Vier

Die Sonne, die die Menschheit unter dem Namen Corvus kannte, leuchtete vor dem sternenübersäten Schwarz des Normalraums wie ein kleine, helle Münze, als die Allianz-Flotte aus dem Sprung kam.

Geary versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie angespannt er war. Er warf einen Blick auf die Kontrollen in seiner Armlehne und sah dabei, dass seine Hand die Lehne so verkrampft umfasste, dass die Knöchel weiß hervortraten. Geary atmete tief durch und starrte das Display an, als könne sein bloßer Blick die benötigten Informationen hervorrufen.

»Keine Minen«, meldete Captain Desjani.

Als Erwiderung nickte Geary nur knapp. Wäre am Ausgang des Sprungpunkts ein Minenfeld gelegt worden, dann hätten sie es längst auf die harte Tour herausgefunden. Doch er hatte im Gefühl gehabt, dass sie nicht auf Minen stoßen würden. Selbst zu der Zeit, als der Sprung von System zu System die einzige Methode dargestellt hatte, um zu den Sternen zu reisen, wurden nur wenige Sprungpunkte durch Minenfelder gesichert, weil sie für eigene Schiffe genauso gefährlich waren wie für feindliche. Und so wie die Allianz würden auch die Syndiks keine Ressourcen tief innerhalb des eigenen Territoriums vergeuden.

Das war allerdings auch das einzig Positive, das Geary der Tatsache abgewinnen konnte, dass sie sich so tief im Syndik-Gebiet aufhielten.

»Erste Scans können keinen Schiffsverkehr in der näheren Umgebung feststellen«, ließ ihn ein Wachhabender wissen.

Wieder nickte Geary. Diese Meldung hatte nicht viel zu bedeuten.

Sie hatten gut eine Milliarde Kilometer von Corvus entfernt den Sprungpunkt verlassen, aber Geary rechnete schon lange nicht mehr in Kilometern, wenn es um die Navigation im All ging. Vielmehr achtete er auf die Anzeige der Lichtentfernung, die eine Strecke von achteinhalb Lichtstunden zum Stern nannte. Wenn die sehr alten Aufzeichnungen zutrafen, auf die sie sich verlassen mussten, dann kreiste eine bewohnte Welt in einer Entfernung von 1,2 Lichtstunden um den Stern namens Corvus. Das wiederum bedeutete, dass alles, was sie jetzt sehen und analysieren konnten, bereits vor über sieben Stunden geschehen war.

Von der bewohnten Welt abgesehen besaß Corvus drei weitere Trabanten, die den Namen Planet verdienten. Einer davon war ein zerklüfteter Felsblock, der in einer Entfernung von etwas weniger als einer Lichtstunde in einem leicht exzentrischen Orbit um den Stern kreiste. Der zweite war ein rund sechs Lichtstunden entfernter Gasriese. Der äußerste Planet war ein Eisklumpen in einem Orbit, der nur eine halbe Stunde vom Sprungpunkt entfernt seine Bahnen zog.

»Captain Desjani.« Sie drehte sich zu ihm um. »Es gehörte zur Routine, dass die Syndiks Verteidigungsbasen in der Nähe von Sprungpunkten unterhielten, so wie wir auch. Wenn ich das richtig verstanden habe, sind etliche dieser Syndik-Basen immer noch im Dienst.«

Desjani machte eine nachdenkliche Miene. »Wir gehen immer davon aus, dass die alten Basen weiter aktiv bleiben. Wenn ein Hypernet-Portal gebaut wird, dann richtet man auch eine neue Verteidigungsanlage ein. Aber bei Sternen ohne Anschluss ans Hypernet ist die Allianz der Ansicht, wenn eine Verteidigungsbasis im System bleiben soll, dann rechnet es sich nicht, sie zu verlagern. Die Syndiks scheinen nach dem gleichen Prinzip vorzugehen.«

»Das erscheint sinnvoll. Warum sollte man auch Geld zum Fenster rauswerfen? Die Frage ist nur, ob sie sich die Mühe gemacht haben, so tief in ihrem eigenen Territorium eine Basis beizubehalten.« Er rieb sich die Stirn und betrachtete das Display, wo eine sich langsam ausdehnende Sphäre den Bereich rund um die Flotte kennzeichnete, der ein Echtzeitbild erlaubte. Die Sphäre wirkte immer noch lach-haft winzig, wenn man sie mit der Größe des Systems verglich, in das sie eingefallen waren. Zum Glück würde sie aber schon bald den Orbit der Eiswelt erfassen. »Wenn sie noch eine Basis haben, dann wird sie sich dort befinden«, sprach er seinen Gedanken laut aus.

Captain Desjani nickte. »Das werden wir bald wissen. Erste optische und Spektralscans zeigen Anlagen an, die Wärme abgeben, also ist da immer noch etwas aktiv. Aber wir haben noch zu wenig Daten. Sicher ist nur, dass sich keine große Streitmacht in unserer Nähe befindet. Selbst bei der Zeitverzögerung, mit der die Informationen eingehen, hätten wir da längst irgendwelche Anzeichen entdecken müssen.«

Dank sei den Vorfahren für die nicht ganz so kleinen Segnungen, dachte Geary respektlos. Im System schienen nur wenige Schiffe unterwegs zu sein. Beim Sprungende hatte Geary unwillkürlich damit gerechnet, auf den üblichen Sprungverkehr zu stoßen, stattdessen jedoch konnte er keine interstellaren Schiffe entdecken, die auf dem Weg zu einem der Sprungpunkte waren. Der wenige Schiffsverkehr spielte sich zwischen dem bewohnten Planeten und mutmaßlichen Minen und Produktionsanlagen auf dem inneren Planeten ab. Wo zum Teufel sind sie alle? , fragte sich Geary, obwohl er wusste, dass »sie alle«

dank des Hypernets nicht mehr durch dieses System fliegen mussten.

Er tippte zielsicher auf die Kommunikationstaste, nachdem er sich während des Sprungs nach Corvus gründlich mit den Funktions-weisen seiner Kontrollen beschäftigt hatte. »Captain Duellos, Captain Tulev, hier spricht Captain Geary. Sie werden mit dem Zweiten und Vierten Schlachtkreuzergeschwader eine Position einnehmen, um den Sprungpunkt zu sichern. Wenn Syndik-Streitkräfte auftauchen, die uns verfolgen, müssen sie vernichtet werden, bevor sie Sie passieren können.«

Geary konnte aus dem schlichten »Roger«, mit dem die beiden den Befehl bestätigten, die Vorfreude auf ein einseitiges Gemetzel heraushören. Auf seinem Scanner beobachtete Geary, wie die beiden Geschwader beidrehten und zum Sprungpunkt zurückkehrten. Die Schlachtkreuzer konnten für ihre Größe recht gut beschleunigen, doch da man bei ihnen mehr Wert auf ein leistungsfähiges Antriebssystem gelegt hatte, waren die Schutzschilde dieser Schiffe deutlich schwächer als bei anderen Fahrzeugen. Er würde sie lange genug auf dieser Position halten, um alle Syndik-Schiffe zu zerstören, die der Allianz-Flotte auf den Fersen waren, aber sie sollten nicht dort zurückgelassen werden, während der Rest der Flotte weiterflog. Es war nur eine Frage des Timings, und sieben große Kriegsschiffe und deren Besatzungen bauten alle darauf, dass Geary in der Lage war, dieses Timing genau richtig abzustimmen.

Minen! Warum habe ich nicht früher daran gedacht? Mir ist doch gleich, wie sehr der Schiffsverkehr der Syndiks dadurch beeinträchtigt wird.

»Captain Duellos, legen Sie ein Minenfeld rund um den Sprungpunkt, das auf den lokalen Stern ausgerichtet ist, damit es seine Position beibehält.«

Duellos bestätigte diesen jüngsten Befehl, und diesmal hörte er sich noch erfreuter an als zuvor. Die Allianz-Flotte hatte beim Angriff auf das Heimatsystem der Syndiks schwere Verluste einstecken müssen, als sie in ein Minenfeld geriet, das als Hinterhalt angelegt worden war. Daher konnte Geary es keinem Matrosen der Allianz verübeln, wenn der es den Syndiks mit gleicher Münze heimzahlen wollte.

Der nächste Tastendruck öffnete einen Kanal an die ganze Flotte.

»Alle Einheiten, ausgenommen das Zweite und das Vierte Schlachtkreuzergeschwader, werden unmittelbar nach Erhalt dieser Mitteilung die Standard-Angriffsformation Alpha Sechs einnehmen.«

Während des Sprungs war es der Flotte nicht möglich gewesen, die ungeordnete Formation zu korrigieren, die sich durch die Schlacht im Heimatsystem der Syndiks und durch den überhasteten Rückzug in Richtung Sprungpunkt ergeben hatte. Nun aber war es unerlässlich, die Flotte wieder neu zu formieren. Auf seinem Display verfolgte Geary mit, wie Schiffe und Geschwader allmählich auf den Befehl reagierten, der ein paar Lichtminuten benötigte, um auch die am weitesten entfernten Schiffe zu erreichen. Dabei versuchte er, beim Anblick der weit verstreuten Flotte nicht den Kopf zu schütteln.

»Die Flotte bewegt sich noch immer mit 0,1 Lichtgeschwindigkeit ins System hinein«, betonte Desjani. »Einige der Schiffe werden eine Weile brauchen, bis sie die ihnen zugewiesene Position eingenommen haben.«

»Ja.« Geary musterte das Display, auf dem es noch immer an Echt-zeitinformationen über möglicherweise auf sie lauernde Gefahren mangelte. »Wenn wir die Fahrt verlangsamen, wird das zwar einigen Schiffen das Manöver erleichtern. Aber ich möchte das nicht machen, solange wir nicht wissen, welche Syndik-Streitkräfte sich hier aufhalten, die wir mit etwas Glück vielleicht überrumpeln können.«

»Mit Zurückhaltung hat noch niemand eine Schlacht gewonnen«, kommentierte Desjani zustimmend, als würde sie eine Lektion zitieren, die sie gelernt hatte.

Geary schüttelte im Geiste immer noch den Kopf über Desjanis Bemerkung, da lenkte ein akustisches Signal seine Aufmerksamkeit zurück auf das Display. Analysen von Bildern und Dingen wie che-mischen Substanzen in der Atmosphäre deuteten darauf hin, dass auf dieser Welt immer noch industrialisierte Wirtschaft existierte, doch es gab auch Hinweise auf stillgelegte Fabriken und auf eine weniger hohe Bevölkerungsdichte als man nach so langer Besied-lung durch Menschen erwarten sollte. Das passte zu seinen Informationen, dass jene Systeme langsam verkümmerten, die durch das Prinzip des Hypernets übergangen wurden. Mehrere Objekte kreis-ten um diese Welt, sieben davon kalt und vermutlich stillgelegt, außerdem zwei vermutlich militärische Anlagen. Kriegsschiffe waren auf den über acht Stunden alten Bildern nicht auszumachen.

»Die Anlage auf der vierten Welt ist aktiv und wird als militärisch eingestuft«, meldete der Aufklärungs-Wachhabende. »Zwei kleinere Kampfschiffe waren vor einundvierzig Minuten nahe der Basis aktiv.«

Geary drehte sich abrupt um und musterte die Darstellung des Eisplaneten. Sie hatten noch immer keine Echtzeitbilder aus dem Gebiet nahe der Syndik-Basis, aber vor vierzig Minuten waren dort zwei Syndik-Schiffe unterwegs gewesen. Wir sind jetzt noch keine zehn Minuten im System, also werden sie uns erst in einer halben Stunde sehen. Bis dahin sind wir ein ganzes Stück näher. »Ist die Identifizierung dieser Schiffe korrekt? Können wir sicher sein, dass der Typ zutrifft?«

Desjani stutzte, und es schien, als würde sie es persönlich nehmen, dass er die angezeigten Informationen auf ihrem Schiff infrage stellte. »Die Identifizierung der Schiffe nahe dieser Basis? Ja, Captain Geary. Typ und Klasse sind korrekt, das Modell ist unsicher.«

»Zum Teufel.« Desjani warf Geary einen fragenden Blick zu, woraufhin er auf das Display zeigte. »Zu meiner Zeit nannten wir diese Dinger Nickel-Korvetten.«

»Nickel?«

»Ja, so wie die Münzen. Sie sind ganz nützlich, aber wenn man sie wirklich braucht, hat man nicht lange was von ihnen. Diese Schiffe hatte man schon so gut wie ausgemustert, als ich…« Geary verstummte, da er sich nicht sicher war, wie er sich auf seinen scheinba-ren Tod in einem Gefecht vor hundert Jahren beziehen sollte. »Als ich das letzte Mal gekämpft habe«, sagte er schließlich.

Desjani gab einen erstaunten Laut von sich. »Ich habe diese Schiffsklasse noch nie gesehen. Vermutlich wurden diese Korvetten hier zurückgelassen, weil es einfacher war, sie den Behörden auf Corvus zu übergeben, als sie wegzuschaffen.«

»Vermutlich ja.« Einen Moment lang stellte sich Geary vor, er be-fände sich auf der Basis oder auf einem der Schiffe, während die Allianz-Flotte durch den Sprungpunkt ins System geflogen kam. Wenn das Alter dieser Syndik-Schiffe einen solchen Rückschluss zuließ, dann verdiente dieses System nicht einmal, als vergessen bezeichnet zu werden. Es musste Jahrzehnte her sein, dass Corvus im Krieg zwischen der Allianz und den Syndikatwelten eine Rolle gespielt hatte, wenn man einmal davon absah, dass die Bewohner sich mit ihren Steuern daran beteiligten und zweifellos auch junge Menschen im Einberufungsalter stellten. Noch ein paar Minuten oder vielleicht auch paar Stunden lang würden sie weiter daran glauben, von aller Welt vergessen zu sein. Doch schließlich würden sie die Ankunft der Allianz-Flotte zu sehen bekommen, sobald das Licht die verschiedenen Syndik-Beobachter erreichte. Einige Minuten lang würden sie sicherlich ihren Augen nicht trauen, weil sie nicht glauben konnten, dass der Krieg so plötzlich und mit einer so überwältigenden Heftigkeit zu ihnen gekommen war.

Die Kommunikation der Flotte untereinander erwachte zum Leben. »Captain Geary, hier ist Commander Zeas von der Truculent.

Wir sind in Waffenreichweite einer aktiven Radaranlage, die auf den Sprungpunkt gerichtet ist.«

»Geary hier. Zerstören Sie sie.« Er schaute zu Desjani. »Ich weiß, die Anlage dient nur als Navigationshilfe, aber vermutlich gibt sie Rückmeldung an diese Basis.«

»Das sehe ich auch so«, stimmte sie ihm zu. »Aber vermutlich werden die Informationen mit Lichtgeschwindigkeit übertragen, weshalb sie dort nicht vor den Bildern unserer Flotte eintreffen dürften.«

»Jede Minute zählt. Sendet die Basis selbst aktive Sensorstrahlen aus?« Noch während er fragte, sah er auf sein eigenes Display, das irgendwo die Antwort auf seine Frage enthielt.

»Nein, Sir.« Desjani deutete auf die entsprechenden Anzeigefelder.

»Hatten Sie das erwartet?«

»Nein.« Geary sträubten sich bei der Frage die Nackenhaare, doch für einen Augenblick hatte sie etwas Amüsantes. »Sogar in meiner primitiven Zeit war klar, dass ein Radar doppelt so lange benötigt, um etwas zu entdecken, was mit visuellen Sensoren bereits erkennbar ist. Schließlich muss der Radarimpuls erst wieder zurückkehren, während das Licht von dem betreffenden Objekt die Entfernung nur in einer Richtung zurücklegen muss.« Bei einer Planetenoberfläche war die Zeitdifferenz unbedeutend, aber wenn ein Schlachtfeld sich über mehrere Lichtstunden erstreckte, dann war das von entscheidender Bedeutung.

Desjani schluckte sichtbar. »Ich wollte nicht respektlos erscheinen…«

»Das weiß ich. Und ich weiß auch, ich bin in vieler Hinsicht hoffnungslos veraltet. Deshalb ist es mir lieber, wenn Sie grundsätzlich davon ausgehen, dass ich dies oder jenes nicht weiß. Auf diese Weise ist es für uns alle sicherer, und ganz ehrlich gesagt, Captain, vertraue ich auf Ihr Wissen um meine Unzulänglichkeiten.«

»Jawohl, Sir.« Sie grinste ihn an. »Sie wissen ja, welches Vertrauen ich und meine Crew in Sie setzen.«

Diesmal versuchte Geary sich nichts anmerken zu lassen. Um das Thema zu wechseln, deutete er mit einer Kopfbewegung auf das Display. »Ich wünschte, das würde nicht so lange dauern. Zu schade, dass wir nicht innerhalb eines Sternensystems Mikrosprünge mit Überlichtgeschwindigkeit unternehmen können.«

»Ja, das Warten war für mich immer das Schlimmste«, gestand Desjani. »Wir können den Feind sehen, wir wissen, wo er ist, aber trotzdem dauert es noch fast viereinhalb Stunden, bis wir dieser Basis auf dem vierten Planeten nahe genug sind, um sie in einen Krater zu verwandeln.«

Eine neue Stimme mischte sich ein. »Sie könnten schneller fliegen.« Desjani und Geary drehten sich gleichzeitig um und sahen, dass Co-Präsidentin Rione auf die Brücke gekommen war. Sie schaute Geary an. »Oder etwa nicht?«

Geary zuckte mit den Schultern und versuchte, den herablassenden Ausdruck zu ignorieren, den er aus dem Augenwinkel auf Desjanis Gesicht sehen konnte. »Wir könnten schon, aber das will ich nicht.«

»Warum nicht?« Rione kam nach vorn und nahm in einem der Sessel Platz, die für Beobachter bestimmt waren, dann legte sie mit äußerst präzisen Bewegungen den Gurt an.

»Weil die Schiffe der Flotte unter anderem bereits mit durchschnittlich 0,1 Lichtgeschwindigkeit fliegen. Wir befinden uns im Normalraum, und hier sind wir bestimmten Gesetzmäßigkeiten un-terworfen. Das bedeutet, je schneller wir fliegen, umso stärker sind wir relativistischen Effekten ausgesetzt.« Rione betrachtete ihn und erwartete offensichtlich eine ausführlichere Erklärung, was für Geary die Frage aufwarf, wie viel sie wirklich wusste und inwieweit sie ihn lediglich auf die Probe stellte. »Um es so einfach wie möglich auszudrücken: Unser Bild von allem, was sich außerhalb dieses Schiffs befindet, wird umso verzerrter, je schneller wir fliegen. Bei 0,1 Lichtgeschwindigkeit können wir immer noch einigermaßen genau erkennen, was wir da draußen sehen. Je weiter wir uns der Lichtgeschwindigkeit nähern, umso schwieriger lässt sich einschätzen, was sich wo befindet. Ich habe schon jetzt genug Schwierigkeiten festzustellen, wo sich der Feind befindet und wohin sich seine Schiffe bewegen. Ich möchte mir nicht auch noch die Frage stellen müssen, wo meine eigenen Schiffe sind.«

Rione deutete auf das Display. »Ich dachte, die hier dargestellten Bilder gleichen notfalls die relativistischen Effekte aus.«

Offenbar hatte Captain Desjani das Gefühl, dass die Ehre ihres Schiffs erneut gefährdet war, da sie antwortete: »Madam Co-Präsidentin, die Systeme können recht präzise die relativistischen Effekte bei diesem Schiff kompensieren, weil sie wissen, was das Schiff macht. Aber bei allen anderen Schiffen kann das System nur auf der Grundlage dessen schätzen, was es beobachtet. Wir bekommen von dem anderen Schiff ein zeitverzögertes und verzerrtes Bild angezeigt, und die anschließenden Korrekturen variieren in ihrer Genauigkeit. Was wir sehen, kann sich ganz erheblich davon unterscheiden, wo sich das andere Schiff tatsächlich befindet und welche Richtungs-und Geschwindigkeitsvektoren wirklich zutreffen.«

Jede weitere Frage von Rione wurde dadurch vereitelt, dass sich der Komm-Wachhabende zu Wort meldete: »Captain Desjani, wir empfangen soeben eine Warnung von den Verteidigungsstreitkräften der Syndiks im System.«

Desjani warf automatisch Geary einen Blick zu, er schaute daraufhin auf das Display und die angezeigte Zeit. »Das ging ja schnell.

Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber die Basis auf dem vierten Planeten kann doch in diesen Sekunden bestenfalls das erste Schiff der Flotte sehen, wie es den Sprungpunkt verlässt.«

»Ganz genau.« Desjani ließ den Blick über die Brücke wandern.

»Das Signal muss von einer Quelle kommen, die höchstens fünfzehn Lichtminuten vom Sprungpunkt entfernt ist. Suchen Sie danach«, befahl sie ihren Wachhabenden.

Die Suche nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch, was der Tatsache zu verdanken war, dass die Flotte in einer so ausgedehnten Formation unterwegs war. Da von den verschiedenen Schiffen jeweils die Richtung genannt wurde, aus der man das Signal aufge-fangen hatte, ließ sich die Quelle mühelos lokalisieren. Das gesamte Spektrum der Sensoren wurde auf den Punkt gerichtet, und schließlich stieß man auf ein kleines Objekt. »Das ist winzig«, meldete der Komm-Wachhabende. »Weder ein Schiff noch ein bemanntes Objekt. Vermutlich handelt es sich bei der Quelle um ein automatisches Steuerungssystem, das den Flugverkehr regelt.«

»Warum wurde das nicht früher entdeckt?«, wollte Desjani wissen.

»Es scheint sich schon lange Zeit dort zu befinden, Ma’am. Die Oberfläche ist sehr stark ramponiert, weshalb es bei ersten Abtas-tungen wohl als im All treibendes Trümmerstück durchging.«

Unwillkürlich dachte Geary darüber nach, dass diese Beschreibung auch sehr genau darauf passte, wie er die letzten hundert Jahre verbracht hatte. Das dem Objekt nächste Schiff war die Ardent, die nur eine Lichtminute entfernt lag. Das Ding ist sicher nicht bewaffnet, aber es könnte den Syndiks helfen, unseren Kurs nachzuvollziehen. Außerdem verfügt es womöglich über eine Selbstzerstörungsautomatik, die jedem Schiff schwere Schäden zufügen könnte, das ihm zu nahe kommt. Lieber auf Nummer sicher gehen. » Ardent, hier ist Captain Geary von der Dauntless. Schaffen Sie uns dieses Ding vom Hals.«

Fast zwei Minuten lang musste er auf die Antwort warten. » Ardent hier, Sir. Befehl ausgeführt.« Geary musterte sein Display und wusste, es würde noch eine Weile dauern, bis er dort angezeigt bekam, dass die Ardent den Satelliten zerstört hatte.

»Sollen wir auf das Signal reagieren, Captain Desjani?«, wollte der Komm-Wachhabende immer noch wissen.

Wieder schaute sie Geary an. »Es muss eine Meldung an die Basis geschickt haben.«

»Bestimmt. Ich würde sagen, die Meldung wird erst eingehen, wenn sie uns bereits sehen können.« Geary dachte über das Problem nach. Er war sich bewusst, dass er Ereignisse in Gang setzte und Entscheidungen traf, die über die nächsten Stunden hinweg Resulta-te hervorbringen würden. Dabei versuchte er, nicht darüber nachzudenken, wie viele Menschenleben in diesem System und in der Flotte davon abhingen, wie er entschied.

»Captain Desjani«, begann er langsam und dachte wieder an die schockierten Verteidiger des Corvus-Systems. »Teilen Sie den Syndik-Behörden bitte mit, dass wir hergekommen sind, um ihre Kapitulation zu fordern. Senden Sie das ins gesamte System.«

Sie reagierte mit einem verwirrten und zugleich enttäuschten Blick. »Bislang deutet alles darauf hin, dass uns sehr wenig Widerstand begegnen würde, und was es hier gibt, ist hoffnungslos veraltet. Es wäre kein Problem, sie zu besiegen.«

»Stimmt. Aber wir können umso mehr Vorräte und brauchbare Materialien an Bord nehmen, wenn sie sich einfach ergeben, als wenn wir erst schwere Verwüstungen anrichten, um sie zur Aufgabe zu zwingen. Wir können sie vielleicht sogar dazu bewegen, uns mehr zu geben, wenn wir sie in dem Glauben lassen, dass wir dann dieses System nicht kurz und klein schlagen werden.«

»Wäre es nicht besser, wenn wir ihnen die Möglichkeit zur Gegenwehr nehmen?«

»Nein.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Den Syndikatwelten ist egal, was mit ihren Beständen in diesem System passiert.

Doch jedes beschädigte Schiff und jede eingesetzte Waffe ist für die Allianz von Bedeutung. Für uns ist es besser, wenn wir sie kampflos schlagen. Wenn wir jetzt unsere Aufforderung zur Kapitulation senden, dann wird sie überall im System eine halbe Stunde nach unserer Sichtung empfangen. Sie hatten Zeit genug, um sich ein Bild von unserer Kampfkraft zu machen. Zeit genug, dass sie es mit der Angst zu tun bekommen, und genau dann erreicht sie unsere Aufforderung zu kapitulieren.«

Desjani wirkte nach wie vor enttäuscht, doch sie verkniff sich, was sie hatte einwenden wollen. Wenige Minuten später sendete die Dauntless die Nachricht, während die Allianz-Flotte mit 0,1 Lichtgeschwindigkeit weiter in das System flog.

Sein Blick war auf das Display gerichtet, und er wünschte sich, die Zeit möge schneller vergehen. Die Syndik-Basis musste inzwischen die Flotte bemerkt haben, aber selbst wenn die Nickel-Korvetten sofort auf Abfangkurs gingen, würde man das auf der Dauntless erst in zehn Minuten sehen können. Geary konzentrierte sich auf seine eigenen Schiffe und versuchte, das Durcheinander an angezeigten Vektoren zu sortieren, um sich ein Bild davon zu machen, wie weit sich die Formation entwickelt hatte. Angesichts dessen, wie schwierig es war, die einzelnen Bewegungen auszumachen, lief es mit den Bemühungen gar nicht so gut. Zugegeben, bei der Geschwindigkeit, mit der sich die Flotte fortbewegte, war es umso schwieriger, die Positionen zueinander zu verändern, dennoch taten sich die einzelnen Schiffe ausgesprochen schwer, ihre Positionen anzusteuern.

»Der Syndik-Commander hat auf unsere Forderung nach einer Kapitulation reagiert«, murmelte Captain Desjani.

»Okay.« Geary sah auf die Uhr und stellte fest, dass die Antwort auf seine Forderung umgehend gesendet worden sein musste. Er brauchte einen Moment, bis er die richtige Taste gefunden hatte, dann sah er in das Gesicht eines älteren Mannes, der eine makellos sitzende, aber abgewetzte Uniform eines Executive Class Officer trug.

Der Syndik-XO schluckte erschrocken, schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, resolut dreinzuschauen. »Hiermit bestätige ich den Erhalt Ihrer Nachricht. Ihrer Bitte können wir nicht nachkommen. Es ist mir nicht gestattet, die Streitkräfte und Anlagen in diesem System an Sie zu übergeben. Übertragung Ende.«

Oh, verdammt… Geary schnaufte aufgebracht. »Unserer Bitte können sie nicht nachkommen? Klingt fast so, als hätten wir sie zum Tanzen auffordern wollen.«

»In ein paar Stunden legen wir das Hauptquartier um ihn herum in Schutt und Asche«, erwiderte Desjani gutgelaunt.

»Vielleicht. Aber bis dahin gibt es keinen Grund, nicht alles zu versuchen, um diesen Idioten zur Vernunft zu bringen.« Geary musste fast lächeln, als er Desjanis Gesichtsausdruck sah. »Keine Sorge, ich werde ihn nicht anflehen.«

»Ich hatte nicht…«

»Ist schon gut. Lassen Sie mich ihm diese Nachricht persönlich übermitteln.« Er hielt inne, um seine Gedanken zu ordnen, dann tippte er die entsprechende Befehlssequenz. »Hier ist die Allianz-Flotte unter Befehlshaber Captain John Geary. Wir sind hergekommen, um Sie zur Kapitulation aufzufordern«, verkündete Geary, dem die Ironie der Situation nicht entging, da der Syndik-CEO vor wenigen Wochen fast den gleichen Wortlaut verwendet hatte. »Wie Sie an unseren Einflugvektoren erkennen können, kommen wir von der Syndik-Heimatwelt. Unsere Arbeit dort ist abgeschlossen.« Er versuchte, das richtige Maß an triumphierender Arroganz in seiner Stimme mitschwingen zu lassen, um die irreführende Aussage zu unterstreichen. Wenn der Syndik-Commander glaubte, die Allianz habe seine Heimatwelt besiegt, dann würde es vielleicht helfen, ihn zur Aufgabe zu bewegen. »Wir erwarten, dass alle militärischen und lokalen Streitkräfte ihre Waffen niederlegen, alle Verteidigungsanlagen deaktivieren und auf jegliche Form von Widerstand verzichten.

Es sollte klar erkennbar sein, dass wir über genügend Feuerkraft verfügen, um unsere Forderung durchzusetzen, und dass jeglicher Widerstand von Ihrer Seite zwecklos ist. Wenn Sie nicht unverzüglich kapitulieren, wird das nur den sinnlosen Tod Ihrer Verteidiger und schwerste Beschädigungen an den Anlagen in diesem System zur Folge haben. Ich erwarte mit Ihrer nächsten Nachricht die Be-kanntgabe Ihrer Kapitulation.«

Er lehnte sich zurück, schaute Desjani an und zuckte mit den Schultern. »Wenn er das nicht begreift…«

»Dann müssen wir eben zum Höllenspeer greifen«, führte sie den Satz für ihn zu Ende.

»Ja, wenn es sich nicht vermeiden lässt.« Wieder betrachtete er das Display. »Die Korvetten haben sich bis vor zehn Minuten noch immer nicht gerührt. Interessant. Sie behalten einfach ihre Position im Orbit um die Syndik-Basis bei.«

»Vielleicht wollen sie sie nur benutzen, um die Station selbst zu beschützen.«

»Es wäre schrecklich dumm, Schiffe in einer statischen Verteidi-gungsposition einzusetzen, selbst wenn wir ihnen zahlenmäßig nicht so überlegen wären.« Er musterte die Darstellung. »Ich glaube, es gibt einen anderen Grund dafür, aber…«

»Syndik-Kreuzer im Orbit um den vierten Planeten entdeckt!«, rief in dem Augenblick der Aufklärungs-Wachhabende.

»Nur einer?« Geary überflog den eingehenden Bericht. Die Klasse des leichten Kreuzers sagte ihm nichts, doch das System erklärte ihn als einem überholten Design zugehörig. »Sind diese Angaben richtig?«

Ein Dutzend Crewmitglieder überprüfte in aller Eile die Daten.

Desjani antwortete für sie alle: »Jawohl, Sir.«

»Wow. Sehen Sie sich mal dieses Antriebssystem an! Warum packt jemand so viel Antriebskraft in einen leichten Kreuzer?«

Verwundert ging Desjani die Daten durch. »Das wissen wir nicht.

Diesem Design sind wir noch nie begegnet, und gehört haben wir davon nur durch Geheimdienstberichte. Offenbar wurden von dem Typ nur ein paar gebaut, und falls der je in einer Schlacht zum Einsatz kam, besitzen wir darüber keine Aufzeichnungen.«

Geary nickte gedankenverloren. Ihm fiel nur ein Grund ein, warum über dieses Schiff nichts bekannt sein sollte: wenn kein einziges Allianz-Schiff das Gefecht überlebt hatte, an dem dieses Ding beteiligt war. Der leichte Kreuzer war nicht schwer bewaffnet, er verfügte lediglich über ein riesiges Antriebssystem. Hoffentlich muss ich mir keine Gedanken darüber machen, welchem Zweck dieses System dienen soll. Wenn der Syndik-Commander kapituliert, kann ich jemanden fragen. Ansonsten wird der Kreuzer nur noch ein Haufen Schrott sein, wenn wir ihn erst einmal durchsiebt haben. »Der Kreuzer und die Korvetten befinden sich noch im Orbit um den Planeten. Das macht Hoffnung.«

»Auf jeden Fall macht es sie so zu einfacheren Zielen.«

Eine weitere Stunde war nahezu verstrichen, als die Reaktion des Syndik-Commanders endlich eintraf. »Ich habe Ihre letzte Mitteilung empfangen«, erklärte der Mann in der abgewetzten Uniform.

»Artikel sieben der Kampfanweisungen der Syndikatflotte untersagt eine Kapitulation. Artikel neun verlangt, alle militärischen Einrichtungen energisch zu verteidigen. Artikel zwölf stellt klar, dass es keine Ausnahmesituation gibt, die die Artikel sieben und neun außer Kraft setzen kann. Daher muss ich Ihre Bitte ein weiteres Mal ab-lehnen.«

Geary starrte ungläubig das Bild an. »Wie kann er nur so dumm sein?«


Co-Präsidentin Rione antwortete darauf. »Er ist ein Bürokrat, Captain Geary. Sehen Sie sich ihn an, hören Sie ihm zu. Er lebt dafür, Regeln und Vorschriften umzusetzen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Regeln einen Sinn ergeben.« Nach ihrem Tonfall zu urteilen, hatte sie mehr als genug Leute von seinem Schlag kennengelernt.

Fast hätte Geary gelacht, so absurd war die Situation. Ein Bürokrat.

Irgendein Kerl, der vermutlich seine ganze Karriere damit verbracht hat, sicherzustellen, dass jede Vorschrift, die vor Jahrzehnten in einer Entfernung von etlichen Lichtjahren erlassen worden war, auf den Buchstaben genau in die Tat umgesetzt wurde. Jemand, für den es nichts Wichtigeres gibt, als jede noch so unwichtige Vorschrift auf den Punkt genau zu befolgen. Wer sonst würde auch schon das Kommando über ein System zugeteilt bekommen, in das der Krieg nie vordringen sollte? Und wer sonst würde sich Jahr um Jahr an diesem sinnlosen Kommando festklammern?

Dann wurde Geary bewusst, was das Beharren dieses Bürokraten auf den Artikeln sieben, neun und zwölf der Kampfanweisungen der Syndikatflotte bedeutete. Er würde so viele Untergebene dieses Erbsenzählers töten müssen, bis der zur Kapitulation bereit war.

Zum Teufel mit dem Kerl.

Geary tippte wütend auf seine Kommunikationsverbindungen.

»An den Syndikat-Commander im Corvus System. Sie haben keine andere Wahl als sich zu ergeben. Wenn Sie uns zwingen, Ihre Verteidigung zu zerstören, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie das gleiche Schicksal ereilt wie die Leute, die an vorderster Front stehen.« Er unterbrach die Verbindung und wandte sich zu Captain Desjani um: »Ihr Kommunikationspersonal soll versuchen, eine Verbindung zu den Korvetten und dem Kreuzer herzustellen, und ihnen mitteilen, dass wir bereit sind, ihre Kapitulation anzunehmen.«

Desjani ließ sich einen Moment lang ihr Missfallen anmerken, dann aber nickte sie und gab den Befehl weiter. Hören Sie schon auf, Tanja Desjani. Es hat nichts Ehrenhaftes an sich, Leute niederzumachen, die sowieso keine Chance auf Gegenwehr haben.

Es waren immer noch drei Stunden, bis die Flotte der Basis nahe genug gekommen sein würde, um einen Angriff zu starten. Gearys Blick wanderte zu der Ecke seines Displays, die die Position der Schlachtkreuzer rings um den Sprungpunkt anzeigten. Bei diesem Anblick war ihm klar, was Desjani durch den Kopf ging. Die Schiffe von Duellos und Tulev würden Blut vergießen können, während die Dauntless sich wohl damit begnügen musste, die Kapitulation ein paar uralter Raumschiffe entgegenzunehmen. Darüber war Desjani gar nicht glücklich.

Die Allianz-Flotte drang tiefer in das Corvus-System ein, gleichzeitig bewegten sich die einzelnen Schiffe mit höchst unterschiedlicher Schnelligkeit und Präzision zu jenen Positionen, die sie relativ zum Flaggschiff gesehen einnehmen sollten. Die mit Zeitverzögerung angezeigten Bilder der Syndik-Korvetten ruckelten nahe ihrer Basis hin und her, während der leichte Kreuzer offenbar weiter um den vierten Planeten kreiste. Geary wollte sich alle Allianz-Schiffe merken, die mit dem Wechsel auf ihre vorgesehene Position deutlich hinterherhinkten, aber es dauerte nicht lange, da konzentrierte er sich in erster Linie auf die Schiffe, die relativ zügig dem Befehl nach-kamen. Es gab einfach zu viele lahme Enten, um sie sich alle zu merken, und erschreckend wenige Commander waren in der Lage, ihr Schiff auf die richtige Position zu bringen.

Die vorderste Linie der Allianz-Flotte sollte eine Formation bilden, die an ein großes Rechteck erinnerte, dessen Fläche dem Feind zugewandt war. Der Kern der Flotte sollte dahinter in einer noch größeren Rechtecksformation folgen, während die Versorgungsschiffe und ihre Eskorten noch ein Stück nach hinten zum Würfel angeordnet sein sollten. Zwei kleinere Würfel zu beiden Seiten dienten dem Schutz vor Aktionen von feindlichen Streitkräften in diesen Bereichen.

Was Geary stattdessen zu sehen bekam, war ein verworrener Schwarm aus Allianz-Schiffen, der wie ein verzerrter Keil wirkte und dessen breites Ende auf den Feind zeigte Ein Warnlicht blinkte auf, gleichzeitig erwachten auf dem Display diverse Symbole zum Leben. Geary hielt gebannt den Atem an, als die Dauntless Syndik-Schiffe registrierte, die aus dem Sprungpunkt austraten. Adrenalin wurde ausgeschüttet, obwohl er genau wusste, was er sah, hatte sich bereits vor zehn Minuten zugetragen. Und ganz gleich, wie seine Schlachtkreuzer darauf reagierten – auch das war schon zehn Minuten zuvor geschehen.

Geary blieb kaum Zeit um wahrzunehmen, wie sich ein Geschwader Syndik-Jäger um einen einzelnen schweren Kreuzer herum aufstellte, da sah er bereits, wie konzentriertes Feuer von Duellos’ und Tulevs Schiffen die Jäger in Stücke riss. Einen Moment später über-wanden die Angriffe der Allianz die Verteidigungsanlagen des Kreuzers und durchlöcherten ihn, sodass er nur noch ein paar Schüsse abgeben konnte, die von den Schilden der Allianz-Kreuzer absorbiert wurden. Unmittelbar nachdem er dieses Geschehen beobachtet hatte, erreichten Geary Berichte aus dem Kampfgebiet, die das Gezeigte bestätigten.

Er wartete, doch nach den Berichten über die ersten Schiffe geschah weiter nichts. Sie waren entbehrlich gewesen und sollten feststellen, ob die Allianz-Flotte weiter in Panik geflohen war und vergessen hatte, den Sprungpunkt zu sichern und zu verteidigen.

Entbehrlich. Geary hatte das immer für ein hässliches Wort und ein noch hässlicheres Konzept gehalten, doch die Syndiks teilten diese Ansicht offenbar nicht.

Ringsum auf der Brücke der Dauntless war Jubel ausgebrochen, als die Crewmitglieder sahen, wie die kleine Syndik-Streitmacht abge-schlachtet wurde. Der Jubel zehrte an Gearys Nerven. Erneut tippte er auf die Kommunikationstasten. »Alle Einheiten, die noch nicht die Standardformation Alpha sechs eingenommen haben, werden aufgefordert, das unverzüglich nachzuholen.«

Desjani reagierte mit einem überraschten Blick in seine Richtung, überspielte aber rasch ihre Reaktion. Es war nichts, worüber sich der Captain der Dauntless Sorgen machen musste, denn als Flaggschiff waren sie von dem Moment in der vorgeschriebenen Position, wenn der Befehl gegeben wurde. »Glauben Sie, das war die gesamte Verfolgergruppe?«, fragte sie so hastig, dass Geary vermutete, sie wolle nur das Thema wechseln.

Woher bitte soll ich das denn wissen? , wollte er sie anherrschen, stattdessen jedoch dachte er sekundenlang über ihre Frage nach. »Vermutlich ja. Wenn sie mehr geschickt hätten, warum sollten sie dann so viel Zeit zwischen beiden Gruppen verstreichen lassen?« Er hielt inne. »Allerdings war das keine große Streitmacht. Sie hätten in der Lage sein sollen, gleich nach uns in den Sprung zu wechseln.«

»Sie waren nur etwas mehr als eine Stunde hinter uns.« Desjani schien nachzudenken, dann nickte sie. »Sie haben gezögert und dann eine kleine Kampfgruppe für den Fall hergeschickt, dass wir nicht vorbereitet sind.«

Gezögert. Ja. Geary erwiderte das Nicken. »Die haben jemanden geschickt, damit sie ihren Vorgesetzten erzählen können, dass sie sich an unsere Fersen geheftet haben. Genügend Schiffe, um es nach einem ernsthaften Versuch aussehen zu lassen, aber nicht so viel, dass der Verlust sie schmerzen würde.« Ein Jammer für die Matrosen an Bord dieser Schiffe, deren Vorgesetzte sie als entbehrlich angesehen hatten.

»Ja, genau. Ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts.«

Captain Desjani sah ihm genau in die Augen und sprach mit tonloser Stimme.

»Schon verstanden.« Ich muss mir merken, Captain Desjani nicht falsch einzuschätzen. Für alles, was sie macht, glaubt sie einen guten Grund zu haben. Er biss sich auf die Unterlippe, während er sein Display betrachtete. Wenn das alle Verfolger waren, die die Syndiks ihnen hinterhergeschickt hatten, dann konnten die Schlachtkreuzer zum Rest der Flotte zurückkehren. Aber es war denkbar, dass die Syndiks bewusst so eine große Lücke zwischen zwei Verfolgergrup-pen ließ, um die Allianz glauben zu lassen, dass niemand mehr folgte. Doch diese Schlachtkreuzer hinkten der Flotte bereits jetzt zehn Lichtminuten hinterher. Zehn Minuten, bevor eine Nachricht ihr Ziel erreichte. Zehn Minuten, in denen Geary nicht wusste, ob diese Schiffe in Schwierigkeiten steckten. Mindestens eine Stunde davon entfernt, ihnen zu Hilfe zu eilen. Und mit jeder Sekunde wurde der Abstand zu ihnen größer. »Captain Duellos, Captain Tulev, hier spricht Captain Geary. Gut gemacht. Kehren Sie bitte so schnell wie möglich zur Flotte zurück. Lassen Sie Ihre Schiffe die zugewiesenen Plätze in der Standard-Angriffsformation Alpha sechs einnehmen.«

Zehn Minuten, bis diese Nachricht Duellos und Tulev erreichte.

Dann mussten sie ihre Schiffe Fahrt aufnehmen lassen, um die Flotte einzuholen. Bis sie ihren Platz in der Formation eingenommen hatten, würden noch Stunden vergehen.

Allerdings kam es ihm so vor, als würden sie damit immer noch schneller sein als alle anderen Schiffe. Anstatt wie befohlen in Rechtecksformation zu fliegen, schienen die Schiffe das breite Ende des Keils nur noch zu verbreitern.

Was zum Teufel ist da los? Geary verkleinerte die Darstellung auf dem Display, weil er zu erkennen versuchte, ob er bei der Ansicht aus nächster Nähe irgendetwas übersehen hatten. Nein. Das Ganze ergab noch immer keinen Sinn. Nur langsamere Schiffe wie die Titan schienen sich auf der zugewiesenen Position zu befinden, und gerade der beschädigten Titan blieb ohnehin keine andere Wahl, als den schnelleren Kriegsschiffen zu folgen und ins System zu kriechen.

Nur allmählich wurde ihm bewusst, dass die Titan erschreckend allein unterwegs war. »Wo sind die Schiffe, die die Titan begleiten sollen?« Er sah sich wieder die Flotte an. » Keines der Versorgungsschiffe wird von einer Eskorte begleitet. Wo bitte schön sind diese Begleitschiffe?« Niemand auf der Brücke der Dauntless antwortete darauf.

Er vermied es, den größten Teil der Flotte über die Kommunikationsverbindung anzubrüllen, weil die Schiffe solche Mühe hatten, ihren Platz einzunehmen. Schließlich wollte er sich nicht von seiner Verärgerung leiten lassen, sondern von seinem Sachverstand. Trotzdem hätte es ein recht schnelles und leichtes Manöver sein müssen, die angeordnete Formation einzunehmen. Wenn die Begleitschiffe auf dem Weg zu ihrem jeweils zu bewachenden Schiff gewesen wären, hätten sie dort längst ankommen müssen. Das war schlichtweg nachlässig von ihnen… nachlässig? Oder steckte etwas anderes dahinter? Nachdem Geary die Anordnung seiner Flotte überprüft hatte, verkleinerte er die Darstellung, bis auch die beiden Syndik-Korvetten zu sehen waren.


Zwar dauerte es viel zu lange, bis er begriff, was dort los war, aber immerhin begriff er es. »Mögen die Vorfahren uns beistehen!«

Desjani sah ihn fragend an, da sie überlegte, ob er sich damit auf ihr Schiff bezog. »Captain Geary?«

Er war ganz auf das Display konzentriert und versuchte, seinen Zorn in den Griff zu bekommen, bevor er etwas erwiderte. Dann zeigte er auf die Bewegungen der Allianz-Schiffe. »Diese… Dummköpfe… nehmen nicht die Formation ein, weil jeder von ihnen als Erster das Feuer eröffnen will, wenn wir diese Korvetten erreichen.«

Nachdem ihm nun klar war, was sich vor seinen Augen abspielte, erschien es ihm so offensichtlich, dass er die Flugmanöver innerhalb seiner Flotte sofort hätte durchschauen müssen. Fast die gesamte Flotte dehnte sich und streckte sich förmlich nach jenem Punkt aus, an dem sie die Syndik-Korvetten würden abfangen können. Die meisten Schiffe hatten ihre vorgesehene Position verlassen oder gar nicht erst eingenommen und ignorierten dabei die ihnen zugewiesenen Aufgaben, nur damit sie ganz vorne mit dabei sein konnten, wenn die Korvetten von einer hoffnungslos übermächtigen Streitmacht ausgelöscht wurden.

Desjani machte den Eindruck, als wolle sie sich eine Bemerkung verkneifen, dann aber setzte sie doch zum Reden an: »Aggressivität ist die vorrangige…«

»Aggressivität? So bezeichnen Sie das?«

»›Dicht am Feind bleiben.‹« Desjani sagte es auf eine Art, als wür-de sie wieder etwas zitieren. Und mit ihrem nächsten Satz bestätigte sie seinen Verdacht. »Das war einer der letzten bei Grendel ausgege-benen Befehle.« Sie sah ihn nur an, weil sie wusste, er würde den Zusammenhang schon erkennen.

Dann erinnerte sich Geary, während er versuchte, sich seine Ge-fühle nicht anmerken zu lassen. Immerhin waren diese Erinnerungen an ein Gefecht im Grendel-System vor hundert Jahren für ihn kaum mehr als einen Monat alt. Die Kommunikation zwischen seinem Schiff und den anderen Einheiten im Konvoi war ausgefallen, als sie gegen die Syndiks kämpften. Doch unmittelbar vor dem Zu-sammenbruch der Verbindung hatte einer seiner letzten Befehle an seine eigene Crew gelautet, »dicht am Feind zu bleiben«. Was nur seiner Crew gegolten hatte, war über das Kommandonetz an alle Schiffe übertragen worden. »Sie wollen mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass… dass…«

Sie nickte und strahlte vor Stolz. Stolz auf sich selbst, auf die Flotte, auf Geary. »Das ist unsere vorrangige Devise, wenn wir auf den Feind treffen. Aggressiv sein, niemals zögern, niemals abwarten.

Dicht am Feind bleiben, wie Black Jack Geary es vor langer Zeit befohlen hatte«, erklärte sie voller Überzeugung.

Geary hätte sie am liebsten am Kragen gepackt und durchgeschüttelt. Idioten! Alles Idioten! Das ist doch keine Lösung für jede taktische Situation! Die meiste Zeit ist das sogar eine verdammt dämliche Lösung!

»Bei allen Vorfahren aller Matrosen in dieser Flotte, Captain Desjani!

Disziplin ist mindestens so wichtig wie Aggressivität! Ein paar Fregatten genügen, um diese Korvetten unschädlich zu machen. Ich hatte vor, ein einzelnes Geschwader hinzuschicken!«

»Diese Leute wissen, dass sie unter den Augen von Black Jack Geary kämpfen, Sir. Sie wollen Ihnen zeigen, wie gut sie sind!«

»Das tun sie aber nicht! Stattdessen benehmen sie sich wie ein wahllos zusammengewürfelter Haufen! Sie ignorieren meine ausdrücklichen Befehle!« Er verkniff sich, was er am liebsten noch hin-zugefügt hätte. Desjani und die Brückencrew der Dauntless starrten ihn an, als hätte er soeben den Captain geohrfeigt. »Hören Sie, gegen Aggressivität ist nichts einzuwenden, aber wenn sie nicht mit intelli-genten Taktiken und aufeinander abgestimmten, disziplinierten Aktionen einhergeht, ist die Katastrophe vorprogrammiert.«

Desjanis Stolz wandelte sich in Sturheit. »Sie hat uns gute Dienste geleistet, Sir. Die Flotte ist stolz auf ihren Kampfgeist.«

Anstatt die nächste giftige Zurechtweisung folgen zu lassen, atmete Geary erst einmal tief durch. Ja, sie hat euch »gute Dienste geleistet«!

Kein Wunder, dass die Flotte so viele Schiffe verloren hatte. Dass sie so bereitwillig den von den Syndiks ausgeworfenen Köder ge-schluckt und kurz vor der vollständigen Vernichtung gestanden hatte. Und das alles nur, weil sie eine völlig verdrehte Vorstellung von Gearys eigener Philosophie vertraten. Ich weiß nicht mal, ob ich mich schuldig fühlen soll oder nicht. Ist es meine Schuld, wenn sie blindlings einem Bild von Black Jack Geary folgen, das es so nie gegeben hat?

Es wird eine Weile dauern, um diese Einstellung zu verändern. Ich kann ihnen nicht einfach sagen, dass sie sich irren. Wenn sie mir das abnehmen, wird sie das ihren Kampfgeist kosten. Wenn sie es mir nicht abnehmen, werden sie einfach so weitermachen, und meine Autorität steht dann auf noch wackligeren Beinen.

Er nickte Desjani bedächtig zu. »Kampfgeist ist ausgesprochen wichtig, Captain. Nach allem zu urteilen, was ich bislang miterlebt habe, kann die Flotte mit Recht stolz auf ihren Kampfgeist sein.« Seine Worte ließen sie vor Erleichterung lächeln, und als Geary sich umsah, spiegelte sich der gleiche Ausdruck in den Gesichtern der Brückencrew wider. »Aber wir müssen diesen Geist angemessen einsetzen, damit wir…« Wie formuliere ich das jetzt am überzeugends-ten? »…damit wir dem Feind maximalen Schaden zufügen können.

Es ist das Gleiche, wenn man mit einer Waffe zielt, um Gewissheit zu haben, dass sie auch ins Ziel trifft.« Geary deutete auf sein Display. »Im Augenblick ist diese Flotte als Waffe nicht so ideal auf ihr Ziel gerichtet, wie es möglich wäre.« Und ich bin der Weltmeister der Untertreibung. »Aber daran werden wir arbeiten.«

Noch während Geary diesen letzten Satz aussprach, sah er, dass die vordersten Schiffe der Flotte auf über 0,1 Lichtgeschwindigkeit beschleunigten und nicht länger vorgaben, Teil irgendeiner Formation zu sein. Vielmehr lieferten sie sich ein Wettrennen, um die beiden Syndik-Korvetten zu erreichen und zu zerstören. Zu seinem Erstaunen zeigten die inzwischen fünf Minuten alten Bilder, dass die Korvetten noch immer nicht die Flucht ergriffen hatten, sondern ihre Blockadeposition nahe der Syndik-Basis beibehielten. Geary überlegte noch, ob sie tapfer oder dumm oder einfach nur vor Angst erstarrt waren, als ihm auf einmal der Grund offensichtlich wurde: Ein Kurierschiff startete von der Basis und beschleunigte. Die Syndiks versuchten, einen Lagebericht durch einen der Sprungpunkte rings um Corvus zu schleusen. Möchte wissen, welcher Artikel in den Vorschriften besagt, dass ein Bericht gesendet werden muss, fragte sich Geary verbittert. Der Idiot, der hier das Sagen hat, würde das nicht machen, wenn es dafür keine Bestimmung gäbe.

Die vordersten Schiffe in der Allianz-Flotte beschleunigten weiter und hatten längst jene Geschwindigkeit überschritten, bei der sie noch feindliche Schiffe erfassen und angreifen konnten. Das reicht.

Höchste Zeit, dass ich die Kontrolle zurückerlange. Mit dem Daumen drückte er auf die Kommunikationskontrollen. »Hier spricht Captain Geary. Ich befehle hiermit allen Einheiten der Allianz-Flotte, sofort an ihren Platz in der Formation zurückzukehren! Alle Einheiten werden ihre Geschwindigkeit reduzieren und sicherstellen, dass sie nicht schneller als 0,1 Licht fliegen.« Es war ihm zuwider, einen solchen Befehl zu geben, während sie auf dem Weg ins Gefecht waren.

Gerade dann sollte jedem Commander gestattet sein, die Geschwindigkeit an die jeweilige Situation anzupassen. Doch Geary sah keine andere Lösung, um diesen Pulk davon abzuhalten, die Syndik-Korvetten erreichen zu wollen.

Er unterdrückte einen weiteren Fluch. Die angezeigten Positionen zahlreicher Schiffe wurden immer ungewisser, und es würde einige Minuten dauern, bis auch das am weitesten entfernte Schiff seinen Befehl erhalten hatte. »Den Schiffen des Dritten Fregattengeschwa-ders befehle ich, die Syndik-Korvetten anzugreifen. Jede Einheit, die sich in einer Position befindet, von der aus sie das Kurierschiff der Syndiks abfangen kann, erhält hiermit den Befehl, alles zu unternehmen, um das Schiff zu zerstören.«

Dann hielt er inne und wartete ab, was geschehen würde. Er wusste, ihm waren im Augenblick die Hände gebunden. Erst in ein paar Minuten würde er wissen, ob diesmal jemand seiner Order Folge geleistet hatte.

Zumindest konnte er erkennen, dass die Schlachtkreuzer auf dem Weg zur Flotte waren. Sie würden aber selbst die Nachzügler der Flotte erst in frühestens in drei Stunden erreichen. Wenigstens befolgten sie ihre Befehle.

Innerhalb der nächsten fünfzehn Minuten wurde erkennbar, dass etwas mehr als die Hälfte der Schiffe ein wenig zögerlich damit begonnen hatte, Gearys letzten Befehl in die Tat umzusetzen. Da jedoch nun die einen Schiffe langsamer wurden, während die anderen nach wie vor beschleunigten, verlor die Flotte auch noch den letzten Anschein von Ordnung. Die vordere Kante des Keils hatte sich in einen verdrehten Klecks verwandelt, in dem viele der angezeigten Positionen seiner Schiffe höchst ungewiss waren.

Das Bild vom Rand der Flotte flackerte unablässig, da sich die Schiffe bei jeder Aktualisierung längst in einer neuen Position befanden. Ein Teil war umgekehrt und beschleunigte, um das Kurierschiff abzufangen. Die Orion, von einem Abfangkurs weit entfernt, hatte aus unerfindlichen Gründen mehrere Phantome auf den Kurier abgefeuert, obwohl Abstand und relative Geschwindigkeit viel zu groß waren, um auf einen Treffer hoffen zu können.

Auch die Position des leichten Syndik-Kreuzers hatte sich wie verrückt immer wieder geändert, und nun konnte man auf der Dauntless sehen, dass er Kurs auf die Flotte genommen hatte und dabei beschleunigte. Was macht er da? Er befindet sich in keiner Position, von der aus er den Kurier abschirmen könnte. Die Ansammlung der Allianz-Schiffe erstreckte sich inzwischen in drei Richtungen, wobei ein dünner Arm nach »oben« und damit auf den Kurs des Kurierschiffs zeigte. Eine weitere Gruppe steuerte nach wie vor auf die Syndik-Korvetten und deren Basis zu, die jetzt nur noch eine Stunde entfernt war, während ein ausgedehnter Pulk aus Schiffen sich auf die zugewiesenen Positionen in der Formation zurückfallen ließ. Der leichte Syndik-Kreuzer kam um den vierten Planeten herumgeflo-gen und schien von seinem gewaltigen Antriebssystem beschleunigt auf den unteren Rand des »Kleckses« zuzusteuern.

Geary studierte das Display und versuchte herauszufinden, was dieser Kreuzer beabsichtigte. Die geschätzten Geschwindigkeits-und Richtungsvektoren für dieses Kriegsschiff sprangen von Position zu Position, als es über 0,1 Licht hinaus beschleunigte. Dabei schien es auch immer wieder seine Flugroute zu ändern, weshalb sogar die um die relativistischen Effekte kompensierte Anzeige des Kreuzers unkontrolliert hin und her sprang und sich der errechnete Kurs mit jeder Aktualisierung der Daten änderte. Nur zwei Dinge schienen sicher zu sein: Das Schiff beschleunigte weiter, und es flog auf die Allianz-Flotte zu.


Aber warum? Wenn es fliehen will, warum steuert es dann auf uns zu?

Und wenn nicht, wie will es uns dann in einen Kampf verwickeln? So nah und schnell, wie es momentan ist, wird es an unseren Schiffen vorbeischießen und genauso wenig wissen, wo die sich befinden, wie wir im Gegenzug seine Position nicht bestimmen können. Selbst mit diesem immensen Antriebssystem muss es erst einmal Fahrt wegnehmen, bevor es…

»Verdammt!« Geary bemerkte nichts von der Reaktion der Brückencrew auf seinen lautstarken Fluch. Ich hätte es sehen müssen.

Ich hätte das schon längst durchschauen müssen. Ein Schiff mit einem solchen Antrieb muss für eine bestimmte Art von Angriff konstruiert worden sein. Er zeigte auf sein Display, auf dem der Syndik-Kreuzer als schnell wandernder, flackernder Punkt dargestellt wurde. »Er will die Titan erreichen!«

»Was?« Captain Desjani verfolgte Gearys Geste schockiert. »Wie soll das möglich sein? Bei diesem Tempo kann er gar nicht feststellen, wo exakt sich die Titan befindet.«

»Das Schiff ist genau dafür gebaut worden, Captain Desjani! Ich hätte es sofort wissen müssen, als ich es sah!« Wieder deutete er auf das Display und beschrieb einen Bogen durch die Front der Allianz-Flotte bis zur Titan. »Mit diesem Antrieb kann der Kreuzer so sehr beschleunigen, dass die relativistischen Effekte es nahezu unmöglich machen, ihn zu erfassen. Sobald er sich seinen Weg durch die Verteidigung gebahnt hat, die nicht auf ihn zielen kann, dreht er und benutzt das gleiche Antriebssystem, um so stark abzubremsen, dass er wieder langsam genug ist, damit er das Objekt angreifen kann, das von den Kriegsschiffen beschützt wurde.«

Desjani knurrte regelrecht, als sie das Display betrachtete. »Die Vorfahren mögen mir verzeihen. Er wird maximale Geschwindigkeit erreicht haben, bevor er sich durch unsere vordersten Einheiten pflügt. Wir haben kaum eine Chance, Treffer zu erzielen, solange wir seinen Kurs nicht exakt bestimmen können…«

»Das können wir nicht, weil wir ja nicht mal wissen, wo er sich in diesem Augenblick aufhält!« Geary hielt inne und bleckte seine Zäh-ne. »Aber wir wissen genau, wohin er will.«

»Zur Titan?« Desjanis Finger glitten über ihre Kontrollen. Ein riesiger, gestreckter Kegel nahm Gestalt an, dessen offene Seite den Bereich anzeigte, in dem sich nach den Berechnungen der Schiffssyste-me der Syndik-Kreuzer befinden musste. »Hier. Wenn der Kreuzer die Titan zum Ziel hat und so stark abbremsen muss, um die Titan zu erfassen, während er in Waffenreichweite vorbeifliegt, dann wird er hier das Bremsmanöver einleiten müssen und hier den Kurs der Titan kreuzen.« Sie zeigte auf den Ausgangspunkt des Kegels, der so dünn wie eine Nadelspitze war.

Geary nickte, da er ein plötzliches Triumphgefühl verspürte. Darum also hatten die Syndiks nicht mehr Schiffe dieser Art gebaut.

Wenn man erst einmal wusste, was das Ziel des Kreuzers war, konnten Begleitschiffe hinter dem großen Pulk ihn kurz vor diesem Ziel abfangen. Aber Gearys Erleichterung legte sich schnell wieder, als er den Bereich rund um den von Desjani gekennzeichneten Kurs musterte. Da ist niemand, der den Kreuzer aufhalten kann. Die Eskorte der Titan ist immer noch zu weit entfernt, weil sie sich auf die sinnlose Jagd nach den Korvetten begeben haben. Die Reservegeschwader sind ebenfalls in alle Richtungen verstreut, und die Titan ist noch weiter zurückge-fallen, weil die Flotte sich von ihr entfernt hat.

Und der Commander dieses leichten Kreuzers war klug genug gewesen, die Titan als die Achillesferse der Flotte auszumachen.

Schlauer als ich, musste Geary zugeben. Das da ist ein verdammt guter Matrose. Zu schade, dass ich mein Bestes geben muss, um ihn zu töten.

Als Erstes musste dafür gesorgt werden, dass der leichte Kreuzer anderweitig beschäftigt wurde. »Alle Schiffe der Kreuzergeschwader Acht und Elf verfolgen sofort den leichten Syndik-Kreuzer.« Das waren weit mehr Schiffe, als erforderlich sein sollten, aber Geary wusste nicht, wie viele Schiffe dieser Geschwader tatsächlich nahe genug dran waren, um dem Kreuzer Kopfzerbrechen zu bereiten.

Keines von ihnen würde in der Lage sein, vor dem Angreifer die Titan zu erreichen, doch wenn Geary ihn dazu zwang, die Geschwindigkeit zu reduzieren, dann konnten sie womöglich etwas bewirken.

»Alle übrigen Schiffe feuern auf den leichten Kreuzer, falls er in Waffenreichweite kommt.«

Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um nach den Korvetten zu sehen. Ihre Aufgabe, den Start des Kuriers zu schützen, war abgeschlossen, und nun hatten sie die Flucht angetreten. Geary schüttelte den Kopf. Sie sind zu langsam, und sie haben zu lange gewartet. Einige Allianz-Schiffe waren nur eine halbe Stunde hinter ihnen, und die Korvetten konnten nicht schnell genug beschleunigen. »Captain Desjani, teilen Sie den beiden Fregatten bitte mit, dass sie zerstört werden, wenn sie nicht auf der Stelle kapitulieren.«

»Jawohl, Captain Geary.« Diesmal behielt sie ihre Meinung für sich.

Oberhalb und seitlich von ihrer Position hatte sich das Kurierschiff auf Geschwindigkeit und relativistische Ungewissheit verlassen, um dem Ansturm der Allianz-Schiffe zu entkommen, doch ein Zerstörer hatte seine Position zum Kurier zu seinem Vorteil genutzt und war von unten auf einen perfekten Abfangkurs gegangen. Geary blieben nur Sekunden, um sich vor Augen zu halten, dass er dem Kurierschiff keine Gelegenheit gegeben hatte, sich zu ergeben, da eröffnete der Zerstörer bereits das Feuer auf ihn. Die Höllenspeere schossen in die Flugbahn des Kuriers, der in das Sperrfeuer steuerte. Die Geschosse bohrte sich auf der Stelle durch den geringen Schutz, den das kleine Schiff besaß. Dessen Maschinen explodierten, und das gesamte Schiff wurde in unzählige winzige Stücke gerissen. Zu schade.

Aber ein guter Abfangkurs. Welcher Zerstörer war das? Die Rapier, ein Schiff aus der Sword-Klasse. Den muss ich mir merken.

»Eine der Korvetten meldet, dass sie kapituliert«, ließ der Komm-Wachhabende der Dauntless ihn wissen, wobei die Frau sich einen verdutzten Unterton nicht verkneifen konnte.

»Instruieren Sie die…« – Geary sah hastig auf das Display – »…

die Audacious, die Korvette einzuholen, zu entern und alles an Bord zu bringen, was wir irgendwie gebrauchen können.« Er hielt inne und dachte daran, wie wenig man sich bisher um seine Befehle ge-kümmert hatte. Dann betätigte er seine eigenen Kontrollen. »An alle Einheiten der Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary. Ich habe persönlich die Kapitulation der Syndik-Korvette PC-14558 angenommen.« Desjani sah ihn mit großen Augen an. Er hatte gerade eben alle wissen lassen, dass die Korvette jetzt seinem persönlichen Schutz unterstellt war. Es war eine extreme Maßnahme, aber er hatte ein ungutes Gefühl, dass das Schiff trotz Kapitulation nicht vor einem Angriff seiner übereifrigen Commander sicher war.

Sein Blick kehrte zurück zu den Schlachtkreuzern weit achtern, und er wünschte, er könnte sie irgendwie zur Titan teleportieren.

Dann suchte er nach dem Syndik-Kreuzer.

Er entdeckte ihn, wie er an den führenden Allianz-Schiffen vorbei-raste.

Von einem Gefühl der Hilflosigkeit begleitet, verfolgte Geary mit, wie die dem Syndik-Kreuzer nächsten Allianz-Schiffe vergeblich versuchten, ihn abzufangen. Doch das Schiff flog bereits über 0,2 Licht schnell und stürzte die Zielerfassungssysteme der Allianz so sehr in Verwirrung, dass sie nicht in der Lage waren, ihre Vorausbe-rechnungen zu korrigieren. Ein paar Phantome schafften es bis in die Nähe des Kreuzers und versuchten, seiner Flugbahn zu folgen, doch sie alle jagten ihm mit niedriger relativer Geschwindigkeit nach, ohne Chance darauf ihn einzuholen. Sie vergingen in Lichtblitzen, als die Verteidigungsanlagen des Syndik-Schiffs sie registrierten, die sich nur darauf konzentrieren mussten, was hinter dem Schiff geschah, da Angreifer nur von dort kommen konnten.

Alle sahen sie jetzt Geary an, und auch wenn sie nichts sagten, wusste er genau, was sie dachten. Was machen wir jetzt, Black Jack?

Wie holen Sie uns aus dieser Situation heraus? Er wusste, sie waren davon überzeugt, dass er das konnte. Diese Idioten. Wenn sie sich immer wieder taktisch auf verheerende Weise verzettelten, wie lange würde es da noch dauern, bis auch Geary keinen Ausweg mehr wusste?

Verdammt, verdammt und noch mal verdammt! Dieser Syndik-Commander hat die schwächste Stelle in unserer Flotte entdeckt. Wenn wir die Titan verlieren, gefährdet das unsere Rückkehr nach Hause. Aber er muss die Titan gar nicht zerstören, sondern nur so stark beschädigen, sodass wir entweder hier warten, bis der größte Teil der Syndik-Flotte eintrifft, mit deren Ankunft er fest rechnet, oder ein Schiff aufgeben, das diese Flotte dringend nötig hat.

Nein, die Titan ist eine der Schwachstellen dieser Flotte. Die andere betrifft die mangelnde Disziplin, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass die Eskortschiffe der Titan ihren zugewiesenen Platz verließen. Ich kann nichts daran ändern, dass wir auf die Titan praktisch nicht verzichten können, aber ich kann etwas gegen die lasche Einstellung in dieser Flotte tun.

Falls ich dazu noch eine Chance bekomme.

Gearys Blick wanderte über das Display, wobei er die unsicheren Angaben zur exakten Position des Syndik-Kreuzers ignorierte und sich ganz auf seine Instinkte verließ, um einzuschätzen, welche Chancen eines seiner Kriegsschiffe hatte, den Feind zu erreichen, bevor der es bis zur Titan geschafft hatte. Er nahm kaum Notiz vom schnellen Tod der zweiten Syndik-Korvette, die unter einem Ansturm von Höllenspeeren verging, da sie versucht hatte, die Flucht zu ergreifen, anstatt zu kapitulieren. Dann erkannte Geary, dass es sehr wohl ein Schiff gab, das sich noch gerade rechtzeitig in den Weg stellen konnte.

Die Dauntless.

Dieser Kreuzer ist möglicherweise als Selbstmordkommando unterwegs.

Die Dauntless sollte in der Lage sein, ihn mit ihrer Feuerkraft außer Gefecht zu setzen. Aber wenn er beschließt, die Dauntless zu rammen oder in unmittelbarer Nähe zu ihr die Selbstzerstörung zu aktivieren, dann könnte ich dieses Schiff verlieren. Und selbst wenn der Kreuzer niemanden rammen will, ist seine Sicht nach vorn durch seine hohe Geschwindigkeit erheblich eingeschränkt. Allein der Versuch, ihn abzufangen, könnte eine Kollision nach sich ziehen, bei der beide Schiffe vernichtet werden.

Ich versprach Admiral Bloch, diese Flotte zusammen mit dem Hypernet-Schlüssel nach Hause zu bringen. Ich kann die Dauntless nicht aufs Spiel setzen.

Aber wenn ich die Dauntless schütze, könnte ich die Titan verlieren.

Doch Bloch und Desjani erklärten beide, der Hypernet-Schlüssel auf der Dauntless sei wichtiger als alles andere in dieser Flotte.

Plötzlich erinnerte er sich an einen sehr alten Mythos von einem Helden, der nach einem langen Krieg nach Hause zurückkehren will und unterwegs ein Schiff nach dem anderen und einen Gefolgs-mann nach dem anderen verliert, bis er am Ende der einzige Heimkehrer ist. Und vor seinem geistigen Auge sah er die Dauntless, wie sie sich zurück ins Territorium der Allianz schleppte, während der Weg nach Hause von den Wracks und Trümmern seiner Flotte ge-säumt wurde.

In seinen Augen würde das in keiner Hinsicht ein Triumph sein.

Und selbst wenn, wäre es ein zu hoher Preis.

Und wie lange werden diese Leute meinen Anweisungen folgen, wenn ich mich zurückhalte und sie einen nach dem anderen sterben lasse?

Geary konzentrierte sich wieder auf die Crew um ihn herum, die ihn beobachtete, und erkannte erst dann, dass nur ein paar Sekunden vergangen waren, während er mit sich selbst gerungen hatte.

»Captain Desjani, die Dauntless soll diesen Syndik-Kreuzer unschädlich machen, bevor er in die Nähe der Titan gelangen kann.«

Desjani grinste, während die anderen Matrosen auf der Brücke Freudenschreie ausstießen. »Das wird uns ein Vergnügen sein.«

»Er ist sehr schnell, und er ist gut, Captain Desjani. Gehen Sie keine Risiken ein. Wir müssen sicher sein, dass wir ihn erwischen, und wir werden nur eine Gelegenheit dazu bekommen.«

»Ja, Sir.«

Die Dauntless machte unter Desjanis Anweisungen förmlich einen Satz nach vorn, als sie auf maximale Leistung ging. Sogar Geary verspürte eine gewisse Begeisterung, als sich das Schiff auf seine Beute zubewegte. Er beobachtete das Geschehen, aber er wollte nicht über Desjanis Kopf hinweg Befehle an ihre Crew geben, obwohl er fürchtete, sie könnte den Kurs des Kreuzers falsch einschätzen. Wenn sie über ihr Ziel hinausschossen, würde die für ein Wendemanöver erforderliche Zeit für die Titan den Untergang bedeuten.

Doch Desjani ging das Manöver geschickt an, wie Geary feststellen konnte, als er den von ihr angeordneten Kurs betrachtete und erkannte, dass sie die Schätzungen des Gefechtssystems ignorierte.

Stattdessen brachte sie die Dauntless auf einen Abfangkurs, der sie weit vor den Kreuzer auf jenen Kurs führte, den er einschlagen musste, wenn er in Feuerreichweite zur Titan gelangen wollte. Bei der Geschwindigkeit, mit der er unterwegs war, würde er das Ma-növer der Dauntless vermutlich erst wahrnehmen können, wenn es für eine Reaktion längst zu spät war. Es sei denn, der Syndik-Commander rechnet damit, dass die Dauntless sich ihm in den Weg stellen will.

Aber was soll er schon machen? Wenn er den Kurs ändert, passiert er die Titan nicht nahe genug, um das Feuer zu eröffnen. Wenn er Fahrt zurück-nimmt, damit die Kursberechnung hinfällig wird, dann können meine anderen Schiffe nahe genug an ihn herankommen, um ihm genug Müll in die Flugbahn zu werfen, dass er mit irgendetwas davon garantiert zusammen-stoßen wird. Beschleunigen kann er ebenfalls nicht, weil er dann nicht mehr rechtzeitig abbremsen kann, um auf die Titan zu feuern und mit einem Treffer zu rechnen.

Jedenfalls hoffe ich das.

Geary beobachtete sein Display, als die Dauntless eine Kurve hin-unter zu dem Punkt beschrieb, wo sie die wahrscheinliche Flugbahn des Syndik-Schiffs kreuzen würde. Dabei verspürte er eine seltsame Seelenverwandtschaft mit demjenigen, der das Kommando über diesen Kreuzer hatte. Derjenige wusste, wie er das Schiff zu handha-ben hatte, und er verfügte über eine gut ausgebildete Crew. Wie lange hatte sie hier in ihrem Quasi-Exil im Corvus-System verharren und darauf warten müssen, dass der sehr unwahrscheinliche Fall eintrat und sich eine Allianz-Streitkraft hierher verirrte? Wie leicht es doch war, unter diesen Umständen nachlässig zu werden und zu der Einstellung zu gelangen, dass es hier ohnehin nie zu einem Gefecht kommen würde. Doch wer immer diese Crew führte, hatte nichts schleifen lassen und dafür gesorgt, dass das Schiff in der gleichen exzellenten Verfassung war wie seine Mannschaft. Die Anstrengungen hatten sich fast bezahlt gemacht. Und vielleicht würden sie sich ja doch noch bezahlt machen.

Die geschätzte Position des Syndik-Kreuzers machte wieder einen Satz. »Er wird bald abbremsen müssen«, meinte Desjani.

Geary nickte. »Glauben Sie, er hat uns schon gesehen?«

»Unwahrscheinlich, Sir. Der Kreuzer verfügt über alte Gefechtssysteme, die von all den Schiffen in diesem System extrem bean-sprucht werden und dabei auch noch versuchen müssen, die relativistische Störung der eigenen Fluggeschwindigkeit auszugleichen.

Aber selbst wenn er uns sieht, kommt er nicht an uns vorbei«, versprach sie mit sanfter Stimme.


»Ich weiß.«

Desjani reagierte auf Gearys schlichte Vertrauensbekundung mit einem energischen Grinsen, ohne dabei den Blick vom Gefechtsdis-play abzuwenden, während sie die Dauntless auf die Flughöhe des gegnerischen Kreuzers herabsinken ließ. Geary stutzte. Die Dauntless musste in der Lage sein, das Schiff zu treffen, aber bei den kombinierten Geschwindigkeiten der Dauntless und des Syndik-Kreuzers würden sie in einem winzigen Augenblick aneinander vorbeijagen, ohne überhaupt die Zielerfassung aktivieren zu können. War sich Desjani dessen bewusst? Oder konzentrierte sie sich so sehr darauf, den Feind zu erreichen, dass ihr gar nicht klar war, was passieren würde? Sollte er sie darauf ansprechen? Sollte er sie vor ihrer versammelten Crew übergehen und einen anderslautenden Befehl erteilen?

Die Flugbahnen beider Schiffe liefen weiter aufeinander zu, die noch verbleibende Entfernung bis zum Syndik-Kreuzer schrumpfte in atemberaubendem Tempo. Schließlich räusperte sich Geary.

»Captain…«

Aber Desjani hob eine Hand, den Blick nach wie vor auf das Ge-fechtsdisplay gerichtet. »Ich habe ihn, Captain Geary.«

Dessen war er sich nicht annähernd so sicher wie sie, dennoch schwieg er. Dies war einer von den Momenten, in denen man entweder einem anderen Menschen vertraute oder aber erkannte, dass man keinen Funken Vertrauen in ihn hatte. Bislang war ihm Desjani als ein sehr fähiger Captain vorgekommen.

Also versuchte Geary so dreinzuschauen, als vertraue er ihr bedingungslos, während er insgeheim zu seinen Vorfahren betete, dass sie wusste, was sie tat.

»Er müsste jetzt abbremsen.« Captain Desjani rasselte eine Reihe von Befehlen herunter, um die Dauntless zu drehen, damit das Hauptantriebssystem nach vorne gerichtet war. »Volle Kraft voraus.« Die Dauntless begann zu erzittern, als der eigene Antrieb ihre Geschwindigkeit drosselte und das Schiff wegen der einwirkenden Kräfte zu ächzen begann. Geary spürte, wie er in seinen Sessel gepresst wurde. Ein hohes Heulen erfüllte die Luft, da die Trägheitsdämpfer bis an ihre Belastungsgrenze getrieben wurden, um den Druck auf Schiff und Crew in einem erträglichen Rahmen zu halten.

Der vorausberechnete Kurs der Dauntless änderte sich schnell und beschrieb einen Knick hin zur Flugbahn des Syndik-Kreuzers, auf der dieser zur Titan unterwegs sein musste.

Näher. Geary versuchte unbemerkt zu schlucken.

Desjanis Blick war auf das Display fixiert. »Er müsste sich jetzt bei unter 0,2 Licht befinden, wenn er abbremst, um auf die Titan feuern zu können.« Das Bild des Syndik-Kreuzers, der jetzt nur noch Lichtsekunden entfernt war und damit einer Echtzeitdarstellung so nahe-kam, wie es bei Raumschlachten oft der Fall war, schien sich dicht an der von Desjani vorausgesagten Flugbahn zu bewegen. »Kartätschen vorbereiten und in Sequenz abfeuern, während wir den geschätzten Kurs des Kreuzers passieren. Null-Feld laden und in Bereitschaft halten.«

Die Dauntless, die ihre Geschwindigkeit immer noch stark verlangsamte, kreuzte die Flugbahn des Syndik-Schiffs in spitzem Winkel, die Kartätschen-Werfer feuerten ihre Geschosse währenddessen im Millisekundentakt ab.

»Vier Phantome abfeuern, zwei an Steuerbord, zwei an Backbord.«

Die Flugkörper schwärmten aus und bremsten ab, da die Bordsenso-ren den von relativistischen Effekten freien Syndik-Kreuzer erfassten, dann beschleunigten sie, um ihr Ziel zu erreichen.

Desjani hielt kurz inne. »Null-Feld abfeuern.«

Geary schaute auf sein Display, als der die Null-Feld-Ladung dar-stellende riesige leuchtende Ball in die Höhe schoss und auf den gegenwärtigen Kurs des Kreuzers hinabsank.

Und dann auf einmal war der Kreuzer da, die Entfernungsanzei-gen kamen kaum noch damit zurecht, den rapide schrumpfenden Abstand anzuzeigen, während er unverändert weiterraste. Womöglich hatte er das Eingreifen der Dauntless noch gar nicht bemerkt, oder aber er vertraute auf seine enorme Schnelligkeit, um das letzte Hindernis auf dem Weg zur Titan zu überwinden. Obwohl er nichts anderes erwarten durfte, weil er wusste, der Kreuzer musste abbremsen, war Geary dennoch überrascht, als ihm klar wurde, dass er auf das Heck des Kreuzers schaute, der mit seinem gewaltigen Antriebssystem seine Geschwindigkeit reduzierte.

Lichter blitzten auf, als der Kreuzer mit dem Heck voran in das Sperrfeuer aus Kartätschen raste und jedes der Geschosse auf die Schilde traf und in einer Explosion verging. Die Summe der Treffer ließ den Kreuzer langsamer werden, als durchbreche der eine Zie-gelsteinmauer nach der anderen, während zugleich die rückwärtigen Schilde geschwächt wurden. Geary beobachtete angespannt das Display und überlegte, dass die zusätzliche Verzögerung vermutlich eine höhere Belastung darstellte, als die Trägheitsdämpfer des Schiffs auszugleichen imstande waren. Er dachte darüber nach, was das für die Crew bedeuten musste, doch es hingen zu viele Menschenleben in der Allianz-Flotte davon ab, dass dieses Schiff gestoppt wurde. Das Schicksal dieser Crew darf keinen Einfluss auf meine Entscheidungen haben. Und davon abgesehen war das ein hervorragend gelöstes Abfangmanöver. »Sehr gut gemacht, Captain Desjani.«

Aus Freude über sein Lob lief ihr Gesicht rot an, doch ihre Stimme verriet keine Gefühlsregung. »Er ist noch nicht tot.«

Im nächsten Moment raste der Kreuzer in das Null-Feld. Die von der raschen Abfolge der Treffer durch die Kartätschen-Salven geschwächten Schilde flammten auf und versagten, da die Waffe sich in die eine Seite des sich rasch vorwärts bewegenden Schiffs schnitt, als würde ein Messer durch Butter gleiten. Der Kreuzer kam von seinem Kurs ab, während sich die Ladung in einen langen Bereich des Rumpfs bis hinein ins Innere des Schiffs fraß. Durch eine Gaswolke – eben noch massive Bestandteile des Kreuzers – hindurch beobachtete Geary mit einer Art kranker Faszination, wie das schwer beschädigte Syndik-Kriegsschiff oberhalb der Dauntless vorbeischoss.

In diesem winzigen Augenblick glaubte er, sekundäre Explosionen und entweichende Atmosphäre zu sehen, da Bereiche, die sich eben noch geschützt tief im Inneren des Schiffs befunden hatten, jetzt in direkten Kontakt mit dem Vakuum des Alls kamen.

Als die zuvor abgefeuerten Phantome von beiden Seiten auf das nun deutlich langsamer gewordene Ziel zuschossen, fragte Geary sich, ob die Dauntless den Syndik-Kreuzer würde verfolgen und einholen müssen, um ihm den Rest zu geben. Irgendeines der Verteidi-gungssysteme an Bord musste immer noch arbeiten und brachte einen Glückstreffer zustande, der ein Phantom aufflammen und verschwinden ließ. Einer der Flugkörper beschrieb mehrere Ausweichmanöver, doch in der gleichen Zeit flogen die beiden Phantome auf der anderen Seite geradewegs in den Strahl des Kreuzers.

Zwei Explosionen erfassten das letzte Drittel des Kreuzers, dann brach das Schiff auseinander. Einen Augenblick darauf verging der kleinere Heckabschnitt in einem größeren Feuerball, als der Antrieb hochging.

Der vordere, schwer beschädigte Teil des Kreuzers rotierte und musste einen weiteren Schlag hinnehmen, als das letzte Phantom ihn rammte und ein großes Stück heraussprengte.

Plötzlich wurde Geary darauf aufmerksam, dass die Brücke der Dauntless von Jubelrufen erfüllt war. Er atmete tief durch, sah die Überreste des Kreuzers durchs All wirbeln, wandte dann den Blick ab und bemerkte, wie Captain Desjani ihn mit einem triumphieren-den Grinsen auf den Lippen beobachtete.

»Warum jubeln Sie nicht, Captain Geary?«, fragte sie.

Er schloss die Augen. »Mir ist nie nach Jubel, wenn tapfere Menschen sterben, Captain Desjani. Diese Syndiks mussten gestoppt werden, doch sie haben gut gekämpft.«

Sie zuckte mit den Schultern und strahlte immer noch. »Wären die Syndiks als Sieger hervorgegangen, dann würden sie jetzt auch jubeln.«

»Mag sein, aber ich nehme mir die Syndiks nicht zum Vorbild.« Er deutete auf das Display, ohne Desjani anzusehen. »Sie haben mit diesem Abfangmanöver hervorragende Arbeit geleistet, Captain Desjani. Es gibt keine weiteren aktiven Kampfschiffe der Syndiks.

Ich würde gern Ihre Meinung zu der Möglichkeit hören, Beiboote zu diesem Wrack zu schicken.«

»Es dürfte schwierig sein, an das Wrack heranzukommen, und so wie wir das Schiff zerschossen haben, werden wir wahrscheinlich nichts mehr bergen können.«


»Es könnte Überlebende geben, Captain Desjani.«

Sekundenlang schwieg sie. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Er hörte ihr an, dass sie nicht seiner Meinung war, doch das kümmerte ihn nicht sonderlich.

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