IX. Besuche

Wie in Trance kam ich von meinem verunglückten Einkaufsbummel zurück. Ich weiß selber nicht mehr, wie ich auf mein Zimmer fand, so sehr suchte ich zu begreifen, was vor dem Warenhaus passiert war. Da ich nicht die geringste Lust hatte, mich mit Gramer und Konsorten an den Tisch zu setzen, aß ich das ganze im Schreibtischfach aufbewahrte Teegebäck auf und spülte mit Coca-Cola nach. Draußen dunkelte es bereits, als jemand an die Tür klopfte. Im Glauben, es sei Hous, öffnete ich. Vor mir stand ein fremder Herr im dunklen Anzug, eine flache schwarze Tasche in der Hand. Ich weiß auch nicht, warum ich ihn automatisch für einen Bestattungsunternehmer hielt.

„Darf ich eintreten?“ fragte er, ich trat wortlos zurück, er setzte sich, ohne sich umzusehen, auf den Stuhl, über dem mein Schlafanzug hing, nahm die Aktentasche auf die Knie, packte einen dicken Stoß von Papieren aus, setzte sich eine altmodische Brille auf und sah mich eine ganze Weile schweigend an. Seine Haare waren fast weiß, die Augenbrauen aber schwarz. Er hatte blutleere Lippen, die Mundwinkel in dem hageren Gesicht zeigten nach unten. Ich stand reglos am Schreibtisch, und er legte eine Visitenkarte vor mich hin. „Professor Dr. Allan Shapiro I. C. G. D.“ konnte ich lesen, Anschrift und Telefonnummer aber waren sehr klein gedruckt und nicht zu entziffern, in die Hand nehmen wollte ich das Kärtchen jedoch nicht. Mich erfaßten Gleichgültigkeit und Überdruß, ich hätte am liebsten schlafen mögen.

„Ich bin Neurologe“, sagte er, „und ziemlich bekannt.“

„Ich glaube, ich habe was von Ihnen gelesen“, brummelte ich unsicher. „Kallotomie, nicht wahr, Lateralisierung der Gehirnfunktionen?“

„Ja. Ich bin auch Berater der Lunar Agency. Mir haben Sie es zu danken, daß Sie nach Belieben schalten und walten können. Ich vertrete die Ansicht, daß Sie im jetzigen Zustand beschützt werden müssen, mehr aber nicht. Der Fluchtversuch war kindisch. Sie müssen das verstehen, Sie sind der Träger eines Schatzes, der gar nicht mit Geld zu bezahlen ist. Ein Geheimnisträger, wie die Deutschen sagen. Alle Ihre Bewegungen sind unablässig verfolgt worden, und das nicht nur von der Agentur. Bisher, Herr Tichy, wurden acht Versuche vereitelt, Sie zu entführen. Bereits auf dem Flug nach Australien standen Sie unter der Beobachtung durch Spezialsatelliten, die nicht nur uns gehörten. Ich bin mit meiner ganzen Autorität gegen die Forderungen der Politiker aufgetreten, denen die Agentur untersteht. Man wollte Sie festnehmen, unter Kuratel stellen und so weiter. Die von Ihrem Freund eingeholten juristischen Ratschläge sind völlig wertlos. Wenn es um einen ausreichend hohen Einsatz geht, verliert das Recht seine Gültigkeit. Solange Sie am Leben sind, befinden sich alle — alle interessierten Seiten — in einem Zustand des Patt. Das kann keinen Bestand haben: Wenn man Sie nicht zu fassen kriegt, wird man Sie töten.“

„Wer ist ›man‹?“ fragte ich, sah ihn an und wunderte mich gar nicht. Der Besuch versprach länger zu dauern, ich warf einen Stapel Zeitungen und Bücher vom Sessel und setzte mich.

„Das spielt keine Rolle. Sie jedenfalls haben, nicht nur meiner Ansicht nach, Ihren guten Willen gezeigt. Ihr offizieller Bericht ist mit dem verglichen worden, was Sie hier geschrieben und in dem Konservenglas vergraben haben. Überdies verfügt die Agentur über einen tertium comparationis in Form sämtlicher Mitschnitte Ihres Funkverkehrs mit der Zentrale.“

„Na und?“ fragte ich, weniger aus Neugier, sondern weil er eine Pause machte.

„Teils haben Sie die Wahrheit geschrieben, teils müssen Sie konfabuliert haben. Nicht vorsätzlich, Sie haben geglaubt, was im Bericht steht und was Sie hier verfaßt haben. Wenn im Gedächtnis Lücken auftreten, ist jeder normale Mensch bemüht, sie auszufüllen. Das geschieht ganz unbewußt. Übrigens kann man gar nicht wissen, ob Ihre rechte Gehirnhälfte tatsächlich eine Schatzkammer ist.“

„Das heißt?“

„Die Kallotomie brauchte kein Werk des Zufalls zu sein.“

„Sondern?“

„Ein Ablenkungsmanöver.“

„Von wessen Seite? Des Mondes?“

„Das ist durchaus möglich.“

„Ist es denn aber wieder so wichtig?“ fragte ich. „Die Agentur kann doch weitere Kundschafter entsenden.“

„Selbstverständlich. Sechs Wochen sind jetzt Sie wieder hier, und kaum daß die Diagnose — Ihre Kallotomie — gestellt war, wurden drei Mann aus der Reserve entsandt.“

„Ohne Erfolg?“

„Alle kamen zurück, aber als Erfolg ist das leider nicht zu werten.“

„Ich verstehe nicht.“

„Die Erfahrungen dieser Männer decken sich nicht mit den Ihren.“

„In keinem Punkt?“

„Es ist besser für Sie, keine Einzelheiten zu wissen.“

„Die aber Sie wissen, Professor Shapiro“, sagte ich grinsend. „Dann kann es auch für Sie unangenehm werden.“

Er nickte philosophisch.

„Selbstverständlich. Unter den Experten gibt es mittlerweile eine Masse einander widersprechender Hypothesen. Die Analyseergebnisse lauten in etwa so: Klassisch gebaute Sendlinge waren auf dem Mond keinerlei Überraschung. Das war erst der molekulare Fummel, in dem Sie zuletzt gesteckt haben. Seither ist aber auch er dort kein Unbekannter mehr.“

„Was ergibt sich daraus für mich?“

„Das werden Sie sich denken können. Sie sind DORT weiter vorgedrungen als Ihre Nachfolger.“

„Für die hat der Mond eine Show abgezogen?“

„So sieht es aus.“

„Und für mich nicht?“

„Sie haben — wenigstens teilweise — die Dekorationen durchstoßen.“

„Wie durfte ich dann zurückkehren?“

„Weil das Dilemma im Sinne des strategischen Spiels damit seine optimale Lösung fand. Sie kamen zurück, die Aufgabe war erfüllt. Gleichzeitig kamen Sie nicht zurück, die Aufgabe blieb unerfüllt. Wären Sie nicht wiedergekommen, hätten im Sicherheitsrat die Gegner weiterer Erkundungen die Mehrheit gewonnen.“

„Diejenigen, die den Mond vernichten wollen?“

„Nicht so sehr vernichten als vielmehr neutralisieren.“

„Das ist mir neu. Wie soll das vor sich gehen?“

„Es gibt dafür ein Mittel, höchst kostspielig zwar, eine neue Technologie in der Entstehungsphase. Ich kenne keine Einzelheiten, weil das so besser ist für uns alle und auch für mich.“

„Immerhin haben Sie davon munkeln hören“, meinte ich. „Es dürfte also in jedem Falle eine postatomare Technologie sein? Keine Wasserstoffladungen, keine ballistischen Raketen, sondern etwas Diskreteres. Der Mond würde es nicht rechtzeitig identifizieren können …“

„Für jemanden, der sein halbes Gehirn los ist, sind Sie durchaus intelligent geblieben. Kommen wir jedoch wieder zur Sache, das heißt zu Ihnen.“

„Ich soll mein Einverständnis für Untersuchungen geben? Unter den Auspizien der Agentur? Meine rechte Hälfte soll ins Verhör?“

„Der Fall ist viel komplizierter, als Sie annehmen. Neben Ihrem Bericht und den Mitschnitten von der Mission liegt uns eine ganze Reihe von Hypothesen vor. Die sicherste lautet in etwa wie folgt: Auf dem Mond ist es zu Kollisionen zwischen einzelnen Sektoren gekommen, nicht aber zu einer Union sämtlicher Sektoren oder aber der Vernichtung der einen durch die anderen. Auch ein Plan zur Bekriegung der Erde kam nicht zustande.“

„Was ist dann eigentlich passiert?“

„Wenn man das mit angemessener Gewißheit sagen könnte, brauchte ich Ihnen jetzt nicht zur Last zu fallen. Unzweifelhaft haben die Sicherungen zwischen den Sektoren versagt. Die militärischen Programmspiele sind übereinander hergefallen. Es gab Resultate ohne Beispiel.“

„Was für welche?“

„Ich bin in diesen Dingen kein Experte, aber soviel ich weiß, gibt es kompetente Experten überhaupt nicht. Wir sind auf Vermutungen angewiesen, unter dem Motto: Ceterum censeo humanitatem preservandam esse. Sie verstehen Latein, nicht wahr?“

„Ein wenig. Bitte sagen Sie nun, was Sie von mir wollen.“

„Im Augenblick noch gar nichts. Nehmen Sie es nicht übel, aber Sie sind wie jemand, der von der Pest befallen war, als es noch keine Antibiotika gab. Ich darf Ihnen diesen Besuch machen, weil ich mich stur gestellt habe. Man gab mir die Genehmigung nur widerstrebend. Ein ultimum refugium sozusagen. Die Zahl der Versionen, was auf dem Mond passiert ist, hat durch Sie eine fatale Vergrößerung erfahren. Geradeheraus gesagt, weiß man nach Ihrer Rückkehr weniger als vorher.“

„Weniger?“

„Ja freilich. Man weiß ja nicht einmal, ob Ihr rechtes Gehirn irgendeine kritische Information enthält. Die Zahl der Unbekannten wuchs, als sie sich verringerte.“

„Sie reden wie das Orakel zu Delphi.“

„Die Lunar Agency hat in den Mondsektoren untergebracht, was sie dem Genfer Abkommen zufolge dort unterzubringen hatte. Die Programme der ersten dorthin transportierten Computergeneration blieben jedoch das Geheimnis des jeweiligen Staates und waren der Agentur nicht zugänglich.“

„Das heißt, daß gleich am Anfang ein gefährlicher Unsinn stand.“

„Natürlich. Er war eine Folge der weltweiten Antagonismen. Und läßt sich ein Programm, das nach einigen Jahrzehnten den von den Programmierern eingebauten Sicherungen entgleitet, von einem solchen unterscheiden, das ihnen auf ganz spezifische Weise entgleiten sollte?“

„Das weiß ich nicht. Fachleute werden es aufklären können.“

„Nein, aufklären kann es niemand außer den Leuten, die damals die Programme gemacht haben.“

„Wissen Sie was, Herr Professor Shapiro“, sagte ich, stand auf und trat ans Fenster, „ich habe den Eindruck, daß Sie mich in ein zartes Gespinst verstricken wollen. Der Fall wird um so dunkler, je länger wir darüber reden. Was ist auf dem Mond passiert? Man weiß es nicht. Was habe ich wirklich dort erlebt? Man weiß es nicht. Warum habe ich mir diese verdammte Kallotomie zugezogen? Man weiß es nicht. Kann meine rechte Gehirnhälfte etwas davon wissen? Man weiß es nicht. Ich bitte Sie daher um die Freundlichkeit, mir bündigst darüber Auskunft zu geben, was Sie von mir wollen.“

„Sie sollten sich, wenn Sie von Freundlichkeit sprechen, jeden sardonischen Tonfall verkneifen. Die Freundlichkeit währt bis heute und ist sehr weit getrieben worden …“

„Weil sie im Interesse der Agentur und vielleicht auch jemandes anderen lag. Es sei denn, Sie sagen, man habe mich nur aus Gutherzigkeit beschirmt und behütet. Nun?“

„Nein. Von Gutherzigkeit kann keine Rede sein, ich habe es Ihnen schon eingangs gesagt. Der Einsatz ist zu hoch. So hoch, daß man Sie, ließen sich Ihnen dadurch sachliche Informationen entreißen, längst ins hochnotpeinliche Verhör genommen hätte.“

Mir kam eine jähe Vermutung. Ich kehrte dem bereits im Dunkel liegenden Fenster den Rücken, kreuzte die Arme auf der Brust und erklärte mit einem breiten Lächeln: „Ich danke, Professor. Erst jetzt habe ich begriffen, WER mich die ganze Zeit wirklich beschützt hat.“

„Ich sagte es Ihnen ja.“

„Aber ich weiß es besser. Die da. Ausgerechnet die da …“

Ich öffnete das Fenster und wies auf die über den Bäumen aufgehende Mondsichel, die sich in grellem Weiß vom dunkelblauen Himmel abhob.

Der Professor schwieg.

„Das hängt bestimmt mit meiner Landung zusammen“, fuhr ich fort. „Damit, daß ich entschlossen war, mit eigenen Füßen auf dem Mond zu stehen und zu holen, was der letzte Sendling gefunden hatte. Ich konnte das tun, weil im Laderaum Raumanzug und Landefähre vorhanden waren. Das war wohl für den Notfall eingepackt worden, und ich machte es mir zunutze. Ich weiß zwar nicht, was mit mir passiert ist, als ich in eigener Person landete. Ich weiß es und weiß es nicht. Ich fand den Sendling, aber es war wohl nicht mehr der molekulare. Ich erinnere mich, daß ich wußte, weshalb ich landete: nicht um ihn zu retten, das war ja unmöglich und sinnlos, sondern um etwas zu holen. Irgendwelche Proben? Wovon? Daran kann ich mich nicht erinnern. Und obwohl ich die Kallotomie selbst wohl nicht wahrgenommen oder mir — wie in Amnesie nach einer Gehirnerschütterung — nicht eingeprägt hatte, weiß ich doch noch, daß ich, an Bord zurückgekehrt, meinen Raumanzug in einen besonderen Behälter stopfte, denn er war ganz mit feinem Staub bedeckt. Es war sonderbarer Staub, zwischen den Fingern trocken und feinkörnig wie Salz, aber schwer von den Händen abzuwischen. Radioaktiv war er nicht, ich wusch mich dennoch, als sei er strahlenbelastet. Später habe ich nicht einmal zu erfahren versucht, was das für eine Substanz war. Übrigens bot sich auch gar keine Gelegenheit, solche Fragen zu stellen. Als ich hörte, daß mein Gehirn halbiert ist und wie beschissen ich dran bin, hatte ich wahrhaftig größere Sorgen, als auch nur in Gedanken auf jene Stunde zurückzukommen, die ich auf dem Mond verbracht habe. Was haben Sie eventuell von diesem Staub gehört? Mottenpulver kann es ja wohl nicht gewesen sein. Ich habe etwas mitgebracht — aber was?“

Mein Gast musterte mich durch seine Brille, mit zusammengekniffenen Augen und einem Pokergesicht.

„Warm“, sagte er, „heiß sogar … Ja, Sie haben etwas mitgebracht. Deswegen wahrscheinlich sind Sie heil zurückgekehrt, trotz der Landung.“

Er stand auf und trat neben mich. Wir sahen zum Mond hinauf, der unschuldig strahlend zwischen den Sternen stand.

„Die LUNAR EXPEDITION MOLECULES sind dortgeblieben“, sprach mein Gast wie zu sich selbst. „Hoffentlich so zerstört, daß sie nicht zu rekonstruieren sind! Sie selbst haben sie zerstört, obwohl Sie es nicht wußten, als Sie in den Laderaum stiegen, um den Raumanzug zu holen. Damit lösten Sie die AUDEMO aus, die ›autodemolition‹. Jetzt kann ich es ja sagen, es spielt keine Rolle mehr.“

„Für einen Berater für Probleme der Neurologie sind Sie glänzend informiert“, sagte ich, weiter den Mond betrachtend, der sich eben hinter einem Wölkchen verbarg. „Vielleicht wissen Sie sogar, wer mit mir zurückgekommen ist? Mikropen von dort oben? Ein kristalliner Staub, gewöhnlichem Sand ganz unähnlich?“

„Soviel ich weiß, sind es Polymere auf Siliziumbasis, irgendwelche Silicoidea …“

„Aber keine Krankheitserreger?“

„Nein.“

„Warum ist das so wichtig?“

„Weil sie Ihnen gefolgt sind.“

„Das kann nicht sein, denn …“

„Es konnte sein, denn es war so.“

„Ist der Behälter undicht geworden?“

„Nein, wahrscheinlich haben Sie eine Portion dieser Teilchen eingeatmet, als Sie in der Rakete den Raumanzug ablegten.“

„Und nun schleppe ich sie mit mir herum?“

„Das weiß ich nicht. Gewöhnlicher Mondstaub ist es nicht, das hat man entdeckt, als Sie nach Australien geflogen sind.“

„Ach ja? Dann hat man hinterher also jeden Ort, den ich aufgesucht habe, unters Mikroskop genommen?“

„So ungefähr.“

„Und? Hat man sie gefunden, diese …“

Er nickte. Wir standen immer noch am Fenster, der Mond trieb durch die Wolken.

„Wissen es alle?“

„Wen meinen Sie mit ›alle‹?“

„Die interessierten Seiten.“

„Wohl noch nicht. In der Agentur wissen es nur einige, vom Gesundheitsdienst ich allein.“

„Warum haben Sie es mir gesagt?“

„Weil Sie selbst schon auf der Spur waren, und ich wünsche, daß Sie über die ganze Lage Bescheid wissen.“

„Die meine?“

„Die Ihre und die allgemeine.“

„Ich stehe also tatsächlich unter dem Schutz dieser Dinger?“

„Sie haben es vorhin selbst zu verstehen gegeben.“

„Ich habe nur auf den Busch geklopft. Ist es wirklich so?“

„Ich weiß es nicht, aber das bedeutet nicht, daß niemand etwas weiß. Das Ganze hat verschiedene Geheimhaltungsstufen. Wie ich ganz privat von einigen Freunden hörte, sind Untersuchungen im Gange, und vorläufig ist nicht auszuschließen, daß diese Teilchen Verbindung mit dem Monde halten.“

„Merkwürdig, was Sie da sagen. Was für eine Verbindung? Über Funk?“

„Sicher nicht.“

„Gibt es eine andere?“

„Ich bin hergekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen, und statt dessen nehmen Sie mich ins Verhör.“

„Mir schien, Sie wollten mir ausgiebig die Lage beschreiben, in der ich mich befinde.“

„Ich kann aber keine Fragen beantworten, auf die ich keine Antwort weiß.“

„Also hat mich bisher allein die Vermutung geschützt, der Mond sei fähig und willens, sich meines Schicksals anzunehmen?“

Shapiro gab keine Antwort. Das Zimmer versank im Dämmer. Mein Gast sah sich nach einem Lichtschalter um, betätigte ihn, und der grelle Schein der Deckenlampe blendete und ernüchterte mich. Ich zog die Vorhänge zu, nahm aus der Bar eine angerissene Flasche Sherry, verteilte den Inhalt auf zwei Gläser, setzte mich und wies dem Professor einen Sessel.

„Chi va piano, va sano“, sagte er unvermutet, netzte mit dem Sherry aber nur die Lippen, setzte das Glas auf den Schreibtisch und seufzte.

„Der Mensch handelt stets nach bestimmten Mustern“, sagte er. „Nur gibt es keine solchen für eine Lage wie die vorliegende. Dennoch muß gehandelt werden, weil Zaudern nichts Gutes bringt. Mit Mutmaßungen gewinnen wir nichts. Als Neurologe kann ich nur soviel sagen: Es gibt ein Kurz- und ein Langzeitgedächtnis. Das erstere wird zum letzteren, wenn keine plötzlichen Störungen eintreten. An solchen ist aber kaum eine ernsthaftere vorstellbar als die Durchtrennung des Balkens im Gehirn! Was kurz vorher und kurz nachher geschah, kann sich nicht in Ihrem Gedächtnis befinden. Wie ich bereits anmerkte, haben Sie diese Lücken durch Konfabulation ausgefüllt, und im übrigen wissen wir nicht einmal, WER sich in der Offensive und WER sich in der Defensive befindet. Unter keinen Umständen wird eine Regierung zugeben, daß ihre Programmierer die vom Genfer Abkommen festgelegte Aufgabe nicht so ausgeführt haben, wie sie nach allgemeinem Einvernehmen lautete. Auch wenn einer dieser Programmierer auspacken würde, wäre das ohne Bedeutung, denn weder er noch jemand anderes kann wissen, welchen Gang die Ereignisse auf dem Mond im weiteren nahmen. In diesem Sanatorium sind Sie so sicher wie in einem Käfig voller Tiger. Selbst wenn Sie in dieser Feststellung etwas Unwahres finden, können Sie nicht hier sitzen bleiben bis in alle Ewigkeit.“

„Wir reden nun so lange miteinander und drehen uns dauernd im Kreis“, sagte ich. „Sie wollen, daß ich mich, wenn ich es so nennen darf, Ihrer Fürsorge anvertraue.“ Ich zeigte mit dem Finger auf meine rechte Schläfe.

„Ich bin der Ansicht, daß Sie das tun sollten. Es dürfte, wie ich finde, weder der Agentur noch Ihnen viel nützen, aber ich sehe es als das Günstigste an.“

„Ihre Skepsis soll wohl mein Vertrauen wecken“, murmelte ich vor mich hin, als denke ich halblaut. „Sind die Folgen der Kallotomie ganz bestimmt nicht reparabel?“

„Falls es sich um eine chirurgische Kallotomie handelt, so wachsen die durchtrennten weißen Fasern nicht wieder zusammen. Das geht einfach nicht. Andererseits ist bei Ihnen keine Schädeltrepanation vorgenommen worden …“

„Ich verstehe“, sagte ich nach kurzem Besinnen. „Sie wollen in mir die Hoffnung wecken, daß da etwas anderes vorliegt — entweder wollen Sie mich damit ködern, oder Sie glauben selber ein bißchen daran.“

„Und Ihre Entscheidung?“

„Ich teile sie Ihnen in den nächsten achtundvierzig Stunden mit. Einverstanden?“

Er nickte und wies auf die Visitenkarte auf dem Tisch.

„Dort steht meine Telefonnummer.“

„Was denn, wir wollen uns verständigen, daß jeder mithören kann?“

„Ja und nein. Der Hörer wird nicht abgenommen. Sie warten zehn Rufzeichen ab, wählen die Nummer nach einer Minute wieder und lassen es erneut zehnmal klingeln. Das genügt.“

„Das bedeutet mein Einverständnis?“

Er nickte und stand auf. „Alles andere ist unsere Sache, und für mich wird es jetzt Zeit. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“

Als er fort war, stand ich noch eine Zeitlang mitten im Zimmer und stierte gedankenlos auf den Fenstervorhang. Plötzlich erlosch die Deckenlampe. Durchgebrannt, dachte ich, aber als ich aus dem Fenster lugte, sah ich auch die Umrisse sämtlicher Sanatoriumsgebäude im Dunkeln liegen. Selbst die fernen Lampen, die sonst von der Autobahnabfahrt herüberblinkten, waren aus. Offensichtlich also eine größere Havarie. Ich hatte keine Lust, nach einer Taschenlampe oder Kerze herumzulaufen, die Uhr zeigte elf, ich zog die Fenstervorhänge auf, um mich im schwachen Licht des Mondes auszuziehen und dann in mein kleines Badezimmer unter die Dusche zu gehen. Ich wollte statt des Pyjamas meinen Hausmantel anziehen, öffnete den Kleiderschrank und erstarrte. Da stand einer drin, klein, dick, fast glatzköpfig, reglos wie eine Statue, und hielt einen Finger vor den Mund.

„Adelaide“, raunte ich, als ich Gramer erkannte, sprach aber nicht weiter, weil er mir mit dem Finger drohte. Schweigend wies er aufs Fenster. Da ich mich nicht rührte, ließ er sich auf alle viere nieder und kroch aus dem Schrank, um den Schreibtisch herum zum Fenster, wo er — immer in gebückter Haltung — sorgfältig wieder die Vorhänge zuzog. Es wurde so finster, daß ich gerade noch ausmachen konnte, wie er auf den Knien zum Schrank zurückkehrte und einen flachen Quader hervorzog, den ich, als mein Auge sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, als einen kleinen Koffer erkannte. Gramer klappte ihn auf, zog irgendwelche Schnüre und Strippen heraus und steckte etwas zusammen. Es gab einen Klick, und Gramer, immer noch auf dem Teppich hockend, wisperte mir zu: „Setzen Sie sich zu mir, Tichy, dann reden wir miteinander …“

Ich war so verblüfft, daß ich kein Wort herausbrachte, setzte mich aber hin. Gramer rückte heran, daß unsere Knie sich berührten, und sagte leise, aber nicht mehr flüsternd: „Wir haben mindestens 45 Minuten, wenn nicht gar eine Stunde, ehe der Strom wiederkommt. Ein Teil der Abhöranlage hat ein eigenes Aggregat, aber nur für Idioten. Wir sind erstklassig abgeschirmt. Sie können Gramer zu mir sagen, Tichy, Sie haben sich ja schon eingewöhnt …“

„Wer sind Sie?“ fragte ich und hörte ihn daraufhin leise lachen.

„Ihr Schutzengel.“

„Wieso das? Sie stecken doch schon lange hier, nicht wahr? Woher konnten Sie wissen, daß ich herkommen würde? Tarantoga hat doch …“

„Die Neugier ist die erste Stufe in die Hölle“, sprach Gramer verträglich. „Lassen wir beiseite, woher, wie und warum, wir haben wichtigere Dinge am Hals. Zuerst einmal rate ich Ihnen davon ab, dem Wunsche Shapiros zu folgen. Eine schlimmere Wahl könnten Sie gar nicht treffen.“

Ich sagte nichts dazu, und Gramer schlug wieder sein leises Gelächter an. Er war sichtlich bester Laune. Seine Stimme klang anders, nicht mehr schleppend wie bisher. Er wurde nicht weitschweifig, sicher war er alles andere als dämlich.

„Sie halten mich für den ›Vertreter eines fremden Geheimdienstes‹, was?“ fragte er und schlug mir vertraulich auf die Schulter. „Ich kann verstehen, daß ich in Ihnen achtzehnfaches Mißtrauen errege, aber ich will sogleich Ihren Verstand ansprechen. Nehmen wir an, Sie folgen Shapiros gutem Rat. Man nimmt Sie in die Mangel, natürlich keinerlei Quälerei, gottbehüte, Sie werden in der dortigen Klinik behandelt wie der Präsident. Man zieht aus Ihrem Kopf, aus der rechten Hälfte, etwas heraus oder auch nicht, von Wichtigkeit wird das ohnehin nicht sein, weil das Verdikt bereits feststeht.“

„Was für ein Verdikt?“

„Die Diagnose, der Befund der wissenschaftlichen Auskultation, und es macht keinen Unterschied, ob diese nun über den Arm, das Bein oder die Ferse angestellt worden ist. Bitte unterbrechen Sie mich nicht, dann erfahren Sie alles. Alles, was bereits bekannt ist.“

Er machte eine kleine Pause, als warte er mein Einverständnis ab. Wir saßen im Dunkeln, bis ich plötzlich feststellte: „Doktor Hous könnte kommen.“

„Nein. Niemand kann kommen, machen Sie sich keine Sorgen. Wir spielen hier nicht Indianer. Hören Sie mich endlich an. Auf dem Mond haben sich die Programme verschiedener Seiten ineinander verkeilt und verbissen, sie haben sich vermischt, und wer als erster angefangen hat, ist unwichtig, zumindest jetzt. Im Effekt ist dort, wenn ich es einfach ausdrücken soll, eine Art die Oberfläche überziehender Krebs entstanden. Gegenseitige, ungeordnete Vernichtung, verschiedene Phasen unterschiedlicher Simulation und Rüstungsproduktion, alles wieder verschieden in den jeweiligen Sektoren. Das hat einander durchdrungen, überlagert, angegriffen, gekontert — nennen Sie es, wie Sie wollen.“

„Der Mond ist also übergeschnappt.“

„Gewissermaßen, in gewissem Sinne. Zur gleichen Zeit jedoch, als das Programmierte und das aus den Programmen Entstandene in Trümmer ging, setzten völlig neue Prozesse ein, die niemand vermuten konnte, auf der Erde absolut niemand.“

„Was für Prozesse?“

Gramer holte tief Luft. „Ich möchte gerne eine Zigarette rauchen“, sagte er, „aber ich darf es nicht, weil Sie Nichtraucher sind. Was für Prozesse? Die erste Spur haben Sie mitgebracht.“

„Den Staub auf meinem Raumanzug?“

„Sie haben es erraten. Das sind keine Staubkörner, sondern Silikonpolymere. Wie die Fachleute behaupten, die Anfänge einer Ordogenese, einer Nekroorganisation. Man hat dafür schon viele Fachausdrücke erfunden, jedenfalls stellt das, was dort geschieht, für die Erde keinerlei Bedrohung dar, ruft aber eben durch seine Harmlosigkeit eine Gefahr auf den Plan, die sich die Agentur nicht wünscht.“

„Ich verstehe nicht.“

„Die Agentur steht auf Wacht für die Doktrin der Unkenntnis, nicht wahr? Es gibt Staaten, die diese Doktrin, diese ganze Geschichte mit der Auslagerung der Rüstung auf den Mond, zu Fall bringen wollen. Nun, das ist nicht richtig ausgedrückt, es ist komplizierter: Es gibt verschiedene ›pressure groups‹ und Geschäftsinteressen. Die einen wollen die Panik unter der Schlagzeile ›Invasion vom Mond‹ weiter anheizen, damit innerhalb oder außerhalb der UNO eine Koalition entsteht, die bereit ist, gegen den Mond loszuschlagen — entweder auf traditionelle, also thermonukleare Weise oder, weniger klassisch, mit der neuen, kollaptischen Methode. Fragen Sie mich jetzt nicht, worum es sich bei dieser Technik handelt, wir können ein andermal darüber reden. Es geht diesen Gruppen also darum, in großem Maßstab zu rüsten aus einer allgemeinen, irdischen, supranationalen Staatsräson, denn wenn eine Invasion droht, muß sie im Keim erstickt werden.“

„Aber die Agentur will das nicht?“

„Die Agentur ist selbst in sich zerstritten, jede dieser widersprüchlichen Interessen hat ihre Lobby. Anders konnte es ja auch gar nicht sein. Ein großer, vielleicht der höchste Trumpf in diesem Spiel sind Sie.“

„Ich? Durch mein Unglück?“

„Genau. Was Shapiro und sein Team aus Ihnen herausholen, läßt sich ja nicht nachprüfen. Außer einigen wenigen wird niemand wissen, ob tatsächlich aussagekräftige, definitive Informationen gewonnen wurden oder ob man einfach erklärt, man habe sie gewonnen und lege sie der Öffentlichkeit oder meinetwegen zuerst dem Sicherheitsrat vor. Übrigens spielt es keine Rolle, wer zuerst informiert wird. Es geht darum, daß niemand, Sie eingeschlossen, feststellen kann, ob es Wahrheit oder Lüge ist.“

„Dann wird es wohl Lüge sein, da Sie vorhin sagten, die Diagnose stehe bereits fest.“

„Danach sieht es aus. Ich bin nicht allwissend. Jedenfalls kann man gegen Sie keine Gewalt anwenden.“

„Wieso nicht? Shapiro sprach doch …“

„Von diesen Anschlägen. Die waren inszeniert, Herr Tichy. Selbstverständlich. Aber sie waren so arrangiert, daß Sie mit dem Leben davonkamen, denn andernfalls hätte keiner etwas davon gehabt.“

„Von wem gingen sie aus?“

„Von verschiedener Seite in verschiedener Absicht. Zu Anfang spontan, wenn wir es so nennen wollen, und in der Absicht, Sie zu haben, dann aber, als diesen Versuchen begegnet wurde, als Mittel, Sie einzuschüchtern, zu erschrecken und weichzukriegen, damit Sie sich in die herzliche Umarmung Shapiros stürzen.“

„Warten Sie mal, Gramer, wollte man mich nun entführen oder nicht?“

„Sie denken zu eng. Anfangs wollte natürlich jemand, aber das mißlang, und dann besann man sich in der Agentur, daß man nicht warten durfte, bis es wieder einer versuchte. Die Agentur — das heißt das Exekutivorgan ihres sogenannten Missionsabschirmdienstes — gab zu Ihrem Heile einige Vorführungen.“

„Sie hat mich also zuerst beschützt und dann überfallen? Ja? Erst war es real und nachher inszeniert?“

„Genau.“

„Na schön. Nehmen wir an, ich lasse mich dennoch untersuchen. Was folgt daraus?“

„Ein Bridge- oder Pokerspiel.“

„Wieso?“

„Das große Reizen fängt an. Vorauszusehen ist nur der Beginn, dann nichts mehr. Daß auf dem Mond nicht alles läuft, wie es laufen sollte, ist bereits klar. Nun besteht die Alternative: Bildet sich dort eine Gefahr für die Erde heraus oder nicht? Bisher deutet alles darauf hin, daß keinerlei Gefahr vorhanden ist und es nach sehr vorsichtigen Schätzungen auch für die nächsten paar Jahrhunderte nicht sein wird. Vielleicht auch für Tausende oder gar Millionen Jahre nicht, aber auf solch einen Zeitraum ist Politik nicht berechnet. Bis zum Jahre 3000 jedenfalls kann man ruhig schlafen. Aber wer wird dann ruhig schlafen wollen? Ein ungefährlicher Mond wird ebenso gebraucht — von anderen Interessengruppen.“

„Um was zu tun?“

„Um zu erklären: Kein Staat besitzt dort noch irgendwelche Arsenale, dort ist nichts mehr, das ganze Mondprojekt ist geplatzt, die Genfer Verträge haben ihren Sinn und ihre Gültigkeit verloren, es ist notwendig, zu Clausewitz zurückzukehren.“

„Ja aber, Gramer, daraus folgt doch, daß so oder so alles ein schlimmes Ende nimmt. Droht eine Invasion, muß man sich gegen den Mond rüsten. Droht sie nicht, muß man auf alte Weise, nach irdischer Art, rüsten, nicht wahr?“

„Jawohl. Sie sind völlig im Bilde. So sieht es aus.“

„Eine schöne Bilanz. Dann ist das Geheimnis, das in meinem Kopf steckt, ja keinen roten Heller wert.“

„Da irren Sie sich. Gemäß dem, was als Ergebnis der Untersuchung Ihrer Person verkündet wird, lassen sich vielfältige Modelle schaffen.“

„Was für Modelle?“

„Nach unserer Computersimulation mindestens zwanzig unterschiedliche, das wird vom Untersuchungsergebnis abhängen. Nicht vom wirklichen Ergebnis, sondern von dem, was als solches ausgegeben wird.“

„Und Sie wissen das nicht?“

„Nein, denn dort weiß man es selbst noch nicht. Auch in Shapiros Team herrscht keine Einmütigkeit, auch dort sind die widersprüchlichen Interessen repräsentiert. Es ist nicht so, daß sie hundertprozentigen Schwindel veröffentlichen. Das schaffen sie nicht, sie könnten es nur, wenn sie eine absolut verläßliche, sichere Konspiration bildeten, gewöhnliche käufliche Fälscher wären, aber das sind sie nicht, sie können nicht einmal von vornherein die Möglichkeit ausschließen, daß im Laufe der Untersuchungen Sie, Tichy, zwar nichts davon erfahren, was in Ihrer rechten Halbkugel steckt, sich aber dennoch in das Pokerspiel einschalten.“

„Wie das?“

„Seien Sie doch kein Kind. Könnten Sie nicht hinterher an die ›New York Times‹, die ›Neue Zürcher‹ oder sonstwohin schreiben, daß die Diagnose schöngefärbt, geklittert oder falschen Interpretationen entsprungen ist? Da wäre der Skandal fertig. Es reicht aus, daß Sie die Diagnose nur in Frage stellen, und sogleich werden sich bedeutende Fachleute wie eine Mauer hinter Sie stellen und neue Untersuchungen verlangen. Dann wird sich nicht einmal mehr der Teufel auskennen.“

„Da Sie dies so durchschauen, warum sehen es dann Shapiros Leute nicht?“

„Was können die denn in der entstandenen Situation anderes tun, als Sie zu den Untersuchungen zu beschwatzen? Alle stecken, obwohl sie auf verschiedenen Positionen stehen, in einer Zwangslage.“

„Und wenn ich umgebracht würde?“

„Dann wäre es auch nicht gut. Selbst wenn Sie lupenrein Selbstmord begehen würden, verbreitete sich über die ganze Welt der Verdacht, Sie seien ermordet worden.“

„Ich glaube nicht, daß sich nicht wiederholen ließe, was mir auf dem Mond gelungen ist. Shapiro sagte zwar, man habe es versucht und es sei nichts herausgekommen, aber solche Expeditionen lassen sich doch immer wieder machen.“

„Gewiß, aber auch das ist ein Labyrinth. Das wundert Sie? Tichy, wir haben nicht mehr viel Zeit. Fälschen läßt sich absolut alles, auch die Ergebnisse von Mondflügen. Weltweit ist ein komplettes Patt entstanden, es gibt keinerlei Spielraum, der die Erhaltung des Friedens garantiert. Es gibt nur verschiedene Arten des Risikos.“

„Und was raten Sie mir als mein Schutzengel?“

„Ich rate Ihnen, auf niemandes Ratschläge zu hören. Auch die meinen brauchen Sie nicht zu beachten. Ich vertrete bestimmte Interessen, daraus mache ich gar kein Hehl, mich hat weder der Herrgott noch die Vorsehung zu Ihnen geschickt, sondern eine Seite, der nicht an einer Wiederaufnahme der Rüstung gelegen ist.“

„Nehmen wir es an. Was soll ich den Empfehlungen dieser Seite zufolge tun?“

„Vorläufig nichts, gar nichts. Bleiben Sie hier sitzen. Rufen Sie Shapiro nicht an. Treffen Sie sich weiter mit dem verrückten alten Gramer. In den nächsten paar Wochen oder gar nur Tagen werden wir weitersehen.“

„Warum soll ich Ihnen glauben?“

„Ich sagte schon, daß Sie mir überhaupt nicht zu glauben brauchen, und habe nur die allgemeine Lage skizziert. Das einzige, was sich tun ließ, war, auf ein Stündchen das zuständige Hauptumspannwerk ausfallen zu lassen, jetzt aber nehme ich meinen elektronischen Krempel und gehe zu Bett, denn immerhin bin ich ein Millionär, der unter Depressionen leidet. Wußten Sie das nicht? Auf Wiedersehen, Jonathan.“

„Auf Wiedersehen, Adelaide.“

Gramer kroch zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit. Auf dem Flur stand jemand und machte ihm, wie ich zu sehen glaubte, ein Zeichen. Gramer erhob sich, trat hinaus und schloß hinter sich leise die Tür. Ich blieb mit eingeschlafenen Beinen sitzen, bis das Licht wieder aufflammte. Ich löschte es und ging zu Bett.

Auf dem Fußboden, dort, wo Gramer gesessen hatte, blinkte etwas wie ein abgeplatteter Ring. Ich sah ihn mir näher an. In der Öffnung steckte ein Papierröllchen. Ich wickelte es auseinander. „Für den Notfall“, teilten krumme, wie in großer Eile geschriebene Buchstaben mit. Ich warf das Papier weg und suchte den Ring anzustecken. Er war von einem grauen metallischen Glanz, sonderbar schwer, wie von Blei. Auf einer Seite ausgebaucht, wie eine Bohne mit einem winzigen Loch, mit einer spitzen Nadel hineingestochen. Er paßte an keinen anderen Finger als an den kleinen.

Ich weiß nicht, warum dieser Ring mich stärker beunruhigte als die beiden voraufgegangenen Besuche. Wozu mochte er dienen? Ich fuhr mit ihm über die Fensterscheibe, aber er hinterließ weder eine Spur noch einen Ritz. Zuletzt leckte ich sogar daran — er schmeckte salzig. Sollte ich ihn anstecken oder nicht? Ich tat es schließlich, es machte einige Mühe, dann sah ich nach der Uhr. Mitternacht war vorüber, der Schlaf aber wollte nicht kommen. Ich wußte wahrhaftig nicht, über welche meiner Kalamitäten ich zuerst nachdenken sollte. Sorge bereitete mir sogar, daß linker Arm und linkes Bein sich so ruhig verhielten, und im Halbschlaf kam mir ihre Untätigkeit schon wie eine weitere Falle vor, die mir diesmal von innen her gestellt wurde. Wie es zuweilen vorkommt, träumte ich, ich könne nicht einschlafen, oder ich war eingeschlafen und glaubte zu wachen. Ich weiß nicht, wie lange ich mich mit der Frage herumquälte, ob ich nun schlief oder nicht, jedenfalls wurde es auf einmal heller. Der Morgen graut, dachte ich, ein paar Stunden muß ich also doch geschlafen haben. Das Licht sickerte jedoch nicht durch die Fenstervorhänge, sondern drang unter der Tür hindurch, die auf den Korridor ging. Es war so verblüffend stark, als habe man einen mächtigen Scheinwerfer auf die Schwelle meines Zimmers gerichtet. Ich setzte mich im Bett auf.

Tropfen rannen über den Fußboden, kein Wasser, sondern etwas wie Quecksilber, Kügelchen, die über das Parkett rollten, sich zu einer Lache vereinigten und meinen Bettvorleger von drei Seiten umgaben, unablässig verstärkt durch weitere Bäche, in denen diese seltsame metallische Flüssigkeit unter der Tür hindurch in mein Zimmer rann, bis der ganze Fußboden von einer Wand zur anderen wie ein Quecksilberspiegel glänzte. Ich schaltete die Nachttischlampe an. Nein, es war wohl doch kein Quecksilber, die Farbe erinnerte eher an altersdunkles Silber. Als es fast schon den Bettvorleger wegschwemmte, ging draußen plötzlich das Licht aus. Gebückt saß ich da und sah mir mit großen Augen an, wie es mit diesem metallenen Sirup weiterging. Er bestand aus mikroskopisch kleinen Tropfen, die sich zu einem pilzförmigen, immer kräftiger in die Höhe quellenden Kuchen zusammenklumpten. Kein Zweifel, sagte ich mir, das kann nur ein Traum sein, aber trotz dieser kategorischen Feststellung hatte ich nicht das geringste Verlangen, barfuß in dieses Zeug zu steigen, verstört, zugleich aber weniger erstaunt als vielmehr von einer stillen Genugtuung erfüllt, daß der lateinische Begriff des „lebenden Silbers“ so gut auf dieses Phänomen paßte. Es bewegte sich tatsächlich wie etwas Lebendiges, machte aber keinerlei Anstalten, sich zur Pflanze, zum Tier oder zu weiß Gott was für einem Monstrum zu bilden, sondern wurde zu einem bloßen Kokon, einem immer menschenähnlicheren Panzer oder vielmehr dessen schlampig ausgeführtem löchrigem Abguß, auf dessen Vorderseite ein breiter Schlitz gähnte.

Als ich mir später diese ganze Metamorphose ins Gedächtnis zu rufen suchte, erschien mir als passendster Vergleich der mit einem rückwärts laufenden Film: Zuerst hatte jemand eine kuriose Rüstung verfertigt und sie dann einer so starken Hitze ausgesetzt, daß das Metall sich verflüssigte — nur daß dies vor meinen Augen eben den umgekehrten Verlauf nahm. Erst die Flüssigkeit, dann der sich daraus formende Hohlkörper, der eben doch kein Panzer war, seinen Glanz verlor, ein mattes Aussehen annahm und zunehmend an eine riesige Schaufensterpuppe erinnerte, mit einem Kopf ohne Haare, mit einem Gesicht ohne Nase und Mund, aber mit kleinen Öffnungen anstelle der Augen. Schließlich entstieg diesem ganzen Gewoge, von dem mir ganz wirr im Kopfe wurde, eine überdimensionale Frauengestalt oder besser gesagt eine Frauenstatue, innen leer, vorne offen und geräumig wie ein Schrank. Der Teufel soll mich holen, aber das Ding sonderte Bekleidung ab: Erst überzog es sich mit Weiß wie mit Unterwäsche, dann legte sich darüber hellgrün ein Kleid, und da ich nun beruhigt war, daß alles nur ein Traum sein konnte, stand ich auf und näherte mich dem Phantom. Da wurde das grüne Kleid zum weißen Kittel, das Gesicht nahm immer deutlichere Züge an, das Blondhaar verschwand unter einem weißen Schwesternhäubchen, gesäumt von scharlachrotem Samt.

Das reicht, dachte ich und war ernsthaft zum Aufwachen entschlossen. So was Blödes von Traum! Anfassen aber wollte ich das Traumbild lieber doch nicht, unschlüssig stand ich da, sah mich im Zimmer um, musterte im Licht der Nachtlampe den Schreibtisch, die Fenstervorhänge und die Sessel. Dann sah ich wieder die Erscheinung an. Sie ähnelte stark der Schwester Didy, die ich häufig im Park und bei Doktor Hous gesehen hatte, war aber viel stärker und größer. „Tritt in mich ein“, sagte sie, „dann kommst du hier raus. Du nimmst den Toyota des Doktors, das Tor steht offen. Erst mußt du dich aber anziehen und Geld einstecken, dann kannst du dir ein Ticket kaufen und zu Tarantoga fliegen. Na los, steh nicht rum wie Pik-Sieben. Wenn du als Krankenschwester herumsteigst, hält dich keiner auf.“

„Sie ist aber größer als du …“, stotterte ich völlig benommen, nicht nur von ihren Worten, sondern auch davon, daß sie gar nicht mit dem Mund sprach. Die Stimme kam aus ihrem Körper, der sich von innen her geöffnet, den weißen Kittel beiseite geschlagen hatte und mir Einlaß bot. Ob ich davon Gebrauch machen sollte, war eine andere Frage, aber plötzlich liefen meine Gedanken sehr präzise, am Ende war das wohl gar kein Traum, ich hatte ja am eigenen Leibe die Realität der Technik molekularer Teleferistik erlebt, und so war das alles vielleicht Wirklichkeit? Wie konnte man dann aber wissen, ob sich dahinter nicht eine Falle verbarg?

„Die Größe spielt im Dunkeln keine Rolle. Komm endlich aus der Knete! Zieh dich an und schnapp dir dein Scheckheft!“

„Aber warum soll ich abhauen, und wer bist du eigentlich?“ fragte ich, begann mich aber anzuziehen, nicht weil ich mich tatsächlich in dieses unvermutete Unternehmen einzulassen gedachte, sondern weil ich mich bekleidet sicherer fühlte.

„Ich bin niemand, das siehst du doch“, sagte sie. Die Stimme klang dennoch weiblich, tief und sympathisch, ein bißchen dumpf. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wußte nicht, woher. Auf dem Saum des zerknüllten Bettlakens sitzend, schnürte ich mir die Schuhe und fragte: „Wer hat dich dann also hergeschickt, Frau Niemand?“

Ich sah zu ihr auf, sie aber fiel, ehe ich mich besinnen konnte, über mich her, umschlang mich, nicht mit den Armen, sondern dem ganzen Körper, sie nahm mich in sich auf, und das ging ganz schnell: Eben hatte ich noch im Pullover und ohne Schlips auf der Bettkante gesessen und gespürt, daß ich den linken Schuh zu fest geschnürt hatte, und plötzlich steckte ich in diesem leeren Geschöpf, dessen Inneres mich eng umschloß, als habe mich eine Pythonschlange verschluckt. Ich kann das nicht besser beschreiben, weil ich es zum ersten Mal erlebte. Es war da drinnen eigentlich ganz mollig, durch die Augenöffnungen sah ich das Zimmer, nur bewegen konnte ich mich nicht frei, sondern mußte mitmachen, wie sie wollte. Sie oder was auch immer diesen Sendling steuerte, um mich dorthin zu kriegen, wo alles sehnlichst auf Ijon Tichy wartete. Vergebens spannte ich die Muskeln an, um mich der Vogelscheuche zu widersetzen, meine Glieder gehorchten nicht mir, sondern einem fremden Willen, der sie beugte und streckte und meine Hand die Türklinke niederdrücken hieß. Ich sträubte mich aus Leibeskräften, aber das half gar nichts.

Der Flur lag menschenleer im schwachen grünlichen Licht der Nachtbeleuchtung, ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, WER hinter dieser Sache stecken mochte, ich wollte nur aus dieser Klemme heraus, aber die Nichtperson, die mich geschluckt hatte, ein mit mir farcierter Frankenstein, schritt ohne Eile vorwärts, eine blödsinnigere Lage ist kaum vorstellbar. Mir fiel Gramers Ring ein, aber was konnte er mir nützen? Selbst wenn ich gewußt hätte, ob ich ihn zwischen die Zähne oder an den Finger stecken sollte, um den rettenden Dschinn herbeizurufen — ich konnte es nicht tun. Schon zeigte sich die Tür des Krankenpavillons, dahinter, im Schatten einer alten Palme, schimmerte, ferne Lichter spiegelnd, die lackschwarze Karosserie eines großen Wagens. Von meiner mir nicht mehr willfährigen Hand angestoßen, flog die Pendeltür auf, zugleich öffnete sich die Tür zum Fond des Autos, in dem niemand saß, jedenfalls bemerkte ich niemanden darin, ich stieg schon ein, das heißt, ich „wurde eingestiegen“, denn ich leistete immer noch mit allen Kräften Widerstand. Plötzlich erkannte ich meinen Fehler. Ich durfte mich nicht wehren, denn darauf war der Lenker des Sendlings vorbereitet. Ich mußte der mir aufgezwungenen Bewegung solchen Schwung geben, daß sie übers Ziel hinausschoß. Schon in die Tür des Autos gebückt, warf ich mich nach vorn, knallte hart mit dem Schädel auf, daß mir die Sinne schwanden, und öffnete die Augen.

Ich lag neben dem Bett auf dem Fußboden, durch den Fenstervorhang sickerte grau der Morgen, ich hob die Hand vor die Augen — der Ring war weg. Also war es doch ein böser Traum gewesen, nur konnte ich nicht ausmachen, an welchem Punkt des Abends er angefangen hatte. Der Besuch Gramers war bestimmt wahr gewesen, ich sprang auf und sah im Schrank nach, meine Klamotten waren beiseite geschoben, er hatte also tatsächlich dort gesteckt. Auf dem Boden lag etwas Weißes, ein Brief. Ich hob ihn auf, der Umschlag trug keine Anschrift und enthielt nur ein maschinebeschriebenes Blatt, ohne Datum und ohne Briefkopf. Im Zimmer war es zu dunkel, die Vorhänge wollte ich nicht beiseite ziehen, ich vergewisserte mich, daß die Tür abgeschlossen war, knipste die Nachttischlampe an und sah auf das Papier.

„Wenn Du von Entführung, Folter oder welcher Quälerei auch immer träumst, und das deutlich und in Farbe, so bedeutet das, daß man Dich einem Test mit Rauschmitteln unterzogen hat. Es geht darum, erste Aufschlüsse zu erhalten, wie Du auf bestimmte — geschmacklose und geruchlose — Mittel reagierst. Wir haben keine Gewißheit, ob Du nicht schon leichte Dosen erhalten hast. Der einzige Mensch, dem Du Dich außer mir anvertrauen kannst, ist Dein Arzt. Die Schnecke.“

Diese Unterschrift wies darauf hin, daß die Nachricht von Gramer stammte. Sie konnte Wahrheit so gut wie Lüge enthalten. Ich suchte mir genau zu vergegenwärtigen, was Shapiro und was Gramer gesagt hatten. Beide stimmten darin überein, daß das gesamte Mondprojekt gescheitert war, aber sie gingen in dem auseinander, wozu sie mich zu bereden suchten. Der Professor wollte, daß ich mich untersuchen ließ, Gramer riet mir zum Warten, ich weiß nicht, worauf. Shapiro repräsentierte — jedenfalls nach eigener Aussage — die Lunar Agency, Gramer hatte über seine Brötchengeber nichts verlauten lassen. Warum aber hatte er mich nicht gleich vor Narkotika gewarnt, sondern lediglich den Brief hinterlassen? Sollte noch eine andere, dritte Seite im Spiele sein? Beide hatten mir viel erzählt, aber ich hatte nicht erfahren, warum das, was in meinem rechten Gehirn steckte, eigentlich so wichtig war. Vielleicht hatte ich etwas geschluckt, was die arme, beinahe stumme Hälfte meines Kopfes so eingeschläfert hatte, daß sie sich nicht melden konnte? Aber von welchem Zeitpunkt an? Nehmen wir an, seit dem Vortage. Zu welchem Zweck? Es sah ganz so aus, als ob alle, die Jagd auf Tichy machten, selber nicht wußten, wie es weitergehen sollte, und daher auf Zeit spielten. Ich war in diesem Spiel eine Karte von unbekannter Schlagkraft, vielleicht ein As, vielleicht auch nur eine Lusche. Eine Seite suchte die andere daran zu hindern, herauszufinden, wie es sich mit mir verhielt. Sollte man meine rechte Halbkugel eingeschläfert haben, damit ich mich nicht mit mir selber verständigen konnte? Das jedenfalls ließ sich sogleich nachprüfen. Ich nahm die linke Hand in die rechte und befragte sie in der bereits bekannten Weise.

„Wie geht es?“ fragte ich mit den Fingern. Daumen und kleiner Finger zuckten kaum merklich.

„Hallo, hörst du mich?“ signalisierte ich.

Der Ringfinger legte sich auf die Daumenkuppe und bildete mit dieser einen Kreis. „Grüß dich“, bedeutete das.

„Ja, ja, schon gut, grüß dich, aber wie geht es dir?“

„Laß mich in Ruhe.“

„Willst du wohl sofort sagen, wie es dir geht? Versteh doch, wir sitzen in einem Boot!“

„Ich habe Kopfschmerzen.“

Tatsache, in diesem Moment merkte ich, daß auch mir der Schädel brummte. Ich war auf neurologischem Gebiet inzwischen belesen genug, um zu wissen, daß ich in emotionaler Hinsicht nicht halbiert war, denn Sitz der Affekte ist das von der Kallotomie unversehrte Zwischenhirn.

„Auch mir tut der Kopf weh. UNS tut er weh, verstehst du?“

„Nein.“

„Wieso nein?“

„Eben so.“

Ich kam von diesem schweigenden Dialog ins Schwitzen, wollte aber nicht lockerlassen, um herauszukriegen, was nur möglich war. Plötzlich erleuchtete mich ein ganz neuer Gedanke: Die Gestensprache der Taubstummen verlangte große Fingerfertigkeit, aber ich beherrschte doch seit undenklichen Zeiten das Morsealphabet! Ich öffnete also meine Linke und zeichnete ihr mit dem Zeigefinger der Rechten Punkte und Striche auf den Handteller — als erstes die Buchstaben SOS — SAVE OUR SOULS. Die Linke ließ sich das einige Zeit gefallen, dann ballte sie sich zur Faust und versetzte mir einen Schlag, daß ich in die Höhe fuhr. Schon hielt ich den Versuch für gescheitert, als sie den Finger ausstreckte und mir Punkte und Striche auf die rechte Wange zeichnete. Ja, so wahr ich lebe, sie gab Antwort, sie morste zurück!

„Kitzel nicht, sonst gibt es Schläge.“

Das war der erste Satz, den ich von ihr zu hören oder vielmehr zu fühlen bekam. Reglos wie eine Statue saß ich auf der Bettkante, denn es folgten weitere Zeichen.

„Trottel.“

„Wer? Ich?“

„Jawohl. So hätte es von Anfang an gehen müssen.“

„Und du hast nichts davon verlauten lassen!“

„Hundertmal, du Idiot. Du hast es nicht gemerkt.“

Wirklich erinnerte ich mich jetzt, daß sie mich schon Dutzende Male auf verschiedene Weise gekratzt hatte, aber mir war nie in meine Gehirnhälfte gekommen, das könnten Morsezeichen sein.

„Du lieber Himmel“, kratzte ich auf die Hand, „du kannst also sprechen?“

„Besser als du.“

„Dann sprich! Du rettest mich, das heißt uns.“

Ich weiß nicht, wer in Übung kam, jedenfalls lief die stumme Zwiesprache immer schneller.

„Was ist auf dem Mond passiert?“

„Woran erinnerst du dich denn?“

Diese jähe Umkehrung der Situation verblüffte mich.

„Weißt du das nicht?“

„Ich weiß, daß du etwas geschrieben und in einem Konservenglas vergraben hast. Stimmt’s?“

„Ja.“

„Hast du die Wahrheit geschrieben?“

„Ja. Das, was ich noch wußte.“

„Und es wurde sofort ausgegraben. Bestimmt von dem ersten.“

„Von Shapiro?“

„Namen kann ich mir nicht merken. Der nach dem Mond geguckt hat.“

„Verstehst du, wenn ganz normal gesprochen wird?“

„Schwach, am ehesten noch französisch.“

Nach diesem Französisch wollte ich mich lieber nicht näher erkundigen.

„Nur Morsezeichen?“

„Am besten.“

„Dann sprich!“

„Du wirst es aufschreiben, und dann wird es wieder geklaut!“

„Ich schreibe nichts auf, Ehrenwort!“

„Meinetwegen. Du weißt etwas, und ich weiß etwas. Rede du zuerst!“

„Hast du es nicht gelesen?“

„Ich kann nicht lesen.“

„Gut … Das letzte, woran ich mich erinnere … Ich suchte Kontakt mit Vivitch zu bekommen, nachdem ich mich aus diesen unterirdischen Trümmern im japanischen Sektor herausgewunden hatte, aber es gelang nicht. Jedenfalls erinnere ich mich dessen nicht. Ich weiß nur, daß ich nachher selber gelandet bin, manchmal glaube ich, ich wollte dem Sendling etwas wegnehmen, denn dieser war irgendwo hineingeraten oder hatte etwas gefunden … Ich weiß nicht einmal, welcher Sendling es gewesen ist. Der molekulare wohl nicht? Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist.“

„Der aus Pulver?“

„Ja“, bestätigte ich und setzte vorsichtig hinzu: „Aber sicher weißt du …“

„Sag erst alles, was du weißt“, gab sie zurück. „Du sagtest, es scheine dir manchmal so. Wie scheint es dir sonst?“

„Daß dort überhaupt kein Sendling war oder daß er zwar da war, ich ihn aber nicht suchte, weil …“

„Weil was?“

Ich zögerte. Sollte ich bekennen, daß das, woran ich mich zuweilen erinnerte, wie ein unwahrscheinlicher Traum war, den Worte nicht zu fassen vermochten und der nur einen ungewöhnlichen Sinneseindruck hinterließ?

„Ich weiß nicht, was du denkst“, fühlte ich die Tastzeichen, „aber ich weiß, daß du etwas im Schilde führst. Ich spüre es!“

„Warum sollte ich?“

„Darum. Die Intuition bin ich. Rede! Was erscheint dir sonst?“

„Ich habe dann den Eindruck, als sei ich auf eine Aufforderung hin gelandet. Ich weiß aber nicht, wer sie an mich gerichtet hat.“

„Was hast du ins Protokoll geschrieben?“

„Darüber nichts.“

„Sie hatten aber die Kontrolle, sie haben die Aufzeichnungen. Sie wissen, ob du vom Mond eine Aufforderung erhalten hast oder nicht. Sie konnten alles mithören. Die Agentur weiß es.“

„Ich weiß nicht, was die Agentur weiß. Mit eigenen Augen habe ich Mitschnitte der Zentrale nicht gesehen, weder in Ton noch in Bild. Nichts. Das weißt du doch.“

„Ja. Und noch etwas weiß ich.“

„Was?“

„Du hast diesen Pulverförmigen verloren.“

„Den Dispersanten? Natürlich habe ich ihn verloren, sonst wäre ich nachher nicht in den Raumanzug gestiegen und …“

„Dummkopf. Du hast ihn anders verloren.“

„Wie denn? Hat er sich aufgelöst?“

„Nein. Er ist gekapert worden.“

„Von wem?“

„Ich weiß nicht, vom Mond, von etwas oder jemandem. Er hat sich dort verwandelt, von selbst. Von Bord aus war es zu sehen.“

„Ich habe es gesehen?“

„Ja, aber du hattest keine Kontrolle mehr über ihn.“

„Wer hat ihn dann gesteuert?“

„Ich weiß nicht, vom Raumschiff war er abgekoppelt, hat sich aber weiterhin verwandelt — in diese verschiedenen Programme.“

„Das kann nicht sein.“

„Doch. Mehr weiß ich nicht. Dann erst wieder unten auf dem Mond. Ich bin dort gewesen, das heißt du und ich, gemeinsam. Dann ist Tichy umgefallen.“

„Was sagst du da?“

„Er ist umgefallen. Das muß die Kallotomie gewesen sein, bei mir ist an dieser Stelle ein Loch. Dann war ich wieder an Bord, du packtest den Raumanzug in den Container, und der Sand rieselte.“

„Sollte ich gelandet sein, um zu sehen, was mit diesem molekularen Sendling passierte?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht. Bei mir ist da ein Loch. Dazu diente die Kallotomie.“

„Sie war vorsätzlich?“

„Ja, ganz bestimmt. Damit du wiederkommst und nicht wiederkommst.“

„Das haben mir Shapiro und wohl auch Gramer ebenfalls gesagt, nur nicht so direkt.“

„Das ist ein Spiel. Sie wissen einiges, anderes fehlt ihnen. Auch sie haben sicherlich irgendwo Löcher.“

„Warte mal, warum bin ich umgefallen?“

„Wegen der Kallotomie, du Dummkopf. Das Bewußtsein war weg, wie soll man da nicht umfallen!“

„Und der Sand? Dieser Staub? Woher kam der?“

„Ich weiß nicht. Nichts weiß ich.“

Darauf schwieg ich lange. Es ging auf acht Uhr, draußen war es hell, aber ich sah nichts, so fieberhaft dachte ich nach. Das Mondprojekt war in Trümmer gegangen? In diesem Schutt spielten sich nicht nur sinnlose Kämpfe und Umtriebe ab, hier bahnte sich zugleich etwas an, was auf Erden niemand vorhergesehen und schon gar nicht programmiert hatte … Das aber, was da im Entstehen war, sollte den Sendling von Lax geknackt oder vielmehr unter Kontrolle genommen haben? Ich erinnerte mich daran nicht, konnte mich — offenbar wegen der Kallotomie — nicht erinnern. Der gekidnappte Sendling mußte mich auf den Mond gelockt haben — entweder in böser oder in anderer Absicht. In böser Absicht? Um mein Gedächtnis auszulöschen? Was hätte er davon gehabt? Wahrscheinlich nichts. Oder hatte er mir etwas geben wollen? Hätte er mir nur eine Mitteilung machen wollen, wäre meine Landung unnötig gewesen. Nehmen wir an, er habe mir diesen Staub gegeben — etwas oder jemand habe aber nicht gewollt, daß diese Operation gelingt, und durch die Durchtrennung des Balkens mein Gehirn versehrt. Dann hatte, sollte es sich so verhalten haben, DAS, was den Dispersanten lenkte, mich gerettet? Oder war es weniger um die Rettung Tichys gegangen, sondern darum, daß eine Botschaft auf die Erde gelangte, ebenjener feinkörnige, schwere Staub? Nein, allein als Information konnte er nicht gedient haben, er war etwas Materielles, Handfestes, das ich mit mir nehmen sollte. Ja, so fügte sich ein Teil des Rätsels zu einem größeren Ganzen, das dennoch nicht völlig plausibel wurde. Deshalb teilte ich diese Hypothese möglichst rasch meiner zweiten Hälfte mit.

„Das kann schon sein“, antwortete sie endlich. „Diesen Staub haben sie jetzt hier, aber das genügt ihnen nicht.“

„Daher diese Überfälle, Rettungen, Überredungsversuche, Besuche und Alpträume?“

„Danach sieht es aus. Du sollst dich, das heißt mich, ihren Untersuchungen ausliefern.“

„Aber sie erfahren doch nichts, wenn du nicht mehr weißt, als du sagst …“

„Wohl nicht.“

„Wenn aber DORT etwas so Mächtiges entstanden ist, das den dispergierten Sendling in seine Gewalt bringen konnte, so mußte es doch auch imstande sein, direkt in Verbindung zur Erde zu treten. Mit der Agentur, der Leitzentrale, mit wem immer es wollte, zumindest aber mit den Leuten, die die Agentur entsandte, nachdem ich zurück war.“

„Keine Ahnung. Wo sind die Neuen gelandet?“

„Das weiß ich nicht. Jedenfalls sieht es aus, als gebe es widersprüchliche Interessen sowohl HIER als auch DORT. Was kann DORT aus diesem Krebs, diesen Zerfallserscheinungen, durch diese Ordogenese, wie Gramer es nannte, entstanden sein? Ein System, eine Ordnung? Eine elektronische Selbstorganisation? Aber warum? Zu welchem Zweck?“

„Wenn etwas entstanden ist, dann ohne jeden Zweck. Genau wie das Leben auf der Erde. Die Elektroniken haben sich gegenseitig aufgefressen. Die Programme sind ausgeflippt. Die einen drehen sich im Kreis, andere sind zusammengebrochen, wieder andere sind ins Niemandsland eingedrungen und veranstalten Spiegelerscheinungen und Fata Morganen.“

„Vielleicht, vielleicht“, sagte ich mehrfach stumpfsinnig, aber dennoch in einer sonderbaren Erregung. „Möglich, möglich, ich kann mir das jedenfalls vorstellen. Falls überhaupt ein derart kompletter Zerfall eingetreten ist und daraus Fotobakterien oder Viren aus integrierten Schaltkreisen entstehen konnten, so gewiß nicht überall, höchstens an einem bestimmten Ort infolge eines ungewöhnlichen Zusammentreffens mehrerer Zufälle. Ich kann mir auch nicht vorstellen, wie das Entstandene sich auf seine Weise auszubreiten begann, aber daß daraus ein JEMAND werden konnte — nein! Das wäre reine Faselei. Ein Geist aus Teilchen konnte dort nicht zur Welt kommen. Ein Verstand, auf dem Mond, aus dieser zertrümmerten Elektronik? Nein, das ist reine Phantasie.“

„WER hat dann also den molekularen Sendling in seine Gewalt gebracht?“

„Du bist sicher, daß so etwas passiert ist?“

„Indizien zufolge. Nach dem Verlassen des japanischen Trümmerhaufens hast du keinen Kontakt zur Basis bekommen, nicht wahr?“

„Nein, aber ich habe auch keine Ahnung, was danach vor sich ging. Ich wollte über den Bordcomputer Verbindung zu dem trojanischen Satelliten, um herauszufinden, ob die Zentrale mich über die Mikropen sehen konnte. Meine Rufe blieben unbeantwortet, also sind die Mikropen wohl wieder vernichtet worden, und so weiß man in der Agentur nicht, was aus dem Sendling geworden ist. Man weiß nur, daß ich kurz darauf selber gelandet und zurückgekehrt bin. Der Rest ist nur Vermutung. Was meinst du?“

„Ich habe, wie gesagt, nur Indizien. Der einzige, der mehr wissen könnte, ist der Erfinder des Dispersanten. Wie heißt er?“

„Lax. Er gehört aber zur Agentur.“

„Er hat dir diesen Sendling nicht geben wollen.“

„Er hat die Entscheidung mir überlassen.“

„Das ist auch ein Indiz.“

„Glaubst du?“

„Ja. Er hegte Befürchtungen.“

„Was? Etwa, daß der Mond …“

„Es gibt keine Technologie, die nicht zu knacken wäre. Das mag ihm Furcht bereitet haben.“

„Und dann ist es passiert?“

„Sicherlich. Nur anders, als er vermutet hatte.“

„Woher kannst du das wissen?“

„Weil immer alles anders kommt, als man denkt.“

„Ich weiß schon“, sagte ich nach lang währendem Schweigen. „Das war keine ›Machtübernahme‹, sondern eine Hybridisierung! Das DORT Entstandene hat sich mit dem verbunden, was HIER, im Labor von Lax, entstanden ist. Ja, das ist nicht auszuschließen. Eine dispergierte Elektronik hat sich in eine andere, ebenfalls zu Dispersion und vielfältiger Metamorphose fähige Elektronik eingeschaltet. Der molekulare Sendling hatte ja teilweise ein eigenes Gedächtnis: die Programme der Verwandlungen. Genau wie Eiskristalle, die sich zu Millionen verschiedener Schneeflocken verbinden können. Zwar bildet sich jedesmal eine Hexagonalsymmetrie, aber sie ist immer anders. Ja, ich hatte mit ihm Verbindung und war in gewissem Sinne immer ER. Zugleich aber lieferte ich ihm nur die Impulse, wie er sich zu verwandeln hatte, und er tat das an Ort und Stelle, von sich aus, auf und unter dem Mondboden.“

„Besaß er Intelligenz?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Um ein Auto zu fahren, braucht man nicht zu wissen, wie es gebaut ist. Ich wußte, wie ich ihn zu steuern hatte, und ich bemerkte, was er bemerkte, wußte aber nichts von seiner Konstruktion. Falls er sich übrigens nicht als normaler Sendung, als hohle Hülle, sondern wie ein Roboter bewegen konnte, so weiß ich davon nichts.“

„Aber Lax weiß es.“

„Sicher. Ich möchte mich dennoch nicht an ihn wenden, jedenfalls nicht direkt.“

„Dann schreib ihm doch.“

„Bist du verrückt geworden?“

„Schreib so, daß nur er es versteht.“

„Jeder Brief wird abgefangen. Auch das Telefon entfällt.“

„Du läßt den Brief ohne Unterschrift.“

„Und die Handschrift?“

„Ich werde schreiben, du diktierst mir die Buchstaben.“

„Das bringt nur Krakeleien.“

„Na und? Jetzt habe ich erst mal Hunger, ich will zum Frühstück ein Omelett mit Konfitüre. Danach fassen wir den Brief ab.“

„Und wer schickt ihn ab? Und wie?“

„Das klären wir nach dem Frühstück.“


Der Brief erschien als eine von vornherein unlösbare Aufgabe. Die geringste Schwierigkeit war noch, daß ich die Privatanschrift von Lax nicht kannte. Ich mußte so schreiben, daß er verstand, daß ich mich mit ihm treffen wollte, außer ihm aber niemand dahinterkam. Sämtliche eingehende Post wurde von den besten Fachleuten untersucht, sie alle mußten überlistet werden. Chiffren kamen gar nicht in Frage. Außerdem sah ich niemanden, dem ich auch nur das Abschicken des Briefes anvertrauen konnte. Vielleicht arbeitete Lax auch schon gar nicht mehr bei der Agentur, und selbst wenn der Brief wie durch ein Wunder in seine Hände käme und er mit mir Kontakt aufzunehmen wünschte, würde er von ganzen Horden von Agenten und Geheimdiensten überwacht. Es sollte ja sogar Spezialsatelliten geben, die von einer stationären Erdumlaufbahn unablässig meinen Aufenthaltsort beobachteten. Zu Hous hatte ich gerade soviel Vertrauen wie zu Gramer. Auch an Tarantoga konnte ich mich nicht wenden. Ich traute ihm zwar wie mir selbst, wußte aber nicht, wie ich ihn von meinem (oder unserem) Plan unterrichten konnte, ohne die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Sicher zielte ohnehin auf jedes seiner Fenster ein ultraempfindliches Lasermikrofon, und wenn er im Supermarkt Cornflakes und Joghurt kaufte, war beides durchleuchtet, ehe er es vom Einkaufswagen in den Kofferraum gepackt hatte. Mir war beinahe schon alles egal, und so fuhr ich gleich nach dem Frühstück in die Stadt, mit dem gleichen Autobus wie beim ersten Mal.

Vor dem Eingang zum Warenhaus glänzte auf Ständern eine Masse bunter Postkarten, ich sah sie mir an und fand eine, die die Vorsehung mir sandte: auf rotem Grund ein großer goldener Käfig mit einer nahezu weißen Eule, um deren riesige Augen ein Kranz winziger Federn stand. Ich war nicht so versessen, diese Karte sofort zu ziehen, sondern wählte erst acht andere, darunter eine mit einem Papagei, dann nahm ich die mit der Eule, legte noch zwei andere dazu, kaufte die notwendigen Briefmarken und kehrte zu Fuß ins Sanatorium zurück. Die kleine Stadt war wie ausgestorben, nur in einigen Gärten machten sich Leute zu schaffen. In der Werkstatt, vor der sich die bewußte Szene abgespielt hatte, rollten Autos langsam unter Wasserstrahlen und zwischen rotierende blaue Bürstenwalzen. Niemand ging hinter mir, niemand spürte mir nach oder suchte mich zu entführen.

Die Sonne brannte, nach dem einstündigen Marsch war mein Hemd durchgeschwitzt, ich wechselte es, nachdem ich mich geduscht hatte, und machte mich unverzüglich daran, Grüße an Bekannte zu schreiben: an Tarantoga, die Brüder Cybbilkis, Vivitch, die beiden Vettern Tarantogas. Nicht zuviel und nicht zuwenig, kein Wort über Agentur, Mission oder Mond, nur Artigkeiten, unschuldige Erinnerungen und natürlich meine Anschrift — warum auch nicht? Um auf nette Weise die Scherzhaftigkeit dieser Kartengrüße hervorzuheben, ergänzte ich das Bild auf der Vorderseite durch kleine malerische Zugaben: Die beiden für die Zwillinge bestimmten schwarzweißen Pandabären bekamen Schnurrbärte und Krawatten, den Kopf des Dackels, den Tarantoga bekommen sollte, versah ich mit einem Heiligenschein, die Eule erhielt eine Brille, wie Lax sie trug, und auf die Stange, an die sie sich klammerte, eine kleine Maus. Wie verhält sich eine Maus, zumal in Gegenwart einer Eule? Mäuschenstill. Lax war nicht nur ein Mann von Geistesschärfe, sein Name wies im zweiten Teil — Gugliborc — eine Besonderheit auf, die weder auf eine englische noch deutsche, sondern eher eine slawische Abkunft hindeutete, und so konnte er wissen, daß Tichy soviel wie „Der Stille“ heißt. Außerdem hatten wir miteinander in einem Käfig gesessen. Da ich allen anderen geschrieben hatte, daß ich sie gerne wiedersehen möchte, konnte ich dies unbesorgt auch ihn wissen lassen. Außerdem dankte ich ihm für die mir erwiesene Freundlichkeit und übermittelte in einem Postskriptum herzliche Grüße von Frau P. Psyllium.

Plantago Psyllium ist der Pollen einer Pflanze, die eben diesen lateinischen Namen trägt, und sollten die Zensoren der Agentur in einem Lexikon nachschlagen, so würden sie erfahren, daß ein Abführmittel ganz ähnlich heißt. Ich bezweifelte, daß ihnen etwas über den Mondstaub bekannt war. Auch Lax-Gugliborc wußte vielleicht nichts davon, dann würde sich die Postkarte als Blindgänger erweisen, aber mehr durfte ich mir nicht erlauben.

Shapiro rief ich nicht an, Gramer war nicht besonders gesprächig, ich verbrachte den halben Tag am Swimmingpool, und meine zweite Person verhielt sich, seit ich mich mit ihr verständigt hatte, völlig ruhig. Nur am Abend vor dem Einschlafen wechselte ich ein paar Sätze mit ihr. Zu spät kam mir in den Sinn, daß ich Lax besser die Karte mit dem Papagei hätte schicken sollen, aber nun war die Eule fort, und ich mußte seine Initiative abwarten. Drei Tage vergingen, ohne daß etwas geschah, zweimal saß ich mit Gramer neben dem Springbrunnen im Park in der Hollywoodschaukel, aber er machte nicht einmal den Versuch, auf die Sache zurückzukommen. Ich hatte den Eindruck, daß auch er auf etwas wartete. Er schwitzte, schnaubte, ächzte, klagte über Rheumatismus und war offensichtlich nicht bei Laune. Aus Langeweile saß ich abends vor dem Fernseher oder blätterte die Zeitungen durch. Die Lunar Agency veröffentlichte Kommuniqués von psychotherapeutischem Wortlaut, wonach die Analyse der bei der Monderkundung gewonnenen Daten im Gange und in den Sektoren keinerlei Unregelmäßigkeit oder gar Havarie entdeckt worden sei. Die Journalisten gerieten durch diese banalen Verlautbarungen in Rage und verlangten die Anhörung des Direktors und der Abteilungsleiter der Lunar Agency durch einen Ausschuß der Vereinten Nationen sowie spezielle Pressekonferenzen zur Aufklärung über Dinge, die die Öffentlichkeit in Besorgnis versetzten. Darüber hinaus aber schien keiner etwas zu wissen.

Abends kam Russell bei mir vorbei, der junge Ethnologe, der die Arbeit über Ansichten und Gewohnheiten von Millionären schreiben wollte. Das meiste Material hatte er dank seiner Unterredungen mit Gramer zusammengebracht, aber ich durfte ihm ja nicht verraten, wie wenig es wert war. Gramer spielte den Krösus ja nur, die echten Milliardäre aber, zumal die aus Dallas und Denver, waren fade wie Hering in Senfsauce. Mit simplen Millionären geben sie sich ohnehin nicht ab, sie hatten selbst im Sanatorium ihre eigenen Sekretäre, Masseure und Leibwächter, jeder hauste in einem Pavillon für sich und war so bewacht, daß Russell auf meinem Dachboden einen besonderen Beobachtungsposten mit Prismenfernrohr einrichten mußte, um ihnen wenigstens mal ins Fenster blicken zu können. Er war niedergeschlagen, denn selbst bei einer gehörigen Sinnesverwirrung taten sie nichts Originelles. Da Russell also nichts Besseres zu tun hatte, kam er die Leiter herunter zu mir, um mal mit einem Menschen reden zu können.

Der Wohlstand, der nach Verlegung der Waffenschmieden auf den Mond ausgebrochen war, hatte in Verbindung mit der Automatisierung der Industrie zu recht trüben Resultaten geführt. Russell bezeichnete diese Epoche als das Höhlenzeitalter der Elektronik. Analphabetentum hatte um sich gegriffen, um so mehr, als selbst ein Scheck nicht mehr der Unterschrift, sondern lediglich eines Fingerabdrucks bedurfte und alles andere die Lesegeräte der Computer übernahmen. Die American Medical Association verlor endgültig die Schlacht um die Rettung des Arztberufs, die Computer stellten bessere Diagnosen und wiesen bei der Anhörung der Patienten unendliche Geduld auf. Auch der computerisierte Sex war in eine bedrohliche Lage geraten. Die raffinierten erotischen Apparate wurden vom sogenannten Orgiak aus dem Feld geschlagen, einem sehr einfachen Gerät, das wie ein Kopfhörer mit drei Muscheln aussah. Man setzte es auf, die Muscheln enthielten winzige Elektroden, und in die Hand nahm man einen Griff, der an eine Spielzeugpistole erinnerte. Bei Betätigung des Abzugs genoß man bereits das höchste Vergnügen, weil jede Zuckung die entsprechenden Gehirnzellen reizte. Es machte keine Mühe, kostete keinen Schweiß und schon gar nicht den Preis der leistungsgerechten Wartung von männlichen oder weiblichen Sendlingen. Von aufwendigem Liebeswerben oder durch den Stand der Ehe verursachten Pflichten ganz zu schweigen. Die Orgiaks überschwemmten den Markt, und wer sie genau passend haben wollte, ging zur Erlebnisanprobe — natürlich nicht bei einem Sexuologen, sondern ins OO, das Center für Orgasmus-Ortung. Gynandroics und die anderen Firmen, die ihre synthetischen Produkte in Form von Engeln beiderlei Geschlechts, Meer-, Fluß- und Baumnymphen sowie Mikronymphomaninnen anboten, konnten noch so sehr aus der Haut fahren und die Orgiastics Inc. als „Onanistics“ verunglimpfen — es half ihnen im Verkaufsgeschäft nicht viel.

In den meisten führenden Staaten war die Schulpflicht abgeschafft worden. Der Kernsatz der Descolarisierung lautete: „Ein Kind sein heißt verurteilt sein zu täglicher Gefangenschaft zwecks psychischer Folter, die sich als Unterricht bezeichnet.“ Nur einem absoluten Hohlkopf könne daran liegen, zu wissen, wie viele Herrenhemden sich aus achtzehn Metern vornehmen Baumwollgewebes schneidern ließen, wenn auf ein Stück ein Meter und sieben Achtel entfielen, oder wie schnell zwei Eisenbahnzüge zusammenstoßen mußten, deren erster einen schwererkälteten und betrunkenen achtzigjährigen Lokführer sowie eine Geschwindigkeit von 180 km/h habe, während der andere mit einer um 54/81 geringeren Geschwindigkeit von einem farbenblinden Lokführer gefahren werde, wobei vorauszusetzen sei, daß auf 23 Gleiskilometer 43,7 Signalanlagen aus dem präautomatischen Zeitalter entfielen.

Ebenso entbehrlich ist die Kenntnis von Herrschern, Kriegen, Eroberungen, Kreuzzügen und sonstigem Schweinskram der Urgeschichte. Geographie lernt man am besten durch Reisen, nur muß man sich in den Preisangeboten der jeweiligen Fluglinien und im Flugplan selbst auskennen. Fremdsprachen zu büffeln erübrigt sich, seit man nur einen Minitranslator ins Ohr zu stecken braucht. Die Naturwissenschaften deprimieren und demoralisieren den jugendlichen Verstand und bringen ohnehin keinen Nutzen, da niemand mehr Arzt, ja nicht einmal Zahnarzt werden kann (seit die Massenfertigung von Dentomaten eingesetzt hatte, begingen in Amerika und Eurasien jährlich etwa dreißigtausend Exzahnärzte Selbstmord). Das Studium der Chemie war so wenig wert wie das der ägyptischen Hieroglyphen. Wer als Elternteil den unbezähmbaren Hang verspürt, seine Kinder zu bilden, erledigt das übrigens zu Hause über sein Terminal. Seit jedoch der Oberste Gerichtshof den Kindern so altmodisch denkender Personen das Recht zugestanden hat, gegen Papa und Mama in die Berufung zu gehen, hat sich der Familien- und Hausunterricht — ob mit oder ohne Terminal — in den Untergrund zurückgezogen, wo nur noch die größten Sadisten ihre unglücklichen Sprößlinge vor den Pädagogel setzten.

Pädagogel durften — zumindest in den Vereinigten Staaten — nach wie vor produziert und verkauft werden: ihre Hersteller gaben als Anreiz gratis eine hübsche Feuerwaffe dazu. Die Schrift war allmählich durch eine Bildersprache ersetzt worden, nach Art der Piktogramme oder der Verkehrszeichen. Russell beklagte diesen Zustand nicht. Das lohne sich nicht, denn es ließe sich ohnehin nicht ändern. Auf der Welt lebten noch um die fünfzehntausend Gelehrte, das Durchschnittsalter eines Dozenten lag bereits bei 61,7 Jahren, und der Nachwuchs schwand. Alles ertrank in solch einer Langeweile des Wohlstands, daß — jedenfalls behauptete das Russell — die Nachricht einer drohenden Invasion seitens des Mondes von den meisten Menschen mit Genugtuung aufgenommen wurde, die Presse und das Fernsehen aber in der Panikmache eine Belebung des Geschäfts erblickten.

Die Justiz des hiesigen Bundesstaats steckte im Moment bis über die Ohren in einem Rechtsstreit um die sogenannten S-Orgiaks (Suizid- oder Selbstmordorgiaken): Durch einen Stromstoß ins Lustzentrum, im Gehirn zwischen dessen limbischem Teil und dem Hypothalamus gelegen, konnte man sich unter höchster Wollust selbst entleiben.

Juristische Probleme bestanden auch in der Angelegenheit der Transzeder, transzendentaler Computer, mit deren Hilfe man Verbindung zum Jenseits aufnehmen konnte. Es ging darum, ob ein solcher Kontakt Illusion oder Realität sei. Meinungsumfragen erwiesen, daß sich die Käufer kaum an diesem scheinbar so kolossalen Unterschied störten. Auch die Hagiopneumatoren, die es dem Benutzer möglich machten, sich mit dem Heiligen Geist kurzzuschließen, erfreuten sich großer Nachfrage — sie wurden von sämtlichen Kirchen bekämpft, bislang jedoch mit kümmerlichem Erfolg. „Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“ Mit diesem Satz schloß mein Ethnologe seine Überlegungen, als sich in unserer Bourbonflasche der Boden zeigte. Der junge Mann war von seinen Feldstudien an Milliardären so enttäuscht, daß er zum kompletten Zyniker wurde und seine Prismenfernrohre statt auf die Fenster der Geldleute auf das Solarium richtete, wo sich nackte Krankenschwestern und Sanitäterinnen bräunten. Mir erschien das eher wunderlich, denn er hätte ja einfach hingehen und sich jede einzelne aus der Nähe ansehen können. Als ich es ihm sagte, zuckte er nur die Achseln. Es sei ja gerade das Schlimme, daß man es ohne weiteres dürfe.

Im Freizeitraum eines neuen Pavillons machten sich Monteure bei der Installierung von Imaginen zu schaffen. Russell schleppte mich eines Abends dorthin. Man steckt in die Imagine die Kassette mit dem entsprechenden Angebot, und im freien Raum vor dem Gerät erscheint das Bild — oder vielmehr eine künstliche Wirklichkeit, beispielsweise der mit Göttinnen und Göttern vollgestopfte Olymp oder etwas Lebensnäheres wie ein zweirädriger Karren voller Personen aus besseren Kreisen, die zwischen aufgebrachten Menschenmassen hindurch zur Guillotine gefahren werden. Man konnte sich Hänsel und Gretel wünschen, die vom Lebkuchenhaus der Hexe naschen, oder gar das Refektorium eines Klosters, in das soeben Horden von Tataren oder Marsbewohnern einbrechen. Wie es weitergehen sollte, hing ganz allein vom Zuschauer ab. Unter den Füßen hatte er zwei Pedale, in der Hand einen Steuerknüppel. Man konnte das Märchen zum Massaker machen, einen Aufstand der Göttinnen gegen Zeus entfesseln, den in den Korb der Guillotine gefallenen Köpfen kleine Flügel aus den Ohren wachsen und sie fortfliegen, man konnte sie aber auch wieder am Körper festwachsen und diesen auferstehen lassen. Es ging alles. Die Hexe konnte aus Hänsel Buletten machen, man konnte sie daran ersticken lassen, aber auch den Rückwärtsgang einschalten, daß alles andersherum ablief. Hamlet konnte den dänischen Staatsschatz berauben und mit Ophelia oder sogar mit Rosenkrantz das Weite suchen. Man brauchte nur die rechte Taste zu drücken, denn die Imagine besaß eine Tastatur wie ein Harmonium, nur daß statt der Töne andere Effekte entstanden. Die Betriebsanleitung war ein ziemlicher Wälzer, aber man kam blendend auch ohne sie aus. Es genügten einige Bewegungen mit dem Knüppel, um zu erfassen, daß man, zog man ihn nach links, zuerst den Sadomaten und danach den Perversator einschaltete. Stieß man ihn nach rechts, so steuerte man ins Lyrische, ins Sanfte und Süße und ins Happy-End.

Hätten wir beide nicht einen in der Krone gehabt, wären wir dieses Spiels viel eher überdrüssig geworden, aber auch so hatten wir nach einer Viertelstunde genug und gingen schlafen. Das Sanatorium hatte zwanzig Imaginen angeschafft, aber kaum jemand machte von ihnen Gebrauch. Doktor Hous war darüber sehr bekümmert. Er ging von einem Patienten zum anderen und machte Überredungsversuche, man solle sich austoben, denn das sei die beste Psychotherapie. Dabei erwies sich, daß auch nicht einer der Millionäre und Milliardäre je von Hänsel und Gretel gehört hatte, von der griechischen Mythologie, Hamlet und dem Mönchtum des Mittelalters ganz zu schweigen. Zwischen Tataren und Marsmenschen sahen sie keinerlei Unterschied, die Guillotine hielten sie für einen überdimensionalen Zigarrenabschneider, und alles zusammen war ihnen keinen Pfifferling wert. Doktor Hous selbst hielt es offenbar für seine Pflicht, das lmaginatorium aufzusuchen, und so setzte er, einsam von einem Sitz zum anderen rückend, Märchen, Revolution und Mittelalter in Gang, kreuzte Shakespeare mit Agatha Christie, schmiß Höhlenforscher scharenweise in brodelnde Krater und zog sie heil, gesund und braungebrannt wieder hervor. Auch mir redete er zu, aber ich lehnte ab. Ich wartete nach wie vor auf ein Zeichen von Lax. Auch Gramer schien seltsam unschlüssig, er mied mich, es sah aus, als erwarte er neue Instruktionen.

Alles in allem fühlte ich mich wohl, zumal ich mich mit mir selber inzwischen glänzend verstand.

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