II. Eingeweiht

In die schlimmste Verlegenheit meines Lebens war ich ganz zufällig geraten, als ich nach meiner Rückkehr von der Entia Professor Tarantoga besuchen wollte. Ich traf ihn nicht zu Hause an, er war nach Australien geflogen. Zwar wollte er in wenigen Tagen zurück sein, da er aber eine seltene Primel züchtete, die viel Wasser brauchte, hatte er für die kurze Zeit seinen Cousin in der Wohnung einquartiert. Es war ein anderer als der, der die Klosetts weltweit nach Wandsprüchen durchforscht, Tarantoga hat eine Menge Cousins, und der hier befaßte sich mit Paläobotanik. Ich sah ihn zum erstenmal, er empfing mich im Hausmantel und ohne Hose, in die Schreibmaschine war ein Bogen Papier gespannt, ich wollte gleich wieder gehen, aber er ließ es nicht zu. Ich störe ihn durchaus nicht, sagte er, im Gegenteil, ich sei gerade zur rechten Zeit gekommen. Er schreibe nämlich ein schwieriges, bahnbrechendes Werk und könne seine Gedanken am besten sammeln, wenn er den Inhalt des gerade in Arbeit befindlichen Kapitels selbst dem zufälligsten Hörer erzähle. Ich fürchtete, er schreibe ein Buch über Botanik und werde mir den Gehirnkasten mit Knollen, Stauden und Fruchtknoten kompostieren, aber das trat zum Glück nicht ein, ich war sogar einigermaßen frappiert. Seit dem Frührot der Geschichte müssen sich, so meinte er, unter den wilden Stämmen der Urmenschen verschiedene Originale herumgetrieben haben, die unvermeidlich für verrückt gehalten wurden, weil sie alles zu essen versuchten, was ihnen vor Augen kam: alle möglichen Blätter, Knollen, Triebe und Stengel, frische und dürre Wurzeln. Angesichts der Vielzahl giftiger Pflanzen müssen sie gestorben sein wie die Fliegen, aber es gab immer wieder Nonkonformisten, die sich nicht abschrecken ließen und das gefährliche Werk weiterführten. Nur ihnen ist es zu danken, wenn wir heute wissen, daß Spargel und Spinat die Küchenarbeit lohnt, daß Lorbeerblatt und Muskatnuß zu etwas taugen, während man die Tollkirsche besser meiden sollte. Tarantogas Cousin wies mich auf eine von der Wissenschaft weltweit außer acht gelassene Tatsache hin: Allein um festzustellen, welche Pflanze sich am besten eignet, in Brand gesteckt zu werden und durch Inhalieren des sich entwickelnden Rauches Genuß zu erzeugen, mußten die Sisyphusse der Urzeit etwa 47 000 Arten von Blattpflanzen sammeln, trocknen, fermentieren, zu Röllchen drehen und schließlich in Asche verwandeln, ehe sie auf den Tabak kamen, denn schließlich war nicht jedes Zweiglein mit dem Schildchen versehen, gerade DIES eigne sich zur Herstellung sowohl von Stumpen als auch — kleingehäckselt — von schwarzem Krauser. Divisionen solcher Leute, Urbilder der Himmelfahrtskommandos, haben in Jahrhunderten alles, aber auch alles in den Mund genommen, angebissen, zerkaut, geschmeckt und geschluckt, was immer auch an Zäunen und auf Bäumen wuchs, und sie taten es auf jede mögliche Weise: roh und gekocht, mit und ohne Wasser, durchgeseiht oder nicht, in ungezählten Kombinationen. Davon haben wir heute ohne eigenes Zutun den Nutzen, indem wir wissen, daß der Sauerkohl seinen Platz an der Seite des Schweinebratens hat, während die Rübe die Begleiterin des Hasenbratens ist. Mancherorts duldet man die Rübe nicht neben dem Hasen und zieht ihr den Rotkohl vor — Tarantogas Cousin schließt daraus auf die frühzeitige Entstehung von Nationalitäten. Es gibt keine Slawen ohne Rübensuppe. Jede Nation hatte offenkundig ihre eigenen Experimentatoren, und wenn diese sich einmal für die Rübe entschieden hatten, wurde dieser auch von den Nachkommen die Treue gehalten, sosehr auch die Nachbarstämme darüber die Nase rümpften.

Über Verschiedenheiten der gastronomischen Kultur, die Unterschiede der nationalen Charaktere bedingen (die Wechselbeziehung zwischen der Pfefferminzsauce und dem Spleen der Engländer, nachzuweisen beispielsweise beim Rostbraten), will Tarantogas Cousin ein Buch extra schreiben. Darin wird er auch enthüllen, warum die Chinesen, die schon so lange so viele sind, gern mit Stäbchen essen, dazu noch alles kleingehackt, feingeschnitten und unbedingt mit Reis. Aber darauf wolle er später zurückkommen.

Jedermann wisse, wer Stephenson gewesen sei, rief er mit erhobener Stimme, jedermann feiere ihn für seine banale Lokomotive, aber was sei eine Lokomotive, die noch dazu völlig überholt, weil dampfgetrieben sei, gegen die Artischocke, die uns auf ewig bleibe? Im Gegensatz zur Technik veralten die Gemüse nicht, und er sei gerade dabei, ein Kapitel über dieses aufschlußreiche Thema zu überdenken. War Stephenson denn übrigens, als er Watts fertige Dampfmaschine hernahm und auf Räder setzte, vom Tode bedroht? Befand sich Edison, als er den Phonographen erfand, in Lebensgefahr? Im schlimmsten Fall riskierten sie die Verärgerung ihrer Familien und die Pleite. Wie ungerecht, daß die Erfinder technischen Gerümpels jedermann bekannt sein müssen, während die großen Erfinder der Gastronomie niemand kennt und niemand auch nur daran denkt, daß dem Unbekannten Küchenmeister ebensogut ein Denkmal gebührt wie dem Unbekannten Soldaten. Wie viele dieser anonymen Helden sind nicht bei ihren todesmutig unternommenen Kostproben unter schrecklichen Qualen zugrunde gegangen, beispielsweise nach dem Pilzesammeln, als man die Unterscheidung von Gift- und Speisepilz nur treffen konnte, indem man davon aß und abwartete, ob das letzte Stündlein schlug!

Warum sind die Schulbücher voll von Faseleien über alle möglichen großen Alexander, die sich, da sie einen König zum Vater hatten, ins fertige Nest setzen konnten? Warum müssen die Kinder sich Kolumbus als den Entdecker Amerikas merken, wo er es doch ganz ungewollt, auf dem Weg nach Indien, entdeckt hat? Warum hört man statt dessen kein Wort über den Entdecker der Gurke? Amerika hätte sich früher oder später von selber gemeldet, man wäre ohne es ausgekommen, nicht aber ohne die Gurke, ohne die man zum Fleisch keine anständige Marinade auf dem Teller gehabt hätte. Um wieviel heroischer und verklärter als der Soldatentod war das Sterben jener Namenlosen! Wenn ein Soldat nicht die feindliche Stellung berannte, kam er vors Kriegsgericht, niemand aber war jemals gezwungen, sich der tödlichen Gefahr unbekannter Pilze oder Beeren auszusetzen. Tarantogas Cousin würde es daher begrüßen, wenn an der Tür jedes einigermaßen ordentlichen Restaurants wenigstens Gedenktafeln mit angemessenen Sprüchen angebracht würden wie MORTUI SUNT UT NOS BENE EDAMUS oder MAKE SALAD, NOT WAR. Vor allem für vegetarische Speisegaststätten sollte das gelten, denn mit den Tieren gab es weniger Aufwand. Um Koteletts zu klopfen oder Hackfleisch für Hamburger zu gewinnen, brauchte man nur zuzusehen, was Hyäne oder Schakal mit einem Kadaver machten, und bei den Eiern war das nicht anders. Die Franzosen mit ihren sechshundert Käsesorten haben sich vielleicht eine kleine Medaille verdient, keinesfalls aber Marmortafeln oder gar ein Denkmal, denn die meisten dieser Käse entstanden infolge von Zerstreutheit — ein vergeßlicher Hirte hat einmal neben dem Quark eine Scheibe Brot liegenlassen. Sie verschimmelte, und so entstand der Roquefort.

Als der Cousin daranging, zeitgenössische Politiker herabzusetzen, die nichts von Gemüse hielten, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab, lauschte hinein und gab ihn mir. Mich wolle man sprechen. Ich war sehr erstaunt, weil niemand von meiner Rückkehr wissen konnte, aber der Fall klärte sich sogleich auf.

Aus dem Büro des UN-Generalsekretärs hatte man Tarantoga nach meiner Adresse fragen wollen, und der Cousin hatte, indem er mich ans Telefon bat, alles sozusagen kurzgeschlossen. Am Apparat war Doktor Kakesut Wahatan, der Sondergehilfe des Beraters für Fragen der globalen Sicherheit beim Generalsekretär der Vereinten Nationen. Er wünschte mich möglichst rasch zu sehen, wir verabredeten uns für den nächsten Tag, und als ich mir den Termin notierte, konnte ich nicht wissen, worauf ich mich einließ. Für den Augenblick hatte sich der Anruf immerhin als nützlich erwiesen, weil er den Redestrom von Tarantogas Cousin unterbrochen hatte. Dieser wollte bei den Pfeffergewürzen fortfahren, es gelang mir jedoch, mich zu verabschieden, indem ich Eile vorschützte und das heuchlerische Versprechen abgab, ihn bald wieder zu besuchen.

Etliche Zeit später erzählte mir Tarantoga, die Primel sei eingegangen, der Cousin in seinem paläobotanisch-gastronomischen Rausch habe sie zu gießen vergessen. Ich nahm das als eine typische Erscheinung hin: Wer sich der Mehrzahl ergeben hat, hält nichts von der Einzahl. Daher rührt es, daß die großen Melioratoren, die die ganze Menschheit auf einmal glücklich machen wollen, mit Einzelpersonen keine Geduld haben.

Die Katze blieb noch lange im Sack. Ich erfuhr nicht, daß ich für die Menschheit den Kopf hinhalten und auf den Mond fliegen sollte, um nachzusehen, was die erfinderischen Waffen dort ausheckten. Zunächst einmal wurde ich mit Mokka und altem Weinbrand von Doktor Wahatan empfangen. Er war Asiat und als solcher vollkommen: das reine Lächeln, und nichts herauszukriegen. Angeblich wollte der Generalsekretär unbedingt meine Bücher kennenlernen, aber da er in seiner hohen Stellung außerordentlich überlastet sei, sollte ich selbst ihm die Titel empfehlen, die ich für die wesentlichsten hielte. Wie zufällig fanden sich bei Wahatan noch einige andere Burschen ein, die um Autogramme baten. Ich konnte es ihnen nicht abschlagen. Freilich, wir unterhielten uns auch, über Roboter etwa und den Mond, über letzteren aber vor allem in seiner historischen Rolle als Exponat oder Dekoration in der Liebesdichtung. Viel später kam mir zu Ohren, daß es sich dabei nicht um simple Plaudereien, sondern um den Übergang vom Screening zur Clearance handelte. Der Sessel nämlich, in dem ich es mir bequem gemacht hatte, war mit Sensoren gespickt, mit denen man anhand der mikroskopisch kleinen Veränderungen der Muskelstruktur meine Reaktionen auf Schlüsselreize testen konnte, Wörter wie eben „Mond“ oder „Roboter“. Die Situation, die ich auf der Erde zurückgelassen hatte, als ich zum Sternbild des Kalbes flog, hatte sich seither nämlich umgekehrt: Meine Tauglichkeit wurde vom Computer getestet und bewertet, und meine Gesprächspartner dienten sozusagen nur als Hörgeräte. Ich weiß selber nicht mehr, wie es kam, daß ich den Tag darauf erneut ins UN-Büro ging. Nachher luden sie mich immer wieder ein, sie wollten mich unbedingt sehen, ich aß sogar aus bloßer Geselligkeit mit ihnen in der, übrigens ganz ordentlichen, Kantine zu Mittag, aber der außerhalb liegende Zweck meiner immer häufigeren Besuche blieb unklar. Es schien sich ein Plan abzuzeichnen, daß die Vereinten Nationen meine Gesammelten Werke in allen Sprachen der Welt herausbringen wollten. Dieser Sprachen gibt es über viereinhalbtausend. Obgleich ich alles andere bin als eitel, hielt ich das Vorhaben für vollauf gerechtfertigt.

Meine neuen Bekannten erwiesen sich als begeisterte Fans meiner STERNTAGEBÜCHER. Es handelte sich um Doktor Rorty, Ingenieur Tottentanz und die Gebrüder Cybbilkis, Zwillinge, die ich an ihren Krawatten zu unterscheiden lernte. Beide waren Mathematiker. Castor, der Ältere, befaßte sich mit Algomatik, das heißt der Algebra solcher Konflikte, die für alle beteiligten Seiten ein fatales Ende haben. (Dieser Zweig der Spieltheorie wird daher zuweilen als Sadistik bezeichnet, die Kollegen nannten Castor einen Sadistiker, und Rorty behauptete sogar, er heiße mit vollem Namen Castor Oil — das aber war wohl ein Scherz.) Pollux, der andere Cybbilkis, war Statistiker und besaß die seltsame Angewohnheit, nach längerem Schweigen mit gänzlich abseitigen Fragen ins Gespräch einzugreifen, Fragen der Art etwa, wie viele Leute auf der Erde in diesem Augenblick in der Nase bohren mögen. Als phänomenaler Kopfrechner überschlug er so etwas im Handumdrehen.

Einer dieser Herren empfing mich artigerweise unten im Vestibül, das so groß war wie ein Shuddle-Hangar. Mit dem Lift fuhren wir zu den Arbeitsräumen der Brüder Cybbilkis oder aber zu Professor Jonas Kuschtyk, der ebenfalls in meine Bücher vernarrt sein mußte, da er mich mit Angabe von Seitenzahl und Ausgabejahr zitieren konnte. Kuschtyk befaßte sich — ebenso wie Tottentanz — mit der Theorie der Sendlinge, die auch Teleferistik genannt wird und ein neues Fachgebiet der Robotertechnik darstellt: Fernbemannung oder Präsenzübertragung (früher sagte man dazu auch „telepresence“). „Wo der Mensch nicht selber hinkann, schickt er einen Sendling hin“, lautet das Motto der Teleferisten. Kuschtyk und Tottentanz waren es auch, die mich dazu brachten, einmal diese Fernbemannung zu genießen, mich also veräußern zu lassen. Ein Mensch nämlich, dessen sämtliche Sinne per Funk auf den Sendling übertragen werden, gilt als steuervollstreckt oder fernentäußert. Bereitwillig ging ich darauf ein, und erst viel später bekam ich mit, daß nicht die Begeisterung, sondern die Dienstpflicht sie zur Lektüre meiner Werke getrieben hatte. Neben einer Reihe anderer Lunar-Agency-Leute, deren Namen ich nicht nenne, um sie nicht unsterblich zu machen, sollte ich nach und nach in das Projekt „Mondmission“ hineingezogen werden. Warum nach und nach? Weil ich ja einfach ablehnen und, nachdem ich alle Geheimnisse der Mission kennengelernt hatte, nach Hause gehen konnte, statt auf den Mond zu fliegen! Na und, könnte jemand einfältig fragen, hätte der Himmel denn davon ein Loch bekommen? Ja, das war ja gerade der Witz: Er hätte! Der Mann, der von der Lunar Agency unter Tausenden ausgewählt wurde, mußte sich durch höchste Kompetenz und Loyalität auszeichnen. Die erstere versteht sich von selbst, aber was war mit der letzteren? Gegen wen sollte ich mich loyal verhalten? Gegen die Agentur? In gewissem Sinne jawohl, denn sie repräsentierte die Interessen der Menschheit. Es ging darum, daß weder ein einzelner Staat noch eine Gruppe oder mögliche Geheimkoalition von Staaten die Ergebnisse der Monderkundung erfahren durften, falls diese gelang. Wer nämlich als erster den Stand der dortigen Rüstung kennenlernte, kam dadurch in den Besitz strategischer Informationen, die ihm ein Übergewicht auf der Erde verliehen. Der auf dieser herrschende Frieden war, wie daraus ersichtlich wird, alles andere als ein Idyll.

Diese Wissenschaftler, die mich mit Herzlichkeiten überhäuften und wie ein Kind mit den Sendlingen spielen ließen, führten in Wahrheit eine Sektion an meinem lebenden Gehirn durch, genauer gesagt, sie halfen dabei den Computern, die unsichtbar allen unseren Plaudereien beiwohnten. Castor Cybbilkis mit seinen surrealistischen Krawatten war als Theoretiker der mit einem Pyrrhussieg endenden Konflikte zugegen, denn solche wurden mit mir oder gegen mich ausgetragen. Um die Mission annehmen oder ablehnen zu können, mußte ich sie vorher kennenlernen. Wenn ich den Auftrag aber, nachdem ich ihn kannte, verweigerte oder ihn übernähme und die nur mir bekannten Ergebnisse der Erkundung an Außenstehende verriete, wäre der Zustand erreicht, den die Algomatiker den präkatastrophalen nennen. Es gab viele Kandidaten, sie waren von verschiedener Nationalität, Rasse und Ausbildung und hatten unterschiedliche Leistungen aufzuweisen — ich war einer von ihnen, hatte davon aber nicht die geringste Ahnung. Der Auserwählte sollte ein Abgesandter der Menschheit, nicht — sei es nur potentiell — Spion einer Großmacht sein. Deshalb diente der Operation „Grieß“ der Code PAS (Perfect Assured Secrecy) als Devise. „Grieß“ kam daher, daß durch genaues Sieben eine selektiv vollkommene Auswahl des Kundschafters erreicht werden sollte, der in den chiffrierten Berichten als Missionar bezeichnet wurde. „Grieß“ war eine Anspielung auf „Sieb“, das jedoch nie genannt wurde, damit um Gottes willen kein Außenstehender auch nur ahnte, worum es ging.

Man wird fragen, ob mir jemand darüber reinen Wein eingeschenkt hat. Aber nicht doch, nur nachher, als ich bereits zum Missionar ernannt worden war (LEM: Lunar Efficient Missionary) und im Raumanzug, mit Strippen und Schläuchen behängt, x-mal in die Rakete kroch, um nach einigen Stunden kleinlaut aussteigen zu müssen, weil beim Countdown wieder mal was kaputtgegangen war, hatte ich genug Zeit, über die letzten Monate nachzudenken, eines zum anderen zu fügen und mir den verborgenen Sinn des Spiels zusammenzureimen, den die L. A. mit mir um den höchsten möglichen Einsatz gespielt hatte. Den höchsten Einsatz nicht unbedingt für die Menschheit und die Welt, aber für mich: Ich brauchte keinerlei Algomatik und Theorie von Pyrrhusspielen, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß in dieser Situation die PAS am sichersten gewahrt bliebe, wenn der Kundschafter nach seiner glücklichen Rückkehr zur Erde und der Erstattung seines Berichts sogleich massakriert würde. Da ich wußte, daß sie mich, nachdem ich mich als der beste und sicherste aller Kandidaten erwiesen hatte, nun hinaufschicken mußten, sagte ich das zwischen zwei Countdowns meinen lieben Kollegen, den beiden Cybbilkis, Kuschtyk, Blahouse, Tottentanz und Garraphisa (über den werde ich vielleicht noch extra etwas sagen), die zusammen mit einem Dutzend Nachrichtentechnikern während meiner Mondexpedition das bilden sollten, was Houston während der Apollo-Mission für Armstrong und Co. gewesen war. Um den verlogenen Burschen möglichst die Hölle heiß zu machen, erkundigte ich mich, ob sie wüßten, wer sich nach meiner heldenhaften Rückkehr mit mir befassen werde — die Lunar Agency selbst oder eine von ihr gedungene MURDER INCORPORATED?

Ich sagte das mit diesen Worten, um ihre Reaktion zu prüfen: Wenn sie eine solche Variante nämlich überhaupt in Betracht gezogen hatten, mußten sie sofort kapieren. Sie saßen da, als wäre ein Blitz zwischen sie gefahren. Ich sehe die Szene noch vor mir: der kleine, „Wartesaal“ genannte Raum auf dem Kosmodrom, die spartanische Einrichtung, mit grüner Plastikfolie überzogene Tische, Coca-Cola-Automaten, wirklich bequem nur die Sessel. Ich in einem Raumanzug von engelsreinem Weiß, den Kopf unterm Arm (das heißt den Helm, aber „den Kopf unterm Arm tragen“ war die gängige Redewendung für jemanden, der einen Flug vor sich hatte), mir gegenüber die treuen Gefährten, Wissenschaftler, Doktoren und Ingenieure. Als erster fand Castor Oil die Sprache wieder. Es liege nicht an ihnen, sondern — lediglich in Gleichungen — am Computer, denn aus rein mathematischer Sicht bestehe die Lösung des Lemmas „Perfect Assured Secrecy“ eben darin, aber diese Abstraktion, die den ethischen Faktor außer acht lasse, sei nie in Frage gekommen und ich beleidige sie alle miteinander, wenn ich sie jetzt, in einem solchen Augenblick, verdächtige …

„Blabla“, sagte ich. „Klar ist an allem nur der Computer schuld, dieses widerliche Ding! Aber lassen wir die Ethik beiseite, ihr alle, wie ich euch hier sitzen sehe, seid beinahe Heilige, und ich bin es übrigens auch. Ist aber denn keinem von euch, den Computer eingeschlossen, genau DAS in den Sinn gekommen?“

„Genau WAS?“ fragte der verdutzte Pyrrhus Cybbilkis (denn auch so wurde er genannt).

„Daß ich es vermuten könnte und daß diese Tatsache, wenn ich — wie ich es eben getan habe — meine Vermutung teste, in die Gleichungen Eingang findet, die meine Loyalität bestimmen, und dadurch diese Determinante verändert …“

„Ach“, ächzte der andere Cybbilkis, „natürlich ist das in Betracht gezogen worden, es ist doch das Abc der algomatischen Statistik: Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß — das sind doch die Unendlichkeitsaspekte der Konflikttheorie, die …“

„Gut, gut“, sagte ich, innerlich abkühlend, weil mich die rechnerische Seite des Problems fesselte. „Und was habt ihr herausbekommen? Daß eine solche Vermutung meine Loyalität beeinträchtigt?“

„Scheinbar ja“, antwortete Castor Oil widerwillig anstelle seines Bruders. „Der Rückgang deiner Loyalität ist jedoch nach einer Szene wie eben DIESER (die ja auch programmiert werden mußte) eine auf Null fallende Folge.“

„Aha“, machte ich, rieb mir die Nase und nahm den Helm von der rechten auf die linke Seite. „DAS verringert also HIER und JETZT die mathematische Erwartung des Rückgangs meiner Loyalität?“

„Ja freilich“, sagte er, sein Bruder aber sah mir zärtlich und forschend zugleich in die Augen und meinte: „Du merkst es doch selber …“

„Tatsächlich“, brummte ich, weil ich nicht ohne Verwunderung feststellte, daß sie und ihr Computer bei diesen psychologischen Berechnungen recht hatten: Meine Wut auf sie war zusehends geschwunden.

Über dem Ausgang zum Flugfeld des Kosmodroms leuchtete eine grüne Signallampe auf, gleichzeitig ließ sich ein Summton vernehmen zum Zeichen, daß der Defekt behoben war und ich wieder in die Rakete kriechen konnte. Wortlos machte ich kehrt und mich in Begleitung all dieser Herren auf den Weg. Dabei dachte ich nach, welche Pointe die ganze Geschichte haben würde. Ich greife vor, aber da ich einmal begonnen habe, muß ich auch schließen. Als ich die stationäre Erdumlaufbahn verlassen hatte und sie mir einen Schmarren anhaben konnten, antwortete ich auf die Frage nach meinem Befinden, dieses sei vorzüglich, ich überlege nämlich gerade, ob ich mich nicht mit dem Mondstaat verbrüdern sollte, um einigen Bekannten auf der Erde das Fell zu gerben. Wie falsch ihr Gelächter in meinem Kopfhörer klang!

Das alles aber war erst nach den Besuchen auf dem Übungsgelände, wo Mondbedingungen simuliert wurden, und nach der Besichtigung der Gynandroics Corporation. Dieses gigantische Unternehmen hatte mit seinen Umsätzen sogar schon die International Business Machines überflügelt, obgleich es als deren bescheidener Ableger entstanden war. Ich muß hier erklären, daß die Gynandroics entgegen allen landläufigen Meinungen weder Roboter noch Androiden produziert, sofern man darunter Puppen von Menschengestalt und einer nach menschlichem Vorbild gestalteten Psyche versteht. Eine vollkommene Simulierung der menschlichen Bewußtseinsstruktur ist nahezu unmöglich — die Computer der achtzigsten und aller folgenden Generationen sind zwar intelligenter als wir, aber ihr geistiges Leben erinnert in nichts an das des Menschen. Der normale Mensch ist ein überaus unlogisches Geschöpf, und darin besteht sein Menschentum. Seine Vernunft ist stark verunreinigt durch Vorurteile, Emotionen und Überzeugungen, die seiner Kindheit oder den Genen seiner Eltern entstammen. Daher kann ein Roboter, der sich (beispielsweise per Telefon) für einen Menschen ausgibt, von einem Fachmann relativ leicht enttarnt werden. Trotz dieses grundsätzlichen Einwands produzierte die berüchtigte SEX INDUSTRY zur Sondierung des Marktes kurze Serien sogenannter S-DOLLS (die einen behaupten, es handle sich um SEX DOLLS, Puppen für Liebesspiele, andere meinten, es seien SEDUCTIVE DOLLS, kokette Verführerinnen oder vielmehr verführerische Kokotten aus neuen Kunststoffen, die den biologischen so verwandt waren, daß man sie in der Chirurgie für Hauttransplantationen nach Verbrennungen verwendete).

Diese femmes de compagnie fanden keinen Absatz. Sie waren allzu LOGISCH, zu klug — der Mann, der sich mit solch einer Intelligenzbestie einließ, bekam Minderwertigkeitskomplexe — und viel zu teuer. Wer sich solch eine Konkubine leisten konnte (die billigsten, made in Japan, kosteten über 90 000 Dollar das Stück, örtliche Gebühren und Luxussteuer nicht gerechnet), konnte jederzeit auch preiswertere Romanzen mit natürlichen Partnerinnen pflegen. Den Durchbruch auf dem Markt schafften erst die weiblichen Sendlinge oder „Hohlkörper“. Das sind ebenfalls Puppen, die eine ideale Ähnlichkeit mit Frauen aufweisen, aber „leer“, das heißt hirnlos sind. (Ich bin kein Misogyn, und wenn ich „hirnlos“ sage, will ich damit nicht verschiedenen Weiningers den Unsinn nachschwatzen, wonach das schöne Geschlecht keine Vernunft habe, sondern ich meine es ganz wörtlich: Sendlinge, ob maskulin oder feminin, sind schließlich vom Menschen gesteuerte Puppen, also leere Hüllen.)

Um sich in den Sendling des jeweiligen Geschlechts zu versetzen, brauchte man nur in einen Anzug mit einer Masse eingenähter, der Haut anliegender Elektroden zu schlüpfen. Niemand hatte geahnt, welche Erschütterungen diese Technik für das menschliche Leben mit sich brachte, an erster Stelle für die Erotik, vom Eheleben bis hin zum ältesten Gewerbe der Welt. Die Juristen wurden vor völlig neue Probleme gestellt. Vor dem Gesetz waren Intimitäten, die jemand mit einer „sex doll“ vornahm, kein Ehebruch und somit kein Scheidungsgrund. Es spielte keine Rolle, ob die „sex doll“ ausgestopft war oder mit einer Luftpumpe aufgepumpt werden mußte, ob sie Vorder- oder Hinterantrieb, ein automatisches Getriebe oder Handschaltung hatte — von Ehebruch konnte ebensowenig die Rede sein, als wenn jemand es mit einem Astloch getrieben hätte. Die Erzeugnisse der Teleferistik zwangen das Zivilrecht aber zu der Entscheidung, ob eine Person, die sich im Ehestand befand und sich in einen Sendling versetzte, damit Ehebruch beging oder nicht. Der Begriff der „Fernuntreue“ wurde in den Fachzeitschriften und der sonstigen Presse heftig diskutiert. Es war erst der Anfang der schwierigen Fälle. Darf man beispielsweise die eigene Frau mit dieser selbst betrügen, wobei letztere jünger ist als in Wirklichkeit? Ein gewisser Adlai Groutzer hatte bei der Gynandroics-Filiale in Boston seine eigene Frau kopieren lassen, freilich nicht im Alter von 59, sondern von 21 Jahren. Das Problem komplizierte sich dadurch, daß Mrs. Groutzer in ihrem 21. Lebensjahr noch die Ehefrau von Mr. James Brown gewesen war, von dem sie sich zwanzig Jahre später scheiden ließ, um Mr. Groutzer zu heiraten. Die Sache schleppte sich durch sämtliche Instanzen. Die Gerichte hatten festzustellen, ob eine Ehefrau, die die von ihrem Mann erworbene Fernkopie nicht intim bewegen will, ihm damit den ehelichen Verkehr verweigert. Sind Inzest, Sadismus und Masochismus oder gar Homosexualität durch Fernbedienung möglich? Eine Firma brachte eine Serie von Mannequins auf den Markt, die man durch einen Griff in die Ersatzteilkiste in Damequins und sogar in Zwitter umwandeln konnte. Die Japaner überschwemmten die USA und Europa mit Zwittern zu Dumpingpreisen: Ein Handgriff genügte, um ihr Geschlecht einzustellen (nach dem Prinzip „Drehst du links, dann ist nichts drauf, drehst du rechts, dann steht der Knauf“!). Zur Kundschaft der Gynandroics soll auch eine große Zahl hochbetagter Prostituierter gezählt haben, die persönlich keine Chance mehr hatten, ihrem Beruf nachzugehen, sich jedoch, da sie über langjährige Routine verfügten, durch hohe Steuerkunst auszeichneten.

Die Probleme blieben natürlich nicht auf die Erotik beschränkt. Ein zwölfjähriger Schüler zum Beispiel, dessen Rechtschreibefehler beim Diktat mit einer schlechten Note bestraft wurden, benutzte einen athletisch gebauten Sendling, um den Lehrer windelweich zu prügeln und ihm die Wohnung zu demolieren. Dieser Sendling war ein sogenannter Haushüter, ein Modell, das reißenden Absatz fand, und der Vater des Schülers hielt ihn in einer Hütte auf seinem Grundstück, um es vor Dieben zu schützen. Deswegen ging der Eigentümer stets in einem Spezialpyjama mit eingenähten Elektroden zu Bett, und wenn die Alarmanlage die Anwesenheit fremder Personen anzeigte, brauchte er nicht einmal aufzustehen, um sogar mit mehreren Einbrechern fertig zu werden und sie bis zum Eintreffen der Polizei festzuhalten. Der Sohn hatte den Pyjama benutzt, während der Vater abwesend war. Auf den Straßen sah ich häufig Mahnwachen und Demonstrationen, die sich gegen Gynandroics und vergleichbare japanische Produzenten richteten.

Sie wurden überwiegend von Frauen gestellt. Die Gesetzgeber in den wenigen Staaten der USA, in denen Homosexualität noch unter Strafe stand, gerieten in Panik, weil sie nicht wußten, ob ein Schwuler, der in einen anderen Mann verliebt ist, sich jenes Delikts schuldig machte, wenn er dem anderen einen verführerischen weiblichen Sendling unterschob, den er persönlich steuerte. Es entstanden neue Begriffe wie telemate — die Ferngespielin, die die Geliebte oder die Ehefrau sein konnte. Nachdem der Bundesgerichtshof es schließlich für zulässig und in den Rahmen ehelicher Beziehungen gehörig erklärt hatte, daß Ehepartner in gegenseitigem Einvernehmen ihre Beziehungen per procura (also per Sendling) pflegen, ergab sich der Fall Kuckerman. Er war Vertreter, sie leitete einen Friseursalon. Beide waren selten zusammen, sie konnte ihren Salon nicht verlassen, und er war ständig auf Reisen. Zum indirekten Vollzug ihres Ehebundes waren sie zwar bereit, konnten sich jedoch nicht einig werden, ob die Vermittlung über einen Sendling, der den Mann oder die Frau ersetzte, erfolgen sollte. Ein Nachbar, der den Kuckermans aus reiner Nächstenliebe helfen wollte, riet zu dem Kompromiß, ein teleferistisches Paar zu benutzen — ein ferngesteuerter Mann und eine ferngesteuerte Frau erschienen ihm als salomonische Lösung des Dilemmas. Die Kuckermans jedoch wiesen diesen Einfall als blödsinnig und beleidigend zurück. Sie konnten sicher nicht ahnen, daß ihr Streit, nachdem die Presse über ihn berichtet hatte, das Phänomen der sogenannten teleferistischen Eskalation herbeiführen würde: Man konnte den Anzug mit den Elektroden auch einem Sendling anlegen, damit dieser einen anderen Sendling steuerte, dieser wiederum einen dritten und so weiter. Dieses Konzept fand begeisterten Anklang in der Unterwelt. Auf ähnliche Weise, wie sich ein Funkgerät ausfindig machen läßt, konnte festgestellt werden, von wo aus ein konkreter Sendling gesteuert wurde. Dieser Methode pflegte sich die Polizei bei teleferistisch verübten Einbrüchen oder Morden zu bedienen. Wurde der Täter jedoch von einem andern Sendling ferngesteuert, so mußte erst dieser angepeilt werden, und ehe man ihn erwischte, konnte der Mensch, der der eigentliche Täter war, seinen Funkverkehr mit dem zwischengeschalteten Sendling abbrechen und seine eigene Spur verwischen.

Die Kataloge der TELEMATE CO. und der japanischen Firma SONY boten männliche Versionen vom Liliputaner bis zu King Kong sowie unübertreffliche Reproduktionen berühmter historischer Frauengestalten, wie der Nofretete, der Cleopatra und der Königin von Navarra, sowie zeitgenössischer Filmstars an. Um Gerichtsprozessen wegen „Mißbrauchs leiblicher Ähnlichkeit“ aus dem Wege zu gehen, konnte sich jedermann, der eine Kopie der First Lady der USA oder der Frau seines Nachbarn im Schrank haben wollte, eine solche ins Haus schicken lassen, per Nachnahmeversand und in Einzelteile zerlegt, die man anhand einer Montageanleitung zur gewünschten Playmate zusammensetzen konnte. Es soll sogar Personen gegeben haben, die an sogenanntem Narzißmus litten, also niemanden liebten als sich selbst und konsequenterweise Konterfeis ihrer selbst anfertigen ließen. Die Gesetzgebung krümmte sich unter der Last der neuen Probleme, zugleich war aber auch klar, daß man die Produktion von Sendlingen nicht einfach verbieten konnte (etwa wie Privatpersonen die Herstellung von Atombomben und Rauschgift untersagt wird): Das Sendlingswesen war bereits eine mächtige Industrie, die sowohl für die Volkswirtschaft als auch für Wissenschaft und Technik arbeitete, die Raumfahrt eingeschlossen, denn nur als Sendling konnte der Mensch auf großen Planeten, wie Saturn oder Jupiter, landen. Sendlinge wurden auch im Bergbau und in Notdiensten eingesetzt, im Bergrettungsdienst sowie bei Erdbeben und anderen Naturkatastrophen. Unersetzlich waren sie bei lebensgefährlichen Experimenten, sogenannten Vernichtungstests. Die Lunar Agency hatte mit der Gynandroics einen Spezialvertrag für Mondsendlinge. Ich sollte bald erfahren, daß man sie für das Projekt LEM (Lunar Efficient Missionary) bereits einzusetzen versucht hatte, freilich mit ebenso rätselhaften wie katastrophalen Folgen.


Durch die Montagehallen der Gynandroics führte mich Paridon Sawekahu, der leitende Ingenieur. Nach der Gewohnheit seiner Nation sprach er mich mit Vornamen an, und ich mußte bei meinen Antworten auf der Hut sein, um Paridon nicht dauernd mit Pyramidon zu verwechseln. Tottentanz und Blahouse begleiteten uns. Ingenieur Sawekahu klagte über den Hagel immer neuer juristischer Beschränkungen, die die Forschungsarbeit und die Entwicklung neuer Prototypen erschwerten. Die Banken zum Beispiel hatten an ihren Eingängen generell Sensoren eingebaut, die Sendlinge ausspürten. Das wäre halb so schlimm gewesen, es war sogar verständlich, denn man fürchtete ferngesteuerte Überfälle. Zahlreiche Banken benutzten jedoch statt reiner Alarmanlagen thermoinduktive Sicherungen, die den Sendling, kaum daß sie ihn an der Elektronik in seinem Innern erkannt hatten, einem unsichtbaren Schlag von Wellen hoher Frequenz aussetzten. Der dadurch verursachte Temperatursprung brachte seine Leitungen zum Schmelzen und machte ihn zu Schrott. Die Käufer nun richteten ihre Beschwerden nicht an die Banken, sondern an die Gynandroics. Außerdem kam es gar schon zu Gewalttaten, sogar zu Bombenanschlägen gegen Transporte weiblicher Sendlinge, zumal wenn diese schön waren. Ingenieur Paridon gab zu verstehen, daß seine Firma die Bewegung der „Women’s Liberation“ dieser Terrorakte verdächtigte, aber vorläufig lagen keine Beweise vor, die ein gerichtliches Vorgehen ermöglicht hätten.

Man führte mir den gesamten Produktionsprozeß vor, vom Schweißen der ultraleichten Skelette aus Duraluminium bis hin zur Verkleidung dieses „Chassis“ mit einer körperformenden Masse. Die Mehrzahl der weiblichen Sendlinge wird in acht Größen produziert, im Firmenjargon „Kaliber“ genannt. Einzelanfertigungen kosten mehr als das Zwanzigfache. Ein Sendling braucht übrigens durchaus nicht dem Menschen ähnlich zu sein, aber je mehr er sich von dessen Körperbau unterscheidet, um so größer werden die Schwierigkeiten bei der Steuerung. Für Sendlinge, die in großer Höhe, etwa beim Bau von Hängebrücken oder Hochspannungsleitungen, arbeiten, wäre ein Schwanz ein höchst praktikables Sicherungsgerät, aber der Mensch besitzt nicht die Voraussetzungen, um einen Greifschwanz zu handhaben.

Mit einem Elektromobil (das Firmengelände ist riesengroß) fuhren wir dann ins Lager, wo ich die Planeten- und Mondsendlinge besichtigte. Je größer die Gravitation, um so schwerer die Aufgabe der Konstrukteure, denn ein zu kleines Gerät kann nicht viel ausrichten, und ein großes, das starke Antriebsmotoren braucht, wiegt zuviel.

Wir kehrten in die Halle für die Endmontage zurück.

Während Doktor Wahatan vom UN-Büro mit seinem höflich-reservierten Lächeln eine Musterstudie asiatischen Diplomatentums bot, gab Ingenieur Paridon eine Vorstellung asiatischen Überschwangs. Sein Mund mit den blauen Lippen stand keinen Augenblick still, lachend entblößte er ein prachtvolles Gebiß:

„Sie werden es nicht glauben, Yon, aber wissen Sie, worüber das Team der General Pedypulatrius mit seinen Robotern gestolpert ist? Über den Gang auf zwei Beinen! Sie sind auf die Nase gefallen, weil ihr Prototyp immer wieder auf die Nase gefallen ist. Nicht übel, was? Hahaha! Gyroskope, Gegengewichte, Sensoren mit double feedback in den Waden — alles für die Katz! Wir hingegen haben keinerlei Probleme, denn beim Sendling hält der Mensch das Gleichgewicht!“

Ich sah zu, wie die weiblichen Produkte vom Band liefen und, von Greifern aufgenommen, über unsere Köpfe hinweg zur Packerei transportiert wurden: ein gleichmäßiger Reigen nackter Mädchenkörper, die Haut blaßrosa wie bei Säuglingen, ein hilfloses Schweben, lang herabwallendes, wogendes Haar. Ich fragte Paridon, ob er verheiratet sei.

„Hahaha! Yon, Sie sind ein Witzbold! Natürlich bin ich verheiratet, und Kinder habe ich auch. Der Schuster geht nicht in den Schuhen, die er selber macht! Unseren Angestellten bieten wir pro Jahr ein Stück als Prämie. Das ist für sie ein ausgezeichnetes Geschäft.“

„Welchen Angestellten?“ fragte ich. Die Halle war menschenleer. An den Fließbändern arbeiteten gelb, grün und blau lackierte Roboter, deren vielgliedrige Ausleger kantigen Raupen glichen.

„Hahaha! In den Büros haben wir noch paar Leute, in der Sortiererei, in der technischen Kontrolle und in der Packerei ebenfalls. Oh, sehen Sie mal, ein Stück Ausschuß! Mit den Beinen stimmt was nicht, sie sind krumm! Sagen Sie, Yon, liegt Ihnen an einem Exemplar? Kostenlos, für eine Woche, wir liefern es frei Haus …“

„Nein, danke. Vorläufig nicht. Pygmalionismus ist nicht nach meinem Geschmack.“

„Pygmalionismus? Ach so, Bernard Shaw, ich verstehe! Selbstverständlich, ich verstehe Ihre Anspielung. Manche Leute sträuben sich innerlich dagegen. Sie müssen aber zugeben, daß die Herstellung von Damequins besser ist als die von Karabinern. Wir produzieren für den Frieden. Make love, not war! Stimmt’s?“

„Man kann gewisse Vorbehalte haben“, bemerkte ich vage. „Ich habe vor dem Werktor Mahnwachen gesehen.“

„Ja, gewiß, es gibt Probleme. Eine normale Frau kann sich mit einem Sendling ihres Geschlechts nicht vergleichen. Die Schönheit ist im Leben eine Ausnahme von der Regel, hei uns ist sie technische Norm! Das Gesetz des Marktes. Das Angebot, bestimmt von der Nachfrage. Was soll man machen — so ist nun mal die Welt …“

Wir besichtigten noch die Schneiderei, die voll war von raschelnden Kleidern und rauschenden Dessous, geschäftigen Mädchen mit Scheren und mit Bandmaßen um den Hals, reichlich unscheinbaren, weil lebendigen Mädchen. Ingenieur Paridon begleitete uns zum Parkplatz, bis ans Auto, und wir verabschiedeten uns. Tottentanz und Blahouse hüllten sich auf der Rückfahrt in ein sonderbares Schweigen, und auch ich hatte keine Lust zum Reden. Noch aber war der Tag nicht vorüber.

Zu Hause fand ich im Briefkasten ein dickes Kuvert, darin ein Buch mit dem langen Titel DEHUMANIZATION TREND IN WEAPON SYSTEMS OF THE TWENTY FIRST CENTURY or UPSIDE DOWN EVOLUTION.

Der Verfasser hieß Meslant, der Name sagte mir nichts. Der Band war großformatig, schwer und solide, voller Diagramme und Tabellen. Da ich nichts Besseres vorhatte, setzte ich mich in einen Sessel und begann zu lesen. Auf der ersten Seite, vor dem Vorwort, stand ein Motto in deutscher Sprache:

„Aus Angst und Noth

Das Heer ward todt.“

Eugen von Wahnzenstein

Der Autor präsentierte sich als Experte für die neueste Geschichte des Militärwesens. Nach seinen Worten läßt sich dieser Geschichtsabschnitt durch zwei aphoristische Schlagwörter des ausgehenden 20. Jahrhunderts markieren: der Anfang durch FIF („FIRE AND FORGET“), das Ende durch LOD („LET OTHERS DO it“). Der Vater des modernen Pazifismus war der Wohlstand, seine Mutter die Angst. Beider Paarung erzeugte den Trend einer Entmenschung des Krieges. Immer weniger Menschen wollten Waffen tragen, und dieser Schwund an kriegerischem Geist verhielt sich direkt proportional zum Lebensstandard. Die edle Maxime „Dulce et decorum est pro patria mori“ galt den Jugendlichen der reichen Länder gerade so viel wie der Werbespot eines Beerdigungsunternehmens. Gerade in jener Zeit setzte ein Kostenrückgang in der elektronischen Industrie ein. Die bisher als Rechenelemente verwendeten CHIPS wurden durch Produkte der genetischen Ingenieurskunst ersetzt, die man CORN nannte. Man hatte diesen Getreidenamen für sie gewählt, weil sie aus der Zucht künstlicher Mikroben stammten, hauptsächlich der des nach dem Schöpfer der Kybernetik benannten SILICOBACTERIUM LOGICUM WIENERI. Eine Handvoll dieser Elemente kostete nicht mehr als eine Handvoll Hirse. Die künstliche Intelligenz wurde also billiger, während die neuen Waffengenerationen sich in geometrischer Progression verteuerten. Im Ersten Weltkrieg hatte ein Flugzeug soviel wie ein Auto, im Zweiten soviel wie zwanzig Autos gekostet — gegen Ende des Jahrhunderts kostete es bereits das 600fache. Man hatte ausgerechnet, daß selbst eine Supermacht sich in 70 Jahren nur noch 18 bis 22 Flugzeuge würde leisten können. Diesem Schnittpunkt zweier Kurven — der des Kostenrückgangs bei der Intelligenz und der der Kostensteigerung bei den Waffen — entsprang der Trend einer Entmenschung der Streitkräfte. Die Armeen wandelten sich aus einer lebendigen in eine tote Kraft. Die Welt machte damals zwei schwere Krisen durch: die erste, als das Erdöl sich jäh verteuerte, die zweite, als es kurz darauf ebenso plötzlich wieder billiger wurde. Die klassischen Gesetze der Ökonomie des Marktes verloren ihre Wirkung, aber man war sich über die Aussage dieses Phänomens ebensowenig im klaren wie darüber, daß die Figur des uniformierten, heimbewehrten Soldaten, der zum Bajonettangriff übergeht, in der Vergangenheit versank, um ihren Platz im Museum neben den in Stahl geschmiedeten Rittern des Mittelalters zu finden. Infolge des geistigen Beharrungsvermögens der Techniker wurden noch eine Zeitlang großdimensionale Waffen gebaut: Panzer, Geschütze, Transportfahrzeuge und anderes Schlachtgerät, das für Menschen bestimmt war und selbst dann noch so groß gebaut wurde, als es bereits selbsttätig und ohne Menschen eingesetzt werden konnte. Diese Phase der Panzergigantomanie erfuhr jedoch bald einen Knick und schlug um in eine Phase der beschleunigten Miniaturisierung.

Sämtliche bisherigen Waffensysteme waren auf den Menschen zugeschnitten gewesen: auf seine Anatomie, damit er mit ihnen erfolgreich töten, auf seine Physiologie, damit er erfolgreich getötet werden konnte.

Wie es in der Geschichte zu gehen pflegt, begriff niemand, was da heraufzog. Die Entdeckungen, die sich zum DEHUMANIZATION TREND IN NEW WEAPON SYSTEMS vereinigen sollten, waren nämlich in sehr weit voneinander entfernten Zonen der Wissenschaft gemacht worden. Die Intellektronik produzierte Mikrorechner, die so billig waren wie Gras, die Neuroentomologie hingegen hatte endlich das Rätsel der Insekten geknackt, die — wie etwa die Bienen — in einem Gemeinwesen leben, für gemeinsame Ziele arbeiten und sich mit einer eigenen Sprache verständigen, obgleich ihr Nervensystem um das 380 000fache kleiner ist als das Gehirn des Menschen. Für den einfachen Soldaten genügt vollkommen die Findigkeit einer Biene, sofern sie entsprechend transformiert wird. Kampftüchtigkeit und Vernunft sind — zumindest auf dem Schlachtfeld — zwei verschiedene Dinge. Hauptfaktor des Drucks, der die Miniaturisierung der Waffen bewirkte, war die Atombombe.

Die Notwendigkeit der Miniaturisierung ergab sich aus einfachen, wohlbekannten Tatsachen, die allerdings außerhalb der Grenzen der damaligen Militärwissenschaft lagen. Als vor 70 Millionen Jahren ein gewaltiger Meteor auf die Erde gestürzt, mit seinen Trümmern die Atmosphäre verdunkelt und damit das Klima auf Jahrhunderte hinaus abgekühlt hatte, rottete diese Katastrophe mit Stumpf und Stiel die großen Echsen, die Dinosaurier, aus, schadete den Insekten jedoch nur wenig und ließ die Bakterien völlig verschont. Die Beweiskraft der Paläontologie war eindeutig: Je größer die obwaltende Zerstörungskraft ist, um so kleiner müssen die Organismen sein, die ihr entgehen sollen. Die Atombombe machte die Auflösung sowohl des Soldaten als auch der Armeen erforderlich. Der Gedanke, den Soldaten auf Ameisengröße schrumpfen zu lassen, konnte im 20. Jahrhundert jedoch außerhalb der Phantastik keinen Ausdruck finden. Der Mensch kann weder in Teilchen aufgelöst noch in seinen Maßen reduziert werden. Man dachte damals an automatische Soldaten und meinte damit Roboter von Menschengestalt, aber das war schon zu jener Zeit ein naiver Anachronismus. Die Industrie unterlag ja bereits der Entmenschung, aber die Roboter, die die Arbeiter an den Taktstraßen der Automobilwerke ersetzten, hatten keine Menschengestalt — sie bildeten lediglich die Vergrößerung ausgewählter Einzelteile des Menschen: als Gehirn mit einer mächtigen stählernen Hand, als Gehirn mit Augen und einer Faust, als Sinnes- und Greiforgane. Unter einer atomaren Bedrohung ließen sich große Roboter aber nicht einfach auf die Schlachtfelder versetzen.

So entstanden radioaktive Synsekten (synthetische Insekten), Krustentiere aus Keramik, Schlangen und Ringelwürmer aus Titan, die sich in die Erde eingraben und nach einem Atomschlag wieder hervorkriechen konnten. Das fliegende Synsekt war gewissermaßen eine zu einem mikroskopisch kleinen Ganzen verschmolzene Legierung von Flugzeug, Pilot und Bewaffnung. Gleichzeitig wurde zur operativen Einheit die Mikroarmee, die nur als Ganzes eine Kampfkraft darstellte, etwa wie nur der ganze Bienenschwarm eine selbständige, überlebensfähige Einheit bildet, während die einzelne Biene nichts ist. Es entstanden also Mikroarmeen vieler Typen, gestützt auf zwei gegensätzliche Prinzipien. Nach dem Prinzip der Selbständigkeit wirkte eine solche Armee wie ein Kriegszug von Ameisen, eine Welle von Bakterien oder ein Schwarm von Hornissen. Nach dem Prinzip des Teletopismus war die Mikroarmee lediglich ein gewaltiger, fliegender oder kriechender Haufen von Elementen zur Eigenmontage: Je nach der taktischen oder strategischen Notwendigkeit bewegte er sich in starker Auflösung vorwärts, um sich erst am Ziel zu dem vorprogrammierten Ganzen zu vereinigen. Es verhielt sich so, als würde das Kriegsgerät die Rüstungsfabrik nicht in seiner endgültigen Gestalt, sondern in Halb- oder Viertelfertigteilen verlassen, die sich zusammenschließen, kurz bevor sie ins Ziel treffen. Das einfachste Beispiel dieser „selbstkoppelnden Armeen“ war die autodisperse Atomwaffe. Eine ballistische Interkontinentalrakete mit einem Kernsprengkopf läßt sich aufspüren — durch Satellitenüberwachung aus dem All, durch Radar von der Erde aus. Diese Mittel versagen jedoch bei gigantischen Wolken von Mikroteilchen in starker Dispersität, die Uran oder Plutonium tragen und sich zur kritischen Masse erst am Ziel zusammenschließen, sei dieses nun eine Fabrik oder eine feindliche Stadt.

Eine Zeitlang existierten die alten und neuen Waffengattungen nebeneinander her, aber das massive, schwere Kriegsgerät erlag bald endgültig den Angriffen der Mikrowaffen. Diese waren ja beinahe unsichtbar. Wie Krankheitserreger verstohlen in den Tierorganismus eindringen, um ihn von innen her zu töten, so durchsetzten die toten, künstlichen Mikroben nach den ihnen vorgegebenen Tropismen die Geschützläufe, Geschoßräume, Panzermotoren und Flugzeugtriebwerke, zerfraßen das Metall oder jagten, wenn sie an die Pulverladungen gelangten, alles in die Luft. Was vermochte selbst der tapferste, mit Granaten behängte Soldat gegen diesen mikroskopisch kleinen, toten Gegner? Nicht mehr als ein Arzt, der Choleraerreger mit einem Hammer zu bekämpfen sucht! Gegen die Wolken der das vorgegebene Ziel selbst aufsuchenden, biotropen, alles Leben zerstörenden Mikrowaffe war der Bürger in Uniform so hilflos, wie es der römische Legionär mit Schild und Schwert im Kugelhagel gewesen wäre.

Schon im 20. Jahrhundert hatte die Taktik des Kampfes in geschlossener Ordnung einer Lockerung der Formationen weichen müssen, und im Bewegungskrieg kam es zu einer weiteren Auflösung. Damals hatte es allerdings immer noch Frontlinien gegeben, die nun ebenfalls verschwanden. Die Mikroarmeen sickerten mit Leichtigkeit durch die Verteidigungsgürtel und drangen tief ins feindliche Hinterland. Kernwaffen großen Kalibers erwiesen sich mittlerweile immer offenkundiger als machtlos: Ihr Einsatz war einfach unrentabel. Die Bekämpfung einer Virusepidemie mit thermonuklearen Bomben konnte nur minimalste Effekte bringen. Überdies sollen die Kosten eines Geschosses den Wert des von ihm zerstörten Ziels nicht wesentlich übersteigen. Man jagt nicht mit Kreuzern auf Blutegel.

Als schwierigstes Problem der menschenlosen Etappe des Kampfes des Menschen mit sich selbst erwies sich die Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Aufgabe, seit langem mit der Formel FOF (FRIEND or FOE) bezeichnet, war einst von elektronischen Systemen bewältigt worden, die nach der Regel von Anruf und Parole arbeiteten. Ein Flugzeug oder ein anderer Flugkörper gab, über Funkwellen gefragt, über einen Sender selbsttätig die richtige Antwort oder wurde als Feind behandelt und angegriffen. Diese aus dem 20. Jahrhundert stammende Methode war anachronistisch geworden. Die neuen Waffenmeister hatten im Reiche des Lebens Anleihen aufgenommen: bei Pflanzen, Tieren und Bakterien.

Die Diagnostizierung kopierte die Methoden der lebenden Arten: ihre Immunologie, den Kampf von Antigen und Antikörpern, Tropismen, aber auch Mimikry, Tarnfarben, Deckung und Maskierung. Die toten Mikrowaffen täuschten oftmals harmlose Mikroorganismen oder sogar Kapseln und Blütenstaub von Pflanzen vor und verbargen unter diesen Hüllen ihren todbringenden, erosierenden Inhalt. An Bedeutung gewann auch die informatorische Auseinandersetzung — nicht im Sinne der Propaganda, sondern des Eingreifens in das feindliche Nachrichtenwesen, um es zu lähmen oder — beim Anflug der nuklearen Heuschreckenschwärme — den vorzeitigen Zusammenschluß zur kritischen Masse zu veranlassen und damit das Vordringen zu dem zu schützenden Ziel zu verhindern. Der Verfasser des Buches beschrieb einen Kakerlaken, der der Prototyp bestimmter Mikrosoldaten war und auf dem Abdomen einige dünne Härchen trug. Wurden diese durch eine Luftbewegung gekrümmt, ergriff der Kakerlak die Flucht. Solche Sensoren sind mit dem hinteren Nervenknoten kurzgeschlossen, der einen harmlosen Windhauch von Bewegungen unterscheidet, die von einem Angreifer verursacht werden.

In die Lektüre vertieft, gedachte ich voller Mitgefühl all der biederen Liebhaber von Uniformen, Flaggen und Tapferkeitsmedaillen. Das neue militärische Zeitalter mußte für sie ein einziger Schimpf, eine Beleidigung ihrer hehren Ideale gewesen sein. Der Autor bezeichnete die Veränderungen als eine „auf den Kopf gestellte Evolution“ (Upside Down Evolution), weil in der Natur zuerst die Mikroorganismen entstanden, die sich allmählich in immer größere Gattungen umwandelten, wohingegen in der militärischen Evolution der umgekehrte, der Trend zur Mikrominiaturisierung einsetzte und das große Gehirn des Menschen gleichzeitig durch die Simulate von Nervenknoten der Insekten ersetzt wurde. In der ersten Phase sind die menschenlosen Waffen noch von Menschen projektiert und gebaut worden, in der zweiten Phase wurden die toten Divisionen von ebenso toten Computersystemen konzipiert, kriegsmäßig getestet und in die Massenproduktion übergeführt. Die Menschen wurden erst aus dem Militär, dann auch aus der Rüstungsindustrie entfernt, eine Erscheinung, die als „sozio-integrative Degeneration“ bezeichnet wurde. Der Degeneration unterlag der einzelne Soldat: er wurde immer kleiner und dadurch immer einfacher. Zuletzt besaß er soviel Vernunft wie eine Ameise oder eine Termite. Eine um so größere Rolle fiel der sozialen Komplexität dieser Krieger zu. Die tote Armee war viel komplizierter als ein Bienenstock oder ein Ameisenhaufen und entsprach in dieser Hinsicht eher großen Biotopen der Natur, also Gattungspyramiden, die in einem subtilen Gleichgewicht von Konkurrenz, Antagonismus und Symbiose zueinander stehen. Es ist leicht begreiflich, daß ein Stabsgefreiter oder ein Feldwebel in solchen Streitkräften nichts zu tun hatte. Um hingegen alles — und sei es nur bei einer Inspektion, nicht einmal bei der Führung — im Griff zu haben, hätte der Verstand einer ganzen Universität nicht ausgereicht. Daher kamen (außer in der Dritten Welt) die Offizierskorps bei den großen militärischen Umwälzungen des 21. Jahrhunderts am schlechtesten weg. Unter dem erbarmungslosen Druck des Trends, die Armeen zu entmenschen, barsten die schönsten Traditionen der Manöver und Vorbeimärsche, der Zapfenstreiche und Wachablösungen, der Portepees und Paradeuniformen, des Drills und des Rapports. Ein Weilchen ließen sich die hohen Führungschargen, die der Stäbe an der Spitze, noch für Menschen reservieren, leider aber eben nur ein Weilchen. Die strategisch-rechnerische Überlegenheit der computertechnischen Kommandostaffeln schlug am Ende selbst die gescheitesten militärischen Führer einschließlich der Marschälle mit Arbeitslosigkeit. Auch eine ordenübersäte Brust bewahrte den Generalstäbler nicht vor der vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand. Damals entstand eine oppositionelle Widerstandsbewegung von Berufsoffizieren, die aus Verzweiflung über ihre Arbeitslosigkeit — es waren, wie gesagt, Berufsoffiziere — in den terroristischen Untergrund gingen. Die Weltgeschichte entledigte sich dieser Rebellion mit wahrhaft ekelerregender Bosheit: mit Mikrospitzeln und einer Minipolizei, beide konstruiert nach dem Vorbild des bereits erwähnten Kakerlaken, dessen Kriegstüchtigkeit durch Nacht und Nebel ebensowenig beeinträchtigt wurde wie durch diverse Täuschungsmanöver seitens der desperaten Traditionalisten, die den Ideen von Achilles und Clausewitz die Treue hielten.

Was die armen Länder anging, so konnten sie nur auf die alte Weise Krieg führen, mit Menschenkraft, folglich nur mit einem gleichermaßen anachronistisch kämpfenden Gegner. Wer sich militärische Automatisierung nicht leisten konnte, hatte sich mucksmäuschenstill zu verhalten.

Die reichen Länder lebten deswegen durchaus nicht angenehmer. Politik auf alte Weise war nicht mehr möglich. Die von jeher immer diffuser werdende Grenze zwischen Krieg und Frieden wurde immer weniger erkennbar. Das zwanzigste Jahrhundert hatte kräftig dazu beigetragen, das feierliche Ritual der Kriegserklärung beseitigt und Begriffe eingeführt wie Fünfte Kolonne, Massensabotage, kalter Krieg und Krieg per procura. Selbst das aber war nur ein Anfang gewesen, die Unterschiede restlos zu verwischen. Die Feilscherei auf den Abrüstungskonferenzen zielte niemals nur auf ein Übereinkommen und die Konstituierung eines Gleichgewichts der Kräfte, sondern auch auf die Ausspürung der schwachen und starken Seiten des Gegners. Die eindeutige Alternative „Krieg oder Frieden“ ging der Welt verloren, jetzt gab es Krieg, der Frieden, und Frieden, der Krieg war. In der ersten Phase dominierte — unter einer Maske offiziell erklärten Friedens — eine viele Bereiche umfassende Diversion. Sie durchsetzte politische, religiöse und soziale Bewegungen (sogar so ehrenwerte und harmlose wie die zum Schutze der Umwelt), unterwusch die Kultur und die Massenmedien, suchte die Illusionen der Jugend und die Traditionsbegriffe der Alten für sich zu gewinnen. Im zweiten Stadium verstärkte sich die kryptomilitärische Diversion, die in ihrer Wirkung bis zur Unkenntlichkeit dem Kriege glich, nur daß sie als Krieg nicht zu erkennen war. Den sauren Regen, der vom Himmel fiel, wenn schwefelhaltige Kohle verbrannt wurde und mit ihrem Rauch die Wolken zu verdünnter Schwefelsäure machte, hatte schon das zwanzigste Jahrhundert gekannt. Später gab es Regen, der Dächer, Fabriken, Straßen und Hochspannungsleitungen zerfraß, ohne daß man feststellen konnte, ob er das Werk der verseuchten Natur oder eines Feindes war, der die Giftwolken einem günstigen Wind mitgab.

So verhielt es sich bald mit allem. Es gab Massensterben bei allen möglichen Nutztieren — aber waren diese Epizootien natürlich oder von jemandem ins Werk gesetzt? Geht der Sturm, der einen ganzen Landstrich unter Wasser setzt, auf ein Naturereignis wie einst oder die geschickte Entfesselung eines Taifuns zurück? Ist eine Dürre in all ihrer Verderbnis natürlichen Ursprungs oder Folge einer geheimen Verschiebung von Luftmassen und regenschwangeren Wolken?

Klimatisch-meteorologische Gegenspionage, seismische Kundschafterei, Geheimdienste von Epidemiologen, schließlich auch von Genetikern und gar von Gewässerkundlern hatten alle Hände voll zu tun. Die Gelehrtenschaft der Welt geriet immer stärker in den Sog, im Dienste des Militärs differenzierende Erkundung zu betreiben, gleichzeitig aber wurden die Ergebnisse der Untersuchungen immer undurchsichtiger. Die Enttarnung von Diversanten war ein Kinderspiel gewesen, solange es sich um Menschen gehandelt hatte. Dann aber kam es so weit, daß Wirbelstürme, Hagelschlag, Pflanzenpest, Viehsterben, die Zunahme der Säuglingssterblichkeit und der Krebserkrankungen, endlich gar die Einschläge von Meteoriten (die Idee, Asteroiden auf das Territorium des Antagonisten zu lenken, hatte man bereits im 20. Jahrhundert gehabt) der Diversion angelastet werden konnten, und da wurde das Leben unerträglich. Unerträglich nicht nur für den Mann von der Straße, sondern auch für den Staatsmann, der ratlos und verstört war, weil er von seinen nicht weniger verstörten Beratern nichts Sicheres erfahren konnte. An den Militärakademien führte man damals neue Fächer ein, wie die kryptooffensive und kryptodefensive Strategie und Taktik, die Kryptologie der Kontra-Re-Aufklärung (das heißt die Täuschung und Irreführung der Gegenspionage in der nächsthöheren Potenz), die Kryptographie, die Feldenigmatik und schließlich die KRYPTOKRYPTIK. Diese letztere stellte auf geheime Weise die Geheimanwendung von Geheimwaffen dar, die sich nicht von harmlosen Ereignissen in der Natur unterscheiden lassen.

Die Fronten und Grenzziehungen zwischen großen und kleinen Antagonismen verwischten sich. Um die andere Seite in deren Öffentlichkeit zu diffamieren, produzierten spezielle Institutionen auf dem eigenen Territorium Falsifikate von Naturkatastrophen mit derartigen Merkmalen, daß die Unnatürlichkeit in die Augen stach. Nachgewiesenermaßen setzten reiche Länder ihren an ärmere zu herabgesetzten Preisen gelieferten Hilfssendungen an Weizen, Mais oder Kakao gewisse Mittel zu, die die sexuelle Potenz verminderten. Das war nichts anderes als ein geburtenreduzierender Geheimkrieg. Der Frieden war zum Krieg, der Krieg zum Frieden geworden. Obgleich die katastrophalen Folgen dieses Trends — ein beiderseitiger Sieg, der der beiderseitigen Niederlage gleichkam — offenkundig waren, taten die Politiker weiter, als sei nichts. In Sorge um Wählerstimmen gaben sie immer nebulösere Versprechen von einer immer günstigeren Wende in naher Zukunft, waren aber immer weniger imstande, den Lauf der realen Welt zu beeinflussen.

Der Krieg war Frieden nicht wegen totalitärer Machenschaften, wie Orwell sich das einst ausgemalt hatte, er war es durch den Stand der Technologie, die jede Grenze zwischen natürlichen und künstlichen Erscheinungen verwischt hatte — auf jedem Gebiet, in jedem Teil der Menschenwelt und sogar deren Umgebung, denn im Universum verhielt es sich nicht anders.

Wo es weder zwischen natürlichem und künstlichem Eiweiß noch zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz einen Unterschied gibt, lassen sich Katastrophen, die von einem Täter vorsätzlich ausgelöst werden, nicht von solchen unterscheiden, die von niemandem verschuldet sind. Also sprach der Verfasser des Buches DEHUMANIZATION TREND IN WEAPON SYSTEMS OF THE XXI CENTURY.

Wie das Licht, das, von der Schwerkraft in das Innere eines Schwarzen Loches gesogen, der Gravitationsfalle nie mehr entkommen kann, ist die Menschheit, von den Kräften der Antagonismen in die Rätsel der Materie gezogen, in eine technologische Falle geraten. Die Entscheidung über die Investierung aller Kräfte in eine neue Überrüstung wurde nicht mehr von Regierungen und Staatsmännern, von den Plänen der Generalstäbe, den Interessen von Monopolen oder anderer pressure groups beeinflußt, sondern — immer stärker! — von der Angst, die Entdeckungen und Techniken, die Überlegenheit verleihen, könnten zuerst von der anderen Seite gefunden werden. Damit verfiel die traditionelle Politik endgültig der Lähmung. Die Verhandlungsführer konnten nichts mehr aushandeln, denn ihr guter Wille — der Verzicht auf eine Neue Waffe — wurde von der anderen Seite so verstanden, daß der Verzichtende bereits eine noch Neuere Waffe im Überfluß besitzen müsse.

Ich stieß auf eine mathematische Formel der Konflikttheorie, die zeigte, weshalb die Abrüstungskonferenzen zu keinerlei Ergebnis führen konnten. Auf solchen Veranstaltungen werden bestimmte Entscheidungen getroffen. Wenn die Zeit der Entscheidungsfindung jedoch länger ist als die Zeit der Entstehung von Innovationen, die den zur Entscheidung anstehenden Zustand radikal verändern, sind alle Beschlüsse bereits bei der Beschlußfassung anachronistisch. In jedem HEUTE ist darüber zu entscheiden, was GESTERN war. Die Entscheidung verlagert sich aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wird damit zu einem Spiel leeren Scheins. Eben dies nötigte die Mächte zu dem Genfer Abkommen über den Waffenexodus auf den Mond. Die Welt atmete auf und genas — jedoch nur für kurze Zeit, denn die Angst kam wieder, diesmal vor dem Schreckbild der vom Mond gegen die Erde gerichteten unbemannten Invasion. Daher gab es keine dringlichere Aufgabe, als dem Geheimnis des Mondes die Diagnose zu stellen.

Mit diesen Worten endete das Kapitel. Danach kamen noch etliche Seiten, die ich nicht aufblättern konnte. Zuerst glaubte ich, sie seien durch Buchbinderleim zusammengeklebt, ich suchte die nächste Seite auf jede mögliche Weise abzulösen, bis ich endlich zum Messer griff und die Klinge vorsichtig zwischen die aneinanderhaftenden Seiten schob. Die erste schien unbedruckt, aber dort, wo das Messer sie berührt hatte, waren Buchstaben sichtbar geworden. Ich fuhr noch einmal mit der Schneide über das Papier und konnte folgende Sätze lesen:

„Bist du gewillt, diese Last auf dich zu nehmen? Wenn nicht, dann lege das Buch wieder in das Kästchen! Wenn ja, dann schneide die nächste Seite auf!“

Ich tat das letztere. Die Seite war leer. Ich fuhr mit dem Messer von oben nach unten darüber hin. Es erschienen acht Ziffern, zu Paaren gruppiert wie eine Telefonnummer. Ich schnitt noch die anderen Seiten auf, aber sie enthielten nichts. Eine sonderbare Art, Erlöser für diese Welt anzuheuern! dachte ich, und vage zeichnete sich schon damals in meinem Kopfe ab, was auf mich zukommen könnte. Ich schlug das Buch zu, aber es öffnete sich von selbst wieder auf der Seite mit den deutlich sichtbaren Zahlen.

Mir blieb nichts übrig, als den Hörer abzunehmen und die Nummer zu wählen.

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