VIII. Unsichtbar

Tarantoga, dem ich diese Aufzeichnungen zu lesen gegeben habe, behauptet, ich stelle alle Personen, die meine Mission vorbereitet und überwacht haben, als Trottel oder Pfuscher hin. Dabei liefere die allgemeine Systemtheorie doch den mathematischen Nachweis, daß es kein Element oder Einzelteil gibt, das absolut zuverlässig wäre. Sollte die Störanfälligkeit des jeweiligen Elements sogar eins zu einer Million betragen, so muß ein aus einer Million Einzelteilen bestehendes System irgendwo kaputtgehen. Das System indessen, von dem ich auf dem Monde nur das Zünglein war, habe achtzehn Millionen Bestandteile gehabt, folglich sei der für die meisten meiner Schwierigkeiten verantwortliche Tölpel die Materie, denn wenn sich auch alle Experten auf den Kopf gestellt hätten und dazu samt und sonders Genies gewesen wären, so hätte es dadurch nur noch schlimmer, niemals aber besser kommen können.

Das mag ja stimmen. Auf der anderen Seite hatte die Folgen all dieser unvermeidlichen Havarien ich auszubaden, ich allein, und sieht man es psychologisch, so wird in einer üblen Lage niemand seinen Ärger an Atomen oder Elektronen, sondern an konkreten Personen auslassen — also waren auch meine Wutausbrüche und über Funk veranstalteten Krawalle unvermeidlich.

In den letzten LEM hatte die Zentrale besondere Hoffnungen gesetzt, denn er war ein Wunderwerk der Technik und gewährte maximale Sicherheit. Es war ein Sendling in Pulverform. Statt eines stählernen Athleten ruhte im Container ein großer Haufen mikroskopisch kleiner Körnchen, deren jedes es an intellektueller Dichte mit einem Supercomputer aufnehmen konnte. Unter dem Einfluß bestimmter Impulse begannen sich diese winzigen Dinger zu verketten, um einen LEM zu bilden. Hier bedeutete diese Abkürzung LUNAR EVASIVE MOLECULES. Ich konnte als stark zerstreute Molekülwolke landen und mich je nach Bedarf in einen Roboter von Menschengestalt oder ein anderes der 49 programmierten Geschöpfe verwandeln. Selbst wenn 85 Prozent dieser Körnchen zugrunde gingen, reichten die übrigen zur Fortsetzung des Erkundungsganges aus. Die Theorie dieses als DISPERSANTEN bezeichneten Sendlings ist so kompliziert, daß sie für keinen einzelnen Kopf zu fassen ist, und gehöre dieser selbst einem gemeinsamen Kinde Einsteins, des Prestidigitateurs von Neumann, des Wissenschaftsrats des Massachusetts Institute of Technology plus Rabindranath Tagore. Auch ich also hatte davon nicht die blasseste Ahnung. Ich wußte nur, daß ich in dreißig Milliarden Teilchen versetzt wurde, die an Vielseitigkeit jede lebende Zelle weit übertrafen, und daß vielfach gedoubelte Programme diese Teilchen zwangen, sich zu den vielfältigsten Aggregaten zusammenzufügen, die sich wiederum per Knopfdruck in ein Teilchengestöber zurückverwandeln ließen. Im Zustand der Dispersion war all das unsichtbar für Auge, Radar und sämtliche Strahlungsarten — mit Ausnahme von Gammastrahlen. Sollte ich also in eine Falle geraten, konnte ich mich auflösen, einen taktischen Rückzug antreten und mich in gewünschter Gestalt wieder sammeln.

Was man empfindet, wenn man eine Wolke von reichlich zweitausend Kubikmeter Rauminhalt ist, kann ich nicht wiedergeben. Um das zu verstehen, muß man eine solche Wolke gewesen sein. Der Verlust des Gesichtssinns, genauer gesagt: der optischen Sensoren, ließ sich jederzeit wettmachen, das gleiche galt für Arme, Beine, Fühler, Geräte. Ich mußte nur aufpassen, daß ich mich im Reichtum der Möglichkeiten nicht verirrte, dann nämlich konnte ich die Schuld an meinem Scheitern nur mir selber zuschreiben. Die Gelehrten hatten sich damit aller Verantwortung für die Störanfälligkeit des Sendlings entledigt — und die auf mich abgeschoben. Ich kann nicht behaupten, daß mich das in ein absolutes Hochgefühl versetzt hätte.

Bei hochstehender Sonne landete ich am Äquator auf der abgewandten Seite des Mondes, mitten im japanischen Sektor. Ich hatte die Gestalt eines Zentauren angenommen, das heißt eines Geschöpfs, das vier untere Extremitäten und zwei Arme am Oberteil des Rumpfes besaß, dazu ein Tarnsystem, das mich als hochintelligentes Gas umhüllte. Den Namen eines Zentauren verdankte die Gestalt mangels besserer Kennzeichnung der entfernten Ähnlichkeit mit jenem Wesen, das aus der Mythologie bekannt ist.

Obgleich ich mich auf dem Übungsplatz der Lunar Agency auch mit diesem Sendling in Pulverform vertraut gemacht hatte, prüfte ich ihn im Laderaum auf seine Funktionstüchtigkeit. Es war unglaublich, anzusehen, wie dieser große Haufen glimmernden Pulvers nach Einschaltung des entsprechenden Programms in rieselnde Bewegung geriet, sich mischte, zusammenschloß und zur georderten Gestalt formte und wie diese nach Abschalten des elektromagnetischen Feldes (oder was immer sie zusammenhielt) in einem Augenblick zerfiel wie ein Kuchen aus Sand unter einem Fußtritt. Eigentlich sollte es mir Mut machen, daß ich jederzeit zerfallen und wiedererstehen konnte, aber die Wandlungen waren eher unangenehm, jedesmal verbunden mit starkem Schwindel und heftigem Beben. Dieser Zustand hielt an, bis ich eine neue Gestalt angenommen hatte, und abzuhelfen wäre ihm, wie es hieß, nur durch eine thermonukleare Explosion in unmittelbarer Nähe gewesen. Ich hatte mich auch nach der Wahrscheinlichkeit erkundigt, daß ich mich infolge eines Defekts endgültig auflöste, bekam aber keine unmißverständliche Auskunft. Natürlich machte ich den Versuch, zwei Programme auf einmal einzuschalten; nach dem einen sollte ich mich in einen Moloch von Menschengestalt verwandeln, nach dem anderen in eine drei Meter lange, plattköpfige Raupe mit gewaltigen Greifscheren. Der Versuch schlug fehl, der Selektor der Verkörperungen arbeitete nach dem Entweder-Oder-Prinzip.

Diesmal stand ich auf dem Mond, ohne die Mikropen im Rücken und als Reserve zu haben, ich war ja gewissermaßen selber eine Masse mikroskopisch kleiner Zyklopen (die Techniker nennen sie in ihrem Jargon auch Mikrozicken). Ich zog einen unsichtbaren Schwanz von Relaisstationen hinter mir her, eine Schleppe von Nebel, der nur sichtbar wurde, wenn er sich verdichtete. Auch mit der Fortbewegung hatte ich keine Probleme. Wißbegierig, wie ich bin, hatte ich gefragt, was denn sein würde, falls es auf dem Mond inzwischen ebenfalls solche wandlungsfähigen Automaten gebe. Eine Antwort bekam ich nicht, obgleich man auf dem Übungsgelände solche Exemplare zu zweien und sogar zu dreien aufeinander losgelassen hatte, damit sie sich vermischten wie aus verschiedenen Himmelsrichtungen aufziehende Wolken. Zu 90 Prozent bewahrten sie ihre Identität. Eine neunzigprozentige Identität ist ebenfalls nicht leicht zu erklären, man muß so was einfach erlebt haben.

Der Erkundungsgang, den ich hier schildere, ließ sich an wie geschmiert. Ich marschierte drauflos, ohne mich nach allen Seiten umsehen zu müssen, denn ich hatte sie alle auf einmal im Auge, wenngleich seitlich und hinten in einer bestimmten Verkürzung, wie eine Biene mit ihren halbkugelförmigen Augen, die mit Tausenden Ommatidia überall gleichzeitig hingucken können. Da aber keiner meiner Leser jemals eine Biene gewesen ist, dürfte auch dieser Vergleich nicht dazu angetan sein, meine Empfindungen wiederzugeben.

Es war das Geheimnis der einzelnen Staaten, wie sie ihre computergesteuerten Waffenbrütereien programmiert hatten, die Japaner aber waren dafür bekannt, daß sie hinterm Berg hielten und es faustdick hinter den Ohren hatten. Von daher war ich auf greuliche Überraschungen gefaßt. Professor Hagakawa, der unserem Team in der Zentrale angehörte, wußte bestimmt auch nicht, wohin sich die Urlarven der japanischen Waffen entwickelt hatten, gab mir anständigerweise aber die Warnung mit auf den Weg, vorsichtig zu sein und nicht auf Schein und Trug hereinzufallen. Da ich nicht wußte, wie Schein und Trug von Tatsachen zu unterscheiden waren, trabte ich gemächlich über das eintönige, flache Gelände. Erst fern am Horizont erhob sich der niedrige Wall eines Kraters. Vivitch, Hagakawa und der ganze Rest äußerten größte Zufriedenheit, weil das über die trojanischen Satelliten auf die Erde übertragene Fernsehbild ausgezeichnet war, „rasiermesserscharf“, wie sie sagten. Nach einer Stunde fielen mir zwischen den regellos im Sand steckenden Steinen plötzlich niedrige Stengel auf, die sich in meine Richtung neigten. Sie sahen aus wie die Stiele verwelkten Kartoffelkrauts. Ich fragte an, ob ich das Zeug mal untersuchen sollte, aber niemand wollte mir die Entscheidung abnehmen, und als ich auf stur schaltete, waren die einen der Ansicht, ich solle unbedingt Hand anlegen, während die anderen meinten, ich solle die Finger davon lassen. Also beugte ich meinen Zentaurenrumpf über ein größeres Büschel dieses Krauts und suchte einen der krummen Stengel abzureißen. Das gelang auch, ich hatte ihn in der Hand und wollte ihn in Augenschein nehmen, wobei weiter nichts passierte, als daß er sich zu winden begann wie eine Schlange und sich fest um mein Handgelenk legte. Nach etlichen anderweitigen Versuchen bekam ich heraus, daß er auf Streicheleinheiten ansprach: Auf ein zärtliches Fingerkraulen hin löste er den Griff.

Eigentlich war es blöd, das Wort an welke Stiele von Kartoffelkraut zu richten, auch wußte ich, daß dies mit Kartoffeln nichts zu tun hatte, aber komisch war es doch, und ich probierte es. Ich rechnete nicht damit, eine Antwort zu bekommen, ich bekam auch keine, warf den Krautstiel, der sich wie ein Wurm ringelte, beiseite und trabte weiter.

Die Gegend erinnerte an ein vernachlässigtes Gemüseanbaugebiet und machte dadurch einen recht idyllischen Eindruck. Dennoch war ich jeden Augenblick auf einen Angriff gefaßt und provozierte dieses Pseudogemüse sogar, indem ich es mit Hufen trat (so nämlich sah meine Fußbekleidung aus; wäre mir daran gelegen gewesen, hätte ich sie auch gespalten tragen können!). Bald darauf kam ich an lange Beete anderer toter Pflanzen. Vor einem jeden stand ein großes Schild mit der Aufschrift STOP! HALT! STOP! und den Entsprechungen in zwanzig anderen Sprachen einschließlich des Malayischen und des Hebräischen. Ich störte mich nicht daran und trabte munter hinein in diese seltsame Botanik. Ein Stück weiter schwärmten dicht über dem Boden winzige blaßblaue Fliegen, die sich, meiner ansichtig werdend, zu Buchstaben formierten: DANGER! OPASNOST! GEFAHR! ATTENTION! YOU ARE ENTERING JAPANESE PINTELOU!

Ich nahm sofort Kontakt zur Zentrale auf, aber da nicht einmal Hagakawa wußte, was PINTELOU war, geriet ich in eine erste kleine Verlegenheit, weil die über dem Sand vibrierenden Buchstaben sich, als ich in sie hineinlief, an mich hefteten und wie Ameisen über meinen Körper krochen. Da sie mir jedoch nichts taten, fegte ich sie, so gut ich konnte, mit dem Schweif herunter, der damit erstmals seine Nützlichkeit bewies, und galoppierte weiter, immer bemüht, mich auf dem Rain zwischen zwei Äckern zu halten. Schließlich gelangte ich an den Außenhang eines großen Kraters, das krautbewachsene Land verengte sich zu einer Kluft, die sich wiederum in eine Senke erweiterte, so tief, daß ich den Grund nicht sah, weil sie voll war von der rußschwarzen Finsternis des Mondes. Dort heraus preschte plötzlich ein großer Panzer gegen mich vor, flach und dennoch gewaltig, laut quietschend und mit den breiten Ketten rasselnd, was um so verwunderlicher war, als auf dem Mond nichts zu hören ist, weil es dort keine Luft und damit keine akustische Leitfähigkeit gibt. Dennoch hörte ich dieses Rasseln, dazu sogar das Knirschen von Kies unter Raupenketten. Der Panzer fuhr, von einer ganzen Kolonne gefolgt, direkt auf mich zu. Ich hätte ihnen gern die Vorfahrt gelassen, aber dafür war in diesem engen Hohlweg leider kein Platz. Schon wollte ich mich in ein Gestöber auflösen, als der erste Panzer mich erreichte und vorüberfloß wie ein Nebelstreif — es wurde für einige Augenblicke dunkel.

Wieder so ein Phantom, eine Fata Morgana, dachte ich und ließ mich ganz unverzagt von den nachfolgenden überfahren. Hinterher kamen in Schützenkette Soldaten, die normalsten der Welt, schlitzäugig, mit kurzläufigen Sturmgewehren und aufgepflanztem Bajonett, mitten unter ihnen ein Offizier, den Degen an der Seite, in der Hand die Fahne, in deren Mitte rund und rot der Sonnenball erglühte. Alles das ging wie Rauch durch mich durch, dann war alles wieder leer.

In der sich vertiefenden Senke wurde es duster, ich schaltete meine Scheinwerfer oder vielmehr die sogenannten Aufheller ein, die meine Augen umrahmten. In nunmehr viel langsamerem Vorwärtsgang gelangte ich an ein von einem Wall aus Eisenschrott umgebenes Höhlenloch. Seine lichte Höhe war zu gering für meinen Wuchs, ich wollte mir die Mühe ersparen, mich ständig bücken zu müssen, und verwandelte mich in einen Dackelzentauren. Das klingt zwar reichlich blödsinnig, entspricht aber nicht übel der Wahrheit, denn meine Beine schrumpften in der Länge, und mein Bauch schleifte fast über den steinigen Boden, als ich vorwärts kroch, immer tiefer hinein in das Innere des Mondes, einen noch von keines Menschen Fuß betretenen Untergrund. Eines Menschen Füße waren die meinen übrigens eigentlich auch nicht. Immer öfter kam ich ins Straucheln, die Beine rutschten auf dem glatten Kies weg. Eingedenk dessen, wozu ich jetzt in der Lage war, verwandelte ich sie in kissenförmige Pfoten, die sich an den Grund schmiegten wie die Sohlen eines Löwen oder Tigers. Ich fühlte mich in dem neuen Körper immer mehr zu Hause, hatte aber keine Zeit, es zu genießen. Ich leuchtete mich die unregelmäßig behauenen Wände der ebenen Höhle entlang, bis ich auf ein Gitter stieß, das auf der ganzen Breite den Durchgang versperrte. Ich fand, daß diese japanischen Waffen gegen Eindringlinge von ausgesuchter Höflichkeit waren, denn über dem Gitter stand in großer Leuchtschrift: NO ENTERING! DO NOT TRESPASS THIS BARRIER! KEIN DURCHGANG! PROCHODA NJET! NE PAS SE PENCHER EN DEHORS! PERICOLOSO! OPASNO! GEFÄHRLICH!

Hinter dem Gitter phosphoreszierte ein Totenkopf mit gekreuzten Knochen und der Aufschrift DEATH IS VERY PERMANENT. Ich ließ mich davon nicht aufhalten, löste mich auf, drang durch das Gitter und verkörperte mich wieder auf der anderen Seite. Die natürlichen Wände des Felskorridors gingen in einen ovalen, mit heller Keramik ausgekleideten Tunnel über. Als ich mit dem Finger gegen die Fliesen klopfte, schoß an der Stelle meiner Berührung ein kleiner Trieb hervor, der sich zu einem Schild auswuchs: MENE TEKEL UPHARSIN! So viele Warnungen deuteten darauf hin, daß man hier keinen Spaß verstand, aber ich war nicht so tief herabgestiegen, um wieder umzukehren. Auf meinen Leisetretern schritt ich weiter, hinter mir den schmiegsamen Schweif, der jederzeit bereit war, mir zu Hilfe zu kommen. Daraus, daß ich von der Zentrale nicht mehr zu sehen war, machte ich mir gar nichts. Auch die Kopfhörer sagten nichts mehr, nur manchmal war ein leises, aber seltsam schrilles, furchtsames Geheul zu hören.

Ich gelangte an eine Stelle, wo der Tunnel sich verbreiterte und gabelte. Über dem linken Abzweig leuchtete in Neonschrift der Satz THIS IS OUR LAST WARNING. Über dem rechten stand nichts, ich betrat also den linken und sah bald etwas vor mir aufschimmern. Es war eine Mauer, die jeden weiteren Durchgang versperrte, darin eine gewaltige Panzertür mit einer Reihe von Schlüssellöchern, ein Tor wie zu einer Schatzkammer, das reine „Sesam, öffne dich!“.

Ich ließ meine rechte Hand in eine Teilchenwolke zerfallen und in eins der Schlüssellöcher sickern. Drinnen war es finster wie in einem Astloch um Mitternacht. Ich wand mich vergebens nach allen Seiten und kehrte um, probierte auf diese Weise alle Öffnungen durch, bis die oberste mir Durchlaß gewährte. Daraufhin verwandelte ich mich ganz in Nebel oder Schwebestoff und bezwang auch dieses Hindernis, darauf vertrauend, daß nicht einmal die Japaner oder vielmehr ihre Produkte damit rechneten, ein Unberufener könnte durch ein Schlüsselloch einschweben. Es wurde irgendwie stickig, obgleich das nicht wörtlich zu nehmen ist, da ich ja nicht atmete. Das Dunkel erhellten jetzt nicht mehr nur die Einfassungen meiner sämtlichen Augen, ich hatte mich weiterer Tüchtigkeiten dieses LEM erinnert und leuchtete am ganzen Körper wie ein riesiger Johanniskäfer. Der Glanz blendete mich erst einmal, aber bald war ich an ihn gewöhnt.

Der Tunnel verlief pfeilgerade immer tiefer, bis an eine ganz gewöhnliche, aus einer Art Strohhalme geflochtene Matte. Ich schob sie beiseite und betrat einen weitläufigen Raum, der von mehreren Reihen Deckenleuchten Licht erhielt. Der erste Eindruck war der eines kompletten Chaos. Direkt in der Mitte lag in Trümmern, die wie Porzellan oder Keramik glänzten, wie von einer Bombe zerrissen ein Supercomputer. Losgerissene Bündel von Kabeln wanden sich um die geborstenen Einzelteile, die von einem gläsernen Schmelz und den glänzenden Schuppen der Halbleiterschaltkreise überzogen waren. Hier war schon vor mir einer dagewesen und hatte den Japanern mitten in ihrem Rüstungskomplex gewaltig eins ausgewischt.

Am sonderbarsten war, daß dieser gigantische, mehrere Etagen umfassende Computer von einer Kraft gesprengt worden war, die direkt aus seinem Innern, wahrscheinlich von unten her, gewirkt hatte, denn alle seine solide gepanzerten Wände waren in zentrifugaler Richtung, nach außen, umgefallen. Manche waren größer als Bücherschränke und sahen auch fast so aus, sie besaßen lange Regale, vollgestopft mit rissig gewordenen, dichtgewickelten Spulensätzen und Myriaden glitzernder kleiner Verteilerplatten. Eine gewaltige Faust schien von unten gegen diesen Koloß geschlagen und ihn in Stücke gesprengt zu haben. Im Zentrum der Zerstörung mußte davon noch etwas zu sehen sein, deshalb arbeitete ich mich den Trümmerberg hinauf. Alles lag tot wie das Innere einer geplünderten Pyramide, einer von unbekannten Räubern gefledderten Grabstätte.

Ich gelangte auf die Höhe des Haufens und sah in den unregelmäßigen Trichter hinein, den die Computerreste bildeten. Dort unten lag jemand, wie in einen Schlaf versunken, den er sich redlich verdient hatte. Zuerst hielt ich ihn für den Roboter, der mich auf meinem zweiten Erkundungsgang so herzlich begrüßt, seinen Bruder genannt und wie eine Dose Räuchersprotten aufgeschlitzt hatte. Es war eine ganz menschenähnliche Gestalt, nur daß die Dimensionen übermenschlich waren. Sie zu wecken blieb mir immer noch Zeit, zunächst war es vernünftiger, herauszufinden, was hier vorgegangen war. Das japanische Rüstungszentrum hatte sich einen solchen Eindringling sicher nicht gewünscht und ihn auch nicht von sich aus losgelassen, um Harakiri zu begehen. Eine solche Möglichkeit war als unwahrscheinlich zu verwerfen. Die Grenzen der einzelnen Sektoren waren vortrefflich bewacht, also konnte die Invasion unter ihnen durch den Fels geführt worden sein, durch tiefliegende Maulwurfsgänge, durch die die unbekannten Täter bis ins Herz der Rechenarsenale vorgedrungen waren, um sie in Schrott zu verwandeln. Um sich dessen zu vergewissern, hätte man den automatischen Burschen befragen müssen, der dort unten nach redlicher Pflichterfüllung den Schlaf der Gerechten schlief. Ich scheute noch davor zurück, durchlief in Gedanken alle Gestalten, die ich annehmen konnte, um die zu finden, die mir ein Maximum an Sicherheit bot. Immerhin konnte ihm ja sauer aufstoßen, daß ich ihn weckte. Als Wolke konnte ich nicht sprechen, aber ich besaß die Fähigkeit, nur teilweise zur Wolke zu werden und innerhalb der Nebelhülle den Sprechapparat zu behalten. Das schien mir letztlich am vernünftigsten, und ich handelte danach. Da ich es für überflüssig hielt, den Koloß durch eine besonders raffinierte Methode zu wecken, ließ ich ein solides Computerbruchstück von der Höhe rollen.

Es knallte ihm gegen die Rübe, daß der ganze Trümmerberg erbebte und immer größere Brocken ins Rutschen kamen. Er fuhr sofort hoch, sprang auf die Füße, stand stramm und schnarrte: „Aufgabe überplanmäßig erfüllt, Feindstellung erobert! Zum Ruhme des Vaterlands! Melde mich bereit zur Ausführung weiterer Befehle!“

„Rühren!“ sagte ich.

Dieses Kommando hatte er gewiß nicht erwartet, aber er nahm eine lockere Haltung ein und die Hacken auseinander. Erst dann nahm er mich wahr, und in seinem Innern machte es hörbar „klack“.

„Sei gegrüßt!“ sagte er. „Sei gegrüßt! Gott gebe dir Gesundheit. Warum bist du so verschwommen, mein lieber Freund? Nur gut, daß du endlich da bist. Komm her zu mir, wir wollen plaudern und ein Liedchen singen, wir wollen uns gegenseitig mit Ratschlägen dienen. Du wirst dich bei uns wohl fühlen. Wir sind still und friedfertig, wir wollen keinen Krieg, der Krieg ist uns zuwider … Aus welchem Sektor kommst du eigentlich?“ fragte er plötzlich in ganz anderem Ton, als habe ihn ein unverhoffter Argwohn befallen — die Spuren seiner Friedfertigkeit waren ja präsent genug. Das war wohl auch der Grund, daß er sich auf ein tauglicheres Programm schaltete: Er streckte mir seine gewaltige eiserne Rechte entgegen. Jeder Finger war eine Schußwaffe.

„Auf den Freund willst du schießen?“ fragte ich und schlug sanfte Wogen über dem Scherbenhaufen. „Na los, sei nicht knauserig, schieß los, lieber Ballermann und leiblicher Bruder, es möge dir wohlbekommen.“

„Melde getarnten Japs!“ schnarrte er und begann aus allen fünf Fingern auf mich zu feuern, daß der Putz von den Wänden stob. Vorsichtshalber senkte ich, weiter sanft über ihm wallend, mein Sprachzentrum etwas ab, damit es keinen Treffer erhielt, verlieh dem Unterteil der Wolke, die ich war, eine kompaktere Beschaffenheit und rammte damit ein kommodengroßes Computerbruchstück, daß es auf den Burschen losrutschte und eine ganze Lawine von Schrott mit sich riß.

„Angriff!“ brüllte er. „Alles Feuer auf mich! Zum Ruhme des Vaterlands!“

„Du bist aber ein ganz Eifriger“, konnte ich gerade noch sagen, ehe ich mich restlos in eine Wolke verwandelte, genau zum rechten Zeitpunkt, denn es rumste gewaltig, der Trümmerberg erbebte, und aus seinem Innern brachen Flammen. Mein aufopferungswilliger Gesprächspartner stand in bläulichem Glanz, wurde weißglühend und nachher schwarz, stieß mit dem letzten Atemzug aber noch hervor: „Zum Ruhme des Vaterlands!“

Dann löste er sich auf. Erst gingen die Arme flöten, dann platzte vor Hitze der Brustkorb und ließ für einen winzigen Moment seltsam primitive, mit Bast verflochtene Kupferdrähte sehen. Zuletzt fiel das Härteste: der Kopf. Er platzte auf wie eine gewaltige taube Nuß — und war tatsächlich hohl. Der Rumpf, wie gesagt, stand wie ein brennender Mast, ging in Rauch auf und fiel in Asche.

Obgleich ich nur ein Dunst war, spürte ich aus der Ruine eine Glut schlagen wie aus dem Krater eines Vulkans. Ich zog mich an die Wand zurück und wartete ab, aber es blickte kein neuer Gesprächspartner aus der Lohe, die emporwaberte, daß die bisher unversehrt gebliebenen Leuchtröhren an der Decke platzten. Splitter und Leitungsreste fielen auf den Schutt, zugleich wurde es immer dunkler, und dieser einstmals so ordentliche, kreisrunde Raum erinnerte an den Schauplatz eines Hexensabbats, beleuchtet von der blauen Flamme, die unentwegt loderte und mich durch ihren Zug zu rösten drohte. Ich sah, daß hier nichts mehr zu erkunden war, sammelte mich und floß hinaus in den Korridor. Die Japaner hatten mit Sicherheit noch andere Zentren der Rüstungsindustrie in Reserve, ein zur Reserve gehörender und daher weniger wichtiger Komplex konnte auch dieser vernichtete gewesen sein, aber ich hielt es für geraten, das Freie zu gewinnen und vor der nächsten Etappe der Erkundung die Zentrale zu verständigen.

Unterwegs stieß ich auf nichts, was mich aufgehalten hätte. Durch den Korridor kam ich an die Panzertür, durch deren Schlüsselloch auf die andere Seite, dann ließ ich auch das Gitter hinter mir, nicht ohne voller Mitleid noch einmal die Warntafeln zu überfliegen, die keinen Schuß Pulver wert waren. Endlich schimmerte hell die unregelmäßige Öffnung der Höhle. Erst hier nahm ich eine Gestalt an, die der eines Menschen nahekam. Irgendwie war ein Gefühl der Sehnsucht in mir erwacht, eine neue, bisher nie gekannte Nostalgie. Ich suchte einen Stein, der sich als Sitz zum Ausruhen eignete, geriet aber in einen zunehmenden inneren Zwiespalt: Ich bekam immer größeren Hunger, konnte als Sendling aber nichts zu mir nehmen. Ich hätte, um schnell mal einen Happen essen zu können, diesen vielseitigen Sendling seinem Schicksal überlassen müssen, und das wäre schade gewesen. Ich verschob es also, wollte erst einmal meine Auftraggeber verständigen, ehe ich das Gerät in einem sicheren Versteck unterbrachte und mir eine Mahlzeit leistete.

Ich rief Vivitch, erhielt aber keine Antwort. Ich rief und rief — Totenstille. Ich prüfte mit dem Geigerzähler, ob ich etwa auch hier durch ionisiertes Gas abgeschirmt war. Vielleicht gelangten die Kurzwellen nicht aus der schmalen Kluft, ich verwandelte mich — mit einem gewissen Widerwillen — zurück in eine Wolke, schoß kerzengerade empor in die schwarze Himmelskuppel und rief erneut die Erde, diesmal als Vogel. Freilich, ich war kein Vogel, ohne Luft tragen Flügel nicht, aber mir ist das so herausgefahren, weil es besser klingt.

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