VI. Der zweite Gang

Ausgeruht wachte ich auf und erinnerte mich sogleich wieder der Ereignisse vom Vortage. Nach einer anständigen Dusche kann ich immer am besten denken, daher hatte ich darauf bestanden, ein Bad mit fließendem Wasser an Bord zu haben, nicht die feuchten Handtücher, die nur kläglicher Ersatz für eine Wanne sind. Von einer solchen konnte keine Rede sein; der Baderaum war groß wie ein Faß, auf der einen Seite sprühte das Wasser hervor, auf der anderen wurde es von einem starken Luftstrom abgesaugt. Im Zustand der Schwerelosigkeit legt sich das Wasser in einer zunehmenden Schicht über Körper und Gesicht, ich mußte, um nicht bei meinen Waschungen zu ersticken, zuvor die Sauerstoffmaske aufsetzen. Das war reichlich mühsam, aber lieber eine solche Dusche als gar keine. Es ist ja bekannt, daß damals, als die Ingenieure den Bau von Raketen schon im kleinen Finger hatten, die Astronauten immer noch von Havarien der Klosetts geplagt wurden. Der technische Erfindergeist mußte sich lange anstrengen, ehe er eine Lösung fand. Die Anatomie des Menschen paßt nur unglücklich auf kosmische Verhältnisse. Diese harte Nuß bereitete den Astrotechnikern schlaflose Nächte, machte den Verfassern von Sciencefiction-Storys aber überhaupt nichts aus, denn als erhabene Geister übergingen sie sie einfach mit Schweigen. Mit dem kleineren Bedürfnis war es ja halb so schlimm, zumindest bei Männern … Das größere jedoch wurde erst durch entsprechend programmierte Computer glücklich gelöst: durch die sogenannten Defäkatoren, die nur die schwache Seite haben, daß sie kaputtgehen. Dann entsteht eine dramatische Situation, in der jeder sich helfen muß, so gut er kann. In meinem lunaren Modul immerhin war er der einzige Computer, der bis zuletzt arbeitete wie eine Schweizer Uhr, wenn eine so rühmliche Metapher in diesem Zusammenhang erlaubt ist.

Gewaschen und erfrischt, trank ich Kaffee aus einer birnenförmigen Plastikflasche und kaute Rührkuchen mit Rosinen. Ich hielt die Finger dazu unter den Saugtrichter eines auf volle Stärke eingestellten Ventilators, denn lieber sollte mir der Luftstrom die Krumen von den Fingern reißen, als daß ich mich an einer Rosine verschlucken und ersticken wollte. Ich gehöre nicht zu denen, die aus beliebigsten Gründen auf eine Gewohnheit verzichten. Gehörig gestärkt, setzte ich mich vor den Selenografen und betrachtete den Globus des simulierten Mondes, um meinen Gedanken nachzuhängen mit dem angenehmen Gefühl, daß mir niemand aufdringliche Ratschläge erteilt. Ich hatte der Zentrale nämlich nichts von meinem Erwachen gemeldet, und so glaubte man dort, ich schlafe noch.

Das Phänomen mit dem Spiegel und das nackte Mädchen bildeten unweigerlich zwei Phasen der Diagnose, WER da gelandet war, und beides hatte wohl den Veranstalter dieses Empfangs zufriedengestellt, wer oder was immer er auch war. Andernfalls hätte ich nachher nicht durch den Flamsteed streunen können, ohne irregeführt oder angegriffen zu werden. Das Fußeisen jedoch, das sich als Mine entpuppt hatte, paßte überhaupt nicht in dieses Bild. Einerseits die große Mühe, Trugbilder im Niemandsland hervorzurufen, aus der Entfernung zu agieren, weil das die Unverletzlichkeit dieses Geländes verlangte, andererseits aber Minenfallen dort einzugraben — das sah gerade so aus, als stünde ich gegen eine Armee, die mit Fernwarnradar und zugleich mit Streitkolben ausgerüstet war. Die Mine konnte allerdings noch aus früherer Zeit stammen, niemand hatte ja eine Ahnung, was sich in so vielen Jahren kompletter Isolation auf dem Mond getan hatte. Ich konnte das Rätsel nicht lösen und machte mich an die Vorbereitung des zweiten Erkundungsgangs.

LEM 2, voll funktionstüchtig, war ein Produkt der Firma General Telectronics, ein anderes Modell als der Unglücksrabe, der mir so unverhofft verlorengegangen war. Ich ging in den Laderaum, um ihn anzusehen, ehe ich er wurde. Von seinem Bau her mußte er ein gewaltiges Kraftpaket sein, er hatte dicke Arme und Beine, entsprechend breite Schultern und einen dreifachen Panzer, der wie eine Glocke dröhnte, als ich nur mit dem Finger dagegenklopfte. Außer den Suchern im Helm hatte er sechs zusätzliche Augen auf dem Rücken, an den Hüften und an den Knien. Um der Konkurrenz, die LEM 1 projektiert hatte, das Leben sauer zu machen, hatten die General Telectronics ihr Modell mit zwei personengebundenen Raketensystemen ausgestattet: Außer den nach der Landung abzuwerfenden Bremsraketen besaß der gepanzerte Athlet festmontierte Düsen in den Fersen, den Kniekehlen und sogar im Gesäß. Aus der von Eigenlob stinkenden Betriebsanleitung erfuhr ich, dies diene der Erhaltung des Gleichgewichts und ermögliche überdies Sprünge über eine Entfernung von achtzig bis hundertsechzig Metern. Der Panzer glänzte wie reines Quecksilber, jeder Laserstrahl sollte davon abgleiten.

Ich prägte mir in etwa ein, was an diesem LEM so großartig war, will aber nicht behaupten, daß mich die Besichtigung in Begeisterung versetzte. Je mehr nämlich Sucher, Augen, Indikatoren, Düsen und Hilfsgeräte vorhanden sind, um so mehr beanspruchen sie die Aufmerksamkeit, und da ich eine Person normalen menschlichen Standards bin, standen mir nur so viele Gliedmaßen und Sinne zur Verfügung wie jedem anderen auch. In die Kabine zurückgekehrt, versetzte ich mich probeweise in diesen Sendling. Nachdem Ich Er geworden war, also in Ihm als Ich auf den Füßen stand, suchte ich mich mit seiner Steuerung vertraut zu machen, die verdammt kompliziert war. Der Schalter, der die großen Sprünge möglich machen sollte, besaß die Form eines kleinen Kuchens, aus dem die entsprechenden Leitungen herausliefen, und mußte mit den Zähnen gehalten werden. Wie sollte ich mich aber mit der Zentrale verständigen, wenn mir so ein Ding in der Schnauze steckte? Nun, der Kuchen war knetbar wie Plasteline, man konnte ihn innen in die Backe stecken und im Bedarfsfalle mit den Backenzähnen hineinbeißen. War die Situation jedoch besonders gespannt, so konnte ich den Schalter, wie die Betriebsanleitung lehrte, die ganze Zeit zwischen den Zähnen halten, mußte aber aufpassen, daß ich nicht zu fest zubiß. Für den Fall eines durch jähe Erregung verursachten Zähneklapperns stand kein Wort vermerkt. Ich leckte an dem Schalter, er schmeckte so ekelhaft, daß ich sofort ausspuckte. Ich will es nicht beschwören, aber man mußte ihn bei der Erprobung auf der Erde mit einer Paste aus Apfelsinen oder Pfefferminze eingeschmiert haben.

Ich schaltete mich aus dem Sendling aus, ging auf eine höhere Umlaufbahn und raste um den Mond, um das Ziel Null Null Zwei anzusteuern, das zwischen Mare Spumans und Mare Smythii lag. Inzwischen plauderte ich auch maßvoll höflich mit der Zentrale auf der Erde. Friedlich wie ein sattes Kind in der Wiege flog ich dahin, als plötzlich der Selenograf zu muckern begann. Das ist ein wunderbares Gerät, solange es tadelfrei funktioniert. Man braucht keinen echten Mondglobus mitzuschleppen, er wird durch ein durch Holografie geschaffenes, dreidimensionales Bild ersetzt, und das hat den Effekt, als kreise einem vor Augen, einen Meter in der Luft hängend, langsam der ganze große Mond. Man sieht genau die Reliefs der Oberfläche, dazu die Sektoren, ihre Grenzen und die Namen der Eigentümer. Nacheinander zogen an mir die Abkürzungen vorüber, die international zur Kennzeichnung von Automobilen gebräuchlich sind: US, GB, I, F, SU, S, N und so fort. Plötzlich mußte jedoch etwas kaputtgegangen sein, denn die Sektoren begannen in allen Farben des Regenbogens zu flimmern, dann sanken die größeren und kleineren Kraterpocken in trübes Licht, das Bild flackerte, ich stürzte an die Regler, aber das half nur so viel, daß der Mond als glatte Kugel von jungfräulichem Weiß erschien. Ich änderte die Bildschärfe, verstärkte und verringerte den Kontrast, der Mond erschien verkehrt herum, dann verschwand er endgültig, und nichts vermochte den Selenografen mehr zu normaler Arbeit zu bewegen. Ich machte Vivitch Meldung und bekam natürlich zur Antwort, ich hätte da etwas verdreht.

Nach meiner feierlichen, gut zehnmal wiederholten Erklärung, ich habe „da ein gewisses Problem“ (so sagt man ja seit Armstrongs Zeiten), nahmen sich die Experten meines Holografen an. Es dauerte den halben Tag. Erst mußte ich auf eine mondferne Umlaufbahn gehen, um aus der Zone des Schweigens herauszukommen und damit der störenden Einwirkung unbekannter Wellen oder Kräfte zu entgehen, die vom Mond aus auf mich gerichtet sein konnten. Als das nicht half, machten sie sich an die Überprüfung sämtlicher integrierter und nichtintegrierter Schaltkreise im Holografen, direkt von der Erde aus. Dadurch bekam ich Zeit, mir erst ein zweites Frühstück und nachher auch noch ein Mittagessen zu bereiten. Es ist nicht so einfach, in der Schwerelosigkeit ein gutes Omelett hinzukriegen, ich legte daher Helm und Kopfhörer ab, damit meine Konzentration keine Beeinträchtigung durch das zu erwartende Gezänk der Informatiker, Teletroniker und speziell zu einem Kollegium herbeigetrommelten Professoren erfuhr. Diese sämtlichen Debatten brachten an den Tag, daß der Holograf schlicht und einfach kaputt war. Man wußte sogar, welches Mikrobauteil ausgewechselt werden mußte, aber ausgerechnet das war das einzige, das ich nicht in Reserve hatte. Es war nichts zu machen. Ich erhielt die Unterweisung, die normalen, auf Papier gedruckten Mondkarten hervorzusuchen, mit Klebeband an die Monitore zu heften und mir so aus der Not zu helfen. Karten waren da, aber nicht alle. Ich fand nur vier Exemplare des ersten Mondviertels, ebendesjenigen, von dem ich am Vortage bereits einige Kostproben bekommen hatte. Von den übrigen Karten keine Spur. Die Bestürzung war komplett. Ich wurde aufgefordert, genauer nachzusehen, ich stellte in der Rakete alles auf den Kopf, fand jedoch außer einem kleinen Porno-Comic, den die Techniker bei den letzten Startvorbereitungen weggeworfen hatten, lediglich ein Wörterbuch des Slangs, der von den amerikanischen Gangstern der fünften Generation gesprochen wurde.

Daraufhin spaltete sich die Zentrale in zwei Lager. Das eine vertrat die Ansicht, unter solchen Voraussetzungen könne ich die Mission nicht fortsetzen und solle zurückkehren. Das andere wollte die Entscheidung mir überlassen. Diesem schloß ich mich an, und ich sprach mich dafür aus, dort zu landen, wo es vorgesehen war. Den Mond konnten sie mir ja per Fernsehen übertragen. Das Bild war auch gar nicht schlecht, nur schlecht mit meiner Umlaufgeschwindigkeit koordiniert, denn mal schoß die Mondoberfläche vorbei wie ein vergifteter Affe, und dann wieder schlief sie fast ein. Zudem sollte ich direkt am Rande der Scheibe landen, die von der Erde aus sichtbar ist, mich dann aber auf die andere Seite begeben. Daraus erwuchs ein neues Problem. Ich konnte das Fernsehbild nicht empfangen, wenn das Raumschiff über der abgewandten Halbkugel hing, eigentlich sollte das nichts ausmachen, dann würden es eben die Satelliten des inneren Kontrollsystems übertragen. Nur — die wollten nicht! Sie wollten nicht, weil solch eine Eventualität nie in Rechnung gestellt und jeder dieser Satelliten nach der Direktive der Unkenntnis so programmiert worden war, daß er nichts übertragen durfte. Nichts. Weder von der Erde noch nach der Erde.

Um mit mir und meinen Mikropen ständig Verbindung halten zu können, hatte man auf eine Umlaufbahn hoch über dem Mondäquator zwar sogenannte trojanische Satelliten gebracht, die aber wiederum nicht für die Übertragung von Fernsehbildern tauglich waren. Das heißt, tauglich waren sie schon, aber die Fernsehbilder mußten von den Mikropen gesendet werden. Es gab darüber ein schreckliches Hin und Her, die Situation war endlich so verfahren, daß jemand den Vorschlag machte, in der Zentrale ein Brainstorming zu veranstalten. Das ist, wenn man es gelehrt ausdrücken will, eine improvisierte Beratung, wo jeder Teilnehmer die aberwitzigsten Hypothesen und Konzeptionen vorbringen und in seiner Kühnheit von den anderen jederzeit überboten werden kann. Etwas volksverbundener würde man sagen: Jeder kann quatschen, was ihm gerade in die Rübe kommt.

Das Brainstorming dauerte vier Stunden, es war zum Auswachsen, die Gelehrten schwätzten bis zum Gehtnichtmehr, dann kamen sie vom Thema ab, und es ging auf einmal wirklich nicht mehr — nämlich nicht mehr darum, mir zu helfen. Sie wollten herauskriegen, wer das Versehen begangen hatte, nicht an eine ordentliche Zweitanlage der holografischen Simulation zu denken. Wie immer, wenn Schulter an Schulter ein Kollektiv zugange ist, gab es keinen Schuldigen, die Vorwürfe flogen wie Pingpongbälle hin und her, bis ich mit der Erklärung dazwischenfuhr, dann müsse ich mir eben selber helfen. Ich sah darin kein übertriebenes Risiko, das war ohnehin groß genug, als daß ein Krümel noch einen Unterschied bewirken konnte, und außerdem war es rein akademischen Charakters, ob ich im Sektor US, SU, F, GB, E, I, C, CH oder unter einem anderen Buchstaben des lateinischen Alphabets zu Boden ging. Der Begriff nationaler oder staatlicher Zugehörigkeit von Robotern, die in der wer weiß wievielten Generation den Mond bevölkerten, war doch nur Schall und Rauch.

Wie ihr wißt oder nicht wißt, besteht die schwierigste Aufgabe der militärischen Automatisierung darin, den Waffenautomaten so zu programmieren, daß er ausschließlich Gegner attackiert. Auf der Erde hat das nie Schwierigkeiten bereitet: Dafür gab es Uniformen, bunte Zeichen auf den Tragflächen der Flugzeuge, Flaggen, die Form der Stahlhelme. Außerdem ist es wahrhaftig nicht schwer festzustellen, ob ein Kriegsgefangener niederländisch oder chinesisch spricht. Mit Automaten ist das anders, daher entstanden zwei Doktrinen, beide unter der Differentialformal FRIEND OR FOE. Die erste empfahl den Einsatz von Sensoren, analytischen Filtern, differenzierenden Selektoren und ähnlichem Diagnosegerät, während die andere sich durch vorteilhafte Einfachheit auszeichnete: Feind war jeder, der auf die Parole nicht die richtige Antwort wußte — folglich war er anzugreifen. Nun wußte freilich niemand, wie die dem Selbstlauf überlassene Evolution der Waffen auf dem Mond nun wirklich verlaufen war und wie die taktisch-strategischen Programme dort den Verbündeten vom Feind unterschieden. Übrigens sind das, wie man aus der Geschichte weiß, ohnehin relative Begriffe. Falls jemandem daran besonders gelegen ist, kann er in Standesamtsregistern und anderen Dokumenten kramen und herauskriegen, ob jemand eine arische Großmutter hatte. Will er aber feststellen, ob dieser Jemand vom Sinanthropus oder doch eher vom Paläopithecus abstammt, so ist er aufgeschmissen. Die Automatisierung der Armeen räumte überdies alle ideologischen Fragen aus. Der Roboter sucht zu vernichten, worauf das Programm ihn ausgerichtet hat, er tut das nach der Methode der Brennpunktoptimierung, der Differentialdiagnose sowie der mathematischen Regeln der Spiel- und Konflikttheorie. Aus Patriotismus tut er es nicht. Die sogenannte Militärmathematik, die im Zusammenhang mit der Automatisierung sämtlicher Waffengattungen entstand, hat ihre bedeutenden Schöpfer, aber auch ihre Häretiker. Die Fürsprecher behaupteten, es gebe Programme, die eine hundertprozentige Loyalität der Kampfroboter garantierten, so daß keine Kraft der Welt sie „umdrehen“ und zum Hochverrat verleiten könne. Die Ketzer versicherten, eine derartige Garantie gebe es nicht.

Wie immer, wenn mir ein Problem zu hoch war, hielt ich mich an den gesunden Menschenverstand. Es gibt keine Chiffre, die sich nicht dechiffrieren ließe, keinen noch so geheimen Code, den seine Knacker nicht zu ihrem Vorteil zu nutzen wüßten. Die Geschichte der Computerkriminalität beweist es. Einhundertvierzehn Programmierer hatten die Chase Manhattan Bank davor gesichert, daß Unberufene an ihre Rechenzentren herankamen, und ein einziger aufgeweckter Jüngling schlich sich mit einem simplen Taschenrechner und einem ebenso simplen Telefon aus reinem Spieltrieb in die geheimsten Programme und stellte alle Bilanzen auf den Kopf. Wie ein ausgekochter Geldschrankknacker, der am Tatort auf perfide Weise ein Zeichen seiner Identität hinterläßt, um die Ermittlungsorgane zu foppen, baute jener Student in das supergeheime Programm der Bank gewissermaßen als Visitenkarte den Befehl ein, daß der Computer bei der Bilanzprüfung vor jedem SOLL und HABEN zuerst einmal ein dickes „BÄÄÄH“ ausspucken sollte. Die Theoretiker der Programmierung ließen sich davon natürlich nicht beeindrucken, sondern dachten sich sofort ein Programm aus, das anders, besser, komplizierter und nicht zu knacken war. Wer dann doch damit fertig wurde, weiß ich nicht mehr. Es spielt auch gar keine Rolle für die zweite Etappe meines Himmelfahrtskommandos.


Ich weiß nicht, wie der Krater hieß, in dem ich landete. Von Norden her ähnelte er dem Helvetius, von Süden her nicht. Ich sah mir den Platz erst einmal von der Umlaufbahn aus an, ausgesucht hatte ich ihn aufs Geratewohl. Vielleicht war es Niemandsland, vielleicht auch nicht. Ich hätte mit dem Astrographen spielen und die Sterne, verschiedene Neigungswinkel und sonstwas vermessen können, um die Koordinaten herauszukriegen, ich tat gut daran, mir das fürs Dessert aufzuheben. LEM Nummer zwei war viel funktionstüchtiger, als ich in der mir eigenen, immer ein Haar in der Suppe vermutenden Bedenklichkeit angenommen hatte. Ein unbestreitbares Minus hatte er aber doch: Die Klimaanlage ließ sich nur entweder voll aufdrehen oder ganz abstellen. Wenn es nur um die Regelung im Raumanzug gegangen wäre, hätte es mir nichts ausgemacht, zwischen Backofen und Tiefkühltruhe hin und her zu wechseln, aber damit hatte der Defekt nichts zu tun. Ich saß ja nach wie vor im Raumschiff und hätte dessen erträgliche Temperatur genießen können, nur war mit den Sensoren dieses LEM etwas nicht in Ordnung, so daß meine Haut bald mit Hitze, bald mit Kälte geschockt wurde. Ich fand nur das Mittel, jeden Augenblick den Hebel herumzuwerfen. Wenn das Raumschiff vor dem Start nicht steril gemacht worden wäre, hätte ich mir eine Grippe geholt. So blieb es nur beim Schnupfen, denn dessen Viren tragen wir unser Leben lang sowieso in der Nase mit uns herum.

Ich wußte erst selber nicht, warum ich mit der Landung so lange herumtrödelte. An der Angst konnte es nicht liegen, aber dann begriff ich den wahren Grund: Ich wußte nicht, wie der Landeplatz hieß. Als hätte der Name etwas zu sagen gehabt! Aber so ist das nun mal, und daher rührt wohl auch der Eifer, mit dem die Astronomen jeden Mond- und Marskrater getauft haben. Der Katzenjammer kam erst, als es auf anderen Planeten der Gebirge und Klüfte so viele wurden, daß dafür keine wohlklingenden Namen mehr aufzutreiben waren.

Die Gegend war flach, nur im Norden zeichneten sich am Horizont ovale Bergrücken ab. In einem hellen Aschgrau standen sie vor dem schwarzen Himmel. Es gab dort eine Unmenge Sand und nur schweres Vorwärtskommen. Ich blieb immer mal stehen, um nachzusehen, ob die Mikropen mich noch begleiteten. Sie standen so hoch, daß sie nur durch ein kurzes Aufblitzen zu erkennen, nur durch ihre rasche Bewegung von den Sternen zu unterscheiden waren. Ich befand mich nahe beim Terminator, der Tagundnachtscheide, hatte die dunkle Hälfte des Mondes aber vor mir, hinterm Horizont, der an die zwei Meilen entfernt lag. Die Sonne stand sehr niedrig, ihre gewaltige Scheibe ruhte auf dem Horizont hinter meinem Rücken. Lange Schatten schnitten parallel über das Hochplateau, in jeder noch so kleinen Bodensenke stand die Finsternis, daß ich in ein schwarzes Wasserloch zu steigen glaubte. Abwechselnd in Hitze und Frost getaucht, marschierte ich vorwärts, mitten in den gewaltigen eigenen Schatten hinein, der mich als Riesen erscheinen ließ. Ich hätte mit der Zentrale reden können, aber es gab nichts zu reden. Vivitch fragte mich alle naselang, wie es mir gehe und was ich sehe, und ich sagte immer nur: Okay, okay, nichts los.

Auf der Höhe einer sanft ansteigenden Düne lag ein Haufen ziemlich großer, flacher Steine. Ich lenkte meine Schritte dorthin, weil mir ein metallisches Blinken aufgefallen war. Es kam vom Bruchstück einer massiven, ausgebrannten Treibstufe, die noch aus der Zeit stammen mochte, da man den Mond als Ziel für Raketen zu entdecken begann. Ich sah mir das Ding an und ging weiter. Auf dem Scheitel der Anhöhe, wo es kaum noch den feinen Sand gab, der sich so sehr an die Stiefel setzt, lag flach wie ein schlecht ausgebackenes Brot einsam ein Stein. Ich fühlte mich — vielleicht aus Langeweile, vielleicht, weil er so einsam dalag — verlockt, ihm einen Tritt zu geben. Er rollte jedoch nicht den Hang hinab, sondern zersprang. Ein faustgroßes Stück sprang ab, die Bruchfläche glänzte wie reiner Quarz. Mir war auch über die chemische Zusammensetzung der Mondkruste der Schädel vollgestopft worden, aber ich konnte mich nicht erinnern, daß da auch kristalliner Quarz vorkommen sollte. Ich bückte mich, um den Fund aufzunehmen. Für Mondverhältnisse war er ziemlich schwer. Ich hielt ihn dicht vor die Augen, aber als ich nichts weiter mit ihm anzufangen wußte, warf ich ihn beiseite. Meinen Weg setzte ich dennoch nicht fort, denn eben in dem Moment, als meine Hand den Stein losgelassen hatte, gab er selbst in diesem Sonnenglast ein seltsames Blitzen ab, über die konkave Bruchfläche ging ein Wabern, als flimmerten dort mikroskopisch kleine Lichtfunken durcheinander. Ich hob ihn nicht wieder auf, beugte mich aber nieder, um ihn anzusehen. Ich tat das lange genug, um ins Blinzeln zu geraten. Was mit diesem Stein vor sich ging, konnte ja nur auf einer Sinnestäuschung meinerseits beruhen! Die von dem Bruch verursachten Scharten verloren ihren Glanz, in wenigen Sekunden waren sie erloschen. Dann schien der Stein etwas abzusondern, was diese Wunden füllte; ich hatte den Eindruck, als scheide er einen halbflüssigen Kleister aus wie ein angeritzter Baum das Harz.

Vorsichtig tauchte ich den Finger hinein, es war nicht klebrig, eher schlammig wie frisch angerührter Gips. Ich warf einen Blick auf den anderen, größeren Teil des Steins und staunte noch mehr. Seine Bruchfläche verlor nicht nur den Glanz, sondern schien sich auch auszuhauchen. Ich sagte Vivitch nichts davon, sondern blieb, im Rücken als heißen Druck die Anwesenheit der Sonne spürend, mit gespreizten Beinen stehen, einige Meter über der sanft gewellten, ganz in die weißen Streifen des Lichts und die schwarzen Flecken des Schattens getauchten Ebene. Ich ließ keinen Blick von dem Stein. Er wuchs, oder, besser gesagt, er verwuchs, das heißt, die beiden Teile, der große und der kleine, den ich in der Hand gehabt hatte, bauchten sich aus, paßten nicht mehr aneinander, jeder von ihnen wurde zu einem unregelmäßigen Brocken ohne die geringste Spur eines Bruchs. Ich wartete, wie es weitergehen würde, aber es ging nicht weiter, ganz als wären an beiden Teilen eine Wunde vernarbt. Unmöglich, sinnlos — aber wahr.

Plötzlich wurde mir bewußt, wie leicht der Stein zu Bruch gegangen war, obwohl ich gar nicht fest zugetreten hatte. Ich sah mich nach anderen um. Einige kleinere lagen an dem sonnenbeschienenen Hang, ich stieg zu ihnen hinunter und hieb mit dem Spaten auf sie ein wie mit einer Axt. Jeder barst wie eine reife Kastanie, und die Bruchflächen glänzten. Zuletzt geriet ich an einen gewöhnlicheren Stein, der Spaten rutschte ab und hinterließ nur einen weißlichen Kratzer. Ich kehrte also zu den zerhauenen zurück. Sie vernarbten, es gab keinen Zweifel. In einer kleinen schlauchähnlichen Tasche am rechten Oberschenkel hatte ich einen Geigerzähler. Er tat keinen Mucks, als ich ihn an die Steine hielt. Die Entdeckung konnte wichtig sein, Steine verhalten sich nicht so, folglich waren sie nicht natürlichen Ursprungs, möglicherweise ein Produkt der hiesigen Technologie. Ich mußte eine Probe mitnehmen, ich bückte mich schon, als mir einfiel, daß ich ja gar nicht an Bord zurückkommen konnte. Das war im Projekt nicht vorgesehen. Auch chemische Analysen konnte ich an Ort und Stelle nicht durchführen, weil ich keinerlei Reagenzien bei mir hatte.

Hätte ich Vivitch von dem Phänomen in Kenntnis gesetzt, wäre es zu hektischen Beratungen und Konsultationen gekommen, die Lunologen wären aus dem Häuschen geraten und hätten mir befohlen, auf der Düne zu bleiben, alle Steine kleinzuhacken wie Eier, zu beobachten, was damit geschah, und immer kühnere Vermutungen anzustellen, aber ich spürte in allen Knochen, daß dabei nichts herauskommen würde. Erst mußte man ja wissen, welchem Zweck diese Erscheinung diente und was dahintersteckte. Vivitch meldete sich von selbst, er fragte, was ich da mit dem Spaten zerhacke. Das von den Mikropen übertragene Bild war offenbar nicht scharf genug. „Nichts, nichts“, gab ich zur Antwort und ging rasch weiter, den Kopf voller Gedanken.

Die Fähigkeit einer Vernarbung von im Kriege erlittenen Beschädigungen konnte Kampfrobotern, falls es solche hier gab, überaus nützlich sein, aber Steinen? Sollte die hiesige Aufrüstung unter der Leitung von Computern bei Schleuder und Kieselstein angefangen haben? Aber selbst wenn — wozu hatten die steinernen Wurfgeschosse dann einen solchen Heilungsprozeß nötig? Plötzlich kam mir, wer weiß woher, der Gedanke, daß ich ja nicht als Mensch, sondern als Sendling, also nicht in lebendiger, sondern in toter Gestalt hier war.

Konnte es nicht sein, daß sich die Rüstung auf dem Mond in zwei voneinander unabhängigen Richtungen entwickelt hatte: als Schöpfung von Angriffswaffen jedesmal, aber zum einen gegen das, was feindlich und leblos, zum anderen gegen das, was feindlich und lebendig war? Nehmen wir an, es sei so gewesen, und phantasieren wir weiter. Nehmen wir an, die Mittel zur Bekämpfung lebloser Waffen können nicht gleichermaßen wirksam gegen lebendige Feinde eingesetzt werden, ich aber sei gerade an jene zweiten geraten, die auf die Landung eines Menschen vorbereitet waren. Da ich ein solcher nicht war, diese Minen — nehmen wir ruhig auch an, es habe sich um Minen gehandelt — in meinem Raumanzug nichts Lebendiges witterten, taten sie mir nichts und beschränkten ihre Aktivität darauf, ihre Wunden vernarben zu lassen. Einem von der Erde stammenden Erkundungsroboter wäre dergleichen überhaupt nicht aufgefallen, er konnte gar nicht so programmiert sein, ein Phänomen wahrzunehmen, das so frappierend und unvorhersehbar zugleich war. Ich hingegen war weder Roboter noch Mensch, und daher hatte ich es wahrgenommen. Was nun? Das wußte ich nicht, aber wenn in meiner Vermutung auch nur ein Körnchen Wahrheit steckte, waren andere Minen zu erwarten, die nicht mehr auf Menschen, sondern auf Automaten lauerten. Ich ging also langsamer und setzte meine Schritte sehr vorsichtig, ließ Düne um Düne hinter mir, immer die Sonne im Rücken. Hin und wieder stieß ich auf größere und kleinere Steine, die ich jedoch nicht mehr spaltete oder trat, denn wenn es tatsächlich jene zwei Arten gab, konnte das ein schlimmes Ende nehmen.

Ich hatte an die drei Meilen zurückgelegt, vielleicht auch etwas darüber — ich besaß zwar einen Schrittmesser, aber er steckte tief in der äußeren Beintasche, die so eng war, daß ich mit dem Handschuh nur mühsam hineinkam und es daher lieber unterließ —, als ich im Süden etwas erblickte, was nach Ruinen aussah. Ich war davon nicht besonders beeindruckt, denn auf dem Mond gibt es viele vom Zufall übereinandergetürmte Felsstücke, die von weitem wie verfallene Gebäude aussehen, und man merkt erst im Nähertreten, daß man einer Täuschung verfallen ist. Dennoch änderte ich die Richtung und wartete, durch immer tieferen Sand watend, darauf, daß die Felsengruppe ihr wirkliches, chaotisches Aussehen offenbarte. Sie tat es aber nicht, im Gegenteil, je näher ich kam, desto deutlicher wurden die ramponierten und verrußten Fassaden flacher Gebäude. Die schwarzen Flecken waren keine gewöhnlichen Schatten, sondern gähnende Fensteröffnungen, nicht ganz regelmäßig, aber immerhin geordneter, als es bei Felslöchern solcher Größe auf dem Mond jemals anzutreffen gewesen wäre.

Unter meinen Sohlen rutschte kein Sand mehr weg, die Stiefel traten auf einen dicken, holprigen Schmelz wie geronnene Lava, aber Lava war das nicht, sondern Sand, der einer sehr hohen Temperatur ausgesetzt, darunter geschmolzen und im Abkühlen wieder erstarrt war. Ich hatte mich darin nicht geirrt, diese Kruste glänzte stark im Sonnenlicht und zog sich über den ganzen sanften Abhang, den ich zu bewältigen hatte. Von den Ruinen trennte mich nur noch diese ziemlich hohe Düne, die die ganze Gegend überragte und mir von ihrem Gipfel aus die Erklärung lieferte, weshalb die Ruinen vom Raumschiff aus nicht zu erkennen waren: Sie steckten tief im Geröll.

Wären es wirklich die Reste geborstener Häuser gewesen, so hätte ich gesagt, der Schutt reiche bis an die Fenster. Aus einer Entfernung von dreihundert Metern erinnerten sie an einen von Fotografien bekannten Anblick: aus Stein gebaute Ortschaften, die durch ein Erdbeben zerstört worden sind. Im Iran ist dergleichen anzutreffen. Von der Umlaufbahn aus sind sie nur in Terminatornähe zu bemerken, wenn die sehr tiefstehende Sonne durch die offenen, halb zerfallenen oder wie durch eine Explosion demolierten Fensteröffnungen fällt. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob es nicht doch nur eine besondere Felsenformation war, und ging weiter darauf zu. Mir gefiel die Sache aber so wenig, daß ich den Geigerzähler zur Hand nahm und auf die Skala schaute. Auch das ging nicht so einfach, im Hinabsteigen von der Höhe war ich sogar der Länge lang hingefallen. Deshalb schloß ich die Leitung des Geräts an eine Steckdose am Raumanzug an, wodurch ich das Ticken hören konnte, falls das Gelände sich als radioaktiv erwies. Das war auch der Fall, und wie! Allerdings setzte das eilige Ticken erst auf der Hälfte des Gegenhangs ein, kaum daß ich das Trümmerfeld um die niedrigen, abgedeckten Gebäude mit den schartigen Mauern betrat (jetzt war ich sicher, daß dies kein Werk der natürlichen Kräfte des Mondes war). Das Geröll rutschte unter meinen Füßen nicht mehr weg, denn es war zu einer unbeweglichen Masse verschmolzen. Es sah aus, als sei diese sonderbare Siedlung in ihrem Zentrum von einer Explosion getroffen worden, worauf eine länger anhaltende Hitzestrahlung die Schutthalde aufgeschmolzen und ein versteinertes Ganzes geschaffen hatte.

Ich war bereits zwischen den ersten Ruinen, widmete ihnen aber nicht die gebührende Aufmerksamkeit, weil ich auf jeden meiner Schritte achten mußte. Vorsichtig setzte ich die schweren Stiefel auf die spitzen Vorsprünge der großen Halde, damit ich nicht zwischen die Gesteinsbrocken geriet. Erst weiter oben, direkt gegenüber der nächsten Ruine, ging der ziemlich steile Schutt in einen gläsernen Schmelz über, auf dem sich wie Ruß schwärzliche Streifen hinzogen. Das Gehen fiel leichter, ich legte einen Schritt zu und stand bald vor dem ersten Fenster. Es war eine durch vorspringende Steine unregelmäßige Öffnung. Drinnen war es finster, erst nach einiger Zeit erkannte ich unordentlich durcheinanderliegende längliche Gegenstände. Ich wollte nicht durch das ramponierte Fenster kriechen, denn mein massiver Sendling konnte leicht darin steckenbleiben. Ich ging auf die Suche nach einer Tür, denn wo Fenster waren, mußte wohl auch eine Tür sein. Ich umschritt das Gebäude, das eine große Gewalt derart in den Boden gepreßt hatte, daß es schief und platt war. Eine Tür fand ich nicht, dafür aber in einer Seitenwand eine Bresche, die breit genug war, mir, wenn ich mich bückte, Einlaß zu bieten. Wo das Sonnenlicht auf dem Mond direkt neben dem Schatten liegt, sind die Helligkeitskontraste so groß, daß das Auge sie nicht bewältigen kann. Ich mußte mich mit ausgebreiteten Armen in einen Winkel dieses Raums tasten, den Rücken an die starke Wand lehnen und die Augen schließen, um mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich zählte bis hundert, dann sah ich mich um.

Das Innere glich einer oben offenen Höhle, doch durch die Öffnung drang keinerlei Licht, denn der Himmel des Mondes ist schwarz wie die Nacht. Auch das Sonnenlicht läßt sich, wenn es durch eine Öffnung fällt, nicht als heller Strahl erkennen, weil es nicht durch Luft und Staub zerstreut wird wie auf der Erde. Die Sonne blieb draußen und warf nur einen weiß leuchtenden Fleck auf die Wand, genau dem Winkel gegenüber, in dem ich mich befand. In seinem Widerschein sah ich zu meinen Füßen — drei Leichen. Dafür hielt ich sie im ersten Augenblick, denn sie waren zwar geschwärzt und entstellt, aber sie hatten Körper, Arme, Beine und die eine sogar einen Kopf. Blinzelnd und meine Augen mit der Hand vor dem blendenden Sonnenfleck schirmend, kauerte ich bei dem nächstgelegenen Leichnam nieder. Es war kein Mensch, es waren nicht einmal sterbliche Überreste, denn was von seiner Entstehung her tot ist, kann nicht sterben. Noch ehe ich den Körper, der mit gespreizten Beinen vor mir lag, auch nur berührt hatte, erkannte ich ihn als eine Art Puppe, allerdings nicht als Roboter, denn sein aufgetrennter Rumpf war, von einer Handvoll Kies und Sand abgesehen, völlig leer. Vorsichtig zog ich an seinem Arm. Er war ganz leicht, wie aus Schaumstoff, und kohlschwarz dazu. Seinen Kopf entdeckte ich an der Wand, wo er wie auf einem Sockel auf dem abgerissenen Hals stand und mich aus drei leeren Augenhöhlen anstarrte.

Natürlich fragte ich mich verwundert, warum es ausgerechnet drei waren. Das dritte Auge lag wie ein kleines rundes Loch unterhalb der Stirn, wo beim Menschen das Nasenbein ansetzt, aber diese seltsame Puppe hier hatte wohl nie eine Nase besessen, die auf dem Mond ohnehin zu nichts zu gebrauchen ist. Auch die anderen Puppen waren nur annähernd von Menschengestalt. Die Zerstörung der Gebäude hatte sie zwar entstellt, aber man erkannte doch auf den ersten Blick, daß ihr Körperbau sich der menschlichen Anatomie nur näherte, sie aber nicht genau kopierte. Die Beine waren zu lang, anderthalbmal so lang wie der Rumpf. Die Arme waren zu dünn und saßen nicht an den Schultern, sondern komischerweise an Brust und Rücken. Das mußte die Regel sein, denn Explosion, Druckwelle und Einsturz hatten zwar einem die Gliedmaßen verdrehen können, aber nicht allen auf die gleiche Weise. Wer weiß, vielleicht ist es zuweilen ganz günstig, hinten und vorn Hände zu haben.

Während ich so dem hellen Sonnenflecken gegenüber im Dunkel vor den Moderbeinen hockte, fiel mir plötzlich auf, daß ich außer dem hastigen Ticken des Geigerzählers nichts anderes mehr hörte, daß seit etlichen Minuten, wenn nicht noch länger, Vivitchs Stimme nicht mehr zu mir drang. Zuletzt hatte ich ihm von der Düne aus geantwortet, die über die Ruinen ragte. Von meiner Entdeckung hatte ich nichts gemeldet, weil ich mich erst vergewissern wollte, daß es kein Irrtum war. Ich rief die Zentrale, hörte aber nur das rasende, alarmierende Ticken des Geigerzählers. Die radioaktive Verseuchung war beträchtlich, aber ich verlor mit Messungen keine Zeit, denn dem Sendling konnte sowieso nichts passieren. Dann fiel mir aber ein, daß ein von den zerschmetterten Steinen der Ortschaft abgesondertes, unsichtbares ionisiertes Gas meine Funkverbindung unterbrochen haben und das jeden Augenblick auch mit meinem Kontakt zum Raumschiff passieren konnte. Mir fuhr ein Schreck in die Glieder, denn ich glaubte, dann für immer hierbleiben zu müssen, aber das war natürlich Blödsinn, zwischen Schutt und Ruinen bliebe nur der Sendling, während ich an Bord meines Raumschiffs wieder zu Bewußtsein käme. Vorerst gab es ohnehin nicht die geringsten Anzeichen, als könnte ich die Herrschaft über den Sendling verlieren. Mein Raumschiff stand offenbar genau über der Ortschaft, es wanderte auf seiner stationären Umlaufbahn ja immer so, daß es über mir im Zenit stand.

Eine Entdeckung und eine Situation wie die meine waren zwar nicht vorauszusehen gewesen, aber die Position im Zenit ist für die Arbeit mit Sendlingen optimal, weil die Entfernung des steuernden Menschen am geringsten ist und damit sämtliche Reaktionen mit der geringsten Zeitverzögerung erfolgen. Der Mond hat keine Atmosphäre, und die Dichte jenes ionisierten Gases, vielleicht ein Effekt der Verdampfung von Mineralien nach der Explosion, war nicht allzu hoch. Ob sie auch die Verbindung der Zentrale mit den Mikropen störte, wußte ich nicht, und ich kümmerte mich jetzt auch nicht darum; ich wollte erst mal herauskriegen, was hier vorgefallen war, um dann Vermutungen anstellen zu können, weshalb und wozu. Rückwärts gehend, zerrte ich durch die Mauerlücke den größten Leichnam hinter mir her, den mit dem ganzen Kopf. Ich sage Leichnam, obwohl es keiner war, der Eindruck drängte sich eben gar zu stark auf.

Auch draußen kam der Funkkontakt nicht wieder zustande, ich wollte jedoch zunächst den armen Kerl untersuchen, der zwar niemals Leben in sich gehabt hatte, aber durch sein Äußeres einen so scheußlichen wie jämmerlichen Eindruck hervorrief. Er war schlank und an die drei Meter groß, sein Kopf war stark oval, dreiäugig, ohne eine Spur von Nase und Mund. Der Hals war lang, die Hand greiffähig, allerdings konnte ich die Finger nicht zählen — das Material, aus dem das Ganze gemacht war, war am stärksten dort geschmolzen, wo die dünnsten Glieder saßen. Überhaupt war die gesamte Gestalt von einer pechartigen Schlacke überzogen. Da mußte eine ordentliche Hitze geherrscht haben, und plötzlich ging mir ein Licht auf: Dies konnte eine Ortschaft jener Art gewesen sein, wie man sie einst auch auf der Erde gebaut hatte, um die Wirkung von Kernexplosionen zu testen — in Nevada und anderswo, mit Häusern, Gärten, Geschäften. Nur die Menschen waren durch Tiere ersetzt worden, durch Schafe und Ziegen, aber auch Schweine, weil diese unbehaart sind wie wir und daher mit ähnlichen Verbrennungen auf einen thermischen Schlag reagieren. Konnte hier nicht etwas von dieser Art vorgefallen sein? Wäre mir die ursprüngliche Stärke der nuklearen Sprengladung bekannt gewesen, die diese Ortschaft in Schutt und Asche gelegt hatte, so hätte ich anhand der jetzigen Radioaktivität ermitteln können, wie lange die Explosion zurücklag. Aus der Zusammensetzung der Isotope könnten es die Physiker vielleicht auch jetzt noch, ich füllte schon für alle Fälle eine Handvoll feines Geröll in die Knietasche meines Raumanzugs, als mir wieder einfiel, daß ich damit ja nicht an Bord zurückkehren konnte. Ich war stocksauer, aber das Datum der Explosion mußte wenigstens ungefähr ermittelt werden.

Ich beschloß, mich aus der verseuchten Zone zurückzuziehen, den Funkkontakt mit der Zentrale wiederherzustellen, alles Notwendige zu melden und das Weitere den Physikern zu überlassen. Sollten sie sehen, wie sie die Proben untersuchen konnten, die ich gesammelt hatte. Ohne recht den Zweck zu wissen, packte ich mir den kläglichen Leichnam auf, er wog hier ja höchstens acht bis zehn Kilo, und trat meinen taktischen Rückzug an. Er war schwierig genug, denn die langen Beine des Burschen auf meinem Rücken schleiften über den Boden und blieben an den Steinen hängen. Ich mußte sehr langsam gehen, um nicht mit dem Kerl zusammen abzustürzen. Übermäßig fiel der Hang zwar nicht ab, und doch wußte ich nicht, ob es gescheiter war, über die zu Glasur geschmolzenen glatten Felsen hinabzusteigen oder über das Geröll zu gehen, das unter mir bei jedem Schritt ins Rutschen kam. Bei dieser ganzen Schinderei verpaßte ich die Richtung und gelangte nicht zu der Düne, über die ich hergekommen war, sondern fand mich eine Viertelmeile weiter westlich zwischen großen ovalen Felsen, ähnlich den Monolithen, die den Geologen auf der Erde als Zeugen von der Entwicklung des Urgesteins dienen. Ich legte meine Traglast ab und setzte mich daneben, um zu verschnaufen, ehe ich Vivitch rief.

Ich hielt Ausschau nach den Mikropen, entdeckte aber nirgends auch nur die Spur ihrer funkelnden Wolke. Auch Stimmen waren nicht zu hören, obwohl sie mich bereits wieder erreichen mußten. Das Ticken des Wächters im Helm war selten geworden, es klang, als fielen einzelne Sandkörner auf eine Membran. Als ich eine undeutliche Stimme vernahm, hielt ich sie für die Zentrale, hörte mich dann aber hinein und erstarrte. Drei Wörter verstand ich zunächst aus dem heiseren Stammeln: „Mein leiblicher Bruder … mein leiblicher Bruder …“ Ein Moment Ruhe, dann wieder: „Mein leiblicher Bruder … Leiblicher Bruder, mein …“

Wer spricht da? wollte ich rufen, wagte es aber nicht. Verkrampft saß ich da und spürte den Schweiß auf meine Stirn treten. Wieder war mein Helm erfüllt von der fremden Stimme. „Komm, mein leiblicher Bruder! Leiblicher Bruder, komm zu mir! Du brauchst keine Angst zu haben, ich tue dir nichts Böses, komm zu mir, mein Bruder! Wir werden uns nicht bekämpfen, tritt näher, mein leiblicher Bruder. Fürchte nichts, ich will nicht den Kampf. Wir wollen Brüder sein, Brüder! Hilf mir, so will auch ich dir helfen, mein Bruder!“

Dann knackte etwas, und die gleiche Stimme sagte in gänzlich anderem Ton, schnarrend, schroff und scharf: „Die Waffe nieder! Die Waffe nieder! Ergib dich, oder ich schieße! Kein Fluchtversuch! Dreh dich um, die Hände hoch! Beide Hände ins Genick! Keine Bewegung! Keine Bewegung!“

Wieder ein Knacken, wieder die Stimme, wieder im Tonfall von zuvor, stammelnd und schwach: „Mein Bruder, komm her. Wir wollen Brüder sein, hilf mir, wir wollen keinen Kampf.“

Ich hatte keinen Zweifel mehr: Da sprach dieser Überrest. Er lag da, wie ich ihn abgeladen hatte, reglos, wie eine verrenkte Spinne, den Hinterleib untergeschlagen, die Gliedmaßen verschränkt. Seine leeren Augenhöhlen gähnten in die Sonne, nur aus seinem Innern redete etwas auf mich ein, immer im Kreis herum, ein Lied für zwei Takte, für zwei Melodien. Einmal vom leiblichen Bruder, dann rauhe Befehle. Er ist so programmiert, dachte ich, ganz simpel, Puppe oder Roboter, erst sollte er den Menschen, den Soldaten anködern, dann gefangennehmen oder töten. Bewegen konnte er sich nicht mehr, aber das vom Brand verschonte Programm krächzte noch in ihm, immer im Kreis herum. Warum aber über Funk? Wenn er für den Einsatz auf der Erde bestimmt gewesen wäre, hätte er wohl mit normaler Stimme direkt gesprochen. Ich begriff nicht, wozu er den Funk nötig hatte. Lebendige Soldaten hatte es auf dem Mond nicht geben können, und einen Roboter hätte er so nicht geködert.

Irgendwie fand ich das alles ohne Sinn und Verstand. Ich besah mir diesen geschwärzten Schädel, die verdrehten, verkohlten Hände mit den zu Zapfen geschmolzenen Fingern, den zerfetzten Rumpf, verspürte jedoch nicht mehr jenes automatische Mitleid wie vorhin. Ich sah ihn eher feindselig an, nicht einmal nur mit Abscheu, obwohl er doch weiß Gott keine Schuld hatte. Er war so programmiert. Kann man sich über ein Programm moralisch entrüsten, das in elektrische Schaltkreise gedruckt ist? Als er wieder anfing, von dem leiblichen Bruder zu quasseln, suchte ich ihm zu antworten, aber er nahm es nicht wahr. Zumindest ließ er sich nichts anmerken.

Ich stand auf, mein Schatten fiel auf seinen Kopf, und er verstummte mitten im Wort. Ich trat einen Schritt beiseite, und er sprach weiter. Demnach hatte die Sonne ihn geweckt. Ich überlegte, was ich tun sollte. Viel Freude konnte man an dieser als Falle programmierten Puppe nicht gehabt haben, als „Kriegsgerät“ war sie reichlich primitiv. Die Waffenmeister des Mondes mußten diese langbeinigen Geschöpfe denn auch als wertloses Gerümpel angesehen haben, sonst hätten sie sie nicht zur Erprobung der Folgen von Kernwaffenschlägen benutzt. Damit er mir mit seinem Leichengesang nicht auf die Nerven ging (ich kann freilich nicht sagen, ob nur das der Grund war), trug ich größere Geröllbrocken zusammen und sammelte sie erst auf sein Haupt, dann auf den ganzen Körper, als wollte ich ihn begraben. Es wurde völlig still, bis auf ein leises Zirpen. Erst glaubte ich, das sei immer noch er, und sah mich schon nach weiteren Steinen um, aber dann bekam ich mit, daß es Morsezeichen waren: „t-i-c-h-y a-c-h-t-u-n-g t-i-c-h-y h-i-e-r z-e-n-t-r-a-l-e h-a-v-a-r-i-e a-n ü-be-r-t-r-a-g-u-n-g-s-s-a-t-e-l-l-i-t-e-n t-o-n-u-n-t-e-r-b-r-e-c-h-u-n-g w-i-r-d s-o-f-o-r-t b-e-h-o-b-e-n b-i-t-t-e w-a-r-t-e-n“

Also war einer der trojanischen Satelliten ausgefallen, die zwischen uns Verbindung halten sollten. Wird sofort behoben, dachte ich voller Hohn, laut sagen konnte ich es ja nicht, es kam ja nicht an. Ich warf einen letzten Blick auf die verkohlten Überreste und die sonnenbeschienenen weißen Ruinen jenseits des Dünentals, suchte den schwarzen Himmel vergeblich nach den Mikropen ab und marschierte, immer der Nase nach, auf eine riesige Gesteinsfaltung los, die sich wie der graue Leib eines gigantischen Wals aus dem Sand wölbte. Ich ging direkt auf einen im Schatten liegenden und dadurch teerschwarzen Spalt zu, der wie die Mündung einer Höhle aussah. Ich kniff die Augen zu und machte sie wieder auf und wiederholte das mehrmals, denn in dem Spalt stand jemand. Eine Gestalt, fast wie ein Mensch, untersetzt, breitschultrig, in einem khakifarbenen Raumanzug. Ich hob sogleich den Arm, vielleicht war es wieder nur ein Spiegelbild, und die Farbe des Anzugs wirkte anders durch den Schatten. Als der andere sich aber gar nicht rührte, stutzte ich. Vielleicht überfiel mich auch Furcht, zumindest jedoch eine böse Ahnung. Um Reißaus zu nehmen, war ich aber nicht hier, und wo sollte ich auch hin? Ich ging also weiter, direkt auf die Figur zu, die vollkommen einem stämmig gebauten Menschen glich.

„Hallo“, vernahm ich eine Stimme. „Hallo! Hörst du mich?“

„Ich höre“, sagte ich ohne übertriebene Bereitwilligkeit.

„Komm her, komm nur, ich habe auch Sprechfunk!“

Das klang reichlich albern, aber ich trat trotzdem näher. Der Schnitt seines Raumanzugs hatte etwas Militärisches. Auf seiner Brust kreuzten sich metallisch glänzende Gurte, seine Hände waren leer. Das ist schon mal gut, dachte ich, ging aber immer langsamer. Er kam mir entgegen und breitete die Arme aus, eine spontane, herzliche Geste, als treffe er einen alten Bekannten.

„Sei mir gegrüßt, sei mir gegrüßt! Gott gebe dir Gesundheit … Wie schön, daß du endlich da bist! Wir wollen miteinander plaudern, ich mit dir und du mit mir, wir wollen darüber reden, wie sich der Frieden in die Welt bringen läßt. Wir wollen uns erzählen, wie es uns ergeht …“

Er sprach mit einer vor Herzlichkeit bebenden, dabei aber sonderbar schrillen Stimme, in einem singenden Ton, die Silben dehnend. Dabei stapfte er durch den tiefen Sand auf mich zu, immer die Arme ausgebreitet wie zu einer Umarmung, und in seiner ganzen Haltung, in jeder seiner Bewegungen lag so viel Freundlichkeit, daß ich selber nicht wußte, was ich von dieser Begegnung halten sollte. Er war nur noch wenige Schritte entfernt, aber im dunklen Glas seines Helms blitzte nur die Sonne. Er nahm mich in die Arme und zog mich an sich, und so standen wir vor dem grauen Steilhang des großen Felsens. Ich suchte ihm ins Gesicht zu sehen, aber selbst aus einer Handbreit Entfernung konnte ich nichts erkennen, denn das Glas seines Visiers war undurchsichtig. Es war nicht mal Glas, eher eine glasbeschichtete Maske. Wie nahm er mich überhaupt wahr?

„Dir wird es bei uns gefallen, mein Lieber“, sagte er und stieß mit seinem Helm gegen den meinen, als wolle er mich auf beide Wangen küssen. „Bei uns ist es schön. Wir wollen keinen Krieg, wir sind gutherzig, friedfertig, du wirst es selber sehen, geliebter Freund …“ Bei den letzten Worten trat er so jäh und derb gegen mein Schienbein, daß ich der Länge lang aufs Kreuz fiel. Sofort saß er mir mit beiden Knien auf dem Bauch. Ich sah sämtliche Sterne, in des Wortes wahrster Bedeutung, alle Sterne des schwarzen Mondhimmels. Mein Freund hielt mit der Linken meinen Kopf zu Boden, mit der Rechten riß er sich die Metallgurte herunter, die sich von selbst zu hufeisenförmigen Bügeln formten. Ich gab keinen Laut von mir, ich war ziemlich ratlos, denn während er mit mächtigen, gemessenen Faustschlägen diese Bügel in den Boden trieb und damit meine Glieder an den Grund heftete, sprach er weiter: „Es wird dir gut gehen, lieber Freund. Wir sind schlichte, gute Menschen, wir sind voller Sanftmut. Ich bin dir gut, und auch du wirst mir gut sein, lieber Freund.“

„Also kein ›leiblicher Bruder‹?“ fragte ich, als ich merkte, daß ich weder Arme noch Beine bewegen konnte.

Meine Frage brachte ihn keineswegs aus der Fassung, er blieb unvermindert herzlich.

„Bruder?“ fragte er nachdenklich, als wolle er sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen. „Bruder? Gut, magst du ein Bruder sein! Ich bin gut, und du bist gut! Bruder um des Bruders willen! Denn wir sind Brüder. Oder etwa nicht?“

Er stand auf, klopfte mir schnell und sachkundig Hüften und Schenkel ab, betastete meine Taschen und entnahm ihnen meine ganze Habe, den flachen Werkzeugkasten und den Geigerzähler. Er schnallte mir den Feldspaten ab, tastete mich noch einmal, diesmal kräftiger ab, vor allem unter den Achseln, versuchte die Finger in meine Stiefelschäfte zu stecken und hörte während dieser Leibesvisitation keinen Augenblick lang auf zu reden.

„Leiblicher Bruder, sagtest du? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sind wir beide, du und ich, denn von einer Mutter geboren? Ach, die Mutter, die Mutter … Eine Mutter, Bruder, ist ein heilig Geschöpf. Und so gütig! Auch du bist gütig, du bist sehr gütig. Du trägst keine Waffen. Schlaumeier, du mein geliebter Schlaumeier, da gehst im Walde du für dich hin, die Steinpilze stehen, daß man sie mit der Sense mähen kann, der Wald steht schwarz und schweiget, und darum kann man ihn nicht sehen. Ja, mein lieber Bruder, ich will dir helfen, gleich wirst du es leichter haben, paß mal auf! Wir sind die Menschen des Friedens, die einfachen Menschen, denen die Welt gehört.“

Er hatte einen flachen Tornister vom Rücken genommen und aufgeklappt. Spitz zulaufende Instrumente blitzten auf. Er nahm eines, wog es in der Hand, legte es zurück und ergriff ein anderes, eine Art mächtiger Hebelschere, wie Soldaten sie beim Angriff zum Durchschneiden von Drahtverhauen verwenden. Er kehrte sie gegen mich, die Schneiden blitzten in der Sonne. Rittlings setzte er sich auf meinen Bauch, sprach: „Gott verleihe dir Gesundheit!“ und stieß mir, weit ausholend, sein Werkzeug in die Brust. Es tat nicht einmal sehr weh, mein Sendling hatte äußerst wirksame Dämpfer gegen Verdrießlichkeiten. Ich zweifelte nicht mehr daran, daß mein lunarer Herzenskumpan mich ausnehmen würde wie einen Fisch, ich hätte ihm die Leiche zur Sezierung überlassen und an Bord zurückkehren sollen, war aber von dem Kontrast zwischen seinem Reden und seinem Tun so fasziniert, daß ich wie betäubt liegenblieb.

„Warum sagst du nichts?“ fragte er, während seine Schere mit einem scharfen, trockenen Knirschen in die oberste Schicht meines Raumanzugs schnitt. Das Werkzeug war von erster Güte, von unwahrscheinlich hartem Stahl.

„Soll ich etwas sagen?“ fragte ich.

„Na los!“

„Hyäne.“

„Was?“

„Schakal.“

„Den Freund willst du beleidigen? Das ist nicht schön. Du bist mein Feind! Du bist falsch. Du bist absichtlich ohne Waffen gekommen, um mich zu täuschen. Ich wollte dir wohl, aber ein Feind muß durchsucht werden. Das gehört zu meiner Pflicht, und das ist mein Recht. Ich bin angegriffen worden. Ohne Kriegserklärung hast du unseren heiligen Boden betreten! Du bist selber schuld. ›Leiblicher Bruder‹. Von wegen, du Hundesohn! Selber schlimmer als ein Hund, beschimpfst du mich als Schakal und Hyäne, aber nicht mehr lange! Mit dem Leben blase ich dir gleich auch das Gedächtnis aus!“

Die letzten Spangen meiner Brustrüstung gaben nach, er bog sie nach außen, sah mir ins Innere und erstarrte.

„Hübsche kleine Geräte“, sagte er und stand auf. „Lauter Kinkerlitzchen. Ich bin ungebildet, aber unsere Gelehrten werden schon dahinterkommen. Warte du nur hier, du brauchst es nicht mehr eilig zu haben. Dich haben wir fest, mein Freund!“

Der Boden erbebte, ich wandte, so gut es ging, den Kopf und erblickte andere gleich ihm. Sie marschierten in Karrees und warfen die Beine im Stechschritt wie bei einer Parade. Der Boden dröhnte unter diesen Tritten, und Staubwolken wirbelten auf. Mein Schinder schickte sich offenbar an, Meldung zu erstatten, denn er stand stramm in Grundstellung.

„Tichy, melde dich! Wo steckst du?“ hallte es mir in die Ohren. „Der Ton ist wieder in Ordnung. Hier ist Vivitch! Hier ist die Zentrale! Hörst du mich?“

„Ich höre!“

Die anderen mußten Fetzen dieses kurzen Wortwechsels mitbekommen haben, denn sie fielen in Laufschritt.

„Weißt du, in welchem Sektor du bist?“ fragte Vivitch.

„Ich weiß es, ich habe mich soeben davon überzeugt. Ich bin gefangen! Angeschnitten wie eine Wurst!“

„Von wem? Wer …“, hörte ich Vivitch ansetzen, aber mein Henker übertönte alle weiteren Worte.

„Alarm!“ schrie er. „Alarm! Schnappt ihn, beeilt euch!“

„Tichy!“ brüllte Vivitch wie aus weiter Ferne. „Nichts anbrennen lassen!“

Ich verstand ihn. Es konnte nicht in unserem Interesse sein, wenn den Robotern modernste irdische Technologie in die Hände fiel. Zwar konnte ich die Finger nicht bewegen, aber es gab ja ein anderes Mittel. Ich biß mit aller Kraft die Zähne zusammen, hörte ein Knacken, als würde ein Schalter betätigt, und fiel in ägyptische Finsternis. Statt des Sandes spürte ich im Rücken die weiche Polsterung eines Sessels. Ich war zurück an Bord. Mir war schwindlig, ich fand nicht gleich den richtigen Knopf, bis er mir wie von selber unter die Finger kam. Ich zerschlug die schützende Plastikhaube, hieb mit der Faust auf die rote Taste und drückte sie bis zum Anschlag nieder. Der Sendling sollte ihnen nicht heil in die Hände fallen, ein Pfund Ekrasit riß ihn in Fetzen. Es tat mir leid um diesen LEM, aber mir blieb nichts anderes übrig.

So endete mein zweiter Gang.

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