückwunsch dazu aus, wie Sie alle gestern gekämpft haben.«
Geary blieb sitzen und sah zu, wie die Bilder rasch verschwanden.
Captain Desjani schien etwas verwundert über Gearys bedrückte Haltung, als sie sich verabschiedete und den Raum verließ, um sich den zahlreichen Aufgaben auf ihrem Schiff zu kümmern. Plötzlich bemerkte er, dass das Bild eines Offiziers noch am Tisch verharrte, während alle anderen sich aufgelöst hatten. »Captain Duellos.«
Duellos nickte als Reaktion darauf, dass Geary ihn wahrgenommen hatte. »Sie sind dahintergekommen, nicht wahr?«
»Ich glaube schon. Verzeihen Sie meine Wortwahl – aber wie können die nur so unglaublich dumm sein?«
Duellos schüttelte seufzend den Kopf. »Gewohnheit. Tradition. Ich sagte Ihnen ja bereits, wie wichtig Stolz für diese Flotte ist. Stolz und Ehre, die letzten Dinge, an die man sich noch klammern kann, wenn alles andere längst versagt hat. Sie sind stolz darauf, wie sie ge-kämpft haben.«
Auch Geary reagierte mit einem Kopfschütteln. »Konnten sie nicht verstehen, dass es eine bessere Art zu kämpfen gibt?«
»Oh, das wird seine Zeit dauern, falls uns genug Zeit gewährt wird.« Duellos brachte ein flüchtiges Lächeln zustande, während Geary ihn ansah. »Nachdem wir im Heimatsystem der Syndiks angekommen waren und schwere Verluste hingenommen hatten, war ich zu dem Schluss gelangt, dass wir vermutlich unsere Heimat niemals wiedersehen würden. Ich habe also akzeptiert, dass wir es vielleicht nicht schaffen werden.«
»Wir werden es schaffen.«
»Ich wage nicht, vorbehaltlos daran zu glauben, aber falls wir ins Gebiet der Allianz zurückkehren sollten, gebe ich Ihnen so viele Drinks aus, wie Sie vertragen können.« Duellos wirkte müde. »Sie müssen sich vor Augen halten, dass diese Offiziere nicht daran ge-wöhnt sind, von einer starken Hand geführt zu werden. Es ist schon gut, dass Sie kein strikter Exerziermeister sind. Ich habe davon gelesen. Ein solcher Commander hätte längst die Befehlsgewalt über die Flotte verloren. Diese Offiziere müssen geführt werden, daran besteht kein Zweifel, aber sie werden die Peitsche nicht akzeptieren.«
»Ich werde nicht die Peitsche hervorholen, doch ich muss ihnen zeigen, dass die alten Methoden funktionieren«, erklärte Geary.
»Ja, aber wie gesagt, das wird dauern. Es braucht seine Zeit, um alte Gewohnheiten abzulegen und sich neue anzueignen. Zeit, um Siege zu erringen, die die neuen Gewohnheiten bestärken.« Duellos stand auf und machte sich zum Abschied bereit. »Ich bitte Sie, ver-zweifeln Sie nicht. Wir alle brauchen Sie, auch diejenigen, die nicht an Sie glauben. Letztere vielleicht sogar noch mehr als die anderen.«
Geary lächelte schwach. »Ich kann mir gar nicht erlauben aufzugeben.«
»Nein, das können Sie tatsächlich nicht.« Duellos salutierte, dann verschwand sein Bild.
Geary zwang sich, von seinem Platz aufzustehen, während sein Blick durch den nun leeren Konferenzraum wanderte. Ich muss weniger Treffen abhalten. Nein. So sehr ich es auch hasse, muss ich weiter Konferenzen einberufen. Das ist meine einzige Gelegenheit, alle diese Offiziere zu sehen, auch wenn mir nicht gefällt, was ich dann sehe.
Er kehrte zu seiner Kabine zurück und war dabei so in seinen Gedanken verloren, dass er überrascht stutzte, als er vor der Luke stand. Als er seine Augen rieb, überlegte er, ob er ein MedPack nehmen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Diese Packs sollten zwar garantiert keine körperliche Abhängigkeit erzeugen, aber er konnte sich nicht mal eine psychische Abhängigkeit von der vorübergehen-den Erleichterung erlauben, die sie ihm spendeten.
Dieser Tag ist ohnehin schon zum Teufel, da kann ich auch den Papierkram erledigen, der sich angesammelt hat. Geary rief seine Nachrichten auf und ging das eingegangene Material so schnell durch, wie er konnte, bis er auf eine Nachricht stieß, die ihn aufhorchen ließ. » Nachrichtendienstlicher Bericht hinsichtlich der Einrichtungen der Syndikatwelten im Kaliban-System. « Ich dachte, die Syndiks hätten nichts von Wert dagelassen.
Er begann zu lesen, dann überflog er den Bericht, als er erkannte, dass die Syndiks in der Tat kaum etwas Interessantes zurückgelassen hatten. Und die wenigen interessanten Dinge waren bereits jahr-zehntealt und damit wohl kaum noch von Bedeutung.
Augenblick mal. Geary hörte auf zu scrollen und blätterte zurück zu der Stelle, die ihn hatte stutzig werden lassen. Da ist es. Der Tresor im Hauptquartier war aufgebrochen worden, lange nachdem die Behörden der Syndikatwelten das System verlassen hatten. Zu diesem Urteil war man gekommen, nachdem man den Schaden an einem Tresor begutachtet hatte, der mit Werkzeugen aufgebrochen worden war. Die Analyse der Schnitte im Metall deutet darauf hin, dass Umgebungstemperatur geherrscht hatte, als die Werkzeuge zum Einsatz kamen. Das konnte aber erst der Fall sein, nachdem die Einrichtung stillgelegt und bereits längere Zeit verlassen gewesen war. Soweit sich feststellen ließ, war der Tresor leer gewesen, als man ihn verschloss, was die Gründe für den Einbruch nicht nachvollziehbar machte. Da die durchgeführte Untersuchung durch Allianz-Personal keine Erklärung für diese Beschädigungen liefern konnte, wurden sie höchstwahrscheinlich durch kriminelle Elemente verursacht.
Allerdings lassen sich deren Gründe für den Einbruch in den Tresor einer aufgegebenen Einrichtung nicht nachvollziehen. Es lässt sich ebenso wenig ergründen, warum diese mutmaßlich kriminellen Elemente Bohrspitzen verwendeten, deren Durchmesser nicht den üblichen Größen der Syndikatwelten und der Allianz entspricht. Wir können nur vermuten, dass auf diese Weise eine Identifizierung der Täter und ihrer Drahtzieher vereitelt werden soll.
Geary las diesen Teil des Berichts mehrmals durch und versuchte darauf zu kommen, was ihn daran störte. Natürlich ergab es keinen Sinn, dass der Tresor aufgebrochen worden war, lange bevor die Allianz-Flotte hier eintraf. Jemand muss geglaubt haben, dass sich dort Wertgegenstände befanden. Aber die Syndiks hielten sich stets mit nahezu fanatischem Eifer an ihre Vorschriften und Protokolle, und jeder, der mit ihnen zu tun hatte, würde wissen, dass sie bei der Aufgabe eines Sternensystems alles mitnahmen, was in einem Tresor aufbewahrt wurde.
Die Spekulation, dass ungewöhnliche Bohrspitzen benutzt worden waren, um eine Identifizierung der Täter zu vereiteln… Das war es!
Die Schlussfolgerung stellte jegliche Logik auf den Kopf. Es war viel einfacher, nichtstandardmäßigen Bohrspitzen auf die Spur zu kommen, weil standardmäßige millionenfach in den Syndikatwelten und der Allianz Verwendung fanden.
Doch das warf eine andere Frage auf. Warum machte sich irgendjemand die Mühe, nichtstandardmäßige Bohrspitzen zu verwenden?
Es sei denn, man besaß gar keine anderen Bohrer. Weil man weder zu den Syndikatwelten noch zu einer der bekannten Welten der Allianz gehörte.
Das ist ein beachtlicher Gedankensprung, Geary. Darauf wärst du nie gekommen, wenn die Marines nicht die Möglichkeit ins Spiel gebracht hätten, die Syndiks könnten sich wegen nichtmenschlicher Intelligenzen Sorgen machen. Aber nicht mal die Marines wollten diese Möglichkeit ernsthaft ins Auge fassen. Sie fanden nur, dass sie das Thema zumindest ansprechen sollten. Gelöschte Betriebssysteme und nichtstandardmäßige Bohrspitzen sind schließlich kein stichhaltiger Beleg dafür, dass sich fremde Intelligenzen im Syndik-Gebiet aufhalten.
Trotzdem drängt sich mir eine Frage auf. Dieser Bericht über die Verwendung von nichtstandardmäßigen Bohrspitzen veranlasste sie, eine Er-klärung zu formulieren, die erst auf den zweiten Blick widersinnig ist. Wie viele andere Kleinigkeiten dieser Art wurden zu den Akten gelegt und gerieten in Vergessenheit, nur weil jemand eine passable Erklärung lieferte?
Eine Erklärung, die sich nicht um eine mögliche Verstrickung außerirdischer Intelligenzen dreht, weil die von den Leuten belächelt worden wäre.
Ich habe die geheimen Dateien der Dauntless durchsucht, aber keinen Hinweis auf nichtmenschliche Intelligenzen finden können. Doch selbst zu meiner Zeit herrschte die Ansicht vor, dass wir allein im All sind, und Fakten werden nun mal gern zurechtgebogen, bis sie der herrschenden Meinung entsprechen.
Der Türsummer ließ ihn wissen, dass ein Besucher vor der Luke zu seinem Quartier wartete. Eigentlich war ihm nicht danach, mit irgendwem zu reden, aber er konnte es nicht vor sich selbst rechtfertigen, jemanden wegzuschicken, der ihm womöglich etwas Wichtiges mitzuteilen hatte. »Herein.«
Victoria Rione trat ein, ihre Miene gab wie gewöhnlich keinen Hinweis darauf, was ihr durch den Kopf ging. »Captain Geary, kann ich Sie sprechen?«
Als er daraufhin aufstand, fühlte er sich mit einem Mal verlegen, da ihm bewusst wurde, wie zerknittert seine Uniform aussah. »Na-türlich. Ich hoffe, es ist nichts allzu Ernstes.« Wie zum Beispiel neue Vorwürfe, ich könnte mich zum Diktator aufschwingen wollen. »Könnte ich Sie aber zuvor etwas fragen?«
»Gewiss.«
Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen, dann setzte er sich auch wieder. »Madam Co-Präsidentin, darf ich davon ausgehen, dass Sie geheime Informationen mit mir teilen werden, wenn ich Sie darum bitte?«
Verwundert gab sie zurück: »Sie haben Zugriff auf jede Geheimin-formation auf diesem Schiff, Captain Geary.«
Er ließ den Kopf ein wenig sinken, damit sie nicht sah, wie er den Mund verzog. »Es könnte Dinge geben, die selbst für die Datenbank eines Flaggschiffs zu heikel sind. Informationen, die auf Regierungs-kreise beschränkt bleiben.«
»Ich weiß nicht, auf welche Informationen Sie anspielen«, sagte sie mit einem Kopfschütteln.
»Ist Ihnen irgendetwas darüber bekannt, ob die Allianz von nichtmenschlichen Intelligenzen weiß?«
Rione erstarrte mitten in ihrer Bewegung. »Wieso fragen Sie mich das?«
»Weil eine Beobachtung im Kaliban-System meine Offiziere zu Spekulationen in dieser Richtung veranlasst hat.«
»Ich würde gern erfahren, was für eine Beobachtung das war.
Aber um Ihre Frage zu beantworten: Mir ist nichts in dieser Richtung bekannt. Ich weiß mit Sicherheit, dass ich nichts zu diesem Thema gesehen oder gehört habe.« Sie schaute hoch, als erwarte sie, dort Zeichen für eine fremde Intelligenz entdecken zu können. »Eine derartige Begegnung wäre ein herausragendes Ereignis in der Menschheitsgeschichte. Von Außerirdischen könnten wir unglaublich viel erfahren. Vielleicht könnten sie uns helfen, Dinge zu verstehen, die uns ein Rätsel sind, womöglich sogar Dinge, die uns Menschen selbst angehen.« Sie lachte humorlos auf. »Beispielsweise die Frage, warum wir seit hundert Standardjahren Krieg führen. Oder warum es überhaupt erst zu diesem Krieg kam.«
Geary wollte noch mehr über die Außerirdischen sagen, doch Riones letzte Bemerkung ließ ihn aufhorchen. »Wir haben nie herausgefunden, warum die Syndiks uns angriffen?«
Sie betrachtete ihn skeptisch. »Nein. Jedenfalls nicht, was diesen Zeitpunkt anging. Ich glaube, Sie können bestätigen, dass die ersten Angriffe völlig überraschend kamen, weil es keinen Hinweis darauf gab, dass das Verhältnis zwischen der Allianz und den Syndikatwelten bereits so zerrüttet war.«
Er dachte über ihre Worte nach und erinnerte sich nur zu deutlich an seine Gefühle, als bei Grendel klar wurde, dass die Syndiks einen Angriff gestartet hatten. Völlig überraschend, so wie sie es auch gesagt hat. »Ich war davon ausgegangen, dass die Gründe dafür inzwischen ans Licht gekommen wären.«
»Nein. Unsere besten Mutmaßungen bringen nur komplexe Antworten hervor, Captain Geary. Es besteht keinerlei Klarheit. Wie es scheint, gab es zahlreiche Faktoren.«
»›Wie es scheint‹.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Dann wissen wir immer noch nicht genau, warum sie uns angriffen?«
»Nein«, wiederholte Rione. »Jedenfalls nicht mit absoluter Gewissheit. Der Rat der Allianz lässt niemanden an seinen Erwägungen teilhaben. Die Antwort ist zweifellos ebenfalls irgendwo in den geheimen Unterlagen der Führung der Syndikatwelten verborgen.«
Geary nickte verstehend, gleichzeitig kam ihm eine Frage in den Sinn, die er nicht ignorieren konnte. »Dann können wir auch nicht sagen, ob es womöglich… externe Faktoren gab, die die Syndiks zum Handeln veranlassten, richtig?«
Verständnislos spreizte sie die Hände. »Ich weiß nicht, was Sie mit externen Faktoren meinen.« Plötzlich wurden ihre Augen größer.
»Sie reden doch nicht etwa von nichtmenschlichen Intelligenzen, oder? Haben Sie mich deshalb darauf angesprochen? Sie meinen doch nicht, dass die darin verstrickt waren oder sogar den Krieg ausgelöst haben, oder?«
»Nein, nein, natürlich nicht.« Ich bin weit davon entfernt, so etwas laut aussprechen zu wollen. Aber ich denke sehr wohl darüber nach. Falls die Syndiks auf nichtmenschliche Intelligenzen gestoßen sind, wie lange ist das dann her? Zweifellos mehr als zweiundvierzig Jahre, falls das, was die Syndiks machten, als sie Kaliban verließen, tatsächlich das bedeutet, was wir vermuten.
Sind die Syndiks auf nichtmenschliches, intelligentes Leben gestoßen?
Wenn ja, wann? Und was ist damals geschehen?
Gab es einen Zusammenhang mit dem Ausbruch des Krieges? Könnte sich so erklären, warum die Syndiks uns angriffen und warum der Krieg kein Ende mehr nimmt, obwohl keine Seite mehr den Sieg davontragen dürfte? Aber wie sollten diese Dinge zusammenhängen?
Lächelnd fügte Geary an: »Danke, Madam Co-Präsidentin. Jetzt verraten Sie, was ich für Sie tun kann.«
Rione wirkte überrascht, dass er das Thema so abrupt wechselte, doch sie protestierte nicht dagegen. »Ich finde, ich sollte Ihnen mitteilen, was die Commander meiner Schiffe mir gesagt haben. Diejenigen, die zu Captain Numos stehen, versuchen die Geschichte zu verbreiten, Sie hätten die Schiffe seiner Formation absichtlich aus dem Kampf herausgehalten, damit Sie allein den Ruhm einstreichen können.«
Fast hätte Geary darüber gelacht. »Bedauerlicherweise ist mir das bereits bekannt. Ich bin sicher, Ihre Commander werden Ihnen bald von den hässlichen Einzelheiten meiner jüngsten Konferenz berich-ten.«
»Dann haben Sie das Thema bereits angesprochen?«
»Angesprochen ja.« Geary machte keinen Hehl aus seinen Empfindungen. »Aber von einer Lösung bin ich noch weit entfernt. Da spielen einige grundlegende Themen hinein.«
»Sie meinen den Unmut, über Ihre Veränderungen bei der Kampf-taktik der Flotte?«
Einen Moment lang sah Geary sie schweigend an. »Wie viele Spione genau haben Sie bei meiner Flotte untergebracht, Madam Co-Präsidentin?«
Sie schaffte es, auf die Frage mit einem leicht schockierten Gesichtsausdruck zu reagieren. »Warum sollte ich bei einer befreunde-ten Flotte Spione platzieren, Captain Geary?«
»Da kann ich mir etliche Gründe vorstellen«, gab er zurück. »Unter anderem den, dass Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, was der Commander der Flotte zu tun gedenkt. Allmählich glaube ich, dass Sie Admiral Bloch auch nicht völlig vertraut haben.«
Rione wahrte eine ausdruckslose Miene. »Admiral Bloch war ein ehrgeiziger Mann.«
»Und wie Sie über ehrgeizige Männer denken, weiß ich ja bereits.«
»Ich denke über ehrgeizige Frauen ganz genauso, Captain Geary.
Sind Sie stolz auf Ihren Sieg hier bei Kaliban?«
Vor Überraschung hätte er diese unerwartete Frage fast bejaht, doch dann stürmten andere Überlegungen auf ihn ein. »In gewisser Weise«, räumte er schließlich ein. »Es war mein erstes Gefecht mit dieser Flotte, und ich glaube, ich hatte die Manöver ziemlich gut im Griff. Ich war ganz gut darin, die Reaktionen des Gegners voraus-zuahnen. Dennoch war es noch nicht perfekt.« Wieder machte er eine Pause. »Ich wünschte, ich hätte das Gleiche erreichen können, ohne ein einziges Schiff und ein einziges Leben zu verlieren. Aber ich bin stolz auf diese Flotte. Sie hat gut gekämpft.«
»Das ist wohl wahr. Die Ergebnisse dieser Schlacht waren zufrie-denstellend.«
»Ist das jetzt Ihre Meinung, Madam Co-Präsidentin? Bedauern Sie nicht, dass Sie mir die Kontrolle über die Schiffe Ihrer Republik und der Rift-Föderation übertragen haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Solange wir offen und ehrlich miteinander umgehen… Und das machen wir doch, oder, Captain Geary?… Ich sollte Ihnen etwas sagen, das Sie vermutlich ohnehin erfahren werden. Die Commander meiner Schiffe sind von unserem Sieg beeindruckt, auch wenn sie mehrheitlich das Unbehagen vieler Allianz-Offiziere teilen, was die Art betrifft, wie die Schlacht geführt wurde. Natürlich standen sie der Person des Black Jack Geary skeptischer gegenüber als die Matrosen der Allianz, weil er ein ihnen fremder Held war. Jetzt«, sie stieß gedehnt den Atem aus, »neigen sie eher zu der Ansicht, dass etwas Wahres an diesem Mythos ist.«
»Vorfahren, steht mir bei«, stöhnte Geary auf und ließ Rione so seine Gefühle in dieser Sache wissen, da er ihr zumindest so weit vertraute. »Es ist überhaupt nichts Wahres an diesem Mythos, und das wissen Sie.«
Sie presste die Kiefer so fest zusammen, dass die Muskeln hervortraten. »Ganz im Gegenteil, und das habe ich Ihnen auch gesagt, Captain Geary. Sie sind eine mythische Gestalt.«
»Sie wissen, dass das nicht stimmt.«
»Ich weiß, Sie haben diese Flotte heil aus dem Heimatsystem der Syndiks und bis hierher gebracht. Ich weiß, Sie haben hier einen überwältigenden Sieg errungen, und ich weiß, kein gewöhnlicher Mann hätte das bewerkstelligen können.« Dabei warf Rione ihm einen so eindringlichen Blick zu, als wolle sie ihn herausfordern, ihr zu widersprechen.
Anstatt darauf mit Verärgerung zu reagieren, musste Geary über sich selbst lachen. »Meine liebe Madam Co-Präsidentin, ich hätte es niemals bis hierher geschafft, wenn nicht etliche Menschen der Meinung gewesen wären, ich sei ein Geschenk der lebenden Sterne an die Allianz-Flotte. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass es etliche Leute gibt, die zunehmend daran zweifeln, inwieweit das der Wahrheit entspricht.«
Rione lächelte ihn an und erwiderte eher sarkastisch als belustigt:
»Mein Gefühl sagt mir, dass Sie eine Lösung finden werden, damit umzugehen, Captain.«
Genauso sarkastisch und mit einer leichten Verbeugung erwiderte er: »Ich danke Ihnen für Ihre Zuversicht.«
Sie stand auf, ging ein paar Schritte weit und drehte sich zu ihm um. »Mir fällt auf, dass Sie von ›Zuversicht‹ sprachen, nicht von ›Vertrauen‹.«
»Kommt aufs Gleiche raus«, meinte er achselzuckend.
»Nein, das tut es nicht. Ich werde Ihnen noch etwas im Vertrauen sagen, Captain Geary. Ich bin kein Übermensch. Ich möchte an Sie glauben, ich möchte daran glauben, dass Sie tatsächlich die Hoffnung sind, die wir alle benötigen. Ein Geschenk von unseren Vorfahren. Aber ich wage nicht, das zu machen.«
Geary wurde ernst und sah einen Moment lang zu Boden. »Dann sind wir schon zu zweit. Denn wenn ich daran glauben würde, wäre ich für die Flotte eine größere Gefahr als unser Feind.«
»Da stimme ich Ihnen zu. Aber Sie machen es einem sehr schwer, an Ihnen zu zweifeln.« Wieder lächelte sie, und diesmal schien es von Herzen zu kommen. »Sie haben Ihren Sieg bei Kaliban errungen. Was werden Sie als Nächstes machen, Captain Geary?«
Sein Blick wanderte zur Sternenlandschaft. Zum ersten Mal seit langer Zeit begann er zu suchen, bis er einige Sterne im Allianz-Gebiet wiedererkannte. Vor ihnen lag noch ein so weiter Weg. Sein Großneffe Michael Geary, der im Heimatsystem der Syndiks mit seinem Schiff Repulse gestorben war, würde die Allianz niemals wiedersehen. Und das galt auch für die Crew der Arrogant. Aber es gab noch viele Schiffsbesatzungen mehr, die nach wie vor auf ihn zählten, die daran glaubten, dass Black Jack sie nach Hause bringen würde. Nach Hause, wo seine Großnichte lebte, die ihm von der Familie erzählen konnte, die er an die Zeit verloren hatte. »Was ich machen werde? Wie Sie bestimmt gehört haben, werde ich diese Flotte nach Sutrah führen. Und früher oder später werde ich sie auch nach Hause bringen, ganz gleich wer oder was sich in den Weg zu stellen versucht.«